Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Schriftstellerin Joke Fredriks erwacht nach einem schweren Autounfall in einem Münsteraner Krankenhaus. In einem scrapbook, einem Fetzenbuch, hält sie ihre Erlebnisse fest, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart, Reales und Bizarres, Geschehen und Gedanken eigentümlich mischen: ihr Ehemann und seine Geliebte scheinen ein perfides Spiel mit ihr zu spielen, um an Jokes Geld zu kommen und sie in den Wahnsinn zu treiben. Oder hütet die Schriftstellerin ein abgründiges Geheimnis? Ein faszinierender und spannender Kurzroman für alle, die das Besondere lieben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 83
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Veronika Beci
Möwe und Pflaumenbaum
Ein Fetzenbuch
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
Impressum neobooks
Für mich gibt es keine Kapitel mehr. Nur noch Fetzen von Gedanken. Einer reiht sich sinnlos an den anderen. Einzelne Sätze. Umherfliegende Worte, abgerissen von ihrem Textbaum. Erinnerungen, und vielleicht das Jetzt, verweben sich tückisch miteinander.
Die jämmerlichen Versuche angehender Mediziner, eine Braunüle zu legen und Blut abzunehmen. Blut auf dem Bett. Erst Tropfen, dann eine Lache. Die Krankenhausschwester übernimmt eilig, während dem jungen Arzt die Hände so stark zittern, dass er es nicht mehr verbergen kann. Ich schließe meine Augen wieder.
Ich bin so unendlich müde und das gebrochene Bein macht mir zu schaffen. „Ein komplizierter Bruch. Eine Gehirnerschütterung“, hatte der Oberarzt bei der letzten Visite referiert: „Und dennoch können Sie von Glück sagen, dass Ihnen nicht mehr passiert ist.“ Er hatte mich beinahe vorwurfsvoll angesehen, als er orakelt hat: „Es war ein schwerer Autounfall.“
Ich weiß nichts von einem Unfall. Ich bin nur schrecklich müde. Manchmal erscheint mir alles um mich her wie in einem bizarren Traum. Darin begegnen mir seltsame Gestalten, manchmal scheinbar Vertrautes. Ich schwöre, ich habe eine Frau an meinem Bett sitzen sehen, sonderbar bleich. Sie sah aus wie ich, ehe sie sich in eine widerwärtig kichernde Spinne verwandelte. Ich träume und kann nicht schlafen.
Großmutters Pflaumenbaum.
Jemand hat mir das Notizbuch und die Stifte ans Krankenbett gebracht. Ich weiß aber nicht, wer. Ich muss weiße Blätter beschreiben. Ich muss. Ich kann sie nicht weiß und nichtssagend lassen. Wie damals, als Kind, im Winter – ich konnte dem frisch gefallenen Schnee nicht widerstehen – ich musste meine Spuren hinein graben.
Ich sehe aus dem Fenster auf den Oktobermond. In de schemering, die als een doorzichtige, askleurige mist neerzonk.
Eine alte Frau wird zu mir hereingefahren. Die alten Frauen werden hereingefahren und verschwinden nach einiger Zeit. Sie sind mir gleichgültig. Ich möchte mit niemandem sprechen. Großmutter! Den Krankenschwestern, die immerzu betont munter das Zimmer durchsegeln, habe ich die Fröhlichkeit ausgetrieben. Ich lächle ihr Lächeln nicht zurück.
„Es war Besuch für sie da“, versucht eine Schwester zu lächeln und nickt in Richtung eines Blumenstraußes, der plötzlich neben mir auf dem Nachtschränkchen wächst. Gerbera, mit Chrysanthemen zur Üppigkeit aufgefüllt, wurzeln in einer hässlichen, weißen Krankenhausvase. „Sie haben fest geschlafen. Die Dame ist wieder gegangen.“ Sie erwartet irgendeine Reaktion von mir. Ich betrachte kalten Blickes die Blumen. Schließlich zuckt die Schwester mit den Schultern und wendet sich zum Gehen. „Ich möchte niemanden sehen. Ich wünsche keinen Besuch“, schnauze ich ihren Rücken an. Knalle ihr die Worte zwischen die Schultern.
Der nächtliche Kot alter Frauen.
Die Polizei schreibt ihren Bericht über den Unfall. „Klare Sache“, sagen sie: „Die Schuld liegt bei dem Fahrer, der das Boot nicht ausreichend gesichert hatte, sodass es sich löste und Ihnen auf die Motorhaube gerutscht ist.“
Die Müdigkeit. Morpheus und … ich weiß nicht mehr. Die antiken Gedanken sind mir vergangen. Poesie ist Geschwätz. - Schlafen. Mein Kopf!
„Der Heilprozess wird wohl länger dauern, aber machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen wir alles wieder hin; ruhen Sie sich aus.“ Das war der Oberarzt. „Absolute Ruhe und keinen Besuch“, prägt er der Krankenschwester ein. Die nickt ernst. Der hab' ich das Lächeln ausgetrieben.
Mondpilze.
Was sind Mondpilze? Ich glaube, weißliche Bewachsungen der Mondkrater, wie längliche Hühnereier. In den dunkelsten Nächten platzen sie auf und dann entladen sich die Sporenwolken, gelb glitzernde kleine Flöckchen, Die fliegen durch Welt und All. Die fliegen,dabei surren sie eigentümlich. Musik. Albinoni?
Ich habe mir einen Telefonanschluss geben lassen. Mein Handy ist wohl durch den Unfall verloren. Es gibt einiges zu regeln. Nicht nur wegen des Unfalls, der Versicherung - so viele Ideen und Projekte! Selten etwas, das zur Vollendung kommt. Ich darf nicht vergessen, die Lesung in einer Woche abzusagen. Und den Vortrag über Couperus. Werden die Niederländischstudenten ihren Couerpus ohne den Senf kennenlernen, den ich dazugeben kann. Ich habe das Seminar über die frühen Gedichte der Droste zu halten. Ich liege hier und starre auf das Holzkreuz gegenüber meinem Lager.
„Gratuliere, ein Bombenerfolg! Joke Fredriks – aufgehender Stern am europäischen Literaturhimmel! Wenn das so weitergeht, dann hast du ausgesorgt. Du, das reißt einfach nicht ab!“ Etwas Komisches ist um aufgeregte Lektorinnen. Kaum hat sie gefragt, wie es mir geht und wie es um mich steht. Claudia im Erfolgsrausch. Seit Jahren hat sie meine Bücher betreut, aber erst dieser letzte Roman schafft es jetzt auf die Bestsellerlisten und sie ist es, die an mein Talent geglaubt hat. Sie sagt es mir gleich. „Du, ich habe immer an dich geglaubt, Joke. Ist das nicht der Wahnsinn? Freust du dich?“ Halb so viel wie du. Du bist ja jetzt eine große Nummer im Verlag. Unkündbar. „Du sagst ja gar nichts! Geht es dir noch so schlecht? Übrigens: ich erreiche deinen Arne nicht. Ist was zwischen euch?“
Etwas Ahnungsloses ist um befreundete Lektorinnen.
Großmutters Haus. Ich laufe aus der Küchentür hinaus in den schönen Garten. Eine Möwe streicht verloren über die Baumwipfel hin.
Arne. Ich hatte ihn vergessen. Jetzt ist sein Name wie Glockenschläge in meinem Hirn.
Eigentlich rankt sich alles nur um ihn, meine Gedanken und die Bücher, die ich schreibe. Alles er.
Soll ich die Schwester fragen, ob er sich gemeldet hat? Er muss doch inzwischen wissen, was passiert ist und das ich hier liege. Nein, ich lasse es. Ich erinnere mich an unseren letzten Streit. Und an alle seine Gemeinheiten.
Es gibt zwei Arten von Büchern, die ein Dichter schreiben kann. Brotbücher und Blutbücher. Die Brotbücher schreibt er mit handwerklicher Qualität, ohne innerste Anteilnahme, um sein Leben zu fristen. Die Blutbücher schreibt er mit ganzer Seele. Sie kosten ihn Leben. Sie verbrauchen seine Energie, zehren ihn aus. Sie bedeuten etwas, stehen außerhalb der Zeit. Aber sie werden selten verstanden. Es sind Bücher, die sich aus dem Herzblut des Künstlers speisen. Eines habe ich geschrieben. Meinen großen Roman über die Augen der Aphrodite. Arne hat nicht kapiert, dass ich danach müde war, mit meiner Kraft völlig am Ende. „Die Sachen verkaufen sich doch nicht“, wetterte er und warf eins der Freiexemplare nachlässig auf das Sofa. Verächtlich. Als wäre es nichts. Und ich kniete vor dem großen Bücherkarton und hob stolz und ehrfürchtig ein Freiexemplar nach dem anderen heraus auf den Sofatisch wie Neugeborene aus dem Mutterschoß gehoben werden. „Schreib' doch mal einen Kitschroman, oder einen Krimi, oder – Geschichte liegt dir doch. Das Zeug wird auch noch verfilmt! - Denk' doch mal nach. Hast du dir dein Leben derart vorgestellt? Dein Mann arbeitet sich kaputt für Geld, während du hohe Literatur schreibst, die keiner kaufen will? Scheiß auf die Lobeshymnen in den Zeitungen! Scheiß auf die Einladungen ins Fernsehen oder zum Radio! Du bist bekannt, aber es zahlt sich nicht aus.“ „Arne, darum geht es dich auch gar nicht, Ich schreibe doch nicht, um Geld zu verdienen. Ich muss schreiben.“ „Ach, ja? Und ich muss arbeiten, um den Schreiber zu füttern?“ „Du liebst doch deinen Job. Wasser ist deine Welt. Du verdienst genug...“ „Das hat doch damit nichts zu tun! Ich arbeite, du nicht.“ „Ich arbeite auch. Sehr hart. Und das weißt du.“ „Ach, was. Du sitzt den lieben langen Tag auf deinem Hintern am Schreibtisch und schreibst oder liest. Die paar Seminare, die du gibst, halbe Ehrenämter, und die Vorträge, davon wird man nicht satt. Und die halbe Nacht liest du auch. Es gibt nichts anderes für dich.“ „Ich bin damit erfolgreich.“ „Erfolg sehe ich auf dem Konto.“ „Ja, für dich gibt es nur das“, höhnte ich: „Daran misst sich Arbeit.“ „Etwa nicht?“ „Nein, sondern daran, dass etwas entsteht. Und das Wertvollste, was entstehen kann, ist Kunst.“ „Parasit! Mach' nur weiter so. Wir werden sehen, wo dein Leben endet. Nur eines musst du wissen. Ich werde nicht bis zum Lebensende der Diener sein, der für dich arbeiten geht.“ „Brauchst du gar nicht.“ „Nein? Und wovon willst du leben?“ „Ich verdiene genug. Und ich habe Großmutters Haus.“ „Haha! - Hast du wenigstens die Einladung in den Mauritzsaal angenommen?“ „Du weißt, diese Partys ...“ „Sind nichts für dich. Aber wenigstens die können wir mitnehmen, wenn du auch sonst nicht viel in unsere Ehe einbringst – außer Bücher. Nutze zumindest deine Bekanntheit aus, wo du kannst.“ Er stieß mit der Hand wie nachlässig gegen die auf dem Tischchen aufgestapelten Bücher. Sie gerieten ins Kippen, rutschten gegeneinander und fielen zum Teil auf den Boden. Es tat mir weh. Ich hielt die Hand ans Herz. Arne drohte mit dem Zeigefinger auf mich herab. „Sag' also zu, denn da sind jede Menge großer Tiere. Ich will dahin.“ Er blieb stehen wie eine drohende Bronzeskulptur. Unerschütterlich und von metallischer Kälte. „Okay. Ich sage zu“, murmelte ich. Ich hob die Bücher langsam auf, indem ich jedes streichelte, um sie über Arnes Gewalt zu trösten. „O, Mann! Wie du das wieder sagst! Du hast echt keine Freude am Leben, kann das sein?“ Achselzucken.
Arne und seine Sprüche: Das Leben besteht nicht nur aus Büchern. Alle Künstler sind irgendwie irre. Dichter sind Parasiten. Nur die Realität zählt. Was im vorigen Jahrhundert passiert ist, interessiert mich nicht. Wozu ist Literatur nötig. Leibniz – meinst du die Kekse? Schreiben ist Zeitverschwendung – effektiv arbeiten ist alles. Ich liebe dich, aber nicht deine Bücher. Warum bin ich so blöd, auf eine Schriftstellerin reinzufallen. Droste, Couperus – die sind doch alle tot, was will man bloß mit denen. Kunst ist ein nettes Hobby. Träumen, träumen, träumen – wann wachst du endlich auf. Nur am Schreibtisch sitzen, das ist kein Leben. Wenn dich diese Scheißbücher wenigstens reich machten.