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Der junge Philosoph Alex Brix zieht nach einer gescheiterten Beziehung in eine Studierenden-WG. Er versucht, seinen Kummer zu überwinden. Aber da ist nur der Liebeskummer, der ihm zusetzt. Alex leidet unter der Menschheit, die ihm dürftig, intolerant und grausam erscheint. Die Gesellschaft ist für ihn ein Abgrund, an dem er steht. Als dann auch noch Gewalttaten und Morde geschehen, muss Alex um sein Weltbild ringen. Ein sinistrer gesellschaftskiritscher Tagebuchroman - eine Atmosphärenstudie unserer Gegenwart.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2023
Veronika Beci
Schwankender Grund
Alex Brix:Tagebuch 2021
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Schwankender Grund Januar
Noch Januar
Februar
Noch Februar
März
Noch März
April
Noch April
Mai
Mai
Juni
Noch Juni
Noch Juli
Noch Juli
August
Noch August
September
Noch September
Oktober
Noch Oktober
November
Noch November
Dezember
Noch Dezember
Anmerkungen
Zur Autorin
Impressum neobooks
Neujahr 2021
Immer noch: Corona, Kriege auf der Welt, fortschreitende Zerstörung der Natur, antidemokratische Tendenzen – Weihnachten hat nichts daran geändert.
Nachdem ich mit meinen Eltern gefrühstückt hatte – allgemeine Hoffnung, dass es uns allen 2021 besser gehen wird und auch diese dumme Seuche ein Ende findet -, arbeitete ich Wichtiges in meinen neuen Buchkalender ein und rechnete mit dem alten Jahr ab.
Mich hat es letztes Jahr bitter erwischt – habe mich nun endgültig von Nele getrennt und musste die vergangenen dreizehn Wochen bei meinen Eltern unterkriechen. Im Lockdown sind Nele und ich uns ganz schön auf die Nerven gegangen. Da krachten unsere Verschiedenheiten richtig aufeinander.
In drei Tagen ziehe ich wieder um. Habe zwei Zimmer in einer Reihenhaus-WG in einer Wohnsiedlung in dem dörflichsten Vorort unserer Stadt genommen, weil ich einerseits nicht ganz allein sein wollte, andererseits niemandem verbunden sein will. Außerdem: die zwei Zimmer kann ich mir gut leisten, denn ich hab' ja nur die halbe Stelle in der Uni-Bibliothek als festes Einkommen. Mit dem Geld, das ich hin und wieder für die Fachbeiträge erhalte, wird es schon gehen. Und vielleicht trägt auch mein Buch über den Philosophen Kierkegaard etwas ein, das im Frühjahr erscheinen soll.
Mein Lieblingsmotto schrieb ich vorne in diesen Kalender: „Philosophie ist die kritische Instanz einer an Denken dürftigen und an geistigen Bevormundungen reichen Zeit“,Gadamer.
Wir Philosophen hüllen uns derzeit allerdings in Schweigen. Wahrscheinlich fürchten wir uns davor, Rückgrat zeigen zu müssen. In diesen Zeiten darf keiner mehr rückhaltlos sagen, was ihn bewegt, schon gar keine Kritik äußern, er wird ansonsten sofort durch irgendeine Zuschreibung politischer Unkorrektheit kaltgestellt. Gegen Schläge unter die Gürtellinie kann man sich kaum wehren.
Als erstes heute das Bibelorakel für das kommende Jahr abgehalten, das heißt: das Kreuzzeichen geschlagen, ein Vater-unser gebetet und dann meine Bibel an zufälliger Stelle aufschlagen lassen, hineingetippt mit dem Finger und ich war beim Buch Jeremias gelandet. „Man vergilt doch nicht Gutes mit Bösem, denn sie haben meinem Leben eineGrube gegraben. Denk vielmehr daran, wie ich vor deinem Angesichte stand, umFürsprache für sie einzulegen und deinen Zorn von ihnen abzuwenden“ (Jeremias 1820).
Erst einmal nicht kapiert, was dieser Spruch für mich zu bedeuten hat. Da hat sich Jeremias also für die Menschen eingesetzt, den Zorn Gottes von ihnen abgewendet und sie danken es ihm mit Bosheiten. Was für eine Enttäuschung über die Menschen, die Freundlichkeit, Beistand und alles andere Gute nur mit Boshaftigkeit und Undank vergelten!
Ich sage nur: Nele.
Dann tritt Jeremias wieder hin vor Gott und verlangt, dass das an ihm begangene Unrecht nun betraft werde. Damit setzt er sich selbst ins Unrecht; wenn es ihm selbst dreckig geht, endet sein Gut-Mensch-Sein und er will nur noch Rache.
Mit anderen Worten: ich sollte die Wut- und Rachegedanken, die manchmal wegen Neles Sauereien in mir aufsteigen, bekämpfen. Ich sollte wegen ihr nicht ungerecht werden, wenn ich ein anständiger Mensch bleiben will. Das heißt: nicht auf ihr Niveau sinken (dann würde ich allerdings sehr, sehr tief sinken, denn der Schlamm, in dem sich diese widerliche Schlampe suhlt, morastet im tiefsten Graben – 'tschuldigung, Gott, nur ein verbaler Wutausrutscher!).
Abends einige Kung Fu-Positionen. Die Eltern haben mir zu Weihnachten die passenden Mönchsschuhe geschenkt. Ich meditierte also mittels meines Körpers. Der schmerzt übrigens nach wie vor rasend, vor allem nachts. Gehen kann ich etwa zehn Minuten ehe dann die ersten Schmerzen auftreten.
Etwas über die Antike gelesen und – Nele, passt – William Thackerays „Vanity fair“.
Musik: Robert Schumann, 2. Symphonie, 2. Satz Adagio espressivo in Dauerschleife
Zweiter Januar
Da Samstag ist, half ich meinem Vater heute im Garten. Er pröddelte mal wieder hier und da vor sich hin. Seit er in Rente ist, ist der Hof mit dem großen Gemüse- und Obstgarten, dem Geflügel und den paar Ziegen seine Zuflucht und sein Rettungsanker, vor allem wenn Mutter eine Putzwelle hat, wie heute, und dann leicht reizbar wird.
Ich half ihm wie eine Schildkröte. „Hast du immer noch Pine“, fragte er mich nebenbei, während wir die Apfelbaumstämme kalkten. „Geht. Hab' 'ne Schmerztablette genommen“, antwortete ich. „Hab' im Schuppen was Besseres als Schmerztabletten“, meinte er: „Cognac. Den guten. Im Werkzeugschrank.“
„Väterchen, Väterchen, so kommen deine Laster ans Licht.“
„Na, wenn d' nich' willst, willst d' nich'“, grinste Vater.
Und ob ich wollte! Ich schlurfte in den Schuppen und schaute in den Schrank. Teurer Cognac, bauchige Gläser, wohlriechende Zigarren, Lakritzdrops – der alte Mann ist gut organisiert.
Wir standen in der kalten Januarluft zwischen den Obstbäumen und genossen schluckweise wärmenden Cognac. In dem Moment fühlte ich mich gut. „Siehst‘e“, sagte Vater, als er meine sich entspannenden Gesichtzüge bemerkte. Er lächelte befriedigt: „Dein alter Vater weiß, was guttut. Und warte 'mal ab, wenn du neu angefangen hast, wird alles wieder gut und die Ärzte finden auch 'raus, was dir fehlt.“
Indes, ich weiß, was mir fehlt: I'm sick of mankind.
Das ist so ein intensiver Satz aus einer Serie über die Brontës (die englischen Dichtergeschwister) der Yorkshire Television Studios. Meine Lieblingsserie, die ich bestimmt schon zwanzig Mal gesehen habe.
I'm sick of mankind.
Ich kann ihn nicht dick genug schreiben. Der Satz ist Anne Brontë (gespielt von Ann Penfold) in den Mund gelegt; wie sie dasteht, in ihrem Zimmerchen bei den kaltherzigen und unbedarften Robinsons, deren Kinder sie als Gouvernante zu betreuen hat, und dann diesen Satz mit all ihrer Verachtung für die Plumpen, Oberflächlichen ausstößt, das ist zutiefst schmerzlich. Spricht mir aus der Seele.
Die Menschheit ist heute noch so ein Arschloch wie zu den Zeiten der Brontës. Sie ändert sich nicht.
Heutzutage setzt sie sich in dreifaches Unrecht: die Misshandlung und Ausbeutung der Natur, die Anbetung des goldenen Kalbes und die Missachtung des Du.
Menschheit ist von einzelnen Menschen, den Menschen zu unterscheiden. Die Menschheit insgesamt ist verachtenswert, einzelne Menschen keineswegs. Aber Nele.
Heute hörte ich nichts über Corona. Läuft wohl alles so weiter wie das letzte Jahr endete.
Ich habe bisher nicht unter Corona gelitten und kann das Geheule der Menschheit nicht nachvollziehen. Es ist doch klar, dass, so ignorant, wie sie mit der Natur gewirtschaftet hat, Pandemien, Feuersbrünste, Tsunamis, Wirbelsturme, thunder and lightning, Missernten, Wasserfluten und Hagelstürme über sie hereinbrechen! Damit hätte sie rechnen müssen, und dürfte sich jetzt weder wundern noch beklagen.
Leider bricht das alles auch über mich herein, da das Sprichwort gilt: mitgefangen, mitgehangen. Auch wenn ich nichts mit der Menschheit gemein habe…
Ich glaube, allmählich wehrt sich die Natur im großen Stil gegen die Menschheit. Corona ist nur eines der vielen Scharmützel, die dem gewissen Ende der Menschheit vorangehen.
Ich sollte von dieser Zeit Zeugnis ablegen. In einem Roman. Das wäre eine gute Idee. Und sollte es die Menschheit nicht lesen, wenigstens hinterlasse ich denen, die mich kennen, einen Moment Zeitgeschichte. Kein Unterfangen ist umsonst.
Ich entwickelte diese Idee unter den Obstbäumen nach zwei Gläsern Cognac und Vater hörte mir zu. „Na, dann schreib' doch“, meinte er: „Vielleicht hilft 's dir. Umsonst ist nichts, was man mit Begeisterung tut. Außerdem kannst d‘ mal richtig vom Leder ziehen. Das erleichtert.“
Abends war doch noch ein wenig Zeit, Feuchtwangers „Herzogin“ weiterzulesen, obwohl ich mich nicht lange konzentrieren konnte. Die hässliche Herzogin ist mir sehr lieb, weil ähnlich: Die wird von ihren Männern am laufenden Meter hintergangen wie ich von Nele – Rachewünsche.
Vierter Januar
Umzug. Einmal quer durch die Stadt; zum Glück passte meine gesamte Habe in einen kleinen LKW, den ich gemietet hatte. „Gut, dass du nichts um Besitz gibst“, meinte Mutter, die meine Blumentöpfe anschleppte: „Dass du mir die Blumen auch gut gießt! Aber nicht zu viel.“
„Mutter! Ich habe schon einmal allein gelebt und weiß, was ich tue“, brachte ich in Erinnerung. „Naja. Wie man sieht“, antwortete sie trocken und zeigte auf das Zeug im LKW. Mütter können so verdammt sarkastisch sein und doch kann man nicht anders als sie zu lieben.
Sie hatte für Vater, meinen Cousin, der uns half, und mich ein sagenhaft leckeres Mittagessen vorbereitet. Wir futterten, was das Zeug hielt. Dann ging es los. Die Eltern und der Cousin im Auto vorneweg. Sie hatten schon die WG auf Trab gebracht, als ich mit dem LKW vor dem Haus parkte. Ein Mittelreihenhaus, ziemlich hoch, ziemlich durchschnittlich, zwei Stellplätze davor, ein Schuppen, ein Wacholderbusch, eine Bank, ein Roter Rubin, die Mülltonnen, nach hinten raus ein Stückchen Garten. Platz genug für ein paar Pflanzen, einen gemauerten Grill, einen Tisch und zwei Bänke.
„Spießerumfeld, na, Prost Mahlzeit“, gratulierte Papa mir.
Meine beiden Zimmer liegen unterm Dach. „Haha, da wirst du im Sommer aber schwitzen“, stellte Vater fest: „Bei uns auf dem Hof hättest du Platz genug, dein Zimmer bleibt dein Zimmer.“ Die alte Leier. Platz genug, aber ich will nicht bei Mutter und Vater unterkriechen.
Papa räsonierte noch ein wenig über die Geschichte des Dorfes und der Davert, dem hiesigen Waldgebiet. „Davert heißt so viel wie 'schwankend', soweit ich weiß“, erklärte er: „War früher alles hier Sumpf und Modderboden, Junge. Eine unsichere Sache. Kein fester Grund. Was hier die ersten Kotter geknechtet haben müssen, um aus dem Morast Felder zu machen. Und jetzt? Sind die auch kaputt gemacht, damit hier Leute im eigenen Häuschen wohnen können.“
„Willem“, mahnte Mutter, denn sie kannte die Anzeichen bei Papa, wenn der sich in Rage reden will.
„Ach, ist doch wahr. Wär' doch viel schöner mit dem ursprünglichen Sumpfgebiet hier“, grantelte Vater.
„Dann hätte unser Alex jetzt aber keine Bleibe“, sagte sie und lenkte uns alle mit einem mütterlichen Fürsorgekatalog ab: „Sei immer freundlich zu deinen Mitbewohnern, grüße die Nachbarn ordentlich mit Namen...“
„Weib! Der Junge ist nicht zwölf! Das ist ein gestandener Mann“, tat Vater so, als wurde er schimpfen. „Jaja, ihr seid mir zwei gestandene Männer!“ Der ergebene Seufzer einer erfahrenen Frau und Mutter.
In wenigen Stunden war der Umzug geschafft. Mutter spendierte Kaffee und Kuchen; dafür hatte sie also den Picknickkorb mitgeschleppt. Eltern und Cousin verabschiedeten sich und ich brachte den LKW zurück.
Seit ich wieder in der WG bin, habe ich nur herumgekramt und meinen Tagebucheintrag nicht vergessen.
Vielleicht sah ich bisher alles zu schwarz. Vielleicht ist es gar nicht nötig, einen Roman über den selbstverschuldeten Untergang der Menschheit zu schreiben.
Fünfter Januar
Ich fand gleich nach dem Aufstehen das Bad frei und duschte ausgiebig, um mein altes Leben abzuwaschen und fit zu sein für den Neuanfang. Katharsis, dachte ich: Reinigung von allem Übel.
Ich stieg die Treppen runter in die Küche. Hier saß noch Aidin, der ein Nussnougatbrötchen verschlang. „Hi, Alex“, sagte er mit vollem Mund. Er schluckt schnell hinunter: „Kaffee? Ich habe richtigen Kaffee gemacht, nicht die Alman-Brühe.“
„Gerne.“ Ich nahm mir meinen Becher aus meinem Küchenschrankfach. Jeder hat hier sein eigenes Schrankfach, jeder einen festen Platz in einem der beiden Kühlschränke.
„Ich hab' nämlich gestern nicht mehr eingekauft. Ich hab' nur ein Futterpaket von meiner Mom mit Keksen und so“, erklärte ich. „Bedien' dich, wenn du Hunger hast“, sagte Aidin und machte eine einladende Geste über den gedeckten Tisch hin. „Ich will dir nichts wegessen“, fing ich an. „Jetzt hör' auf und iss“, sagte Aidin: „So muss ich nicht allein frühstücken. Die anderen sind schon unterwegs. - Wann musst du morgens los?“
„Unterschiedlich. Habe mal vormittags, mal nachmittags Dienst. Sonst arbeite ich von zuhause aus“.
„Praktisch. Ich bin meistens den ganzen Tag auf dem Campus.“
„Was studierst du denn?“
„Biowissenschaften. Achtes Semester. Davor habe ich aber schon eine Ausbildung zum Tierpfleger gemacht und zwei Jahre im Zoo gearbeitet. Damit war aber Essig durch Corona. Jetzt putze ich nebenher in zwei Schulen.“
„Echt? Putzen? In Schulen?“
„Ja, warum denn nicht? Weil ich ein Mann bin?“ Er fragte das nicht provozierend. Er lächelte sanft. „War blöd von mir“, gab ich sofort zu: „Festgefahren. - Sag' mal, putzt du auch jetzt während Corona?“
„Ja, geputzt wird immer. Aber viel weniger Stunden.“
Ich erzählte ihm von meinem Philo-Studium und wie ich an den Job in der Bibliothek geraten war, anstatt auf irgendeinem Lehrstuhl für Ethik an irgendeiner Hochschule zu hocken.
„Eine Nele, also“, seufzte Aidin: „Mein Leben wird aktuell von einer Lena durcheinandergebracht.“
Wir stießen daraufhin brüderlich mit unseren Kaffeebechern an.
Als ich nach der Arbeit wieder ins Haus kam, traf ich auf meine anderen Mitbewohner.
Marie hat das Dachbodenzimmer neben meinen, Erzieherin mit wenig Geld. In der mittleren Etage bewohnt Aidin das große Zimmer. Dauernd sind irgendwelche Freunde bei ihm zu Gast. Ökotypen. Zwei kleinere Zimmer gehören Max, von dem ich noch nicht weiß, was er macht. In der gleichen Etage liegt auch das Bad. Unten hat Rina ihr Riesenzimmer und ein eigenes Mini-Bad – ihr gehört das Haus nämlich, ein Erbstückchen. Aber bis sie mit dem Studium, Medizin, zu Ende ist und einen Beruf hat, um das Haus eigenständig halten zu können, hat sie untervermietet. Bietet sich in einer Studentenstadt an. Unten gibt es sonst noch die geräumige Küche. Im Kellergeschoss befinden der Technikraum, ein Waschraum mit zwei Waschmaschinen und einem Trockner sowie ein Raum, in dem jeder von uns einen schmalen Stahlschrank für Krempel und sein Fahrrad stehen hat.
Ich bin der Älteste in dem Verein. Zehn Jahre trennen mich von der Jüngsten, Marie.
Lektüre: Dies und das, Kostpröbchen
Musik: Brahms, 1. Symphonie, 1. Satz - c-Moll
Sechster Januar
Habe fast vergessen, dass ich mit einem Roman über den miserablen Zustand der Welt lamentieren will. Also:
Alles, was momentan geschieht, ist eine Mahnung an uns. Es gibt aber anscheinend nur wenige spirituell begabte Menschen, die Mahnungen zu erkennen. Die Pandemie ist nur eine Mahnung unter vielen und nicht einmal mehr wert, im Mittelpunkt meiner Gedanken und Notizen zu stehen. Zwei andere Themen sind wichtiger: der fortschreitende Missbrauch der Natur und die allmähliche Zerschlagung der Demokratie, das Ende des Du.
Es sind nur wenige, mutige Menschen der Tat und des Wortes, die sich dem entgegenstellen. Das Mädchen aus Schweden etwa, Greta; was hat die für einen Mut, die Menschen anzuklagen und sich schützend vor die Natur zu stellen!
Ich wünschte, ich hatte diesen Mut.
Mein Vater erzählt oft von seinen jüngeren Jahren. Damals schon war der Umgang mit der Natur verheerend und wurde zum ersten Mal spürbar für jeden Menschen, damals, während der Ölkrise beispielsweise.
Er erinnert sich gut an ein prägendes Ereignis: an eine sonntägliche Wanderung mit mehreren Familien über die Autobahn 52 von Lintorf (seinem Heimatdorf) nach Kettwig und an die dunkle Ahnung von Sorge um alle Lebewesen, die an jenem Tag in ihm aufstieg. An diesem Tag seien die Bedürfnisse seiner Umwelt in sein Bewusstsein getreten, sagt Vater; was er vorher als selbstverständlich angesehen hatte, sähe er seitdem mit anderen Augen. Pflanzen, Pilze und Tiere seien für ihn nicht länger mehr nur einfach Pflanzen, Pilze und Tiere, sondern Mitwesen. Ihm sei schlagartig klar geworden, dass sie in ihrer Wesensart zu respektieren seien und man sie nicht allein den Bedürfnissen der Menschen unterordnen dürfe. Daher seine Beteiligung an Protestmärschen der Friedensbewegung und Umweltschützer, daher sein kleiner Selbstversorgerhof, auf dem ich behütet aufgewachsen bin. Und daher ich, denn ich verdanke dem Kampf für die Natur meine Existenz: auf einer 'Rette-die-Wale'-Demo haben sich meine Eltern kennengelernt.
Wer den gepflegten alten Herrn jetzt anschaut, der wird wohl kaum den Aussteiger von damals in ihm vermuten.
Aber auch mein Vorhaben erfordert Mut. Wenn ich Zeugnis in einer Art Roman ablegen möchte, dann muss ich mir über die damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst sein, a. Wahrheit, b. Widersprüche, c. Die Kluft zwischen Gedanken und Sein.
Wahrheit kann nur subjektiv sein. Sie ist an Wahrnehmung gebunden und die ist von Individuum zu Individuum verschieden. Ich muss wissen, dass es oft schmerzhaft ist, die eigene Wahrheit auszusprechen. Schmerzhaft für den Sender, vielleicht auch für den Empfänger. Das muss ich selbst aushalten und muss erwarten, dass andere aushalten können.
Nicht jeden Tag ist meine Wahrheit dieselbe. Sie kann es nicht sein, da auch die Wahrnehmung tagtäglich eine andere ist. Ich kann auch verschiedene Wahrheiten zu einem einzigen Gegenstand kennen. Das verwickelt mich mitunter in scheinbare oder tatsächliche Widersprüche.
Im Grunde ist jeder Denkende voller Widersprüche.
Auch die Widersprüchlichkeit muss ich aushalten können; ich darf daran nichts glattbügeln, nichts rechtfertigen, ich muss sie stehenlassen.
Die Gedanken gehen oft die seltsamsten Wege. Gedanken dürfen extrem sein, das Sein darf es nicht. Die Gedanken sind frei in alle Richtungen, das Sein muss Werten und Normen folgen. In einem Tagebuch wie diesem, herrschen die freien Gedanken. Niemand darf sich nicht an dem Freien stören und ich habe mich nicht an Werten und Normen zu richten, bin nur meinen Gedanken verpflichtet.
Gedanken können beruhigend, interessant, entspannend, ermutigend, heroisch, gut sein, aber auch grausam, mordlüstern, todessehnsüchtig, abseitig und verrückt. sie können alles zu allen Richtungen hin sein. In ihnen darf ich alles; in meinem Sein aber folge ich meinen zutiefst von Liebe, Toleranz, Glaube und Gerechtigkeit geprägten Prinzipien.
Ich kann also in Gedanken Nele auf grausamste Weise abschlachten, um mich zu rächen, was ich im wirklichen Leben natürlich niemals machen würde.
Ich würde es aber gerne machen.
„Die Welt ist nicht aus Brei und Mus geschaffen.
Deswegen haltet euch nicht wie Schlaraffen;
harte Bissen gibt es zu kauen:
Wir müssen erwürgen oder sie verdauen“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Meine Schmerzen nehmen wieder zu.
Viel an meinem Buch über Kierkegaard gearbeitet – letzte Änderungen.
Ich meditiere mit Shaolin Qi Gong, um die Gedanken loszuwerden und zu entspannen.
Lektüre ist immer noch die „Hässliche Herzogin“.
M., 7. Januar
Nach der Arbeit eine Kladde gekauft und meinen Roman begonnen. Gute Ideen soll man nicht auf die lange Bank schieben.
Erst habe ich ein Brain storming hineingeschrieben. Die Sache mit Mut, Gedanken, Wahrheit und Widerspruch. Dann meine Themen: Für die Natur, wider die Menschheit; für Demokratie, wider Diktatur; für die Besitzlosigkeit wider die Geldgier.
„Wäre nicht ein Kloster was für dich“, hat Nele mehr als einmal geätzt. Einmal hat sie geschrien: „Hau doch ab, ins Kloster, wo du hingehörst, du Pisser!“ Nur weil ich gemeint hatte: „Du hast doch schon drei oder vier Winterjacken, was willst du mit noch einer.“ Zugegeben, etwas ärgerlich, weil sie sich für ihren Einkauf mal wieder vom gemeinsamen Haushaltskonto bedient hatte. „Das verstehst du nicht – ich brauche zu meinen Outfits eben die passende Jacke und ich habe zu einer Kombination bisher noch nicht die passende gehabt“, hat sie erklärt, und mir vorgeworfen: „Du, als mein Lebensgefährte, könntest mir ja ruhig einmal eine Jacke schenken. Oder was anderes. Meine Freundinnen bekommen immer etwas von ihren Partnern geschenkt.“
„Habe ich dir etwa noch nie was geschenkt?“
„Wow, billigen Modeschmuck, Blümchen, Schokolade, Kinokarten, Bücher – echt, das nennst du Geschenke?“ Ich habe mit den Schultern gezuckt. „Ich sag' dir mal was, Schätzchen. Ich arbeite im Vertrieb. Da habe ich mit Kollegen und mit Publikum zu tun. Da kann ich nicht schlampig und in den ältesten Fetzen herumlaufen so wie du in deinen Bücherkellern zwischen all den gammeligen Professoren und Studenten!“ Ich habe mich schweigsam in mein Zimmer zurückgezogen. „Ja, igele dich nur wieder in deinem Zimmer ein, wenn du die Wahrheit nicht vertragen kannst! Geh' in deine Zelle, Mönch“, hat sie mir hinterhergerufen.
Meine beiden Dachbodenzimmer hier sind rechte Mönchsklausen. In dem kleineren steht unter der Schräge mein Bett, direkt dahinter klemmt sich mein schmaler Kleiderschrank an. Über dem Kopfende des Bettes habe ich eine Leselampe befestigt und auf der Seitenlehne wartet mein Wecker auf seinen Einsatz. Unter dem kleinen Dachfenster steht der Nachttisch, darauf eine meiner Grünlilien mit dem vollen, prächtigen Schleierornat ihrer herabhängenden Kindl. Auf der anderen Seite steht zwischen dem Nachttischchen und einer Kommode ein kleiner Sessel, auf dem Bücher und Klamotten in wilder Orgie vermengt aufgehäuft liegen. Auf der Kommode türmen sich Bücher, auf denen wiederum ein großer Blumentopf mit einem ausladenden Weihnachtskaktus thront. An die Kommode schließt sich gleich die Zimmertür an. Hinter der Tür hängen ein paar Haken für Klamotten an der Wand und über dem Bett hängt ein kleines Kruzifix. Ein schwarzes Holzkreuz mit messingfarbenem Corpus Christi.
Das andere Zimmer ist etwas größer. Hier habe ich meine Bücherregale untergebracht, einen alten, multifunktionalen Küchentisch mit Geheimschubladen und vier Stühlen, der mitten im Zimmer steht.
Nele war froh, dass ich den „ollen Omatisch“ mitgenommen habe. Sicher steht jetzt in ihrer Küche ein passendes, glänzend lackiertes Tischchen.
Auf dem Küchentisch posiert Grünlilie Nummer zwei.
Die dritte steht auf dem Boden neben meinem Sofa. Auf einem Beistelltisch liegt mein Laptop und steht eine Tischleuchte. Unter dem Sofa ruht der bunte Teppich, den Nele und ich gemeinsam gekauft haben.
Nele hatte ihn nach einiger Zeit nicht mehr gewollt. „Dieses bunte Scheißteil, ich muss blind gewesen sein, als wir es gekauft haben“, schimpfte sie. „Blind vor Liebe“, ulkte ich. „Aber sicher“, höhnte sie. - Wir hatten öfter Streit um den Teppich. Zum Schluss blieb er immer liegen, wo er war. Erst als sie mich hinausgeekelt hatte, warf sie mir den Teppich hinterher. „Tu mir den Gefallen und nimm' den Mottenfraß mit“, sagte sie kalt.
Ich habe ihn mitgenommen. Der Teppich und ich sind Schicksalsgenossen.
In meinen Regalen stehen nur meine Bücher und liegen ein paar Fundstücke aus dem Wald: seltsam geformte Wurzeln und Aststücke, Zapfen, Steine, vertrocknete Brombeerzweige und auch drei vertrocknete Zitronen aus Mutters Küche. Ich bin froh, dass ich jetzt von dem Dekorationsscheiß befreit bin, mit dem Nele unsere Wohnung vollgestopft hatte und den ich unter Androhung von Todesstrafen nicht anfassen oder auch nur um ein Zentimeterchen verrücken durfte. Besser ist es, in einer Mönchsklause zu leben als zwischen Glitzer und Kitsch.
Abends Mama am Telefon: „Jung, hast du das vom Parlament in den USA gehört? Dass da eine Menge Trump-Anhänger das Parlament erstürmen wollen? Richtiger Mob, richtige Proleten, wie die Bilder zeigen. Widerlich! Da kriegt man es mit der Angst. Wenn so etwas in dem Kernland der Demokratie möglich ist! Meine Güte! Bloß nie wieder Hitler, bloß keinen Faschismus! Und auch keinen Kommunismus! Und auf die Könige, die meistens geisteskrank waren, können wir auch verzichten! Kann nicht die ganze Welt Schweiz sein? Die schöne, freie Schweiz!“
„In der Schweiz ist auch nicht alles Gold was glänzt. Wusstest du, dass erst Anno Domini 1990 in allen Kantonen das Frauenwahlrecht eingeführt war?“ Nein, das hatte sie nicht gewusst. „Ja, dann war's das wohl mit der Schweiz. Auch nur ein Traum. Ach, seien wir mal froh, dass wir in Deutschland heute leben und halbwegs Demokratie haben, wenn auch, naja, lass uns nicht über unsere Regierung sprechen“, sagte sie.
Nix gelesen, keine Musik gehört; fast ein verlorener Tag.
8. Januar
Also, dieser Max ist merkwürdig. Spricht kaum mit uns anderen, grüßt nur höflich, doch kurz, lasst sich auf keine Gemeinsamkeiten ein, ein seltsamer Eigenbrötler. „Wieso seltsam“, fragte Rina: „Ich mag ihn gut leiden, obwohl ich kaum etwas von ihm weiß. Und, ehrlich, du bist auch ein Eigenbrötler.“ Ja, stimmt, ich vergaß meine Existenz als Mönch in der Dachzimmerklosterzelle.
„Marie und ich sind ebenfalls nicht gerade das, was man extrovertiert nennt“, sprach Rina weiter: „Der Einzige in diesem Haus, der richtig zu leben weiß, ist Aidin.“
Aidin zieht uns alle immer mit – bis auf Max. Er versteht es, in der Küche eine Halbe-Stunde-Gemeinschaft zu schaffen; irgendwie hat er es hinbekommen, dass wir uns jeden Tag, alle zugleich um eine bestimmte Uhrzeit etwa eine halbe Stunde lang an der Futterquelle zusammenfinden, diskutieren, quatschen, lachen. Und jeder von uns bekommt ein Tässchen von Aidins echtem Kaffee. „Ich liebe die Deutschen, aber Kaffee – das könnt ihr echt nicht!“
Wir leben richtig gut. Alle steuern nach ihrem Vermögen bei: Marie sorgt an den Markttagen für frisches Gemüse und Obst; sie klappert kurz vor Ende die Stände ab, wenn die Marktleute schon aussortieren zum Wegschmeißen, das schnappt sie sich dann, manchmal umsonst, manchmal für nur wenige Cent. Ich kaufe im Unverpacktladen aus Überzeugung. Als ich beiläufig davon erzählte, während ich meinen ersten Gemeinschaftseinkauf in den Kühlschrank einräumte, klopfte Max mir unerwarteterweise anerkennend auf die Schulter, sagte aber nichts.
Von Vaters Hof staube ich natürlich allerhand ab, momentan Kohl. Aidin kauft beim türkischen Händler oder im Supermarkt ein und Rina generell in Discountern. Ihr Onkel oder so geht auf die Jagd. Wir haben schon Kaninchen gefuttert. Das heißt, ich nicht und Max auch nicht. Max ist Vegetarier. Ich esse nur Geflügel und Fisch, keine Säugetiere; Menschen sind auch Säugetiere; es käme mir wie Kannibalismus vor.
Bei Max ist alles entweder Bio oder fair trade oder beides zusammen.
Lektüre momentan: LeBretons „Schmerz“ (habe wieder extreme Schmerzen im linken Arm).
9. Januar
Marie hat drei Schnecken in ihrem Zimmer. Sie zeigte mir das Terrarium. Ziemlich groß für ihr kleines Dachgeschosszimmer. Aber die Schnecken sind ebenfalls riesig; so welche habe ich noch nie gesehen. „Das sind Achatschnecken“, erklärte sie: „Ostafrikanische Riesenschnecken. Wir haben sie in der Kita; von da habe ich mir drei Schneckeneier mit nach Hause genommen, et voila.“ Sie ist sichtlich stolz auf ihre Haustiere. „Ich arbeite mit tiergestützter Pädagogik“, erklärte sie weiter: „Der Umgang mit den Schnecken senkt nachweislich den Blutdruck, außerdem fördere ich mit ihnen die taktile und visuelle Wahrnehmung der Kinder, ganz zu schweigen von ihren sozialemotionalen Kompetenzen. Und außerdem lernen die Kiddis etwas über Tiere und Natur.“
Marie ist ganz Feuer und Flamme und auf meine interessierten Nachfragen hin erzählt sie jede Menge über ihre Arbeit. Sie geht ganz darin auf. Die Glückliche. Ich dagegen - - ich bringe es einfach nicht zum Philosophieprofessor an irgendeiner Hochschule. Meine Kraft reich nicht aus – erst das Zusammenleben mit Nele, dann die Trennung von ihr, sowas zehrt an einem. Bin ein richtiger Hänfling.
Ich muss zugeben, ich habe Erzieher*innen bisher unterschätzt. Ich gestand das Marie.
Sie lachte: „Jaja, ich weiß. 'Die' spielen ja 'nur' mit den Kindern... Aber lass den Begriff 'Erzieher*in'. Der Begriff 'pädagogische Fachkraft' ist angemessener und in unserer Kita verstehen wir uns als Bildungspartner*innen der Kinder. Mein Beruf ist also Bildungspartner*in. - Weißt du, wir lernen jede Menge, ich meine damit nicht nur Fort- und Weiterbildung und unsere Ausbildung ohnehin, sondern ich lerne jeden Tag durch die Kinder dazu. Sie haben ihre Ideen und Themen, entwickeln daraus Projekte und wir machen mit.“
„Man lernt sein Leben lang“, sagte ich wie ein alter Weiser: „Oder wie meine Mutter zu sagen pflegt: alt wie 'ne Kuh und lernt immer dazu.“
Über Maries Schreibtisch hangt ein schwarz-weiß Bild, hübsch eingerahmt. Es zeigt einen Aufmarsch von Frauen, in Klamotten aus den Vierzigern, Fahnen schwingend. „Das sind die Frauen aus Reggio Emilia“, berichtete Marie stolz und sah dabei das Bild zärtlich an: „Sie waren der Überzeugung, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg vieles ändern müsse und, weil die Manner ihre Sache gründlich verkackt hatten, wollten sie nun die Initiative ergreifen. Sie sagten, schon die Kinder müssten demokratisch gebildet werden, zu kritischen und kreativen Menschen, um einem neuerlichen Krieg entgegenzuwirken und endlich Generationen wahrer Menschen zu schaffen. Sie besetzten kurzerhand Häuser in denen sie Kindergärten einrichteten, in denen Kinder demokratisch erzogen wurden. Diese Idee machte die Runde. Reggio-Pädagogik, vielleicht sagt dir das was. Ist mehr eine Philosophie als eine Pädagogik, das müsste doch was für dich sein?“ Sie lächelte wieder.
Wenn sie lächelt, ist Marie richtig hübsch.
„Muss gestehen, ich habe es noch nicht gehört“, sagte ich. „Kein Wunder“, lachte sie: „Weil diese Philosophie von vielen Frauen begründet wurde. Unsere Gesellschaft hört aber immer noch nur auf den einzelnen genialen Mann.“
Sie betonte das Wort 'genialer Mann' mit größter Ironie.
„Da ist was Wahres daran“, gab ich zu.
Marie beeindruckt mich doch sehr.
Und diese Geschichte von den Frauen aus Reggio auch.
„Wir bräuchten sie heute wieder“, seufzte ich. „Empfindest du das auch, dass die Demokratie in Gefahr ist“, fragte Marie ängstlich und zugleich anscheinend froh darüber, dass da jemand ähnlich wie sie dachte. Ich nickte. Wenn ich jetzt losgelegt hätte, dann säßen wir noch nächste Woche hier und redeten uns die Köpfe heiß.
„Ich weiß nicht, warum die Menschen so bescheuert sind und den hohen Wert der Demokratie nicht erkennen, nicht schätzen“, sagte ich nur. „Sie sind zu faul, zu egozentrisch“, sagte Marie mit einiger Wut im Unterton.
Jetzt habe ich wieder was zum Grübeln: darüber, ob Demokratie anstrengend ist und die Menschheit zu bequem. Es ist bequemer auf einen Alleinherrscher zu hören, der dir alles abnimmt, in den Schoß legt und für diese Mühe nichts haben will als deine Unfreiheit, und dass er der Chef ist. Wohin geht denn die Tendenz in dieser Welt, in Russland, China, Nordkorea... Warum sitzen die alle im Osten?
Dann fallen mir doch noch einige im Süden ein.
Mir wird schlecht, wenn ich an diese Männer denke. Ich schäme mich dann meines Mannseins. An diese zu grotesker Diktatur aufgeblähte Mannheit zu denken ist wie ein Griff inKuhscheiße.
Maries Widerstands-Frauen aus Reggio werden mir immer sympathischer, je mehr ich darüber nachdenke.
Max kam eben total angesäuert nach Hause. Türenschlagen. Er ist wütend. Weiter weiß ich nichts.
Lektüre: Deutsche Mariendichtung.
Hörerlebnis: Gustav Mahlers fünfte Symphonie dirigiert von Bernard Haitink. Ich glaube, der Dirigent Haitink ist nahezu hundert Jahre alt und lebt in Amsterdam.
Immer noch 9. Januar
Ich hab' sie gesehen und sie sah mich auch. Mitten auf dem Prinzipalmarkt.
Ich kam gerade von der Arbeit und sie tänzelte an der Seite eines widerlich geschniegelten Business-Typen herum, dass ich fast auf die Straße gekotzt hätte! Sie sah mich und war kein bisschen peinlich berührt, nein, himmelte den schleimigen Kerl nur noch mehr an, kuschelte sich an seine Schulter, Augenklimpern, Lachen und Scherzen. Und er sah verliebt auf sie herab, lachte auch. Pures Liebesglück!
Ich war so von der Spur, ich ging ein Weilchen hinter ihnen her, obwohl ich in die andere Richtung gemusst hätte. Nele hat das gemerkt und ein boshaftes Lächeln ging über ihre Gesichtszüge. Sie blieben vor den Auslagen der Geschäfte stehen. Sie zeigte auf teuren Schmuck, teure Klamotten, teure Schuhe und er nickt und lächelte: Natürlich, Schätzchen, du bekommst das alles, streichele nur meine Eitelkeit. Bah, diese Hure!
Wieder zuhause musste ich mich im Bad übergeben vor lauter Ekel.
Rina horte mein Würgen. Als ich nach einer halben Ewigkeit aus dem Bad kam, erwartete sie mich. „Geht es dir gut? Kann ich dir helfen“, fragte sie besorgt. Ich dankte ihr es nicht. Ich sah sie wie fremd an und fragte wütend: „Was liebt ihr an uns Männern? Das Portemonnaie? Den guten Job? Das gute Aussehen? Ein enormes Gemächt?“ Trotz meiner Ausfälligkeit fuhr sie nicht zurück, sondern sagte sehr ernst: „Hm, enorm muss es nicht unbedingt sein...“ Ich musste lächeln, ob ich wollte oder nicht. „Du gehst jetzt auf dein Zimmer und ich bringe dir in ein paar Minuten eine Tasse Kamillentee für Magen und Nerven“, bestimmte sie: „Aidin kocht gerade irgendeine Suppe fürs Abendessen. Das wird dir dann guttun.“ Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort in die Küche hinunter.
Das brachte mich zu mir selbst. Ich stieg die Treppe hinauf unters Dach, ließ mich auf mein Sofa fallen, stierte in die Luft.
Nach zehn Minuten brachte mir Rina eine Tasse Tee und einige Apfelscheiben. „Äpfel sind gut. Wenn etwas auf dem Magen liegt, kommt es nach dem Apfelessen entweder raus, dann geht es dir besser, oder bleibt drin, dann geht es dir sowieso wieder gut. Mediziner*innenweisheit. Abendessen ist in einer Stunde fertig.“ Sie stellte Tee und Apfel vor mich hin, lächelte mir aufmunternd zu und ging wieder.
Ich verweigerte mich ein paar Minuten dem Tee. Es schoss mir kurz durchs Hirn, dass ich nie wieder essen und trinken wollte, sterben wollte ich, verhungern, verdursten. Dann trank ich doch.
Sie will doch nur, dass es mir schlecht geht, dachte ich: den Gefallen tue ich ihr nicht.
Wenn ich stürbe, würde sie damit angeben: o, nein, wegen mir hat er sich umgebracht – wow, so viel bin ich wert, ich bin so toll, so super, so wunderschön, the best, aha, jaja!
Nein, puttana, den Gefallen tue ich dir nicht.
Ich biss wütend und hungrig in die Apfelstücke.
Beim Abendessen war ich wieder ganz der Alte. Es wurde ziemlich lustig. Sogar Max lachte mit und machte Witze. Irgendwie gab es eine Verbundenheit zwischen uns fünfen.
Aidin kochte verdammt gut – südafrikanische Tomatensuppe. Blutrot, wirklich, so tiefrot wie Blut.
Lektüre: Reza „Der Gott des Gemetzels“ und, aus Wut, gehört: Richard Wagners „Walkürenritt“, Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“, Schlussszene (nur die letzten Minuten) aus der Oper „Salome“ von Richard Strauss sowie Verdis und Mozarts „Dies irae“ aus deren Requien – Musik, die zerschlägt.
10. Januar
Von Vater ein neues Rezept für selbstgemachtes Duschgel erhalten: Kernseife, Nelkenöl, Olivenöl, Kamillentee. Den Trick mit der Shampoo-Einsparung habe ich auch von ihm: er kauft ein Shampoo, füllt ein Viertel davon in eine alte, leere Shampooflasche und gießt mit einem viertel Liter Kamillentee auf. Das Haar bleibt dadurch gesund – die Kamille wirkt so gut. Außerdem halten die Haare lange, ehe eine neue Wäsche nötig ist. Fast eine Woche. Auf diese Weise kommt er mit einem Shampoo langer als ein halbes Jahr aus, spart Geld und spart die Stoffe ein, die für die Herstellung des Shampoos und die Verpackung nötig sind. Selbst Mutter ist von dem Shampoo begeistert. Mit dem Duschgel haben sie und ich allerdings so unsere Probleme, aber Vater experimentiert weiter, bis er eine grüne, lang duftende und reinigende Alternative gefunden hat.
Die WG nimmt die Shampoo-Idee begeistert auf. Wieder klopft mir Max anerkennend, aber schweigsam auf die Schulter. Dauernd ist er unterwegs. Wenn er zuhause ist, dann rührt er sich kaum aus seiner Höhle heraus. Manchmal geht nachts die Haustür; das ist dann Max, der - Gott weiß, wohin - geht.
Arbeit am Kierkegaard und an dem Roman.
In so einem Roman muss Blut fließen und es muss eine Liebesgeschichte geben, sonst lesen ihn die Leute nicht. Ich sollte hemmungslos bei den großen Romanciers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts abschreiben; zumindest von ihnen lernen: Mann, Brontë, Eichendorff, Dickens, Kafka, Zola, Tolstoi, Thackeray, Hesse, Fontane, Austen, Lagerlöf, Dostojewski, Stendhal, LeFort, Bergengrün, Flaubert, Eliot, Zweig, Sand, Feuchtwanger...
Max strickt.
Habe zufällig einen Blick in sein Zimmer werfen können, wo er auf einem aus Paletten selbst gebauten Sofabett saß, inmitten einer heillosen Unordnung, und an einer Art Pullover strickte. Meine Mutter hatte ihre helle Freude. Die saß in ihrer grünen Vergangenheit strickend bei Bürgerversammlungen. „Immer lila Pullover und Schals, mein Junge. Lila, die Farbe der Frauen!“
12. Januar
Arbeit im Archiv. Arbeit an den Büchern.
Zum Jahresbeginn bin ich immer so beflügelt. Ich schmiede Pläne, ich habe Ideen, Energie zuhauf...
Gut eingelebt in die WG. Rina: „Was? Du hast kein Smartphone? Kein Handy? Hast kein WhatsApp? Ja, aber... Warum denn nicht?“ Ethische Gründe: a. die Geräte verschleudern kostbare Ressourcen, b. die Geräte verschleudern sinnlos Zeit, c. dauernde Erreichbarkeit ist mir unangenehm.
Wird nur halb verstanden. Aidin: „Mann, ich bin bestimmt für die Umwelt, aber auf mein Smartphone kann ich echt nicht verzichten. Bist ja sozialtot!“ Marie: „Ich find's stark. Cool.“ Max: „Bist schon extrem.“ Sagte ausgerechnet er.
Durch den Wald hinter der Siedlung gelaufen. Tatsächlich ist der Grund und Boden an manchen Stellen sehr nachgebend. Wie Vater sagte. Schwankend. Ich merke es auch, wenn ich durch die Grafschaft rüber zur Bibliothek radle und dann Feld und Wald kreuze. Irgendwie ist der sumpfige Urgrund noch spürbar. Das Moor.
Erinnere mich an meine Kindheit, an Wanderungen mit den Eltern durchs Venner Moor oder rundherum in der Lauheide. Wenn Moor, dann barfuß. Hinterher die schwarzen Füße, der Morast bis hinauf zu den Knien und Vaters Kommando: „Alle Beine unter den Gartenschlauch!“ Seiner Meinung nach war der größte Frevel der Stadtgeschichte, das Moor so begrenzt und zurückgedrängt zu haben. „Naturfrevler, die ganze Meschpoke!“ Womit er die Regierenden der Stadt in Vergangenheit meinte. „Und jetzt machen sie die Felderlandschaft kaputt. Stück für Stück. Hier war es mal schön und lebenswert. Anfang der Neunziger vielleicht noch. Mittlerweile nicht mehr. Zu groß. Viel zu groß geworden. Mehr als diese Stadt und die Landschaft hier vertragen kann.“
„Willem!“, mahnt Mutter mit leisem Vorwurf in der Stimme und Papa grummelt sich nur noch leise was in seinen Bart.
Ich mag das Moor momentan wieder sehr, weil ich mir vorstelle, Nele im Morast zu ersticken und ihre Leiche darin zu entsorgen. Beschwert mit dicken Feldsteinen blubbert ihr verhurter Körper in die schwarze Unendlichkeit hinab. Ich sehe lächelnd zu, bis keine Blasen mehr aus dem gurgelnden Urgrund steigen und der Sumpf gefährlich still daliegt.
In der Bibliothek kam Interessantes über die Katharer, die mittelalterliche christliche Sekte, auf meinen Schreibtisch. Habe die Gelegenheit ergriffen, ausgiebig in den Büchern zu lesen. Faszinierend. Auch dadurch, dass ich viele ihrer Glaubensinhalte durchaus teile.
Sicher wäre ich im Mittelalter ein 'Freund Gottes' geworden, wie sich die Katharer selbst nannten. Vielleicht sogar als Ketzer verbrannt worden. Die Katharer waren Vegetarier, weil ihnen alles Fleisch als sündig verhasst war. Richtig so! Der menschliche Körper – letztendlich nur Wurmfraß. Von wegen Tempel der Seele.
Ein asketisches Leben haben sie geführt, die Katharer, zumindest diejenigen unter ihnen, die als 'Perfecti' zu ihrem innersten Kern gehörten. Das passt voll zu mir.
Mönch, wohlgemerkt.
Mir gefällt, dass bei den Katharern auch Frauen das Priesteramt bekleiden konnten. Das ist ja etwas, was ich an der katholischen Kirche überhaupt nicht verstehen kann: die Verweigerung, Frauen im Priesteramt zu haben. Ein Grund übrigens, weshalb meine Mutter die Seiten gewechselt hat und evangelisch geworden ist: „Ich lass' mir doch von einem Kerl nicht in meine Seelenangelegenheiten reinpfuschen! Was weiß der denn von Frauensorgen – und seelen!“
Lektüre: „Persuasion“ von Jane Austen. Was ist das für eine Treue! Da kann sich Madame Nele eine gewaltige Scheibe von abschneiden. So sollten alle Frauen sein wie diese Anne Eliot, die Heldin des Romans.
13. Januar
Brombeersträucher am Straßenrand. Ein brauner Wall von Gezweig und Dornenstarren.
Heute Morgen ging es mir erst sehr schlecht, ich konnte nicht aufkommen, denn in der Nacht hatte ich viel mit Luftnot und Brustschmerzen zu kämpfen. Dann raffte ich mich zu einem Spaziergang am Vormittag auf. Vorbei am Waldrand, wo sie den hübschen, dichten, kleinen Tannenwald abgeschlagen haben und nun nur noch Kraut und Ranken zwischen einigen schlanken Birken hoch aufragen.
Danach zur Arbeit. Vier Stunden. Ich fand dort in meinem Bücherkeller Zeit, mich eingehender mit den Werken des Philosophen Sloterdijk zu befassen – „der Sinnspiegel sinkt“, „Weltaugenbuch“, „Nur-Körper-Welt“, „Ruinenwert von Aphorismen“, „Diskursklassengesellschaft“ oder „Selbstbild- leiden“, solche Worte vergisst man so leicht nicht.
In einer Pause auf dem Klo habe ich mich im Spiegel betrachtet, um mein Leiden an meinem Selbstbild zu ergründen.
Marie bei einem zufälligen Treffen in der Küche meine Idee der Menschheit als solcher und den einzelnen Menschen lang und breit ausgelegt.
Ich dachte bei mir, warum ich Idiot bei einem ersten näheren Kennenlernen mit so einem Thema daherkomme und nicht mit Small talk. Aber Marie hörte mit Ernst zu und sagte dann, Kindheit wäre unbedingt von der Menschheit abzutrennen. Kindheit sei etwas Edles, Menschheit etwas Ekles.
Den Satz muss ich mir merken. Der kam gut.
Wir hörten davon, dass in den Laboren der Uniklinik eingebrochen worden sei und mehrere Mäuse und Ratten befreit worden wären. In der letzten Zeit häufen sich solche Aktionen in unserer Stadt. Vater spricht in solchen Fällen vom gerechten Aufstand vernunftbegabter Menschen gegen den Missbrauch von Tier und Natur.
„Richtig so“, rief Marie: „Wenn ich nur diesen Mut hatte, mit aller Gewalt für die Tiere zu kämpfen! Ich will mir gar nicht vorstellen, wenn meine Schneckenfreunde... furchtbar!“
Rina: „Seid doch vernünftig. Die Medizin bedient sich des Tierversuchs nur im äußersten Fall und um den Menschen zu helfen, sind manche Tierversuche nun mal notwendig.“
„Nö. Es ist ethisch schlicht und einfach verwerflich“, sagte Marie etwas schnippisch. Von Max, der stumm danebenstand, aber aufmerksam und irgendwie angespannt zuhörte, erntete sie allerdings ein zustimmendes Nicken. Das hat was zu bedeuten.
14. Januar
„Die Freude steckt nicht in den Dingen, sondern in unserer Seele“ (Therese von Lisieux).
Wie sehr ich die Dinge verachte! Im vergangenen Herbst habe ich viele Gegenstände aus unserer Wohnung weggeworfen. Nele zum Trotz, die aber nicht einmal merkte, dass etwas fehlte. Sie hatte keinen Überblick über die Dinge, obwohl sie sie brauchte.
Die Dinge haben mich belastet. Man meint immer, die Dinge hätten diese oder jene Bedeutung, weshalb man sie beschafft, behält und hortet. Das sind Bedeutungen, die man selbst den Dingen beimisst. Wenn man sich davon freimachen kann, dann verlieren die Dinge ihren Wert und können leichten Herzens weggetan werden. Was aber die Freude in der Seele angeht – ich forsche in mir nach, ich lausche auf die Regungen meiner Seele... und finde keine Freude.
Die Eltern besorgt wegen meiner anhaltenden Schmerzen. Gehe trotzdem zur Arbeit und abends schreibe ich am Roman, bearbeite die Lektoratsänderungen meines 'Kierkegaard“-Buchs und höre dabei Musik. Schumann vorzugsweise.
„Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts [...] vor mir stets ein leerer Raum [...] Dieses Leben ist grauenhaft, nicht auszuhalten“ (Kierkegaard 1843).
15. Januar
Angesichts eines Krimis im Internet schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich meinem Mörder nicht böse wäre; er wurde erlösen. Den Mord müsste man dann nur Nele in die Schuhe schieben können. Für immer und ewig sollte sie hinter Gittern sitzen! -
Warum denke ich eigentlich noch an diese meretrix magna? She disgusts me! She's a whore!
Dann an Jesus gedacht – ich hatte nie die Kraft, der Sünderin zu verzeihen. Das ist der Unterschied zwischen mir normalem Menschen und dem Sohn Gottes.
Dann weiter gedacht an Giuseppe Verdis Oper „Stiffelio“, wo es auch um Vergebung für die Ehebrecherin geht. Verdis protestantische Oper. Ein Meisterstück gegen das seit Jahrhunderten pervertierte Papsttum. Verdi war insgeheim Protestant, das glaube ich, seit ich eine sehr gute Verdi-Biographie gelesen habe, die den pietistischen Bewegungen im Italien seiner Zeit nachspürte. - Nele vergeben, nein, ich bin nicht Stiffelio.
Deko-Nele, immer nur in Markenklamotten, schmuckbehangen...
In der WG wurde über die Dinge diskutiert. Rina: „Naja, Dinge sind mitunter sehr schon. Dann will ich sie um mich haben.“
„Auch, was Du nicht brauchst?“
„Gerade das. Das überflüssig Schöne – es gefällt mir einfach.“
Max: „Wirklich, wenn man nur hätte, was man braucht, das wäre ganz schön arm.“
Marie: „Was meinst du denn, Alex, was die Dinge sind?“
„Künstliche Gefühle. Rina, wenn dir das schöne Ding gefällt, wie fühlst du dich dann?“
Rina: „Zufrieden, geborgen...“
„Das ist, glaube ich, der Sinn der Dinge: sich sicher zu fühlen, einen Wall der Dinge um sich herum zu bauen, eine Mauer künstlicher guter Gefühle, um sich zu verstecken.“
Marie: „Hm. Das leuchtet ein. Ich denke an die Kitakinder. Die bringen oft Stofftiere oder Autos oder, weiß der Himmel was, mit in die Kita. Sie haben dann etwas dabei, das ihr Zuhause, ihre Wohlfühlzone, ihre Familie repräsentiert. Dann fühlen sie sich sicher. Transitionsobjekte. Aber die Dinge können auch noch etwas anderes, das vergisst du, Alex!“
„Was sollte ein Ding können.“ Ich zog verächtlich die Mundwinkel hoch.
Marie: „Dinge können den Horizont erweitern. Du kannst über die Dinge Neues lernen.“
Max: „Voll getroffen!“
Ich dachte nach. - Scheiße. Sie hat recht. Die kleine, stets unterschätzte Erzieherin! Ich komme mir hochmütig vor, wie ich die Dinge so mir nichts, dir nichts abwerte.
Aidin: „Über den Wert der Dinge muss man doch nicht reden, aber darüber, ob wir uns von ihnen beherrschen lassen, wie wir sie nutzen.“
Marie: „Genau. Das 'Wie' ist entscheidend.“
Max: „Und Alex, was bedeutet es dir, auf die Dinge zu verzichten? Das ist auch ein 'wie'. Tust du sie von dir, weil sie eine Erinnerung sind, oder weil du sie wirklich nicht brauchst.“
Rina schnell – ehe ich gereizt antworten konnte: „Ich kann nicht auf zwei Dinge verzichten, die heißen Gabel und Teller. Die Lasagne ist fertig. Wer deckt den Tisch?“
16. Januar
Am Gartenzaun stand der Nachbar, Herr Marić. Ich kam eben vorbei, als er sich mit Rina unterhielt. Wir stellten uns kurz einander vor. Dann sprach er weiter: „Dieses Corona! Ich sage Ihnen, wir werden kaputt gemacht, systematisch kaputt gemacht! Da haben Geheimdienste ihre Finger im Spiel. Sicher der KGB oder Chinas Ministerium für Staatssicherheit.“
„Aber, Herr Marić“, beruhigte Rina ihn: „Meinen Sie, die Geheimdienste hätten so etwas nötig?“
„Mich kriegen die auch nicht. Mich nicht! Ich lasse mich nicht impfen. Das mache ich nicht mit. Wer weiß, was die uns einimpfen. Ich weiß, was Krieg ist, damals, Anfang der Neunziger! Ha! Sie sind jung, Sie wissen das nicht. Die wollen uns unfruchtbar machen und dann kriegen die viele Kinder und … ja, warten Sie es ab, noch zwei oder drei Generationen, dann gibt es keine Deutschen mehr, keine Bosnier oder Europäer, nur noch Chinesen!“
„Die Welt verändert sich eben“, versuchte Rina über die Auslassungen hinwegzugehen.
Geschickt lenkte sie das Gespräch auf die Müllabfuhr, und dass die Müllwerker mal wieder die Tonnen durcheinandergemischt und sonst wo abgestellt hatten. „Zwei Straßen weiter hab' ich meine Papiertonne gefunden! Das ist doch unglaublich, oder“, regte sich Herr Marić auf.
Dass er seine Papiertonne überhaupt anfasst, verwunderte mich. Er und seine Frau machen eins auf reich und schon. Etepetete, fahren Porsche, sie hat den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als vor der Haustür zu stehen, zu paffen, die Stummel dann über den Zaun in unseren Garten zu schmeißen und stundenlang am Handy zu quatschen.
„Die beiden sind ziemlich rücksichtslos. Sahen, dass bei uns Wäsche draußen hängt und spritzten trotzdem mit Hochdruckreiniger ihre Hauswand ab, ohne uns vorher zu warnen oder zu warten, bis die Wäsche weg war. Die Wäsche sah aus! Oder stellten einen Rasensprenger so dämlich auf, dass er unsere Gartenmöbel traf und meine Sitzpolster nur so trieften. Solche Klopper bringen die dauernd. Nicht aus Bosheit, einfach weil alle anderen ihnen schietegal sind: Nur sie selbst zählen. Du wirst es noch erleben“, klagte Rina: „Trotzdem hätte man es schlimmer treffen können mit den Nachbarn und die Familie auf der anderen Seite ist total lieb.“
Lektüre: In Musikerbiographien geblättert – Freude daran gehabt. Passenderweise dazu Diverses von Clara und Robert Schumann, Leopold Mozart und Franz Schubert gehört.
Robert Schumann: „Die Welt ist ein schimmliger Käse.“ Oder habe ich das Zitat falsch im Kopf?
Die Welt ist ein einziger Morast.
17. Januar
Sonntagsbesuch bei Mama und Papa. Mein lieber Cousin war auch da. Es gab Rouladen mit Klößen und Rotkohl. Papa und ich aßen nur die Klöße und das Gemüse. Wie immer.
„Aber die Rouladen sind ganz lecker. Ich habe extra nur wenig Speck genommen, weil ich weiß, dass ihr das nicht mögt“, seufzte Mama.
Vater und ich seufzten auch, denn wir versuchen ihr seit Jahren und Jahrzehnten nahezubringen, dass wir, wenn Fleisch, dann nur Geflügel oder Fisch essen, aber sie will es nicht einsehen, wahrscheinlich aus einem mütterlichen Fütterungs- und Fürsorgeinstinkt heraus. „Ohne Fleisch fällt man vom selbigen“, pflegt sie zu predigen.
Mein Cousin freute sich. Er fraß glatt unsere Rouladen auch noch weg. Dafür ließ er uns viel Rotkohl übrig. „Du bist meine Lieblingstante, Tante Monika“, sagte er mit vollem Mund.
Und Mama wurde rot vor Freude: „So ein guter Esser!“ Vom Nachtisch gab sie ihm mehr als uns. Dabei mögen Papa und ich auch gerne Schokoladencreme!
Der gute Cousin, die Backen voller Rouladen: „Na, Onkel Willem, gib es ruhig zu: das mit dem Einbruch in die Uni und der Rattenbefreiung, das warst sicher du!“
„Ich werd' dir helfen, mein lieber Christian“, drohte Vater scherzhaft mit dem Zeigefinger: „Nein, dafür ist dein guter Onkel zu alt. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, dann hätte ich es vielleicht wirklich getan.“
„Damals hast du ja tatsächlich...“, wollte Mama eine der Tier-Befreiungsaktionen meines Vaters ausplaudern. „Still, Weib“, rief Vater. „Mein Gott, Willem, das ist doch sowieso verjährt und warum soll Christian es nicht wissen, er ist ja jetzt erwachsen.“
„Onkel, hast du wirklich Tiere aus Laboren befreit?“
„Und den feinen Damen vor der Düsseldorfer Oper hat er damals die Pelze farbig angesprüht. Aber erwischt haben sie ihn nicht“, trumpfte Mama stolz auf. „Selber schuld, was tragen die blöden Tucken auch Pelz“, brummte Vater in seinen Bart. Cousin Christian sah mich triumphierend an. Sollte heißen, seine Eltern wären anständiger als meine, keine Hippies, keine kriminellen Tierschützer, sondern brave Versicherungsangestellte und er selbst ihr wohlerzogenes und gut funktionierendes Kind, Finanzberater, nicht so eine zweifelhafte Philosophenexistenz mit Halbtagsjob wie ich!
Musik: Camille Saint-Saens „Samson et Dalila“, Introduktion
18. Januar
Heute erst am Nachmittag Dienst. Den Morgen mit einigen Kung Fu-Übungen zugebracht und meditiert über Hedwig Dohms Satz „Die Menschenrechte haben kein Geschlecht.“ Die Menschenrechte haben weder Geschlecht, noch Nationalität, weder Alter, noch Gesundheit. Die Menschenrechte kennen keine Diversität. Sie gelten schlicht für alle Menschen.
„Rafft euch empor! Organisiert euch!“ Das ist auch von Hedwig Dohm, dieser Aufruf, dass die Frauen für ihre Emanzipation kämpfen sollten. Demokraten, Biophile, gute Menschen - organisiert euch, engagiert euch, zeigt euch - das mochte ich ohne Pause rufen. Schiet nur, dass ich nicht weiß, wie ich das anfangen soll.
„Untätigkeit ist der Schlaftrunk, den man dir, alte Frau, reicht! Trink ihn nicht! Sei etwas!“ Das ist auch von Dohm; ich finde es großartig. Wenn Frauen missachtet werden, auch noch in der heutigen Gesellschaft, dann besonders die älteren Frauen. Frauen ab fünfzig, sechzig. Auf ihre Bedürfnisse wird null Komma gar nicht Rücksicht genommen.
Doch Dohms Spruch trifft auch auf junge Menschen zu: Untätigkeit ist der Schlaftrunk, den man dir, junge Generation, reicht! Trink ihn nicht! Sei etwas! Lass dich nicht in ein Netz aus Freizeitaktivitäten, schönen Dingen, zeitraubender Medien-selbstbespiegelung verstricken! Suche dir etwas zu kämpfen! Tritt für etwas ein, mache dich für etwas stark! Engagiere dich! Werde etwas! Organisiert euch!
Schockierende Nachricht: Alexei Nawalny, russischer Oppositionspolitiker ist verhaftet worden. War klar. Warum, habe ich mich gefragt, fliegt er zurück nach Moskau? Ich an seiner Stelle wäre gemütlich in Deutschland geblieben. Aber da haben wir es ja: kämpfe für etwas! Sei nicht bequem!
Nawalny ist vor allem gegen die Korruption ins Russland zu Werke gegangen. Mit korrupten Arschlöchern sollte man sich nicht anlegen. Überhaupt nicht mit Arschlöchern. Ich hoffe, das geht für ihn gut aus.
19. Januar
„Der Körper ist das Grab der Seele“ (Platon).
Mit Rina hinüber gegangen zu Frau Blankendaal. Frau Blankendaal ist eine liebe alte Dame. Rina hat während des Lockdowns für Frau Blankendaal eingekauft und ab und zu mit ihr geplaudert. Rina vor der Haustür, Frau Blankendaal am offenen Küchenfenster.
Jetzt ist es ein Ritual geworden, dass Rina sich um Frau Blankendaal kümmert und einmal in der Woche die schweren Einkäufe (Mehl und Milch) für sie erledigt. Mich hat sie heute mitgenommen, damit ich den tropfenden Wasserhahn in Frau Blankendaals Küche repariere. Das kann ich gut. Ich hätte Handwerker werden können. Ich habe mir viel bei meinem Vater abgeschaut, einem richtigen Peter Lustig.
„Ich lass' mich bald impfen“, sagte die alte Dame heute zur Begrüßung. „Das ist gut“, meinte Rina: „Und seien Sie unbesorgt. Die Impfstoffe sind sicher.“
„Ein bisschen Sorge habe ich schon, weil das so schnell geht.“
„Die Impfstoffe haben aber den üblichen Zulassungsweg durchlaufen, das geht nur so schnell, weil viele Staaten jetzt Geld wie noch was in die Entwicklung schießen. Sonst zieren die sich damit.“
„Ach, ja, das Geld, das Geld“, seufzte Frau Blankendaal und verdrehte die Augen gen Himmel: „Wat meinen Sie, wer jetzt alles die Hände über dem dicken Bauch reibt! Was die sich jetzt alles in die Tasche stecken können – und ich mit meiner schmalen Rente. Erhöht haben sie die im letzten Jahr auch nicht.“
„Viele mussten kürzertreten“, sagte ich begütigend. „Wohl wahr, und das tut mir auch für alle leid, aber ich hab' auch zu knapsen“, klagte die alte Dame: „Ich bin ja erst spät arbeiten gegangen. Mein Vater wollte nicht, dass ich arbeiten gehe. Damals durften die Kerls ja noch bestimmen, ob die Ehefrau oder Tochter arbeiten durften oder nicht. Was habe ich nun davon?“
„Zum Glück haben wir Frauen es heute besser“, meinte Rina. „Dass das hoffentlich bleibt, klopfen Sie mal schnell auf Holz“, meinte Frau Blankendaal: „Was so in der Welt abgeht, das ist mir nicht ganz koscher. Und die Alten, die Kinder und die Frauen, die spüren das immer als erste am eigenen Leib, wenn es in der Welt schiefläuft. Ne, ne, ruhen Sie sich nicht darauf aus, dass es heutzutage ganz gut läuft. Gleiches Geld verdienen Frauen noch nicht wie Männer!“
„Da gibt es wirklich noch viel zu tun. Gleichberechtigung sehe ich noch längst nicht überall“, mischte ich mich ein, den Kopf überm Küchenwaschbecken. „Ja, junger Mann, Sie haben recht. Sie sind ein Netter!“ Und tuschelnd zu Rina: „Den müssen Sie sich warmhalten.“ Und wieder laut: „Wat sagen Sie denn als Mann zu all den Doofmännern, die die Welt regieren! Der, na, der Dings, wie heißt der, der in Russland... Sie wissen schon, der und all die anderen Halbgescheiten – das glauben Sie mal, dass die Frauen da nur zu leiden haben. Bah, diese ekligen Kerls! Und Renten kriegen die Frauen in Russland ja auch einen Dreck!“
„Zum Glück leben wir in einer Demokratie.“
„Also, junger Mann, Demokratie“, empörte sich Frau Blankendaal: „Davon merke ich aber nichts. Mich fragt keiner, was ich von alldem halte!“
„Und die Wahl“, fragte Rina.
„Die Wahl, die Wahl, jetzt werd' ich aber böse. Dann wähle ich diese Bürschgen und die machen doch, was ich nicht will! Erst große Versprechen und dann – die kannste alle doch in der Pfeife rauchen. Ich hab' schon keine Lust mehr, zur Wahl zu gehen. Und was meinen Sie, was die jetzt verdient haben an Corona, die Politiker. Masken hier, Impfstoff da! Hört man doch im Fernsehen! Hier, das mit den Masken. Warum sollen es denn jetzt unbedingt die FFP2-Masken sein? Wo ich so viele schöne Baumwollmasken genäht habe. Kann ich Ihnen sofort sagen: weil die Politiker daran mitverdienen!“ Frau Blankendaal war in Rage. Aber gleich darauf lachte sie: „Meine Gute, jetzt haben wir wie am Stammtisch geredet. Das heißt, ich habe geredet. Darf ich Ihnen zur Beruhigung ein Glas Sherry anbieten?“
Der Wasserhahn war repariert. Wir saßen am Küchentisch der alten Dame, durften unsere Masken absetzen, um Sherry zu schlurfen und ein paar Pfefferminz-Schoko-Täfelchen zu naschen. „Das mache ich jeden Tag um diese Uhrzeit“, kicherte Frau Blankendaal schelmisch: „Das ist meine englische Sherrystunde. Wie bei Lady Bellamy. Sie kennen doch noch die britische Fernsehserie „Das Haus am Eaton-Place“? Mein Gott, als das lief, war ich noch eine junge Frau!“
Abends noch zu meinen Eltern und da meinem Vater mit dem Schuppendach geholfen.
Mit Taschenlampen und einem Scheinwerfer uns Sicht verschafft.
Ein Tag des Helfens und des Handwerkens. Vater: „Wärste mal besser Handwerker anstatt Philosoph geworden. Handwerker sind rar.“
Die „Geschichten aus der Corona-Zeit“ gelesen und dabei herzlich gelacht; das Buch macht jedem Freude, der Spaß an Ironie hat. Muss ich mal Frau Blankendaal zum Lesen ausleihen.
Musik: Brahms 2. Satz der zweiten Symphonie.
20. Januar
Arbeit. Heute war es sehr langweilig. Manchmal wünscht man sich mehr Publikumsverkehr, manchmal weniger. Immer das, was nicht ist.
Und was lag auch noch auf meinem Schreibtisch, das Buch aufzunehmen und einzuordnen? Eine Ausgabe der Schriften Friedrichs des Großen.
Sein „Anti-Machiavell“ ist eine Selbstidealisierung als 'guter Herrscher' und damit eine Rechtfertigung des Absolutismus, da wird einem speiübel: „Um ihrer Ruhe […] willen haben es die Völker fürnötig befunden, Richter zu haben, [...] Schirmherren [...] Fürsten, die die Interessen aller[…] zusammenfassen könnten zu einem Gesamtinteresse, und die Völker haben aus ihrerMitte die Männer ausgewählt, die sie für die weisesten, gerechtesten, uneigennützigsten,menschlichsten und tapfersten hielten, über sie Herren zu sein“.
Na, klar, das Volk hat es selbst so gewollt, einen Bedrücker über sich zu haben, einen, der ihnen alle Mühsal abnimmt und sie dafür mit Willkür regieren darf, aber sicher – das Volk ist selbst schuld!
Immerhin, zu den drei Wegen, wie jemand Herrscher über ein Volk werden kann, zählt er neben Erbfolge und Warlord-Gewese auch die Wahl durch das Volk. Aber es ist immer nur einer, der da herrschen soll. - Mit was sich der Mensch bei der Arbeit herumplagen muss!
Höre mir abends des großen Fritzen Flötenkonzert an (ein Absolutist muss sich entweder als toller Sportskerl, Womanizer oder Schöngeist präsentieren – da sich Friedrich zu seiner Zeit weder halbnackt hoch zu Ross zeigen, noch auf Sex-Partys herumturnen konnte, produzierte er sich als Komponist): das Konzert ist nicht schlecht komponiert; aber was auffällt ist die eintönige, blockhafte Orchesterbegleitung, die völlig hinter den brillanten Läufen und dem Perlen der Flötensoli zurücktritt – Absolutismus in Musik gegossen. Das Orchester hat es selbst so gewollt.
Die armen hauptberuflichen Musiker an seinem Hofe: Johann Joachim Quantz, Carl Heinrich Graun, Carl Philipp Emanuel Bach...
Mit Marie abends darüber gesprochen, weil wir uns zufällig in der Küche trafen.
Oder auch nicht zufällig.
Ich habe abgepasst, wann sie nach unten geht. Sie gefällt mir halt.
Friedrich der Große sagte ihr natürlich etwas. „Kann ich mir gut merken. Kartoffelkönig“, sagte sie und pickte mit der Gabel in eine Kartoffel – es gab gestern Abend Kartoffeln mit Béchamelsauce und Eiern; Marie hatte sich nun die Reste unter den Nagel gerissen.