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In den sechzehn Geschichten aus der Corona-Zeit stehen die Porträts unterschiedlichster Menschen im Vordergrund: die Durchschnittsfamilie im Homeoffice, der sterbende Kurator, die ehrgeizige Pharmazeutin und der Unternehmer mit der Witterung für das große Geld, der Misanthrop und die still lebende Erzieherin, die Charakterköpfe eines Dorfes und viele andere Personenbilder werden liebevoll wie mit feinen Bleistiftstrichen skizziert. Eingebettet sind die Charakterstudien in die Krisenatmosphäre der jüngsten Vergangenheit. Die Figuren der Geschichten durchleben sie auf die ihnen eigene Weise. Mal humorvoll, mal ironisch, dann wieder nachdenklich oder kritisch, manchmal auch bissig geht es in diesen Erzählungen zu, die der menschlichen Seele auf den Grund spüren.
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Seitenzahl: 260
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Veronika Beci
Nur von draußen
16 erzählte Porträts aus der Corona-Zeit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Ein anderer Blick
Meins!
Die kurze, aber tragische Geschichte der Materialistin Jenny K.
Nur von draußen
In einem alten Gemäuer
Impfstoff. Logisch
Impfstoff. Logisch - Fortsetzung
Auf dem Bauch
Unmöglich!
Spucki
Still gelebt
Still gelebt - Fortsetzung
Jacinta, der Engel
Egal
Big Business
Big Business - Fortsetzung
Des anderen Freude
Des anderen Freude - Fortsetzung
Inspiration
Inspiration - Fortsetzung
Inspiration - Schluss
Vorwurf
Impressum neobooks
Der erste Morgen ihres Lock-Downs ist noch nicht viel anders als alle anderen Morgen. Er erwacht wie immer, steht auf, wie immer leise, um sie nicht zu wecken, er wäscht sich, kleidet sich an und kommt die Treppe hinab wie an jedem Werktag. Und da steht sie auch schon in der Küche wie an allen Tagen und bereitet sein Frühstück und die Brote der Kinder. Natürlich hat sie seinen Wecker klingeln hören. Es ist ihre Angewohnheit aufzustehen, sobald er im Badezimmer verschwindet, um schon einmal das Frühstück für sie alle zuzubereiten, ehe sie selbst ins Bad kann, um sich eilig zurechtzumachen, die Kinder zur Schule zu wecken und, kurz nachdem sie sie mit dem Wagen vor den Schulen abgesetzt hat, zur Arbeit zu hetzen.
Er bleibt einen Augenblick in der Küchentür stehen. Wie geschwind und flink sie in der Küche herumwirbelt, Schubladen aufzieht und mit einem kleinen Ruck der Hüfte im Wegdrehen wieder zustößt, ein Omelett wendet und mit gelernten Schnitten Tomaten zerteilt! Sie nimmt ihn nicht wahr. Geschäftig tut sie die Handgriffe ihres Alltags.
„Ich glaube, heute können wir uns Zeit lassen“, sagt er, indem er sich an seinen gewohnten Platz am Küchentisch niederlässt.
„Morgen, Schatz“, murmelt sie und reicht ihm eine Tasse Kaffee, wie sie es gewohnt ist, während er sich mit seinem Handy beschäftigt, nachdem er ihr ein 'Guten Morgen' hingelächelt hat. Nun gibt er ihr Bericht über Neuigkeiten. Zuallererst eine lustige Mail eines ihrer Freund und dann die Nachrichten über steigende Inzidenzzahlen und Tote. „Ne, ne, ne, wo soll das nur enden“, kommentiert sie kopfschüttelnd, während sie die Omelettes schwungvoll auf einen breiten Platzteller befördert.
Sie stellt sie auf den Tisch. Sie bleibt unschlüssig stehen. Tja, eigentlich braucht sie ja nun nicht nach oben zu rasen, um sich schnell umzuziehen.
„Die Kinder können heute ausschlafen“, überlegt sie laut.
„Ein wenig schon“, meint er. Sie setzt sich zu ihm an den Tisch, schenkt sich Kaffee ein, nimmt ein Stück Omelette und Tomaten, lässt sich dann aber erst mit einem tiefen Seufzer gegen die Stuhllehne sinken, ehe sie isst.
Er sieht von seinem Handy auf. Sie setzt sich morgens nie zu ihm an den Tisch. Es ist ihm auch nicht klar gewesen, dass sie unter der Woche frühstückt. Er kann sich nicht helfen, es stört ihn ein wenig, dass sie da plötzlich sitzt, offensichtlich sehr zufrieden. Er räuspert sich. Indem er weiter Nachrichten vorliest, rettet er sich über das Gefühl hinweg, von ihr gestört zu sein. Sie unterhalten sich ein wenig. Klatsch. Belangloses. Dann sagt er: „Jetzt gehe ich mal nach oben. Ich setze mich ins kleine Büro.“ Sie haben vor einigen Jahren den Dachboden ausbauen lassen, nun, da die Kinder größer werden und zukünftig mehr Raum brauchen. Dabei war ein winziges Zimmerchen entstanden, in das sie einen Schreibtisch gestellt haben – als hätten sie's geahnt -, zweckmäßige Regale und auch die Spielekonsole nebst zwei Sesselchen, denn zuweilen spielen sie gemeinsam. Das ist aber immer seltener der Fall.
„Oh“, sagt sie gähnend, während er ihr und sein Geschirr in die Spülmaschine räumt: „Dann sehen wir uns so um Mittag?“
„Naja, wenn ich dann eine Kaffeepause mache.“
Er verschwindet die Treppe hinauf. Sie hört die Dachbodentür zufallen.
Sie sitzt da und seufzt wieder tief. Gedankenverloren wischt sie imaginäre Brotkrümelchen von der Tischplatte. Sie genießt es, morgens einfach nur dazusitzen. Sie möchte noch lange so dasitzen, Doch sie erhebt sich rasch. Sie kann doch wohl schlecht so lange einfach zur dasitzen in Schlafanzug und Kapuzenjacke, ungewaschen und ungeschminkt! Sie empört sich vor sich selber, geht eilig hinauf ins Bad und macht sich bereit für den Tag. Sie stellt ihr Laptop auf den Schminktisch im Schlafzimmer und beginnt zu arbeiten. Nachdem sie zwei, drei Mails durchgelesen hat, wird sie unruhig. Sie sieht sich im Zimmer um. Das reinste Chaos! Wenn sie jetzt schon in Videokonferenzen gegangen wäre! Peinlich!
Sie reißt das Fenster auf zum Lüften. Sie macht das Bett und überdeckt es – anders als sonst – mit einer Tagesdecke, bis es aussieht wie ein großes, glattes, weißes Paket. Sie entrümpelt die Nachttischchen, arrangiert Bilder und Topfpflanzen um und räumt Umherliegendes fort.
Befriedigt sieht sie sich im Zimmer um und setzt sich wieder an die Arbeit. Ihre Kollegen schicken schwarzhumorige Grüße aus ihrem Homeoffice oder aus dem Büro, die sie beantworten muss. Es wird still im Schlafzimmer.
Der Junge ist schon längst wach. Er hat auf die Uhr gesehen und zuerst einen Schreck bekommen: verschlafen! Mama hat vergessen, mich zu wecken! Doch im selben Moment geht ein Grinsen über sein Gesicht. Stimmt! Er muss ja heute nicht zur Schule! Ein Donnerstag und er muss nicht zur Schule! Er hüpft aus dem Bett und öffnet vorsichtig die Zimmertür. Im Haus ist alles ganz still. Es duftet nach Omelette. Der Junge merkt, dass er Hunger hat. Er schleicht durch den Flur. Im Elternschlafzimmer hört er es rascheln. Er ist also nicht allein. Mama oder Papa ist da. Aber den Teufel wird er tun, sich ihnen in Erinnerung zu bringen! Da kommen sie vielleicht auf die Idee, ihn doch noch zur Schule zu schicken! Nein, so blöd ist er nicht! Er schleicht die Treppe hinab in die Küche. Dort deckt er sich – leise, leise – mit allem ein, was ihm für ein gutes Frühstück wichtig erscheint. Mit einem übervollen Teller und einem Päckchen Kakao bewaffnet schleicht er zurück in sein Zimmer. Er schaltet seinen Fernseher ein – leise, leise - , setzt sich auf den Boden vor sein Bett und mampft sein Frühstück, während er sich Trickfilme ansieht.
Heute darf ich länger pennen und da kann ich einfach nicht, denkt das Mädchen und dreht sich wieder und wieder in ihrem Bett herum. Schließlich greift sie nach ihrem Smartphone, um zu sehen, ob auf What's App schon etwas los ist. Tatsächlich melden sich schon viele.
Schlagartig ist das Mädchen völlig wach. Es setzt sich mit gekreuzten Beinen aufs Bett und schreibt seinen Freundinnen. Es gibt ja so viel zu erzählen! Hat schon jemand einen in seiner Familie, der mit dem Virus versifft ist? Nein? Warum schieben sie dann alle Panik!
Es ist neun Uhr. Endlich nimmt sie die Uhrzeit wahr. Sie hat gerade angefangen, alle aufgeschobenen Arbeiten abzuarbeiten. Es gibt doch einiges, das liegengeblieben ist. Der Chef hat Anweisung erteilt, sich darum zuerst zu kümmern. Na gut.
Halb zehn! Die Kinder! Lange schlafen ist ja gut und schön, aber sie müssen trotzdem lernen, auch wenn sie nicht zur Schule gehen. Sie kann die Kinder doch jetzt nicht herumhängen lassen, sie muss sich kümmern!
Also klopft sie zuerst bei dem Kleinen an. Der lässt eilig einen Teller unter dem Bett verschwinden, als sie eintritt.
„Ja, sag' mal“, ruft sie empört: „Fernsehen vor der Schule – wir haben schon einmal darüber gesprochen, mein Freund!“ Er sieht sie verschlagen an: „Aber heute ist doch keine Schule. Also...“ Verdammte Kinderlogik, flucht sie innerlich.
„Trotzdem: aus“, befiehlt sie kurz. Er schaltet den Fernseher ab.
„Geh' dich mal waschen und und vergiss die Zähne nicht wieder. Ich mach hier schon mal das Fenster auf. Wir müssen jetzt mehr lüften“, sagt sie. Der Kleine verdreht die Augen und trottet ins Bad. Sie macht sein Bett. Dabei fällt ihr ein Plüschhase vor die Füße. Sie hebt das Tierchen auf und betrachtet es. Es ist sein erstes Kuscheltier gewesen und immer noch sein liebstes. Es ist abgegriffen und schmutzig, ein Ohr hängt am seidenen Faden, aber es wird geliebt. Andere Kuscheltiere sind schon verschenkt oder in den Schrank verbannt worden, aber der Hase hier, den versteckt der Junge morgens unter seinem Kopfkissen und zieht ihn abends heraus, wenn es niemand sehen kann, dass er innig mit ihm kuschelt. Er kann ohne den Plüschhasen immer noch nicht einschlafen.
Sie ist gerührt, sie weiß nicht, warum. Sie legt den Plüschhasen vorsichtig unter das Kopfkissen. Dann räumt sie einige Sachen zurecht. Als der Junge wieder ins Zimmer kommt, ist es recht gemütlich aufgeräumt. Sie lächelt ihn an.
„Wie wär's, wenn du jetzt ein wenig lernst. Ihr habt ja Aufgabenblätter bekommen. Damit kannst du anfangen“, schlägt sie vor: „Papa und ich arbeiten auch.“
„Ok“, sagt der Junge. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und kramt in seinem Rucksack. Sie zieht den schmutzigen Teller unter dem Bett hervor, lächelt und geht leise hinaus.
In der Küche, wo sie den Teller gleich in die Spülmaschine steckt, sitzt die Große auf dem Küchenboard, lässt die Beine baumeln und benagt einen Apfel.
„Du solltest was Richtiges essen“, sagt sie. „Ach, ist das hier etwa aus Plastik“, antwortet das Mädchen patzig und hält ihr den Apfel vors Gesicht.
„Ich habe Omelettes gemacht“, übergeht sie die Frechheit. Das Mädchen rümpft verächtlich die Nase.
„Ich geh' jetzt joggen un' dann mach' ich auf Schule“, sagt es, indem es sich vom Schrank gleiten lässt, einen Kopfhörer aus seiner Hosentasche zieht und sich ins Ohr porkelt.
„Wegen eurer ganzen Scheiße dürfen wir ja jetzt unsere Freunde nicht mehr sehen, aber schön brav online-schooling machen“, ätzt die Große im Weggehen.
„Fräulein“, ruft sie drohend hinter dem Mädchen her und will aufbrausen, aber schon ist die Haustür ins Schloss gefallen.
Sie seufzt tief auf. Unserer Scheiße, denkt sie: was soll das denn wieder heißen. Sie zieht sich eine Tasse Kaffee und kehrt an ihre Arbeit zurück.
So vergeht mehr als eine Woche. Immer im gleichen Rhythmus. Er steht auf, checkt Nachrichten, verzieht sich auf den Dachboden, kommt mittags hinunter, um etwas zu essen, eine Weile im Garten herumzubaseln und dann wieder auf Stunden zu verschwinden.
Sie steht auf, wirft sich in schmucke Homewear, räumt erst einmal auf, arbeitet, sieht kurz nach den Kindern, kocht sich Kaffee, arbeitet, lauscht kurz auf die Bewegungen im Haus, geht nach der Arbeit einkaufen und erledigt alles übrige wie stets.
Der Junge wacht auf, sieht fern oder spielt, und wenn er die Eltern hört, die sich aus der Küche Kaffee holen, setzt er sich rasch an seinen Schreibtisch und bekrakelt eines der Arbeitsblätter, die die Schule so reichlich spendiert.
Das Mädchen schläft lange, quatscht über What's App mit ihren Freundinnen, geht joggen, erledigt dann seinen Schulkram an seinem Laptop, mokiert sich über das technische Versagen einiger seiner Lehrer und Lehrerinnen, erfindet Entschuldigungen für falsch verstandene und nicht gelöste Aufgaben und postet von sich Bilder aus seinem 'Seuchenknast'.
Als sie eines Morgens in die Küche kommt, hat er bereits das Frühstück gemacht. Er ist noch im Schlafanzug.
„Lohnt sich doch nicht, sich großartig anzuziehen“, beantwortet er lächelnd ihren fragenden Blick. Sie setzt sich zu ihm. Sie ist überrascht, dass auch er leckere Omelette zuzubereiten versteht. Sie unterhalten sich über steigenden Fallzahlen und fragen sich, wie lange das alles wohl noch gehen wird.
„Lange nicht, sonst liegt unserer Wirtschaft platt am Boden und dann geht es uns allen jahrzehntelang schlecht“, überlegt er, utilitaristisch angehaucht.
„Besser geht’s einem lange schlecht, als dass man tot ist“, murmelt sie. Daraufhin ziehen sie sich beide an ihre Schreibtische zurück, aber nicht ohne sich zu sagen: „Bis heute Mittag.“ Es ist wie eine Verabredung.
Mittags finden sie sich in der Küche. Sie machen sich das Essen warm. Sie ruft nach den Kindern. Der Junge kommt.
„Keinen Hunger“, brüllt das Mädchen von oben herunter.
Er zuckt mit den Schultern und tätschelt den Kopf des Kleinen: „Haste für die Schule was gemacht?“
„Rechnen.“
„Kann ich gleich mal sehen?“
Der Junge schaut bestürzt auf: „Aber das guckt Mama doch immer nachmittags an.“ „Kann ich ja heute mal machen“, sagt er lächelnd.
„Das trifft sich gut, denn ich muss noch los, um irgendwo Klopapier zu ergattern“, sagt sie. Sie fühlt eine Erleichterung in sich. Sie kann nicht sagen, weshalb.
Die Tage verlaufen fast unverändert. Nur, dass sie jetzt länger liegenbliebt und sich dann zu ihrem Mann an den Küchentisch setzt, wo sie eine Weile über Gott und die Welt sprechen, ehe sie sich in ihre Zimmer zurückziehen.
Eines Morgens findet sie ihn aber nicht in der Küche. Nanu, denkt sie, er muss doch schon aufgestanden sein! Sie schaut überall nach und findet ihn im Kinderzimmer. Er sitzt mit dem Kleinen auf dem Boden vor dem Bett. Beide verkrümeln Brot mit Schokocreme und unterhalten sich lachend über den Zeichentrickfilm im Fernsehen. Der Junge erzählt seinem Vater alles, was er über seine Helden weiß.
„Ach, ich hatte so ähnliche Typen“, sagt der Vater: „Käpt'n Balu. War was mit einem Bären, der krass Flugzeug fliegen konnte.“
„Hat der auch immer alle gerettet?“
„Klar. Und manchmal war das richtig gefährlich.“
Sie zieht leise die Türe wieder zu. Die beiden haben sie nicht bemerkt. Sie lächelt.
„Ey, warte mal kurz“, ruft das Mädchen in ihr Smartphone. Es lauscht. Woher kommt das Lachen? Es wendet sich wieder seinem Smartphone zu. Aber nach einem kurzen Plausch merkt es wieder auf.
„Du, Lena, sorry, ich muss da mal was checken. Ich glaube, meine familiy dreht ein bisschen ab. Corona-Koller, oder so. Ich meld' mich gleich wieder! Tschüssi!“ Sie wirft das Gerät aufs Bett und geht die Treppe hinab, dem Lachen nach.
Da sind Mama, Papa und ihr Bruder im Wohnzimmer. Sie spielen mit einem Luftballon. Sie spielen tatsächlich mit einem Luftballon! Wie Mama kichert und Papa ihr den Luftballon zuschmettert und der kleine Knirps vergeblich hochspringt, um den hoch über seinem Kopf zischenden Luftballon zu fangen, wie Mama ihm jetzt absichtlich den Ballon zufliegen lässt, und der Bruder nun seinen Papa abschmettert, der so tut als hätte ihn eine Kanonenkugel getroffen und wie albern sie dabei lachen!
Mama sieht sie an der Türe stehen. „Pia, komm, spiel' mit“, ruft sie. Aber Pia schnaubt nur verächtlich: „Kindergarten.“ Sie dreht sich auf dem Absatz um und steigt wieder hinauf in ihre Zimmer. Als sie die Tür hinter sich zugeworfen hat, muss sie doch ein bisschen lächeln. Meine verrückte Familie, denkt sie beinahe schon zärtlich. Sie wirft sich aufs Bett. Das muss sie gleich ihren Freundinnen schreiben.
Es ist schon kein Zufall mehr, dass sie sich alle in der vierten Woche des Lock-Downs beim Frühstück treffen. Papa bereitet es vor, Mama deckt den Tisch und dabei unterhalten sie sich über alles und jeden.
„Hast du gut geschlafen, Benny“, fragt Mama, wenn der kleine Bruder auftaucht und sich hungrig an den Tisch setzt. Dabei küsst sie ihn hinters Ohr, einen extra dicken Kuss, den er sich mit gespieltem Ekel abwischt, aber doch gerne gefallen lässt. Dann unterhalten sie sich zu dritt und haben viel zu lachen. Als letzte gesellt sich Pia dazu, die sich immer halb ausgeschlafen und mürrisch stellt, aber eigentlich findet sie es sehr schön so. Sie nagt an ihrem Apfel, schlürft einige Löffel Müsli und verdreht gekonnt die Augen, wenn es wieder heißt, dass sie richtig essen soll.
„Guck mal, Pia“, versucht Benny zu provozieren: „Ich esse jetzt Palmöl.“ Er beißt in sein Schokobrot. Natürlich hält Pia nun allen einen Vortrag über den bedrohten Regenwald und giftet Benny als Umweltzerstörer an.
„Also ich habe mich entschlossen, so etwas nicht mehr einzukaufen“, sagt Elena unvermittelt. Über den Tisch hinweg begegnet ihr Blick dem ihrer Tochter.
„Ehrlich“, fragt Pia. In dem Blick ihrer Mutter liegt die volle Bestätigung und noch so viel anderes, Pia kann nicht sagen, was alles! Aber sie fühlt sich sehr, sehr wohl. Sie lächelt kurz und sagt dann mit hochmütiger Miene zu ihrem Bruder: „Siehste, wenigstens wir Frauen sind vernünftig, ich wusste es!“ Benny und Papa strecken ihr die Zunge heraus, aber das übersieht sie mit erwachsen-würdiger Miene.
Sein Blick findet den ihren. Wie hübsch Elena ist, wenn sie lächelt, denkt er.
Wie schön Ollis Augen leuchten, wie damals, denkt sie.
Olli legt seine Hand auf Elenas. Für eine geraume Weile sehen sie einander nur an.
„Müsst ihr nicht arbeiten“, mault Pia, die mit Benny Blicke tauscht, die da bedeuten: was für ein peinliches Geschmuse – wir zwei halten dagegen zusammen!
„Ich hab' heute keine Lust dazu“, sagt Oliver.
„Dann mache ich aber auch keine Schulaufgaben“, ruft Benny.
„Wisst ihr was“, schlägt Elena vor: “Wir machen jetzt erst mal eine kleine Runde mit den Rädern. Habt ihr Lust? Das Wetter ist so schön...“
Tatsächlich! Sie sehen alle hinaus, als sähen sie es zum ersten Mal. Es strahlt der herrlichste Sonnenschein! Ein leichter Frühlingswind geht über Tulpen und Osterglocken hin und einige Zweige werden bereits grün.
In der Mehlabteilung fing es an.
Der lange Mann bog mit seinem Einkaufswagen von unten in den Gang ein, der dicke Mann von oben. Der eine griff zum Salz, der andere zur Hefe. Sie beobachteten einander aus den Augenwinkeln über ihren Mundschutz hinweg und warfen danach einen unauffälligen Blick auf das Mehlregal. Nur noch ein einziges Paket. Die Männer gingen weiter, jeder ein wenig schneller, doch nicht zu schnell, um sich keine Blöße zu geben und ihre Absicht zu verraten. Jeder bemühte sich, seine Blicke hierhin und dorthin schweifen zu lassen, über Oblaten, Puddingpulver und Kokosraspeln, Fertigkuchen und gemahlene Mandeln, und nach Leibeskräften das Paket Mehl zu übersehen.
Jetzt waren es für jeden von ihnen nur noch wenige Zentimeter.
Da stöckelte auf einmal eine alte Dame in einem schier unglaublichen Tempo an ihnen vorbei, zwischen ihren Einkaufwagen hindurch. Sie bückte sich mit einer Elastizität, die einer hohen Erlangungsaggression geschuldet sein mochte und überhaupt nicht ihrer körperlichen Verfassung entsprach, um mit knorriger Greisinnenhand das eine, letzte Paket Mehl an sich zu reißen und in ihrem Einkaufstrolley zu versenken. Ächzend richtete sie sich dann auf, hielt sich kurz den Rücken, murmelte etwas wie "ne,ne,ne, Herrjöttche, mein Kreuz!" und humpelte langsam davon.
Dem langen wie dem dicken Mann fielen die Unterkiefer vor Staunen herunter, aber sie fingen sich recht schnell. Beide taten jetzt völlig unbeeindruckt und als machte es ihnen nichts aus, dass das Paket Mehl verloren war. Ach, was, sie hatten beide gar kein Mehl gewollt. Sie schoben ihre Einkaufswagen aneinander vorbei. Der eine griff wahllos zu Moccabohnen, der andere zu Pfannekuchenteig aus der Tube. Der eine schob den Wagen unten herum, der andere oben herum.
In Höhe der Tiefkühlware trafen sie sich wieder.
Sie beäugten einander.
Will er auch den Blätterteig, fragte sich der dicke Mann. Hoffentlich nimmt er nicht die Dinkellaugenbrezeln, dachte der lange Mann. Sie schoben ihre Einkaufswagen aufeinander zu. Unauffällig. Kamen einander näher und näher...
Aufatmen auf beiden Seiten! Dicht an dicht griffen der dicke Mann zu dem Blätterteig und der lange Mann zu den Dinkelbrezeln. Und von beidem war reichlich da.
Sie gingen aneinander vorbei.
Der einen schob seinen Wagen oben herum weiter, der andere unten herum. Aus den Augenwinkeln beobachteten sie einander.
Der dicke Mann packte Dosen mit Würstchen in seinen Einkaufswagen. Fresssack, dachte der lange Mann.
Der lange Mann packte eine Tüte Quinoa in seinen Einkaufswagen. Körnerfresser, dachte der dicke Mann.
Fast gleichzeitig kamen sie zur Milch. Der dicke Mann vor dem langen Mann. Doch hier mussten sie mit etwas Abstand warten, denn die alte Dame war ächzend und keuchend, wie ein Schemen, wieder aufgetaucht und als erste am Milchregal. Mit zittrigen Fingern - langsam, langsam - öffnete sie die Kühltür. Sie bückte sich mühsam, dass es in ihren Knien knackte, packte die Milch, die sie mit einer Hand aber nicht zu packen bekam.
"Mein Jott, is' dat schwer", murmelte sie und musste die Milchpackung mit beiden Händen greifen. Langsam, langsam versenkte sie auch die Milch in ihren Trolley und schloss sorgfältig - langsam, langsam - wieder die Kühltür, um seufzend und humpelnd, mit wackelndem Greisinnenhaupt weiterzuziehen.
Der dicke Mann schoss vor, riss die Tür auf, schnappte zweimal Vollmilch, warf sie in seinen Einkaufswagen und ließ die Türe hinter sich zuknallen. Nach ihm sprang der lange Mann heran, riss die Tür auf, schnappte sich die Lactosefreie und stellte sie in seinen Einkaufswagen. Ich bin nicht so ungehobelt wie der Dicke, dachte er und schloss betont sorgfältig die Kühltür.
Das hatte der dicke Mann durchaus gesehen. Betont geruhsam hielt er sich nun bei den Tiefkühlerbsen, dem Spinat und dem Rosenkohl auf, eine Abteilung, die ihn nur selten zu Gesicht bekam. Aber er wusste, was der Lange wollte.
Der lange Mann verzog wie erwartet verdrießlich sein Gesicht. Dann setzte er eine hochmütige Miene auf und stolzierte an dem dicken Mann vorbei. Bloß nicht durchblicken lassen, dass er sich ärgerte!
Dafür rächte er sich beim Wurst- und Fleischwarensortiment. Er prüfte umständlich jedes Paket Speck, als wäre er der größte Kenner der Fleischproduktion. Der dicke Mann hatte sich erst wartend angestellt. Aber als der Lange in allergrößter Ruhe nun Salami- und Cervelatwurstverpackungen in seinen Wagen legte, gab er, böse funkelnd, das Warten auf, drängelte mit einem "darf ich mal" hinter dem Langen her (der mit betont höflichem "aber natürlich" den Wagen ein wenig zur Seite nahm) und stürmte weiter zum Keksregal. Sollte der Lange am Speck ersticken! Ihm war es ja überhaupt nicht um den Speck zu tun, er hatte für diese Woche Erbsen und Spinat genug, pah, Speck!
Der Lange war ebenfalls behände bei den Keksen. Der dicke Mann warf ein, zwei, drei Pakete Schokoladencookies in seinen Wagen, der lange Mann warf ein, zwei, drei Pakete glutenfreie Dinkelkekse hinein.
Sie hätten mit diesem unsinnigen Wettstreit des Kekseeinladens weitergemacht, wäre nicht die alte Dame angekeucht, hätte sich zwischen sie gestellt, durch ihre halb beschlagene Brille großmütterlich-hilfeheischend zu ihnen aufgesehen und beide höflich gefragt: "Ach, könnten Sie mich mal mit de' Weinbrandböhnchen helfen, die steh'n so weit da oben, da komm' ich nich' mehr dran."
"Aber natürlich, gerne", sagte der Lange freundlich lächelnd und langte ihr hilfsbereit die Pralinen herunter. Siegesgewiss blickte er auf den Dicken und sein Blick sagte: Siehst du, so benimmt sich ein anständiger Mensch!
"Wat kosten die denn, ich kann et nich' lesen", fragte die alte Dame.
"Zwei-Euro-neunundvierzig-Cent", beeilte sich der Dicke, ihr freundlich zulächelnd, zu vermelden. Die Dame bedankte sich bei den beiden Männern. Sie verstaute die Weinbrandbohnen mit einem kopfschüttelnd gemurmelten "Ach, Jott, dat wird all' immer teurer" in ihrem Trolley und wackelte davon.
Kaum war sie fort, verdunkelten sich die Blicke der beiden Männer. Sie sahen sich kurz an und schoben ihre Einkaufswagen aneinander vorbei. Der eine oben herum, der andere unten herum.
Der Dicke warf Fisch-, der Lange Katzenfutter in seinen Einkaufswagen. Der Dicke fügte Salzerdnüsse und Chips, der Lange Reiswaffeln und naturbelassene Macadamiakerne hinzu. Der Dicke hatte eine Flasche Eierlikör im Wagen, der Lange nicht, dafür aber eine Tube Reissirup.
Das preiswerte Küchenkrepp war ausverkauft. Sie griffen beide kurz nacheinander und stirnrunzelnd zur teuren Marke, von der noch genügend in den Regalen lag.
Dann hatten sie es beide auf einmal sehr, sehr eilig. Der Dicke kam von unten in den Gang, der Lange von oben und es lag nur noch ein Paket günstiges Vierlagiges da!
Ich werde es dir nicht gönnen, Fatty, dachte der Lange.
Du Spargeltarzan wirst das Paket nicht kriegen, dachte der Dicke.
Wir wollen nicht über Lebensstile und Leibeskonstitutionen rechten, aber diesmal war der Lange aufgrund der Spannweite seiner unteren Extremitäten im Vorteil. Zwei plötzliche Sprünge und das Toilettenpapier lag in seinem Wagen. Triumphierend schob er ab Richtung Kasse.
"He, das ist meins", schrie der Dicke ihm nach: "Ich habe das Papier zuerst gesehen!" Er schob hinter dem Langen her. Der legte bereits seine Waren aufs Band.
"Sie da", rief der Dicke und ordnete sich hinter ihm ein, bevor die kleine alte Dame sich mit ihrem Trolley und ihrem wackelnden Köpfchen zwischen sie drängeln konnte: "Das Papier ist meins!"
"Ach, das sehe ich nicht so", antwortete der Lange: "Ich habe es in meinem Wagen und ich kaufe es."
Der Dicke wollte zufassen und das Paket aus dem Wagen des Langen reißen, doch der kam ihm zuvor und hielt das Paket der Kassiererin unter die Nase.
"Meins", sagte er zu ihr und sie scannte es ein, nicht, ohne die Augen himmelwärts zu drehen. Schon wieder so welche!
"Das ist eine Unverschämtheit", brüllte der Dicke.
"Ach, ja, wer ist hier wohl der Unverschämte", zickte der Lange und warf einen spöttischen, vielsagenden Blick auf die nicht unbeträchtliche Leibesmitte seines Widersachers.
"Also, also," stammelte der Dicke fassungslos. Betont langsam packte der Lange seine Sachen ein und bezahlte. Der Dicke hatte es nun eilig mit seinen Einkäufen.
"Haben Sie schon mal so etwas Unverfrorenes gesehen", fragte er die Kassiererin. Aber die zuckte nur mit den Achseln. Ja, hatte sie, jeden Tag sah sie das. Es war kaum Benehmen bei den Kunden. Ihre Memoiren sollte man mal lesen!
Der Dicke bezahlte hastig. Den Körnerfresser wollte er sich auf dem Parklatz krallen!
Hinter ihm kramte die alte Dame ihre paar Einkäufe aufs Band.
"Sagen Sie, junge Frau, wann kriegen Sie denn neues Clopapier, von dem jünstigen", hörte der Dicke sie im Hinausrennen mit krächzendem Stimmchen fragen.
Auf dem Supermarktparkplatz kam es nun zu einem Handgemenge. Der Dicke riss einfach das Toilettenpapier aus dem Wagen des Langen.
"Das ist meins!"
"Nein, meins, ich habe es bezahlt!"
"Ich habe es zuerst gesehen!"
"Sie sind ein Dieb!"
"Sie sind noch Schlimmeres!"
"Meins!"
"Meins!"
Erst bollerten sie mit ihren Wagen aneinander, dann packten sie sich gegenseitig am Kragen und rüttelten und schubsten sich. Der eine war zwar flinker, der andere dafür umso standfester, also wurde es ein zäher Kampf. Die Leute rundherum wichen zurück und einige riefen bereits per Handy die Polizei. Das Handgemenge wurde zur Keilerei, die Wagen stürzten um. Die Waren purzelten heraus, eine Packung Erbsen sprang auf, die Tube Reissirup zerplatzte und zeigte klebrige Wirkung. Das Toilettenpapier-Paket zerriss. Die Rollen rollten davon.
"Ach, ne, wat'n Glück", freute sich die kleine alte Dame halblaut. Sie war eben aus dem Supermarkt gekommen, ganz in Anspruch genommen von dem schwer gewordenen Trolley (immerhin: ein Liter Milch!) und dem Nachgrübeln über das Wechselgeld (hatte sie tatsächlich einen Fünfer gegeben?) und darum hatte sie den Streit gar nicht mitbekommen. Sie war nur erpicht darauf, nach Hause zu kommen und ihre müden Rheumabeine hochzulegen, da rollte ihr das Toilettenpapier vor die Füße.
"Ach, un' da liegt noch 'n Rolle! Nanu? Wat die Leute so alles wegschmeißen", murmelte sie verwundert: "Dat is' doch noch jut!"
Sie bückte sich mühsam, hob fünf, sechs Rollen Clopapier auf, die nur auf den ersten Blättchen etwas verschmutzt waren, und steckte sie in ihren Trolley. Dann wackelte sie still und leise davon.
Und was wurde aus dem Dicken und dem Langen? Ach, lesen Sie es doch in der Tageszeitung nach!
Sie hatte schon immer viele Dinge um sich haben müssen. Sie konnte nicht sagen, warum. Sie brauchte sie einfach. Sie gaben ihr Halt. Sie fühlte sich sicher, wenn viele Dinge um sie herumstanden und -lagen.
Was für schöne Augenblicke, wenn die Eltern ihr damals, als sie noch klein war, ein Geschenk machten und es im Kindergarten hieß „Sieh an, unsere Jenny Koslowski hat wieder so ein hübsches neues Glitzerröckchen, wie süß“, wenn viele Kinder sie umstanden und bewundernd oder neidisch versuchten, den Glitzer zu streicheln. In solchen Augenblicken wusste Jenny, dass es sie gab. Sonst verschwand sie zuweilen vor sich selber wie in einem flüchtigen, verschwommenen Traum. Sie fühlte sich mitunter wie in einem großen Raum, in den sie unablässig hineinfloss und der wiederum in sie eindrang. Alles war weich, nachgebend, fließend. Aber die Dinge gaben ihr dann Festigkeit. Sie konnte sie um sich herum aufbauen und sie an sich tragen. Sie gaben ihr und ihrem Leben die nötige Kontur. Dann konnte nichts zerfließen. Vor allem sie selber nicht.
Jennys Leben verlief wie das Leben der meisten. Sie ging mit mäßigem bis guten Erfolg zur Schule. Sie spielte gemeinsam mit ihren Freundinnen mit Püppchen, denen sie selber die abenteuerlichsten Roben zusammennähten und -bastelten, damit eine herrlicher als die andere aussehen sollte, denn nur eine durfte die Prinzessin sein und das war natürlich das Püppchen mit dem schönsten Kleid und dem samtigsten Haar.
Als Jenny auf die Realschule wechselte, verlor sich das Puppenspiel und nach einer kurzen Begeisterung für den Reitsport – der Vater stiftete schon nach der dritten Reitstunde einen vollständigen Turnieraufzug für sein einziges Kind, und nachdem Jenny diese Dinge besaß, war es ihr, als gehörte ihr das Reiten, die Pferde und alles, was damit verbunden war und sie verlor das Interesse daran – entdeckte sie die Leidenschaft ihres Lebens: shoppen.
Wohl versorgt von Eltern und liebenden Verwandten, gebettet in eine vertraute Normalität floss ihr Leben weiter. Jenny K. verließ mit einem durchschnittlich guten Zeugnis die Schule und begann eine Ausbildung bei der Stadt. Das machte die Eltern, die Verwandten und Jenny selber sehr zufrieden. Sie kaufte sich vom ersten Gehalt – die Eltern hatten ihr gesagt, sie solle dieses erste Gehalt völlig und ganz nach ihren Wünschen nutzen – zwei sehr aparte Business-Outfits und da war es ihr auch schon, als hätte sie die Ausbildung bereits und wäre etwas. Und so geschah es auch. Sie ging aus ihrer Lehrzeit als Sachbearbeiterin bei der Stadt heraus, zog in eine eigene kleine Wohnung, die bald wie das Abziehbild eines Möbelhauses eingerichtet war, fuhr ihren eigenen kleinen Wagen und begann ihr eigenes kleines Leben.
Klein. Eben. Darum schuf sie es sich größer.
Sie tauschte die ersten günstigeren Möbel gegen teure. Ihre Wohnung glich nun dem stylischen Purismus einer Wohnung aus einer Architekturzeitschrift. Kein Ding stand oder lag hier ungeplant. Creme-, natur- und grautönenes Interieur war hie und da mit silberfarbenen Accessoires und Schriftzügen an den Wänden aufgelockert. Sprüche wie 'Carpe diem' oder 'Schöne Augenblicke sind das Glück des Lebens'; Zitate, die Jenny K. besaß, weil es chic war sie zu besitzen, nicht etwa, weil sie sie im mindesten verstand und sie ihr tatsächlich etwas bedeuteten.
Sie füllte ihre Wohnung mit schönen Dingen, die sie anmutig dekorierte und in Szene zu setzen wusste. Ein Besucher fühlte sich in dieser Wohnung wohl, in der es so schmuck aussah. Da lag zum Beispiel auf der Fensterbank in gefälligem Arrangement eine Silberkugel neben einem altsilbernen Kerzenständer, in dem ein weißes, schlankes Licht steckte, einem Einblatt in einem großen weißen Übertopf und einer malerisch aus einem hochstieligen Silberkelch überhängenden Grünlilie. Diese Dinge sagten Jenny, dass hier die Grenze nach draußen war. Hier begann mit dem Grünenden das Außen und sie selbst war drinnen.
Auf dem grauen Sofatisch lag aufgeschlagen ein aufwändiger Bildband über LeCorbusier. Nicht, dass Jenny gewusst hätte, was oder wer LeCorbusier war, aber die dort abgebildeten Dinge schienen ihr passend. Sie sagten: „Hier ist deine Sofaecke und hier ist dein Heim. Hier fühlst du dich wohl, denn du bist hier zuhause, Jenny Koslowski!“
In Bad, Küche und Schlafzimmer war es ähnlich. Die Schubladen und Schränke quollen über von Dingen, prächtigen, feinen, süßen, entzückenden, zumindest aber nützlich-dekorativen Zierraten. Nichts davon war kostbar, alles aber dem Auge sehr gefällig.
Nun war Jenny Mitte Zwanzig. Sie war hübsch, wie die meisten anderen jungen Frauen auch, sie war freundlich und wusste sich höflich zu benehmen, wie die meisten anderen Menschen auch und ebenfalls wie bei den meisten anderen Menschen umwölkten keine tieferen Gedanken ihre Stirne, sodass sie stets mit gelöster, oft heiterer Miene umherging. So hatte sie natürlich einen festen Freund.
Er schenkte ihr einen Ring.