Haiders Schatten - Stefan Petzner - E-Book

Haiders Schatten E-Book

Stefan Petzner

4,6

Beschreibung

Jörg Haiders Leben, seine Politik, seine Geheimnisse und sein Tod: Wie war der erfolgreichste Rechtspopulist Europas wirklich? Stefan Petzner, der fünf Jahre lang sein engster Vertrauter war, zeigt ihn aus nächster Nähe. Er zeichnet das Psychogramm eines Getriebenen, für den die Liebe des Volkes Droge und Heilung zugleich war, lässt hinter die Kulissen der rechtspopulistischen Erfolgsmaschinerie blicken und liefert dabei einen auf jeder Seite spannenden Beitrag zur Geschichtsschreibung.

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Dieses Buch schildert wahre Begebenheiten.Namen handelnder Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre teilweise geändert.

Stefan Petzner: Haiders Schatten

Alle Rechte vorbehalten© 2015 edition a, Wienwww.edition-a.at

Coverfoto: Astrid ObertCover: JaeHee LeeGestaltung: Hidsch

Gesetzt in der PremieraGedruckt in Europa

1 2 3 4 5 — 18 17 16 15

Print-ISBN: 978-3-99001-144-7

eBook-ISBN 978-3-99001-147-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

Darum

Im Herz der Karawanken

Mein Traumberuf

Mein politischer Hintergrund

Haider und ich: Der Anfang

Ein politischer Lehrling

Auf Tour mit Jörg Haider

Haiders letzte Geheimnisse

Die Entzauberung der Populisten

Haiders letzter Auftritt

Haiders Abschied

Darum

Während ich an diesem Buch arbeite, jährt sich Jörg Haiders Tod bald zum siebten Mal. Haider, der erfolgreichste Rechtspopulist Europas, gleichermaßen bewundert und verehrt wie gefürchtet und angefeindet, starb in der Nacht vom 10. zum 11. Oktober 2008 bei einem Autounfall in Lambichl, südwestlich der Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt, als er gerade auf dem Weg zu seiner Familie war. Er hat in dieser Nacht von der Welt abgelassen, diese Welt aber bis heute nicht von ihm. Dieses Buch soll uns dabei helfen, es doch zu tun. Auch mir.

Es ist aber kein Buch über den Mythos Haider. Es ist vielmehr ein persönliches Buch über einen Politiker, der mein Leben geprägt hat und vielleicht heute sogar mehr denn je prägt, gerade weil er nicht mehr da ist. Seit seinem Tod wusste ich, dass ich dieses Buch eines Tages schreiben würde. Denn es gibt Geschichten im Leben, die erzählt werden müssen. Die Geschichte, wie ich als Publizistik-Student Haider kennenlernte und sein engster Vertrauter, Pressesprecher, Spin-Doktor und Generalsekretär wurde, ist eine davon.

Trotzdem habe ich fast sieben Jahre gewartet. Zum einen, weil in der Zeit nach Haiders Tod die Stimmung in Österreich zu aufgeheizt und emotionsgeladen war. Die Diskussionen über ihn verliefen hitzig bis hysterisch und Spekulationen, Gerüchte und Verschwörungstheorien mischten sich mit zumeist stümperhaften Erklärungsversuchen des Phänomens Jörg Haider und ersten halbherzigen Anläufen der historischen Einordnung seines politischen Wirkens und dessen Folgen. Die einen sprachen ihn heilig, die anderen verdammten ihn, dazwischen gab es nichts.

Ich wollte dieses Buch erst schreiben, wenn eine nüchterne und sachliche Auseinandersetzung mit Haider und dem Rechtspopulismus, den er in Europa mit erfunden hat, tatsächlich möglich geworden wäre. Wie tickte Haider wirklich? Wie lebte und wie starb er? Was war damals wirklich? Und wie funktionierte seine Politik? Erst wenn sich diese Fragen stellen lassen würden, ohne dass jede Antwort in den Reflexen zorniger Kritiker oder beleidigter Anhänger untergehen würden, wollte ich damit beginnen.

Außerdem musste ich selbst erst die dafür nötige Distanz gewinnen und meine Position im Leben neu bestimmen. Denn genau wie meine Begegnung mit Haider mein Leben verändert hat, hat es auch sein Tod getan. In den Jahren an seiner Seite war ich im Dauerbetrieb, und das stets am Belastungslimit, in den sieben Jahren nach seinem Tod war ich mit den Aufräumarbeiten in mir und um mich beschäftigt.

In allen meinen Haider-Jahren war ich ohne einen einzigen Tag Urlaub praktisch rund um die Uhr mit ihm in Kontakt oder zumindest für ihn erreichbar. Mein Handy war kein einziges Mal ausgeschaltet, seit ich von der Idylle eines steirischen Bauernhofes in einen Brennpunkt der europäischen Politik geriet, wo sich alle meine Kindheitsträume erfüllten, um gleich darauf in einer einzigen Nacht wieder zu platzen. Meine Neupositionierung im Leben war dementsprechend schwer.

Ich habe mich nie von meiner politischen Vergangenheit distanziert und werde es auch weiterhin nicht tun. Denn populistische Parteien können natürliche Bestandteile eines gesunden politischen Biotops sein. Sie sind nicht nur ungefährlich, sie sind sogar ein Gewinn für die Demokratie, wenn, ja wenn die anderen Parteien nur richtig mit ihnen umzugehen wüssten.

Das ist ein zweiter Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe: Mein steigendes Unbehagen über das massive Unvermögen genau dazu und über den falschen Umgang der europäischen Eliten mit den derzeit in Europa aktuellen populistischen Strömungen auf beiden Seiten des politischen Spektrums, rechts und links.

Die europäischen Eliten haben den rechten wie linken Populismus durch ihre strategischen Fehler, ihr beharrliches Wiederholen falscher Gegenrezepte, ihre taktische Ungeschicklichkeit und ihr handwerkliches Versagen zu einem hypertrophen Symptom ihrer eigenen politischen Unkultur gemacht. Wenn sie nicht endlich kapieren, was da läuft und was sie dagegen tun müssen, werden die dermaßen künstlich aufgeblähten Populisten tatsächlich flächendeckend die Macht an sich reißen. Dann geht es irgendwann um die europäische Aufbauarbeit seit 1945 und die dabei mühsam erarbeitete friedliche Demokratie in einem freien, vereinten Europa.

Haider und ich haben immer herzlich gelacht, wenn die Politologen, Soziologen und Meinungsforscher angetreten sind, um unseren Erfolg zu erklären und die Frage zu beantworten, wie wir denn zu stoppen und zu verhindern wären. Sie waren ahnungslos und hilflos. Ihre Erklärungsversuche reichten niemals an unsere tatsächliche politische Denkart und Konzeption heran und erschienen uns immer kläglich. Trotz der Schwächen, die auch wir hatten, trotz all der Angriffsstellen, die wir zu Genüge boten, und die uns selbst sehr wohl bewusst waren, konnten wir uns dennoch stets sicher fühlen. Wir hatten nicht nur keine Gegner, unsere vermeintlichen Gegner spielten uns auch noch ständig in die Hände. Wir wussten immer, dass die Einzigen, die uns wirklich schaden konnten, wir selbst waren. Niemand sonst.

Doch mit dem unmäßig erstarkenden Populismus in ganz Europa ist die Lage tatsächlich ernst geworden. In Österreich ist Heinz-Christian Strache, den viele als neuen Haider sehen, drauf und dran, Haiders bestes bundesweites Wahlergebnis aller Zeiten, 27 Prozent der Stimmen, wieder zu erreichen, und das ohne bemerkenswertes politisches Talent, sondern vor allem durch konsequentes Kopieren von Haiders bewährten politischen Verfahren. In den Niederlanden macht Geert Wilders von der »Partei für die Freiheit« Schlagzeilen, in Schweden Jimmie Âkesson von den »Schwedendemokraten« und in Frankreich Marine Le Pen vom »Front National«, die sogar Anlauf nimmt, 2017 französische Präsidentin zu werden. In Finnland entstanden die »Wahren Finnen« und sitzen heute in der Regierung, in Belgien der »Vlaams Belang« und auch in England, wo Rechtspopulismus bis vor kurzem nicht wahrnehmbar war, brachte es die rechtspopulistische »UK Independence Party« bei der jüngsten Europawahl zur stimmenstärksten Partei. In der Schweiz reüssiert seit Jahren die rechtspopulistische »Schweizer Volkspartei«. Auf der anderen Spielfeldseite des Populismus bringt der griechische Volksverführer Alexis Tsipras (Syriza) sein eigenes Land und mit ihm gleich ganz Europa ganz nahe an den politischen und finanziellen Abgrund, während »Podemos« drauf und dran ist, es ihm in Spanien gleich zu tun.

Sogar in Deutschland, das vor allem rechte und nationalistische Strömungen schon dank der guten Aufarbeitung seiner Geschichte bisher immer einigermaßen im Griff hatte, gingen Menschen zu Tausenden für eine rechte Bewegung, die Pegida, auf die Straße. Ganz Deutschland war schockiert, niemand verstand es und keiner hätte es für möglich gehalten. Doch Deutschland dürfte bald noch viel intensivere Bekanntschaft mit dem Rechtspopulismus machen. Denn während ich das schreibe, richtet sich gerade die »Alternative für Deutschland«, die anfangs eher ungeschickt agierte, an den erfolgreichen rechtspopulistischen Arbeitsmodellen aus. Dies mit ihrer neuen Chefin Frauke Petry, die politische Erfahrung mitbringt, intelligent und ungleich charismatischer ist sowie mit ihrem Hang zur Provokation eine deutsche Marine Le Pen werden kann. Wenn Petry alles halbwegs richtig macht, ist die »AfD« klar auf dem Weg zur Zehn-Prozent-Partei, und ich wage zu prophezeien, dass die deutschen Eliten in ihren Reaktionsmustern genau die gleichen Fehler und Trugschlüsse eingewebt haben werden wie alle anderen.

Ich habe fünf Jahre lang das Handwerk eines Populisten erlernt und als politischer Grenzgänger erfolgreich angewandt. Ich habe mit Haider die, letztlich immer gleichen, Tricks einstudiert, perfektioniert und andere darin unterwiesen. Ich weiß deshalb, wie sich Populisten entzaubern lassen und wie ihnen ihre Gegenspieler jenen Platz im politischen Biotop zuweisen können, der für eine Gesellschaft noch nützlich ist.

Ich erzähle meine Geschichte deshalb auch, um zu zeigen, wie Populisten wirklich funktionieren, was ihre Gegenspieler, allen voran die beiden großen politischen Blöcke der Sozialdemokraten und der Konservativen, falsch machen, wie sie es richtig machen könnten und wie sie, statt den Populisten den Weg zu ebnen, deren besondere Fähigkeiten zu ihrem eigenen Vorteil und zum Vorteil der Gesellschaft nutzen könnten.

Dieses Buch ist mein Beitrag zur Geschichtsschreibung: Über den Populismus in Europa und über Jörg Haider, der so viele Jahre lang der wichtigste Mensch in meinem Leben war.

Im Herz der Karawanken

Wir stiegen mit Atemwolken vor den Mündern und umgeschnallten Rucksäcken durch den frühen Morgen den Berg hinauf. Im Gegensatz zu Jörg Haider hatte ich nie viel Spaß am Wandern und Bergsteigen gehabt. Für mich als Bergbauernkind war die Natur kein so großes Abenteuer wie für ihn, und mit ihm war es besonders anstrengend, weil er Sport immer gleich als Wettkampf interpretierte. Doch an diesem sonnigen 28. Dezember des Jahres 2007 hatte ich keine Wahl. Haider hatte seine Funktion als Kärntner Landeshauptmann von Anfang an als eine Art Dauerwahlkampf angelegt und ließ sich Veranstaltungen wie die »Eierspeisparty« in der Klagenfurter Hütte im Bärental nicht entgehen. Umso weniger, als das Bärental seine Wahlheimat war. Er wollte, dass ich mitkomme, und ich hatte mich schließlich überreden lassen.

Uriges Beisammensein mit dem Zweck, Spenden für die Bergrettungen Klagenfurt und Ferlach zu sammeln, Zieharmonika-Musik, Gesang, Tanz, und zur »Eierspeis« viel Alkohol, das war das so einfache wie beliebte Konzept der Veranstaltung. Seit 1984 war sie Tradition, und auch dieses Jahr würden sich an die zweitausend Menschen bei dem ländlichen Spektakel einfinden, alle mit rohen Eiern im Gepäck, aus denen ihnen der Hüttenwirt ihre »Eierspeis« zubereiten würde. Einem Volkspolitiker wie Haider bot das eine perfekte Bühne. Während ich als sein Pressesprecher und engster Mitarbeiter eher widerwillig und einsilbig durch den Schnee stapfte, riss mich ab und zu das Gelächter der kleinen Wanderergruppe um ihn aus meinen Gedanken.

Als wir oben ankamen, war die Hütte bereits gefüllt, doch wie immer strömten über den Tag verteilt immer mehr Gäste in das kleine Alpenvereinshaus inmitten der Karawanken, bis es darin drückend eng wurde. Haider störte das nicht. Er kam umso mehr in Fahrt, je voller die Hütte wurde. Bis zum frühen Abend mischte er sich unter die Menschen, ging von Tisch zu Tisch, schüttelte Hände, scherzte, sang und tanzte. Obwohl der Mann auf die Sechzig zuging und damit mehr als dreißig Jahre älter war als ich, hatte er eine scheinbar unerschöpfliche Energie.

An der Volksnähe, die er in der Hütte an den Tag legte, wirkte nichts inszeniert. War es auch nicht. Haider liebte das Bad in der Menge. Während anderen Politikern der direkte Kontakt zu den Bürgern suspekt bis unheimlich ist, eine lästige Pflichtübung vor allem in Wahlkampfzeiten, blühte Haider im Umgang mit Menschen erst richtig auf. Sie waren es, die seine Akkus mit Energie speisten. Tag für Tag aufs Neue. Je mehr Menschen er begegnete, umso größer war seine Energie.

Noch dazu hatte er die erstaunliche Gabe, sich Menschen, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte, über Jahre hinweg zu merken, meist samt ihren Geschichten. Oft genug verblüffte er einen Gesprächspartner, wenn der »kennst mich eh nimmer« sagte, und Haider Jahre nach der ersten und einzigen Begegnung mit dem Mann, antwortete: »Klar, du bist doch der Heinz aus dem Maltatal. Wie geht es deinen beiden Töchtern? Die müssen jetzt auch langsam groß sein.«

Er wisse auch nicht, woher er das habe, hatte Haider einmal zu mir gesagt, er benütze es einfach. Jedem einzelnen seiner Gesprächspartner gab er damit das Gefühl, ihm ganz nahe und verbunden zu sein. Als wären sie alle keine Wähler, sondern ein fixer Teil seines Lebens, an den er sich zu jeder Zeit an jedem Ort erinnerte. Sie liebten ihn dafür und er war damit für sie weniger die Respektperson eines Landeshauptmannes, sondern vielmehr ein Freund, ein Kumpel, sie fühlten sich als Teil seiner großen Familie, die er Kärnten nannte und als dessen Oberhaupt er sich ansah.

Als die Dämmerung hereinbrach, stiegen wir mit ein paar Anderen wieder ab und erreichten schließlich das Anwesen der Haiders. Haider hatte natürlich noch lange nicht genug und wollte die Feierei noch im Haus ausklingen lassen. Das renovierte alte Bauernhaus lag abgeschieden in dem Tal, das seinen Namen von den vielen Bären hat, die es dort einmal gab. Ringsum erstreckte sich dichter Nadelwald. Unweit des Anwesens, auf einer Waldlichtung, stand eine kleine Kapelle. Nähere Nachbarn gab es in dieser Abgeschiedenheit keine, und auch keinen Handyempfang.

Wir polterten in das längst verdunkelte Haus und unterhielten uns in der rustikalen Bauernstube mit einer kleinen Gruppe von Begleitern noch lautstark über das Erlebte und den hinter uns liegenden Tag. Nach gut einer Stunde verabschiedete ich mich, stieg in meinen silbergrauen Nissan und fuhr los.

Die Straße nach Klagenfurt, die durch das Rosentaler Idyll führt, ist bei Tageslicht für Urlauber eine echte Traumstraße. Bei der herrschenden Witterung konnte ich mich darauf allerdings nicht konzentrieren, zumal nach einer derart ausgelassenen Feier. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit also auf die Fahrbahn, die in engen Serpentinen einen Berg hinab und dann wieder hinauf führte, und auf der eine dünne Schneedecke lag.

Ich fuhr langsam und vorsichtig und kam gut voran. Bis zu dem Moment als ich mit meinen Rädern auf eine spiegelglatte Eisfläche traf und die Kontrolle über den Wagen verlor. Das Auto ließ sich nicht mehr steuern, schleuderte und glitt geradewegs auf eine steile Böschung zu. Leitplanken gab es dort keine. Meine Tasche, mein Handy und ein paar andere Dinge, die am Beifahrersitz gelegen waren, flogen durcheinander, als der Wagen einen Erdwall am Straßenrand durchbrach und über die Böschung hinunterstürzte.

Mit aufgerissenen Augen sah ich mit Schnee bedeckte Fichten auf mich zukommen, während mein Wagen durch das Strauchwerk rutschte. Mit einem dumpfen Knall kam der Nissan zum Stillstand. Er hing jetzt, abgefangen von einem Baumstumpf umgekippt im Gebüsch, sodass von der Straße her die Bodenplatte und die Räder zu sehen gewesen wären.

Ich hing still im Gurt und sah mich um, bis mich ein Knarren aus der Starre riss. Ich bekam Angst. Was, wenn das Auto weiter die Böschung hinunter purzelt? Ich löste den Gurt, prallte gegen die Fahrertür und kletterte auf allen Vieren über die Beifahrerseite hinaus ins klirrend kalte Freie und hinauf auf die Straße.

Es war längst stockdunkel. Ich stand mitten im Dezember in der Einöde, weit und breit kein Mensch, die Jacke im Auto, das Auto im Gebüsch. Wenigstens war ich relativ unversehrt, wie ich nach gründlichem Abtasten feststellte. Neben dem Handy hatte ich im Auto noch schnell meine Zigaretten zusammengesucht, und zündete mir eine an. Zwar war ich durch den Unfall in einem leichten Schock, mir war aber klar, dass ich noch nicht weit weg vom Anwesen der Haiders sein konnte. Also wählte ich die Festnetznummer im Bärental. Haider hob sofort ab. Ich redete bewusst beschwichtigend. »Ich habe ein kleines Problem«, sagte ich. »Ich habe gerade einen Unfall gebaut.«

»Um Gottes Willen, wo bist du? Ist dir etwas passiert?«

Ich beruhigte ihn. »Alles in Ordnung. Ich muss nur irgendwie das Auto aus der Böschung kriegen«, sagte ich.

»Rühr dich nicht vom Fleck, ich bin gleich da«, sagte Haider, nachdem ich ihm die Stelle so genau wie möglich beschrieben hatte.

Da stand ich also frierend mitten in diesem winterlichen Nirgendwo, wartete und starrte auf die leuchtenden Scheinwerfer meines Wagens. Nach kaum zehn Minuten hörte ich in der Ferne Sirenen aufheulen. Zuerst stellte ich keinen Zusammenhang zwischen ihnen und meinem Missgeschick her, schon gar nicht, als es anscheinend mehrere Sirenen wurden. Doch sie kamen näher, und wenige Minuten später war es, als würden aus allen Ecken des Tals Einsatzfahrzeuge auf mich zurasen.

Eine Heerschar an Einsatzkräften rückte an. Offensichtlich hatte Haider sie persönlich verständigt. Es war mir peinlich und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. So ein Aufwand, bloß um mein Auto aus der Böschung zu ziehen, dachte ich und erklärte den Einsatzleuten fast entschuldigend, was geschehen war. Da brauste auch schon Haider in seinem schwarzen Phaeton daher, stellte ihn mitten im Geschehen ab und sprang heraus.

Nachdem er sich kurz vergewissert hatte, dass es mir halbwegs gut ging, verschaffte er sich einen Überblick über die Lage. Während ich auf und ab lief, eine Zigarette nach der anderen rauchte und anfing, mir darüber Gedanken zu machen, wie mein Auto wieder halbwegs unbeschädigt aus der Böschung zu kriegen wäre, dirigierte Haider gemeinsam mit dem Feuerwehr-Kommandanten die Einsatzkräfte. Die befestigten an den Vorder- und Hinterrädern Seile und hoben den Nissan mit einem Kran hoch in die Luft und aus der Böschung heraus.

Ein Polizist trat auf mich zu. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, dass in der Zwischenzeit auch die Polizei eingetroffen war. »Haben Sie Alkohol getrunken?«, fragte er.

Ich sah ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich.

Vielleicht glaubte er mir, vielleicht auch nicht, jedenfalls fragte er nicht weiter. »Die Kurve liegt tagsüber im Schatten. Da bilden sich bei etwas milderer Witterung regelmäßig Eisplatten«, sagte er stattdessen. Schon vor mir seien einige Fahrer hier weggerutscht. »Da sollte die Straßenmeisterei in Zukunft wohl Schotter streuen.« Damit ging er wieder.

Sie stellten meinen Wagen behutsam auf die Straße und nach Aufforderung Haiders drehte ich am Zündschlüssel. Niemand rechnete damit, dass das leicht verbeulte Ding anspringen würde, aber einen Versuch war es wert. Nach kurzem Rattern lief der Motor tatsächlich.

Am liebsten wäre ich gleich losgefahren, aber das ließ Haider nicht zu. »Du fährst sicher nicht selbst«, sagte er.

Ein junger BZÖ-Parteifunktionär, Fred Reininger, sollte mich chauffieren. Er war zuvor bei der kleinen Runde im Anwesen der Haiders dabei gewesen. Doch wir konnten noch nicht aufbrechen. Denn mit großer Geste verkündete Haider, dass alle Anwesenden zum Dank für die schnelle und professionelle Aktion in das nächste Wirtshaus eingeladen seien.

»Wir müssen das machen«, sagte er, als er bemerkte, wie müde und geknickt ich war. »Es dauert auch nicht lang.« Ich wollte nach der Unfall-Aufregung nur noch heim, fühlte mich aber in der Schuld der Feuerwehrleute und widersprach daher nicht.

Gegen zehn Uhr abends kamen wir in einem netten, aber mit seinem Stil der Siebzigerjahre schon etwas verkommenen Wirtshaus an. Die Tischtücher waren aus Plastik, die hölzernen Stühle mit Schaumgummi gepolstert und die bunten Tapeten an der Wand verblasst. Der Wirt staunte nicht schlecht, als rund zwanzig Gäste zur Tür herein strömten, die noch dazu der Landeshauptmann anführte. Schließlich war das Gasthaus eher als Treffpunkt der slowenischsprachigen Volksgruppe bekannt. Nachdem Haider dem verdutzten Wirt mit einem lauten »servas« die Hand entgegengestreckt hatte, wandte er sich an mich und senkte die Stimme. »Es ist gut, dass wir hier auch einmal vorbei schauen«, sagte er.

Haider hatte halb Kärnten schon einmal die Hand geschüttelt und sprach ohnedies die meisten Kärntner per du an. Allen Sicherheits-Warnungen seiner Mitarbeiter und der Exekutive zum Trotz hatte er nicht die geringste Schwellenangst und ging überall hinein, selbst in die windigsten Spelunken, aus denen angesichts der dunklen Gestalten darin der Großteil der bürgerlichen Gesellschaft Kärntens gleich wieder geflüchtet wäre.

Wir saßen also dort, zwei Feuerwehrautos, einen Phaeton und einen verbeulten Nissan vor dem Gasthaus geparkt, und Haider schwang sich vor der versammelten Truppe zu einer Dankesrede auf. Er war verzückt. Der Abend bot ihm unversehens schon wieder eine Bühne, was ihm schon immer mehr Freude bereitet hatte, als einmal einen stillen Dezemberabend zurückgezogen mit sich selbst zu verbringen.

Er redete über Verlässlichkeit und andere Werte, und zwischendurch drang wieder entspanntes Gelächter, untermalt vom Klirren der Gläser, zu mir. Ich war leicht benommen, doch als Mann der zweiten Reihe, in jener Rolle, die ich mir für mein Leben ausgesucht hatte, wollte ich Haider nicht allein lassen und schon gar nicht ihm die Show stehlen.

Ziemlich einsilbig wartete ich darauf, endlich heimfahren zu können, doch es sah nach einer Stunde noch immer nicht gut für mich aus. Die Rede war zwar vorbei, aber die zweite Runde bereits bestellt. »Entschuldige, könnten wir dann bald aufbrechen?«, sagte ich nach fast zwei Stunden zu ihm. »Irgendwie geht es mir nicht so gut.«

Haider klopfte mir auf die Schultern. »Gleich«, sagte er.

Während die Gruppe immer ausgelassener wurde, verfiel ich zusehends. Schließlich wurde mir übel. Mit der Hand vor dem Mund riss ich gerade noch die Klotür auf und übergab mich im nächsten Augenblick. Obwohl ich nach wie vor halb ohnmächtig war, putzte ich das Klo mit Papier, um es halbwegs zivilisiert zu hinterlassen. In meiner Funktion brauchte ich keine Reden zu halten, aber ich durfte auch keinen schlechten Eindruck machen. Als ich zum Tisch zurückkam, sah mich Haider aufmerksam an. »Dir geht es wirklich nicht gut«, sagte er.

Ich wusste, dass ich käsebleich war. »Ich habe gerade gekotzt. Aber ich glaube, das war nur vom Schock«, sagte ich.

Er stand auf. »Wir fahren ins Krankenhaus«, sagte er.

Ich schüttelte müde den Kopf. »Ich brauche nur etwas Schlaf.«

»Wir fahren jetzt sofort.«

Ich hasste Krankenhausaufenthalte und wollte tatsächlich nur ausschlafen, aber Haider machte sich nun offensichtlich wirklich Sorgen und duldete daher keinen Widerspruch. Also nahm ich am Beifahrersitz seines Phaeton Platz und er fuhr mich ins Landeskrankenhaus Klagenfurt, während Fred Reininger meinen demolierten Nissan zu meiner Wohnung brachte.

Eine Menge Schwestern liefen zusammen, als der Landeshauptmann persönlich einen Patienten in die Notaufnahme brachte. Er schüttelte allen die Hand. Einige kannte er auch hier, die sprach er mit ihrem Vornamen an. »Schaut ihn euch bitte genau an, Monika. Er hatte einen Unfall mit dem Auto. Wer weiß, was da passiert ist.«

»Mir geht es eh ganz gut. Alles halb so wild«, sagte ich, doch niemand hörte mir zu. Was mich nicht kränkte. Ich wusste, dass mir die Sonderbehandlung nicht zuteil wurde, weil ich Stefan Petzner war, sondern weil ich Haiders rechte Hand war. Meine Rolle privilegierte mich in Kärnten und das war reizvoll, aber ich war mir des Unterschiedes immer bewusst: Ohne Haider wäre ich nichts in Kärnten.

Ich konnte in Krankenhäusern nie gut schlafen, doch Haider bestand darauf, dass ich blieb. Ich kannte ihn als hilfsbereiten Menschen, der da war, wenn ihn jemand brauchte. Das zeichnete ihn aus. Andererseits war er nicht in der Lage, einer Bühne zu widerstehen, die sich ihm bot. Deshalb hielt ich mich nach meinem ungehörten Einwand auch hier im Hintergrund. Auch das Krankenhaus war sein Auftritt, nicht meiner, und seine Fürsorge gehörte zumindest zum Teil zum Programm.

»Wir machen das schon, Herr Landeshauptmann«, sagte Schwester Monika zu ihm. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Herrn Petzner wird es hier an nichts fehlen.«

Ich kam in den Genuss aller Annehmlichkeiten, über die ein Krankenhaus verfügt. Die Ärzte stellten nichts weiter als eine leichte Gehirnerschütterung fest, trotzdem bestanden die Schwestern weiterhin darauf, dass ich für die Nacht blieb, selbstverständlich in einem Einzelzimmer, das sofort bereitstand.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, hatte ich Lust auf eine Morgen-Zigarette. Ich suchte das halbe Krankenhaus ab, bis ich einen Raucherhof fand. Kaum hatte ich mir eine angesteckt, stand ein Arzt neben mir, als hätte er mich die ganze Zeit beschattet. »Sie dürfen noch nicht rauchen«, maßregelte er mich. »Warten Sie bitte die weiteren Untersuchungen ab.« Es klang nach Rundum-Check vom Haaransatz bis zu den Zehennägeln.

Ich hatte genug. »Ich habe nichts und ich gehe jetzt nachhause«, antwortete ich, was der Arzt erst akzeptierte, nachdem ich einen Revers unterschrieben hatte. Am Weg aus dem Krankenhaus rief ich Haider an, sagte ihm, dass alles in Ordnung sei, und nahm mir ein Taxi. Unterwegs nach Hause hörte ich im Radio die Nachrichten. »Unfall des Pressesprechers von Landeshauptmann Dr. Jörg Haider. Stefan Petzner kam gestern in den späten Abendstunden im Rosental mit dem Wagen von der Straße ab.«

Die nächsten zwei Stunden musste ich damit verbringen, meiner Familie, Verwandten und Freunden am Telefon zu erklären, dass mir nichts fehlte. Zwischendurch tauchte auch schon mediale Kritik auf, weil bei der Bergung meines Wagens niemand einen Alko-Test mit mir gemacht hatte.

Als sich der Rummel legte und ich mich daheim in meiner kleinen Sofa-Ecke zurücklehnte, um meinen Unfall am vergangenen Freitag-Abend noch einmal Revue passieren zu lassen, fiel mir ein Traum ein. Einer, den ich immer wieder hatte, und der einer von diesen intensiven und besonders real scheinenden war.

Darin ging es auch um einen Unfall, bloß war nicht ich das Opfer. Alles lief in diesem Traum immer genau gleich ab. Mitten in der Nacht läutete mein Handy. Es war immer der gleiche Mann, dessen Stimme ich nicht kannte. Sein letzter Satz war immer der gleiche: »Der Landeshauptmann ist tot«, sagte er.

Mein Traumberuf

18 Jahre vor dieser Begebenheit im Rosental, an einem Sonntag um fünf Uhr nachmittags, hörten wir Kinder die Stimme unseres Vaters. »Wir müssen zurück«, rief er. »Die Kühe warten nicht.«

Mein größerer Bruder und ich kannten den Spruch. Wir wären lieber noch geblieben, denn das Grenzlandfest war stets eine große Sache. Es hieß so, weil unser kleines Dorf, Laßnitz bei Murau, genau an der Grenze zwischen der Steiermark und Kärnten lag, die der kleine Bach bildete, der durch unser Tal floss. Es fand auch in diesem Jahr, 1989, auf einem Hof gleich in unserer Nähe statt. Die Frauen buken für das Fest Kuchen und brühten Kaffee auf, die Männer sorgten für Bier, Wein und Schnaps sowie für Tische und Sitzgelegenheiten, und die Kinder tollten miteinander herum. Wir fanden es unfair, dass wir schon fahren mussten. Stumm trotteten wir hinter meinem Vater her zum Wagen.

Zurück auf unserem eigenen Hof ruhten wir uns etwas aus, während sich mein Vater umzog und in den Stall ging. Als das Telefon läutete, dachten wir uns nichts dabei. Unser Onkel rief an, der auch mit uns am Grenzlandfest gefeiert hatte. Er war Vizebürgermeister von Laßnitz für die Volkspartei. Er klang aufgeregt.

Als mein Vater endlich aus dem Stall kam und den Anruf entgegen nahm, konnten wir die Stimme unseres Onkels aus dem Telefon hören, obwohl wir zwei Meter entfernt standen. »Der Haider ist da!«, rief er. »Der Haider!«

Mein Vater war ebenfalls im Gemeinderat politisch aktiv, allerdings nicht wie mein Onkel bei der ÖVP. Er war Ortsparteiobmann bei den Freiheitlichen, was mitunter intensive politische Diskussionen innerhalb der Familie und Verwandtschaft auslöste, den Frieden aber nicht störte.

Als mein Vater aufgelegt hatte, suchte er unverzüglich meine Mutter. Sie war einverstanden, die Kühe zu übernehmen. »Geh nur«, sagte sie zu meinem Vater, der sich den Auftritt des FPÖ-Chefs nicht entgehen lassen wollte.

Mein großer Bruder und ich wollten unbedingt mit. Die Aufregung meines Vaters steckte uns an, und obwohl wir noch klein waren, wussten wir, wer Haider war. Schließlich drehten sich die meisten der politischen Diskussionen in unserer Familie um den schillernden Haider. Er war der Mann aus dem Fernsehen, der sich mit allen anderen anlegte, der jung, frech und anders war, modern wirkte, und der für alle der Größte zu sein schien, selbst für die, die sich über ihn mokierten.

Seit ich denken konnte, hatte ich Haider als Sieger erlebt. Ich kam 1981 zur Welt und er eilte ab 1986 als Bundesparteiobmann der FPÖ von Wahltriumph zu Wahltriumph. Er war der Star, der Unbezwingbare, der ewige Gewinner. Er war für uns der Held einer Art Realitiy-Soap, die uns so sehr beschäftigte, dass sie Teil unseres Lebens war. Diesen Mann in echt zu treffen, war für mich vergleichbar damit, Michael Jackson zu treffen. Er war fast außerirdisch. Unerreichbar. Weit weg, und jetzt auf einmal ganz nah.

Mein Vater duschte eilig, zog sich wieder sein Festtagsgewand und hielt uns die Fondtür unseres weinroten Passat auf. Zurück auf dem Fest mischten uns unter die anderen Besucher. Nach wie vor herrschte reger Betrieb. Überall auf dem weitläufigen Gelände des Hofes wuselte es vor Menschen. Werkzeugkammern und Scheunen dienten heute als Bier-Schuppen, Schnapsbars und Kaffeeküchen, und eine Tenne als Tanzboden. Irgendwo mitten in diesem Gewusel musste Haider sein.

Während mein Vater die Menschenmenge nach ihm absuchte, eilten wir Kinder hinter ihm her. Bis ich ihn sah. Haider stand bei ein paar Musikanten. Sie spielten Ziehharmonika und er spielte mit. Genau im Takt schlug er zwei Löffel aufeinander, ausgelassen und mit einem breiten Lächeln, als gehöre die ganze Welt ihm. Gleichzeitig schaffte er es auch noch, Menschen im Publikum zuzunicken oder ihnen etwas zuzurufen.

Ich hob langsam eine Hand, um auf ihn zu zeigen. Da entdeckte ihn auch mein Vater, und während er geradewegs auf ihn zusteuerte, blieb ich mit Respektabstand wie angewurzelt stehen und starrte ihn gebannt an. Ich hatte noch nie jemanden in echt gesehen, der berühmt war. Vor kurzem hatte ich noch gedacht, dass es die Menschen im Fernsehen gar nicht wirklich gab, sondern dass sie so im Fernseher eingeschlossen waren, wie die Helden von Romanen anscheinend in Buchseiten eingeschlossen waren. Ein bisschen unwirklich kam er mir noch immer vor. Er war wie ein Fernsehbild, das sich mit dem richtigen Leben vermischt hatte, wie eine Projektion inmitten der vertrauten Menschen um mich.

Haider stand in weißem Hemd da und wirkte inmitten des Trubels souverän und erhaben auf mich. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Menschen um sich. Auch mit meinem Vater tauschte er sich aus. Schließlich ging er von Tisch zu Tisch und von Stand zu Stand. Er ging das ganze Gelände ab und reichte allen die Hand. Jedes seiner Gegenüber schien für diesen Augenblick seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

Mein Bruder war bei mir geblieben und beobachtete mit mir das Treiben. Erst als wir sahen, dass Haider Autogramme schrieb und sich eine ganze Menschentraube um ihn bildete, um eines zu ergattern, wagten wir uns vor. Haider stand jetzt auf einem kleinen Podest und gab jedem eine Autogrammkarte, der eine haben wollte. Wir stellten uns in die Schlange. Ich fragte mich, was ich tun sollte, wenn ich an der Reihe war, aber ich war zu nervös, um darüber nachzudenken.

Stück für Stück rückten wir näher, und irgendwann war ich auf einmal derjenige, der Haiders ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Ich erstarrte fast vor Ehrfurcht und sah ihn einfach nur mit großen Augen an. Haider grinste mich an. »Das sind dann Wähler von morgen«, sagte er zu den Erwachsenen um uns und drückte mir eine Karte in meine ausgestreckten Hände. Mein »Danke«, das er dafür bekam, hörte er gar nicht mehr, weil er längst dem Nächsten sein Autogramm in die Hand drückte. Dennoch war ich hochzufrieden. Er war mein Idol und nun hatte ich ein Stück dieses Idols in Form seiner Unterschrift und konnte es an die Wand meines Kinderzimmers kleben.

Als wir Kinder uns wenige Wochen später in der Früh die Schuhe anzogen, machte meine Mutter wie immer jedem von uns ein Kreuzzeichen auf die Stirn. »In Gottes Namen«, sagte sie dabei, was so viel bedeutete wie »Viel Glück, und kommt heil wieder heim«. Gleich darauf standen wir wie jeden Schultag vor dem Haus unseres Nachbarn und wartete auf den alten gelben Postbus, der uns zur Laßnitzer Volksschule bringen würde. Dreißig Schüler besuchten sie, und es gab zwei Lehrerinnen, eine für die erste und die zweite Klasse, sowie eine für die dritte und die vierte. Die Busfahrt dauerte rund 25 Minuten und als Volksschüler musste ich einmal umsteigen, denn der eine Bus fuhr mit den Hauptschülern und AHS-Schülern in die nächstgrößere Stadt, nach Murau, weiter, während ein anderer Bus die Volksschüler nach Laßnitz brachte.

Ich ging in die vierte, und an diesem Schultag im Jahr 1991, ich war zehn Jahre alt, sollten wir in Deutsch einen Aufsatz schreiben. Thema: Mein Traumberuf.

Ich mochte die Volksschule, weil ich dort jeden Tag Kinder aus unserer Gegend traf. Ich war allerdings nur ein mittelmäßiger, weil eher fauler Schüler, der mehr Streiche als Lernen im Kopf hatte. Deutsch ging noch ganz gut, aber die anderen Fächer wie Rechnen fielen mir eher schwerer.

Mein Traumberuf? Ich saß vor meinem Heft in der Schulbank, in die schon Schülergenerationen vor mir ihre Zeichen und Muster geritzt hatten, und musste nicht lange nachdenken. Ich wollte weder Astronaut noch Feuerwehrmann werden, und auch nicht Bauer wie mein Vater und mein Onkel. Ich hatte keinen dieser typischen Jungen-Berufswünsche. Ich wusste ganz genau, was ich werden wollte, und ich war sicher, dass ich es schaffen würde, trotz meiner mäßigen schulischen Leistungen und trotz eines anderen Problems, das mich seit einer Weile heimgesuchte: Irgendwann in der zweiten Klasse hatte ich zu stottern begonnen.

Weder wusste ich, woher es kam, noch beschäftigte es mich sonderlich, was wohl daran lag, dass wir Kinder einander alle schon immer kannten und nicht hänselten. Es war einfach da und fiel mir zum Beispiel dann besonders auf, wenn ich einmal aufzeigte, aber, wenn mich die Lehrerin aufrief, die Laute nicht heraus brachte. Irgendwann fiel das Stottern auch ihr auf, worauf sie mich in Absprache mit meiner Mutter zu einer Sprachlehrerin schickte. Zu der musste ich einmal die Woche, wegen diverser Übungen, deren Sinn sich mir damals überhaupt nicht erschloss.

Trotzdem hatte mein Traumberuf viel mit der Fähigkeit zu sprechen zu tun. Und mit den in der Grundfarbe Blau gehaltenen Werbeartikel der FPÖ, die ich im Kofferraum des weinroten Passat meines Vaters fand, wenn gerade Wahlkampf war. Ich begutachtete dann immer die Kugelschreiber, Sticker und Aufkleber. Während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr hatte ich mich über und über mit Stickern behängt, auf denen »Ich flieg auf die FPÖ« stand, und war so zur Schule gegangen.