Hanami - Naoko Abe - E-Book

Hanami E-Book

Naoko Abe

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Beschreibung

Die berührende Biographie des Engländers Collingwood »Cherry« Ingram, der Japans Kirschblüte rettete Ihr Blick auf die Kirschblüte, im Japanischen »sakura«, wird nach der Lektüre ein anderer sein: Collingwood Ingram (1880-1981), ein junger Botaniker, reist 1902 von Großbritannien nach Japan, um dort neben Tokyo auch Berge und Wälder, geheime Palastgärten und Klöster zu erkunden. Vor allem aber ist er auf der Suche nach wilden Kirschbäumen, denen seine ganze Leidenschaft gehört. In der überhasteten Modernisierung Japans im 20. Jahrhundert werden diese jedoch rücksichtslos abgeholzt. Ingram gelingt es, eine einzigartige Sammlung von Japans wertvollstem Kulturgut zusammenzutragen und nach England zu schmuggeln, um die Kirschblüten dort in einem bezaubernden Garten in Sicherheit zu bringen. Er schwört, diese Bäume einst ihrer Heimat zurückzugeben – ein Unterfangen, das ihn bis an das Ende seines hundertjährigen Lebens umtreibt. In »Hanami« verbindet Naoko Abe kunstvoll die Biographie des englischen Exzentrikers mit der Geschichte Japans und der kulturellen Bedeutung der Kirschblüte, die sich in Kirschblütenfesten auf der ganzen Welt spiegelt. Ein faszinierendes Abenteuer der Reiseliteratur und ein spannendes Stück Zeitgeschichte für alle Fans des Naturewriting!

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Seitenzahl: 454

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Naoko Abe

Hanami

Die wundersame Geschichte des Engländers, der den Japanern die Kirschblüte zurückbrachte

Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair und Rita Seuß

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto][Karte Japans]PrologEinleitungTeil eins Die Geburt eines Traums1. Familienbande2. Mayfair-by-the-Sea3. Triumphe und Tragödien4. Erzwungene Abschottung5. Japan lockt6. Die aufgehende Sonne7. Vögel und ihre Eier8. Ingrams Krieg9. Die Geburt eines TraumsTeil zwei Gestalten und sammeln10. Ein zweifaches Streben11. Die Ärzte von Dejima12. Pflanzenjagd13. Gestalten und sammeln14. Die Hokusai-ConnectionTeil drei Die Rettung der sakura15. Die Pilgerreise16. Zwei Kiefern17. Ein Kirschbaum-Mekka18. Hüter der Kirschbäume19. Wildkirschenjagd20. Die sakura retten21. Ingrams WarnungTeil vier Die Heimkehr der Taihaku22. Die Mission der Wiedereinführung23. Die Heimkehr der Taihaku24. Das Glücksspiel des Erfolgs25. Ein Märchengarten26. »Obszöne« Kanzan27. Der Kirschbaumprediger28. Darwin kontra Kirche29. KriegslärmTeil fünf Fallende Blüten30. Kirschblütenbrüder31. Massenvernichtungsblumen32. Der Kaiserkult33. Die sakura-Ideologie34. Die Somei-yoshino-Invasion35. Hundert Millionen Menschen, ein Geist36. Die Kirsche und die Kamikaze37. Fallende Blüten38. Tomes GeschichteTeil sechs Dunkle Schatten39. Kinder im Krieg40. Schwarze Weihnacht41. Benenden beschützen42. Zierkirschen43. Dunkle Schatten44. Kirschen eines »Verräters«45. Der Zierkirschenboom in Großbritannien46. Ingrams »königliche« Kirschen47. Die Renaissance der Somei-yoshinoTeil sieben Kirschen der Versöhnung48. Ein Garten der Erinnerungen49. Ein friedlicher Tod50. The Grange nach Ingram51. Zu Hause und im Ausland52. Die nächste Generation von sakuramori53. Kirschen der VersöhnungEpilog54. Millenniumsbäume55. Die Große BlütenkirschenmauerDanksagungAnhang AAnhang BVerzeichnis der AbbildungenBibliographieRegister[Bildteil]

Für meinen Vater

Hiroyoshi Abe

1931–2019

Ich möchte sterben

im Frühling

unter den Kirschblüten,

wenn der Tag des Vollmonds

gekommen ist.

Saigyō,1118–1190

Prolog

Einen Steinwurf vom westlichen Burggraben des Kaiserpalastes in Tokio entfernt stieß ein zukünftiger englischer König eine glänzende neue Schaufel in die kalte, nasse Erde. Nach einem Blick auf den dünnen Stamm des jungen Kirschbaums, den er soeben im Garten der Britischen Botschaft gepflanzt hatte, lächelte Prinz William in die Runde.

Die Baumpflanzzeremonie Ende Februar 2015 war für den 32-jährigen Prinzen bei seinem ersten Besuch in Japan nur eines von vielen Ritualen. Wenige Stunden zuvor hatte er Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko in ihrer abgeschiedenen Palastresidenz besucht. Das Ungewöhnliche an diesem Termin nun war, dass der Baum im Mittelpunkt stand.

Das drei Meter hohe Gewächs war keine gewöhnliche Kirschbaumvarietät. Die Taihaku oder »Große Weiße Kirsche« war ein seltener und spektakulärer Baum, von Puristen gepriesen für seine großen weißen, einfachen Blüten. In Japan war diese Varietät schon einmal ausgestorben gewesen. Und ihre unwahrscheinliche Renaissance in einem Land, in dem Kirschbäume ein allgegenwärtiges und beständiges Symbol darstellen, war einem einzigen Mann zu verdanken, noch dazu einem Engländer, Collingwood »Cherry« Ingram.

Einleitung

Jeder Meilenstein in meinem Leben ist, wie bei den meisten Japanern, mit Kirschblüten verbunden. Anders als im Westen finden in Japan viele wichtige Ereignisse im April statt, dann beginnen das Schuljahr und das neue Haushaltsjahr, und die Firmen begrüßen ihre Nachwuchskräfte. Als ich im April 1962 in Nagoya auf Honshu in die Vorschule kam, machte ein Freund ein Schwarzweißfoto von mir und meiner Mutter Akiko unter den hauchzarten rosa Blüten eines Kirschbaums am Schultor. So machte es jeder, wirklich jeder. Auf das Foto zu verzichten wäre fast einem Sakrileg gleichgekommen. Auf dem Bild klammere ich mich an den Arm meiner Mutter, aufgeregt wegen des vor mir liegenden Tages, aber geborgen unter dem Blütendach.

Mein Vater Hiroyoshi fehlt auf dem Bild. Als Journalist musste er unablässig arbeiten und Artikel über die Unternehmer schreiben, die Japans Wiederaufstieg zur Industriemacht nach dem Krieg vorantrieben.

1964 wurde mein Vater nach Tokio versetzt, und wir verließen unser Holzhaus mit dem tatami-Fußboden in Nagoya an Bord des ersten japanischen Hochgeschwindigkeitszugs und zogen in die japanische Hauptstadt um. Tokio war in diesem Jahr erstmals Austragungsort der Olympischen Sommerspiele, der stolzeste Moment für das Land seit Jahrzehnten und ein Beleg dafür, dass Japan nach der demütigenden Kriegsniederlage und der nuklearen Verwüstung wieder auf die Beine gekommen war. Als ich in jenem Frühjahr in die Takamatsu-Grundschule kam, posierten meine Mutter und ich erneut für das obligatorische Foto unter den Kirschblüten am Schultor.

Mittelschule, Oberschule, Universität. Für uns ist es immer dasselbe: Der April markiert einen Neubeginn, einen weiteren Schritt auf unserem Lebensweg. Die Kirschblüten. Die Fotos. Und im April 1981, an dem Tag, an dem ich meine Laufbahn als Journalistin begann, stand ich wieder unter den voll erblühten Kirschbäumen und wurde mit der Canon-Kamera unserer Familie geknipst.

Japans Liebe zu Zierkirschen kommt einer Obsession gleich, wie es sie kein zweites Mal gibt. Wir sind ein homogenes Volk – 98 Prozent der 127 Millionen Staatsbürger des Landes sind japanischer Abstammung – und seit über zweitausend Jahren durch Tradition und die kulturelle Affinität zu einem bestimmten Baum verbunden. Natürlich haben auch andere Länder ihre Nationalblume. Aber wer kann sich vorstellen, dass quasi die gesamte Bevölkerung Großbritanniens, Deutschlands oder der Vereinigten Staaten an einem Wochenende des Jahres in Parks strömt, um sich blühende Bäume anzusehen, und seien sie noch so schön?

Bei der Tokioter Zeitung, wo ich für das Büro des Premierministers und später für das Verteidigungsministerium zuständig war, schickten wir am Nachmittag einen jungen Praktikanten mit Plastikplanen und Pappe in einen nahegelegenen Park neben dem Kaiserpalast. Dort breitete er die Planen unter einem Kirschbaum aus und setzte sich ohne Schuhe darauf – wehe dem, der auf unserem Plastikteppich Schuhe trägt –, um unseren Platz bis zum Kirschblütenfest oder hanami (auf Japanisch heißt hana Blüte und mibetrachten) am Abend zu verteidigen. Hanami war ein alljährliches Frühlingsritual, eine gemeinschaftliche Orgie mit Kirschblütenreis, eingelegtem Gemüse, Wein, sake und Süßigkeiten, mit lauten Gesängen, allgemeiner Verbrüderung und dem Wiedersehen mit Freunden und Angehörigen.

Mein Leben lang hatte ich die Kirschblüten als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Ich hatte nie darüber nachgedacht, warum die meisten der in Japan wachsenden Kirschbäume – sieben von zehn – ein und derselben Varietät angehörten, der Somei-yoshino. Als ich 2001 nach London ging, war ich verwundert über die Vielfalt der Zierkirschen auf den Britischen Inseln. Die Blüten, die ich dort sah, hatten alle möglichen Farben – weiß, rosa, rötlich, manche sogar grünlich –, und die Bäume blühten zu unterschiedlichen Zeiten, in der Regel von Mitte März bis Mitte Mai. Die Bäume begannen zu blühen und warfen ihre Blüten ab, und dann übernahm eine andere Varietät, so dass sich ein kaleidoskopartiger Kaskadeneffekt ergab, der die Kirschblütensaison auf zwei Monate ausdehnte.

In Japan ist die Saison sehr viel kürzer. Die Blüten jedes Somei-yoshino-Baums halten nicht länger als acht Tage, und dass alle gleichzeitig blühen und dann ihre Blüten verlieren, liegt daran, dass sie alle Klone sind. Die Kultur der sakura oder Kirschblüte drehte sich daher im 20. und 21. Jahrhundert um das kurze Leben der Blüten und ihren schnellen, vorhersehbaren Tod. Die Kirschblüte war so vergänglich wie das Leben.

Aber was um alles in der Welt war aus den Wildkirschen geworden, fragte ich mich, zum Beispiel aus der Yama-zakura, die zur Zeit der Samurai im 17. und 18. Jahrhundert massenhaft in den Bergen wuchs oder in den Städten gepflanzt wurde? Was war aus der Fülle von Varietäten geworden, die jahrhundertelang von den daimyō gezüchtet wurden, Feudalherren, die über Fürstentümer in ganz Japan herrschten, und von Kirschliebhabern in der alten Stadt Kyoto? Ja, wo war die einstmals hochgelobte Vielfalt an Zierkirschen mit ihren herrlich abwechslungsreichen Blütenformen geblieben?

Naoko und ihre Eltern, Frühjahr 2016

Als ich für eine Zeitungskolumne über die Verbreitung der Blütenkirschen auf den Britischen Inseln recherchierte, stieß ich auf die Geschichte von Collingwood Ingram, dessen Kreuzzug zur Bewahrung der Taihaku und vieler anderer japanischer Kirschvarietäten bei westlichen Gartenbauexperten legendär ist. In Japan und im Rest der Welt ist sie unbekannt. Bei meinen weiteren Nachforschungen begegnete ich seinem Namen immer wieder, und bald befand ich mich auf einer Entdeckungsreise zur Zierkirsche, die mich in Archive, botanische Gärten, gartenbauliche Forschungsinstitute und Tempel in Japan und im Vereinigten Königreich führte. Sie wurde zu einer sehr persönlichen Reise, die meine tief verwurzelten Ansichten über einen Baum, den ich in- und auswendig zu kennen glaubte, auf den Kopf stellte.

 

Im Rahmen meiner Recherchen las ich von einem Besuch der Kent Gardens Association im Mai 2010 in The Grange, einem Fünfundzwanzig-Zimmer-Haus im Dorf Benenden, das Ingram und seine Frau Florence 1919 gekauft hatten. Gastrednerin war Charlotte Molesworth, eine Formschnittexpertin, die mit ihrem Ehemann Donald, ebenfalls ein Gärtner, in einem Cottage in der Nähe von The Grange wohnte. Charlotte und ihr Mann kannten die Ingrams gut, und sie riet mir, mit Ernest Pollard Kontakt aufzunehmen, dem distinguierten Ehemann von Ingrams Enkeltochter Veryan. Pollard lud mich in sein Haus in Rye, East Sussex, ein.

Dort hatten die Pollards auf einem runden Holztisch in einem gediegenen Arbeitszimmer im Erdgeschoss Stapel von Tagebüchern, Skizzen, handgeschriebenen Notizen, Forschungsarbeiten, Büchern, Zeitschriften, Fotografien und Zeitungsartikeln ausgelegt. Zu meiner großen Freude war ich auf einen reichen Schatz gestoßen, der die Jahre zwischen 1880 und 1981 umspannte, Collingwood Ingrams gesamtes hundertjähriges Leben. Abgesehen von Ernie, wie ich ihn auf seine Bitte hin nannte, hatte diese wertvolle Sammlung noch nie jemand in ganzer Fülle zu Gesicht bekommen. Vieles davon hatte jahrelang in einem Pappkarton gelegen, bevor Ernie anfing, das Material zu sichten.

Er überließ mir Kopien von Abschriften der Tagebücher, die Ingram während seiner Reisen nach Japan in den Jahren 1902, 1907 und 1926 geführt hatte. Zu Hause in London versuchte ich, mehr über die Menschen herauszufinden, die Ingram in Japan kennengelernt hatte. Ich staunte nicht schlecht: Von Angehörigen des Kaiserhauses über Wirtschaftstycoone bis hin zu Spitzenpolitikern war alles dabei. Es war die Crème de la Crème der japanischen Gesellschaft, wichtige Vertreter einer aufstrebenden Industriemacht, und alle waren irgendwie mit Kirschbäumen verbunden. Aber das war noch nicht alles. Ingrams Notizen und Tagebücher enthielten großartige Beschreibungen von Japans Natur und von den Begegnungen mit Gartenexperten, für die die Bäume und ihre Blüten nicht nur prächtige Gewächse waren, sondern ehrwürdige Institutionen.

Und so stürzte ich mich ich freudig in das Kaninchenloch der Recherche. Ich führte Interviews mit Ingrams Nachkommen, mit seinem Gärtner, seiner Haushälterin und anderen, die ihn gut gekannt hatten. Mein Bild von ihm wurde immer facettenreicher. Da gab es den mit einem Silberlöffel im Mund geborenen, begüterten Enkel des Gründers der Illustrated London News; den kränklichen Jungen, zu schwach für den Schulbesuch; den extrem selbstbewussten Teenager; und später den jungen Abenteurer in Australien und Japan zur Glanzzeit des Britischen Empires.

In der Welt der Natur gab es den Ornithologen Ingram, der im Ersten Weltkrieg 1917 und 1918 in den französischen Wäldern Vögel zeichnete; den Naturschützer, seiner Zeit um Jahrzehnte voraus, der einem so zum Konformismus neigenden Land wie Japan die Bedeutung der Artenvielfalt predigte; den Agnostiker, der mit dem Dorfpfarrer über den Glauben diskutierte und Charles Darwins Evolutionstheorie verteidigte.

Es gab den Patrioten im Zweiten Weltkrieg, den Kommandeur von Benendens Bürgerwehr, einem Trupp älterer, nicht für den Kriegsdienst rekrutierter Männer, die sich gegen die deutsche Invasion in Großbritannien wappneten. Und schließlich den Ehemann, Vater, Großvater, Kollegen und Freund, der sein Fachwissen über die Natur und vor allem über Zierkirschen mit der ganzen Welt teilte.

Collingwood Ingram war eine Zierkirschenkoryphäe. Als leidenschaftlicher Fürsprecher der Zierkirsche und maßgebliche Autorität rettete er einige Varietäten vor dem Aussterben. In seinem Garten in Kent baute er die größte Sammlung von Kirschvarietäten außerhalb Japans auf. Sein größtes Vermächtnis ist jedoch, dass er fast im Alleingang vielfältige Sorten von Zierkirschen auf den Britischen Inseln und weltweit verbreitete.

Ingram führte ungefähr fünfzig verschiedene japanische Zierkirschen in Großbritannien ein. Er war der Erste, der Zierkirschen künstlich kreuzte und neue Varietäten schuf. Und er gab einigen bereits existierenden Varietäten, deren Abstammung unbekannt war, einen Namen. Eine nannte er Hokusai als Hommage an den weltberühmten japanischen Maler und Holzschnittmeister Katsushika Hokusai, mit dem er eine große Liebe zu Japans ikonischem Berg Fuji teilte. Eine andere Varietät nannte er Asano nach dem Helden des klassischen Samurai-Epos Die siebenundvierzig Rōnin.

Außerdem schrieb er ein grundlegendes Buch über Zierkirschen und verschenkte freigiebig Samen, Edelreiser und Setzlinge. Er nutzte jede Gelegenheit, um für Zierkirschen zu werben, bei seinen privilegierten Freunden ebenso wie bei der Allgemeinheit. Und was war seine Lieblingskirsche? Die Taihaku. »Was Qualität und Größe betrifft, sticht sie hervor«, schrieb Ingram. Er trug entscheidend zum Erhalt der Taihaku bei, aber wie kam es überhaupt dazu, dass er sich dieser Mission verschrieb?

Bei meinen Recherchen erforschte ich auch die historische Rolle von Zierkirschen in Japan im Lauf der Jahrhunderte. Seitdem ich in England lebte, hatte ich unzählige »Visit Japan«-Werbeanzeigen gesehen, oft mit zwei typischen Abbildungen: dem schneebedeckten Fuji und Kirschblüten. Doch ich stellte bald fest, dass sich hinter den harmonischen Bildern komplexere Fragen bezüglich der sakura als Nationalsymbol verbargen.

Im alten Japan waren Kirschblüten ein Sinnbild für neues Leben und Neuanfang gewesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich diese Wahrnehmung allmählich. Zu einem dramatischen Bedeutungswandel kam es in den 1930er Jahren, als mehrere aufeinanderfolgende Regierungen die Popularität der sakura und ihre Verbindung zum Kaiserhaus als Propagandainstrumente zur Beeinflussung ihres leicht lenkbaren Volks einsetzten. In Liedern, Theaterstücken und Schulbüchern wurde die Kirschblüte nun nicht mehr als Symbol des Lebens, sondern des Todes dargestellt. Klassische Gedichte wurden bewusst falsch interpretiert, und es setzte sich die Auffassung durch, dass die Bereitschaft, für den Kaiser – Japans lebenden Gott – zu sterben wie die Kirschblüten, die nach einem kurzen, aber glorreichen Leben starben, zum Yamato damashii oder »wahren japanischen Geist« gehörte.

Die neu kultivierte Somei-yoshino-Kirsche passte hervorragend in dieses politische Klima ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Hatte es in den japanischen Städten einst Wildkirschen und viele verschiedene Varietäten gegeben, beherrschte nun die geklonte Somei-yoshino das Bild, und ihre rapide Ausbreitung veränderte die traditionelle Kirschblütenlandschaft. Sie wuchs schnell, vom Setzling zum ausgewachsenen Baum in etwa fünf Jahren. Sie war leicht zu vermehren und billig. Vor allem aber war sie schön.

Mit ihrer Zartheit und Eleganz hüllen blühende Somei-yoshino-Bäume das ganze Land in einen rosa Mantel. Weil sie blühen, bevor ihre neuen Blätter sprießen, ist der Eindruck dramatischer als bei vielen anderen Kirschen, die zusammen mit ihren Blüten die ersten Blätter hervorbringen. Wann immer es in Japan Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts etwas zu feiern gab, wurde nur diese eine Varietät gepflanzt.

Ende der 1880er Jahre waren über 30 Prozent aller Kirschbäume in Tokio Somei-yoshino. Nach Japans militärischem Sieg über Russland 1905 sowie anlässlich der Thronbesteigung Kaiser Taishōs 1912 und Kaiser Shōwas (Hirohitos) 1926 wurden im ganzen Land Millionen weitere Exemplare dieser Varietät gepflanzt. Andere Zierkirschen wurden vernachlässigt oder verschwanden einfach. Das kümmerte kaum jemanden, und so gut wie niemand unternahm etwas dagegen.

Mein Vater, der 1931 geboren wurde, erinnerte sich noch daran, dass er in der Grundschule in der Präfektur Okayama Lieder über Kirschblüten singen und auswendig lernen musste, als nach der japanischen Besetzung der Mandschurei der Militarismus die Oberhand gewann. Und er erinnerte sich daran, wie nach der Kapitulation Japans im August 1945 und dem Beginn der amerikanischen Besatzung diese Lieder mit einem Schlag nicht mehr gesungen wurden. In dieser Zeit verschwanden auch die Fotografien des Kaisers aus den Klassenzimmern. Mein Vater und seine Klassenkameraden bekamen einen Pinsel und ein Fässchen schwarze Tinte, um aus ihren Schulbüchern sämtliche Stellen zu streichen, in denen die Göttlichkeit des Kaisers und die sogenannte »Großostasiatische Wohlstandssphäre« erwähnt wurden, die das japanische Militär zuvor propagiert hatte. Kaiser Hirohito erklärte in seiner Neujahrsansprache 1946, dass er nur ein gewöhnlicher Sterblicher sei.

Innerhalb weniger Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer weltanschaulichen Kehrtwende. Aus Schwarz wurde Weiß. Aus Feinden wurden Freunde. Und die engstirnige Kirschblütenideologie, die Japan mehr als ein halbes Jahrhundert lang vertreten hatte, wich den neuen Gegebenheiten.

Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf eine Rede, die Collingwood Ingram 1926 vor Japans bedeutendsten Kirschexperten und -unterstützern gehalten hatte. Darin warnte er davor, dass viele Kirschvarietäten kurz vor dem Aussterben stünden. Es war eine dringende Warnung vor einem zerstörerischen Kurs, den Japan eingeschlagen hatte. Aber als seine mahnenden Worte auf taube Ohren stießen, beschloss dieser Engländer, die Zierkirschen auf eigene Faust zu retten.

Je mehr ich recherchierte und je mehr Interviews ich führte, desto mehr Geschichten kamen ans Licht. Mehrere japanische Kirschspezialisten hatten im Pazifikkrieg (wie der Zweite Weltkrieg in Asien genannt wird) ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um seltene Varietäten zu bewahren. Dann waren da noch die bitteren Erfahrungen von Ingrams Schwiegertochter in einem Kriegsgefangenenlager in Hongkong. Viele Jahre nach Ingrams Tod trafen »Versöhnungs«-Kirschbäume in Großbritannien ein – das Geschenk eines japanischen Kirschbaumzüchters, der in der Nähe eines Gefangenenlagers in Nordjapan aufgewachsen war.

Aus all dem ging mein Buch »Cherry« Ingram: The English Saviour of Japan’s Cherry Blossoms hervor, das 2016 auf Japanisch veröffentlicht wurde. Ich fühlte mich sehr geehrt, mit dem Japan Essayist Club Award ausgezeichnet zu werden, einem bedeutenden Sachbuchpreis in meinem Heimatland Japan. Als ich im Nationalen Presseclub in Tokio einen Vortrag über das Buch hielt, fragten mich nichtjapanische Freunde, ob es auch auf Englisch und in anderen Sprachen erscheinen würde.

Und so wurde Ingrams Geschichte noch einmal neu aufgerollt. Für die internationale Ausgabe des Buchs war eine breitere historische und kulturelle Perspektive erforderlich. Jeder Japaner weiß, was hanami ist, einem Japan-Neuling dagegen muss man es erklären. Auch durchforstete ich noch mehr Dokumente und führte weitere Interviews in Großbritannien und Japan. In Alnwick Castle zeigte mir die Herzogin von Northumberland den Garten, in dem sie die weltgrößte Sammlung von Taihaku-Kirschen gepflanzt hatte. In den schneebedeckten Bergen der Präfektur Gifu in Zentraljapan erklärte mir ein engagierter Gärtner, wie er und seine Kollegen einen tausendfünfhundert Jahre alten Baum am Leben erhielten, die zweitälteste Zierkirsche der Welt. Und im äußersten Süden der Insel Kyushu im Westen des japanischen Archipels war ich zu Tränen gerührt von einem Mann, der mir von den letzten Stunden der Kamikaze-Piloten erzählte, von denen viele fast noch Kinder waren. Sie flogen in den Tod, nachdem sie Abschiedsgedichte an ihre Angehörigen geschrieben hatten, in denen sie ihr Leben mit Kirschblüten verglichen.

Mein Ziel blieb unverändert: Ich wollte eine aufschlussreiche Geschichte über die erstaunlichen Verbindungen zwischen einem Mann, einer Blüte und zwei Ländern erzählen, die weitgehend unbekannte Geschichte von Collingwood Ingram, seinem langen Leben und seiner einfachen Philosophie. Die Geschichte der Kirschblüte, ihres kurzen Lebens und ihrer komplexen Ideologie. Die Geschichte Großbritanniens und Japans, zweier Inselstaaten, deren jahrzehntelang friedliches und freundschaftliches Verhältnis durch einen vierjährigen Krieg unterbrochen wurde, der bis heute nachwirkt.

In Japan kollidierten Ingrams Ansichten über Heterogenität mit der Homogenität des Landes. Für Ingram war die Diversität von Ansichten und Überzeugungen, Spezies und Varietäten löblich und begrüßenswert. Eine Gesellschaft, die Unterschiede zulässt, ist, trotz gelegentlicher Konflikte, robust, vital und zukunftsgerichtet. Für Ingram bedeutete das: je mehr Vogel-, Pflanzen- und Zierkirschenarten, desto besser.

Japans zunehmend extreme Uniformität empfand er als unnatürlich, restriktiv und potenziell gefährlich. Das Verschwinden von Diversität, symptomatisch für die militaristische Stimmung der 1920er und 1930er Jahre, kristallisierte sich im Aussterben der Taihaku-Kirsche. Die Allgegenwart der Somei-yoshino sagt alles über den dunklen Weg der Konformität, dem die Japaner bis zu ihrer Niederlage 1945 folgten.

Doch dazu später mehr. Die Geschichte beginnt mit dem jungen Collingwood Ingram im ländlichen England, umgeben von einer verrückten Menagerie aus Japan Chins und Albino-Spatzen.

Teil einsDie Geburt eines Traums

1. Familienbande

Viele Jahre, bevor Collingwood Ingram seine Liebe zu den Kirschblüten entdeckte, gab es eine Albino-Dohle namens Darlie. Darlie wohnte im Hut von Collingwoods Vater, in einem Schrank im Flur des luxuriösen 11-Zimmer-Familienbungalows in Westgate-on-Sea, einem englischen Badeort.[1] Der Vogel hatte sich in dem Hut ein Nest aus Fell gebaut, das er aus der Zobelpelzmütze und den Hausschuhen von Collingwoods Mutter gezupft hatte. Und darin bunkerte die Dohle, die von glänzenden Objekten magisch angezogen wurde, einen silbernen Füllfederhalter und mehrere Gabeln.

Schlug ein Dienstbote den Essensgong, flog Darlie ins Speisezimmer, hüpfte auf dem Tisch umher und pickte kleine Bissen von jedem Teller. Bei diesen kulinarischen Erkundungen gesellten sich vier Albino- oder leuzistische Spatzen zu ihr – Isidor, Tiny, Wildie und Zimbi – sowie Albine und Bil-Bil, zwei rotäugige Albino-Amseln, die gern hartgekochte Eier verdrückten. In dem Haus lebten mindestens ein Dutzend weitere Albino-Vögel, darunter Drosseln, eine Heckenbraunelle, ein Alpenbirkenzeisig, ein Star und eine Schwalbe.[2]

Aufgrund ihrer genetischen Mutation sahen und hörten diese Vögel schlecht und hatten kaum eine Chance, einen Brutpartner zu finden; auch war ihr Überleben in freier Wildbahn gefährdet. Daher hielten Collingwood und seine Mutter Mary die Vögel im Haus, wo sie als Teil der Familie lebten und sogar auf deren Auslandsreisen mitgenommen wurden. Als Darlie starb, widmeten Collingwood und Mary ihrem Andenken eine Ecke der Vitrine, in der sie Fotos der Dohle, fünf ihrer Eier auf Watte gebettet und eine Brosche mit ihren Federn ausstellten. John Jenner Weir, ein Freund von Charles Darwin und eine wichtige Inspirationsquelle für den jungen Collingwood, nannte Darlie »den bezauberndsten Vogel, den ich jemals kennenlernen durfte«.[3]

Es ist nicht überliefert, ob Jenner Weir auch einen anderen Spleen der Ingrams kommentierte: Japan Chins. Vom japanischen Adel und von Samurai-Fürsten gezüchtet und geschätzt, sahen die kleinen Hündchen mit den flachen Gesichtern und großen Augen ein wenig wie Perserkatzen aus. Sie waren nach der Öffnung Japans zum Westen in den 1850er Jahren nach England gebracht worden und wurden in vielen wohlhabenden Haushalten in ganz Europa zu einem exotischen Inventar. Königin Alexandra zum Beispiel, die 1863 den späteren König Edward VII. geheiratet hatte, bekam kurz nach ihrer Hochzeit einen Chin geschenkt und trug zur Popularität dieser Rasse bei. Die Liebe der Ingrams zu diesen Hunden war so groß, dass sie in Westgate-on-Sea, ihrem neuen Wohnsitz, bis zu fünfunddreißig Chins gleichzeitig hielten.

Jeder Chin hatte sein charakteristisches Aussehen. Die meisten waren schwarz-weiß, aber es gab auch rot-weiße oder goldfarben-schwarze. Laut Collingwood Ingrams Cousin Edward Stirling Booth wurden die Chins nach dem Abendessen »in Begleitung zweier Hundepflegerinnen wie Kinder kurz in den Salon geführt. Die Hunde hatten sehr spezielle Ernährungsgewohnheiten. Sie wurden nach Strich und Faden verwöhnt. Von Zeit zu Zeit wurde eines der Hündchen hinaus- und wieder hereingebracht, dann wurde ein anderes hinaus- und wieder hereingebracht. Auch das mussten die Gäste hinnehmen.«[4] Außerdem erwähnte Booth, dass in dem weitläufigen Garten der Ingrams ein Gnu lebte.

Mary Ingram und einige ihrer Japan Chins

Selbst für das viktorianische Großbritannien, in dem man über die Marotten der Reichen normalerweise hinwegsah, war der Hauszoo der Ingrams untypisch. Und für die Bewohner von Westgate-on-Sea stand fest, dass die Ingrams ungewöhnlich waren. Auch ungewöhnlich reich. Familienoberhaupt war Collingwoods stolzer Vater, Sir William James Ingram, Abgeordneter der Liberalen Partei für den Wahlbezirk Boston in Lincolnshire. Außerdem war er Geschäftsführer der Illustrated London News, einer der einflussreichsten und populärsten Zeitungen Großbritanniens. Willie, wie ihn seine Freunde nannten, war ein tatkräftiger Visionär wie sein Vater Herbert, der Gründer der Zeitung. Sir Williams zahlreiche Kritiker hatten andere Beschreibungen für ihn, sie hielten ihn, wie bereits seinen Vater, für arrogant, streitsüchtig und nachtragend. Auch seine fünf Schwestern und seine Mutter Ann, deren Wiederheirat 1892 im Alter von achtzig Jahren eine Familienfehde auslöste, hatten kein gutes Wort für ihn übrig.

Sir Williams Frau, Mary Eliza Collingwood Ingram, war eine Australierin, die sich ihren Akzent durch Sprechunterricht in London abtrainiert hatte. Die beiden leidenschaftlichen Vogel- und Naturliebhaber hatten sich in London kennengelernt und 1874 in der Christ Church in Paddington geheiratet. Ihre drei Söhne, die ihre Eltern Min und Pids nannten, vervollständigten das Quintett. Der Älteste, Herbert oder Bertie, und sein Bruder Bruce besuchten, wie schon ihr Vater, das Elite-Internat Winchester College

Collingwood, das Nesthäkchen der Familie und ein kränkliches Kind, hatte nie eine Schule besucht. Während Bertie also Vergils Aeneis studierte, durchstreifte Collingwood die Landschaft und beobachtete Vögel: Bachstelzen und Grasmücken, Braunkehlchen und Wendehälse. Und während Bruce sich mit Whistlers Porträt seiner Mutter und Constables Gemälde Der Heuwagen befasste, eignete sich Collingwood den Ruf (wit-wit) der Wachtel im Marschland von East Sussex an. Von frühester Kindheit an war Collingwood auf Vögel fixiert. Mit drei hatte ihn sein norwegisches Kindermädchen hochheben müssen, damit er ein Spatzennest in einer Hecke betrachten konnte, in dem türkisblaue Eier lagen. »Das Beobachten von Vögeln«, erinnerte er sich später, »und besonders das Beobachten ihrer Nester und Jungen wurde bei mir zu einer Obsession – einer Obsession, die mehr als mein halbes Leben anhielt.«[5]

Die Natur war für den Jungen eine Religion und der Darwinismus sein Glaubensbekenntnis. Eines Tages im Jahr 1891 lernte er zufällig John Jenner Weir kennen, einen der renommiertesten Ornithologen und Botaniker Großbritanniens. Diese Begegnung, erinnerte sich Ingram, war so etwas wie ein Erweckungserlebnis: »Die Art und Weise des Zusammentreffens mit diesem Fremden bleibt eine unerklärliche Episode meines Lebens.«

Ich war nicht älter als zehn, ein schüchternes, introvertiertes Kind, das unter normalen Umständen nicht im Traum daran gedacht hätte, einen Wildfremden anzusprechen. Aber genau das tat ich. Ich streifte allein durch die Landschaft, um Vögel zu suchen, als ich einen älteren Herrn auf mich zukommen sah, ebenfalls allein und wie ein Städter von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Er hätte alles Mögliche sein können – ein Anwalt, ein Arzt, ein Geschäftsmann.

Es gab daher keinen Grund, warum ich mich auf einmal unwiderstehlich zu ihm hingezogen fühlte. War es Telepathie oder Intuition? Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas schien mir zu sagen, dass ich endlich eine verwandte Seele gefunden hatte. Von einem unkontrollierbaren Drang getrieben, ging ich direkt auf ihn zu und fragte ihn auf den Kopf zu, ob er sich für Vögel interessiere – eine törichte Frage, da ich die Antwort instinktiv bereits kannte.[6]

Tatsächlich hielt Jenner Weir in seinem Südlondoner Garten in einer Voliere Vögel und Schmetterlinge und stellte Experimente darüber an, welche Raupenarten welcher Farbe die Vögel fraßen. Einige von Jenner Weirs Beobachtungen zitierte Charles Darwin in Die Abstammung des Menschen und in anderen Werken. Nach dieser ersten Begegnung lieh Jenner Weir Collingwood drei prägende Jahre lang Aufsätze und Bücher über die Welt der Natur. Er starb überraschend im März 1894 im Alter von einundsiebzig Jahren, als sein junger Bewunderer erst dreizehn war, übte jedoch einen lebenslangen Einfluss auf ihn aus. In seinem letzten Buch, Random Thoughts on Bird Life, das Collingwood mit achtundneunzig Jahren im Selbstverlag veröffentlichte, drückte er seinen »tief empfundenen Dank für [Jenner Weirs] Ansporn« aus.

Collingwood sammelte bereits leidenschaftlich alle möglichen Tierarten, die ihn interessierten. Seine Begegnungen und seine Korrespondenz mit Jenner Weir bestärkten ihn darin. Die Artenvielfalt musste geschützt und erhalten werden, das war Collingwoods Credo. Schließlich machte gerade die Vielfalt das Leben so reich und erfüllend.

Nach Darwins Theorie der evolutionären Anpassung durch natürliche Auslese – das »Überleben der am besten Angepassten« –, die Collingwood mit Jenner Weir diskutierte, hätten die Albino-Vögel der Familie Ingram in der Natur keine Überlebenschance gehabt, und doch gab es sie, zumindest in kleiner Zahl; und auch Collingwood selbst wurde – entgegen aller Prognosen bei seiner Geburt – über hundert Jahre alt.

2. Mayfair-by-the-Sea

Der dunkle, giftige Nebel, der am Montag, den 26. Januar 1880 die größte Stadt der Welt einhüllte, brachte das Leben in London fast völlig zum Erliegen. Drei Tage lang hing die Erbsensuppe, wie man den Nebel nannte, weil er so dick und gelb war, wie eine Decke über der britischen Hauptstadt und schränkte die Sicht erheblich ein. Hervorgerufen hauptsächlich durch das Verfeuern von Kohle, führte die toxische Mischung aus Schwefeldioxid und Verbrennungspartikeln im Nebel Schätzungen zufolge zum Tod von 11000 Menschen. Die meisten der fünf Millionen Einwohner Londons blieben zu Hause, auch der 32-jährige William und die 29-jährige Mary Ingram. Sie gaben ihre beiden Söhne in die Obhut ihrer Gouvernante und genossen die kostbare Zeit der Ungestörtheit an ihrem Wohnsitz in South Kensington. Neun Monate später, am Samstag, den 30. Oktober 1880, brachte Mary Collingwood zur Welt, ihr drittes und letztes Kind.

Für die Privilegierten hatte London mit seinen Theateraufführungen und Konzerten, seinen Vorträgen und Privatclubs oder dem Einkaufsbummel bei Hamleys und Harrods viel zu bieten. London war der Mittelpunkt von Königin Victorias Britischem Empire, voller schön gestalteter Parks, Museen und Galerien mit wertvollen Skulpturen, Gemälden und Schätzen aus der ganzen Welt. Die Wohlhabenden der Hauptstadt schwammen in Geld. Das späte 19. Jahrhundert war auch ein goldenes Zeitalter der politischen Debatte, und William Gladstone, der Vorsitzende der Liberalen Partei, lieferte sich im Parlament leidenschaftliche Wortgefechte mit Benjamin Disraeli, dem Vorsitzenden der Konservativen Partei.

Für die Mehrheit jedoch war das Leben ein Kampf. London, wo ein Fünftel der britischen Bevölkerung lebte, war gefährlich, laut, übelriechend und verpestet. Obwohl sich viele Londoner jetzt unterirdisch fortbewegten – mit der Metropolitan Railway und der District Railway, die seit den 1860er Jahren Fahrgäste beförderten –, herrschte auf den Straßen ein chaotisches Durcheinander. Die vielen tausend Pferde, die die Kutschen, Busse und Droschken zogen, hinterließen Berge von Pferdeäpfeln, auf denen sich krankheitsübertragende Fliegen tummelten. Zum Heizen verfeuerten die Bewohner Kohle, was die Stadt in Rauch und Ruß hüllte. Die Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse waren besonders schlecht, und Gewalt und Überfälle waren an der Tagesordnung, vor allem in den Slums des East End. Durchfall, Keuchhusten, Pocken, Masern und Scharlach forderten jedes Jahr Tausende Menschenleben. Tragischerweise starb auch jeder fünfte Säugling im ersten Lebensjahr, und die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer lag bei nur zweiundvierzig Jahren.

All der Reichtum der Ingrams wurde nebensächlich, als das Leben ihres Sohnes auf dem Spiel stand. Collingwood hatte von Anfang an unter Atemwegserkrankungen gelitten und wurde mit Eselsmilch ernährt, die der Muttermilch ähnlicher ist als Kuh-, Ziegen- oder Schafsmilch. Schon im Alten Ägypten hatte die Eselsmilch mit ihrer Laktose, ihren Mineralien und Proteinen Säuglinge vor Infektionen geschützt und den Aufbau des Immunsystems gefördert. Williams und Marys Befürchtung, ihr Sohn könnte sich mit Tuberkulose oder einer anderen lebensgefährlichen Krankheit anstecken, hatte zur Folge, dass er als Kleinkind in London nur selten ins Freie durfte. Die Hauptstadt war ja tatsächlich nicht der richtige Ort für ein kränkelndes Kind.

Mary Ingram, im Dezember 1851 geboren, hatte als Kind die reine, saubere Luft Südaustraliens eingeatmet. Auf der elterlichen Schaffarm in Strathalbyn, einer Kleinstadt südöstlich von Adelaide, hatte sie mit ihren sieben Brüdern und Schwestern Shetlandponys geritten und verwaiste Opossums aufgepäppelt. Ihr Vater Edward Stirling, der aus Arbroath in Schottland stammte, war im Juni 1839 auf der Jungfernfahrt der Dreimastbark Lady Bute in der australischen Kolonie eingetroffen. Acht Jahre später hatte Edward, der Sohn eines Plantagenbesitzers in Jamaika und einer afrikanischen Sklavin, Harriet Taylor geheiratet und war durch Kupferminen zu Wohlstand gekommen. Ende der 1860er Jahre kehrte er mit seiner Familie ins Vereinigte Königreich zurück.[7]

Um der Luftverschmutzung und der in den 1870er Jahren einsetzenden Bevölkerungsexplosion Londons zu entfliehen, suchten William und Mary Ingram nach einem Refugium außerhalb der Stadt. Sie entschieden sich für Westgate-on-Sea, das von den Eliten der Hauptstadt »Mayfair-by-the-Sea« getauft wurde. Von London zwei Zugstunden entfernt, war es ein auf die Wünsche der betuchten Gäste zugeschnittener Ferienort mit großen, an Privatstraßen gelegenen Domizilen, darunter den ersten in Großbritannien gebauten Bungalows. William Ingram, der eine geschäftliche Chance witterte, kaufte 1878 acht Häuser einer Häuserzeile am Meer, eines davon für seine Familie. Er nannte es nach dem Haus seiner Kindheit »Loudwater«.

Neun Jahre später erwarb Ingram das größte Anwesen in Westgate-on-Sea mit dem schlichten Namen »The Bungalow«, nachdem die ursprünglichen Besitzer Sir Erasmus und Lady Charlotte Wilson gestorben waren.[8] The Bungalow bot viel Platz für große viktorianische Familien – und in diesem Fall auch für ihre Haustiere – und verfügte über einen geräumigen kiefergetäfelten Salon, mehrere Speisezimmer, einen Wintergarten, eine Veranda, Zimmer für die sechs Bediensteten der Ingrams, Ställe und einen weitläufigen Weinkeller. Es gab eine Zentralheizung, sogar in der Voliere, wo die Ingrams einen Kea hielten, einen fleischfressenden Bergpapagei aus Neuseeland. (Allerdings war es dort nicht warm genug für die Lieblingsalbino-Schwalbe der Familie. Der Vogel konnte im Winter wegen eines gebrochenen Flügels nicht in den Süden ziehen.[9] Deshalb legten Collingwood und Mary zwischen Oktober und März täglich um 7 Uhr morgens und 10 Uhr abends eine Wärmflasche auf ein Brett unter dem Käfig, um die Temperatur konstant auf etwa 15 Grad Celsius zu halten. Trotzdem erkältete sich die Schwalbe und starb.)

In seinem ersten Lebensjahrzehnt war Collingwood, wie er sich erinnerte, ein »kümmerlicher Schwächling, der zu Bronchialbeschwerden neigte«.[10] Mit der Zeit jedoch verbesserte sich seine Gesundheit, unterstützt durch Aufenthalte auf dem Land und an der See, deren salzhaltige Luft von Ärzten empfohlen wurde, neben angeblich »belebenden« Bädern im Ärmelkanal. In London entdeckte der Junge seine Liebe zum Naturhistorischen Museum mit seiner Terrakottafassade, das in Würdigung der imperialen Macht Großbritanniens 1881 eröffnet worden war. Das Museum war äußerst günstig gelegen. Das Haus der Ingrams an der Cromwell Road 65 in South Kensington lag nur zwei Gehminuten entfernt. Für Collingwood wie für jeden anderen viktorianischen Besucher war es ein Wunder der Natur – mit einer Sammlung exotischer Pflanzen und Tiere aus so ziemlich allen bekannten Ländern der Erde. Eine Abteilung des Museums zeigte die Insekten, Pflanzen und Säugetiere, die der Naturforscher Sir Joseph Banks während seiner Teilnahme an James Cooks Erster Südseereise mit der HMS Endeavour1768–1771 zusammengetragen hatte. In einer anderen Abteilung war die Sammlung zu sehen, die Sir Hans Sloane von seinen Reisen zu den Karibischen Inseln Anfang des 18. Jahrhunderts mitgebracht hatte.

Wenn Collingwood das Museum betrat, hob er den Blick zur farbenprächtigen, kathedralenartigen Decke, wo 162 individuell bemalte und vergoldete Kassetten Pflanzen aus der ganzen Welt zeigten. Der junge Naturforscher suchte sich oft einen Stuhl, schlug sein Skizzenbuch auf und verbrachte Stunden mit dem Abzeichnen ausgestopfter Vögel und anderer Präparate. Diese stille Betrachtung der Natur stand in starkem Kontrast zu der freigeistigen Atmosphäre im lebhaften Haus der Ingrams.

3. Triumphe und Tragödien

Die Ingrams verdankten ihren Wohlstand dem Familienpatriarchen Herbert, einem legendären Unternehmer. Geboren im Jahr 1811, hatte er sein erstes Vermögen in Nottingham in den Midlands gemacht, wo er »Parr’s Life Pills« verkaufte, eine Wunderarznei, die »ein langes Leben und Glück« versprach. Im Mai 1842 legte er das Fundament für sein zweites Vermögen, als er mit seinen Freunden William Little und Nathaniel Cooke die Illustrated London News gründete.[11] Im Jahr 1843 heiratete er Ann Little, die älteste Schwester seines Geschäftspartners, die in den folgenden zwölf Jahren vier Jungen und sechs Mädchen zur Welt brachte.

Für die Öffentlichkeit war Herberts Karriere die typische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte: der soziale Aufstieg eines armen Metzgersohns aus Boston im ländlichen Lincolnshire, der ein erfolgreicher Geschäftsmann, Parlamentsabgeordneter und Philanthrop wurde. Privat war es eine Geschichte voller Skandale, denn Herbert war ein Schürzenjäger, und seine Liebe zu Wein und Frauen warf jahrzehntelang einen Schatten auf die Familie Ingram.

Seiner Biographin Isobel Bailey zufolge kam es 1851 und noch einmal 1856 zu einem sexuellen Übergriff Herberts auf William Littles Schwägerin Emma Goodson. Emma gab 1857 unter Eid an, Herbert sei in ihr Schlafzimmer eingedrungen und »fing an, mich zu küssen, und dann begrapschte er meine Brust«.[12] Die tausend Wörter lange eidesstattliche Erklärung, die weitere Vorwürfe »vulgären Benehmens« und »abstoßenden Verhaltens« enthielt, war von Emmas Ehemann Charles, ihrem Bruder William und Williams Frau Elizabeth gegengezeichnet, vermutlich vorsorglich, falls die Sache vor Gericht ging. Der Vorfall blieb natürlich nicht folgenlos. Charles stellte Herbert Ingram zur Rede, der zunächst alle Vorwürfe zurückwies, sich aber letztendlich entschuldigte. Noch im selben Jahr rächte sich Ingram an Emma und Charles, indem er ihnen den Mietvertrag ihres Hauses kündigte. Und laut William Little betrat Ingram an Silvester 1857 das Büro der Illustrated London News und »schlug seine Faust mehrmals mit aller Kraft in mein Gesicht«.

Im August 1860 reiste Herbert Ingram in Begleitung seines ältesten Sohnes, der fünfzehn Jahre alt war und ebenfalls Herbert hieß, in die Vereinigten Staaten, um den Problemen zu Hause zu entfliehen und den achtzehnjährigen Prince of Wales (den späteren König Edward VII.) auf einer Tour durch Nordamerika zu begleiten. Beide starben im September zusammen mit dreihundert anderen Passagieren, als der Schaufelraddampfer Lady Elgin im Michigansee sank. Die damals achtundvierzigjährige Ann erbte Herberts gesamtes Vermögen. Dieses Erbe spaltete die Familie, und es kam zu zahlreichen Prozessen, als Ann im April 1892 den Eisenbahnmagnaten Sir Edward William Watkin heiratete, der einen Tunnel unter dem Ärmelkanal bauen wollte. Weder Collingwood noch seine Eltern und Brüder besuchten die Hochzeit ihrer achtzigjährigen Großmutter, weil Sir William Ingram und seine Brüder überzeugt waren, dass Sir Edward ihre Mutter nur wegen ihres Geldes heiratete.

Das war nicht das einzige Familiendrama, das Collingwood als Kind miterlebte. Im April 1888, als er sieben Jahre alt war, wurde sein draufgängerischer Onkel Walter, der jüngere Bruder seines Vaters, bei einer Großwildjagd westlich von Berbera in Somaliland von einem Elefanten zu Tode getrampelt, und seine sterblichen Überreste wurden von einer Sturzflut mitgerissen.

Die Ironie war, dass man Walter ein grausiges Ende prophezeit hatte. Er hatte der britischen Entsatztruppe angehört, die 1884 nach Ägypten entsandt wurde, um General Charles Gordon aus dem belagerten Khartum zu befreien, was jedoch nicht gelang. Später kaufte der 32-jährige Weltenbummler nach einer Fahrt auf dem Nil einen ägyptischen Sarkophag, der den Leichnam eines thebanischen Priesters aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. enthielt, und schickte ihn seinem Bruder William bei der Zeitung. Laut H. Rider Haggard und anderen literarischen Größen dieser Zeit, von denen viele für die Illustrated London News schrieben, war Walter verflucht, weil er die Totenruhe des Priesters gestört hatte. Analog zum »Fluch der Pharaonen«, den man für den Tod Lord Carnarvons nach der Entdeckung von Tutanchamuns Grab 1922 in Ägypten verantwortlich machte, sprach man vom Fluch der Ingrams. Collingwoods Bruder Bruce war ein enger Freund von Lord Carnarvon und Howard Carter, dem Entdecker des Grabs.

Dennoch beflügelten Walters Reisen und sein seltsamer Tod Collingwoods Ehrgeiz. Während Herbert und Bruce eine Privatschule besuchten, die sie auf ein Studium in Oxford und eine Karriere vorbereitete, sah Collingwood sich als künftiger Ornithologe. Mit elf Jahren konnte er den Gesang der meisten in Großbritannien heimischen Vögel unterscheiden. Mit fünfzehn schrieb er sein erstes, unveröffentlichtes Buch, English Birds, und fertigte Illustrationen dazu an. Westgate-on-Sea war der perfekte Ort für seine Ambitionen. Die Stadt liegt an der Isle of Thanet, einem Gebiet in der Grafschaft Kent, das ehemals vom Festland abgetrennt war. Im Laufe der Jahre hatten sich die beiden Landmassen durch die Versandung des trennenden Kanals vereint und bildeten ein flaches Terrain, das für die Vogelbeobachtung ideal war.

Collingwood erhielt zu Hause Privatunterricht und lernte Lesen, Schreiben und Rechnen. Später beklagte er sich darüber, dass »keiner der aufeinanderfolgenden Hauslehrer, die mein Vater für mich engagierte«, ihm »auch nur das geringste naturkundliche Interesse« vermittelt habe. Latein zu lernen fiel ihm trotzdem leicht, da er seine Kenntnis der klassischen Sprache gern mit der Herleitung von Pflanzen- und Vogelnamen unter Beweis stellte; und Französisch lernte er von seinem Lehrer Monsieur Le Mullois auf Spaziergängen auf den Kreideklippen und durch das Sumpfland.

Als Junge wurde Collingwood vor allem durch die Schriften von Henry Seebohm beeinflusst, einem in Yorkshire geborenen Stahlproduzenten und Amateur-Ornithologen, dessen Bücher »die Saat der Rastlosigkeit in mir säten, die mich später dazu brachte, auf der Suche nach Vögeln in ferne Länder zu reisen«.[13] Eines seiner Bücher erzählt von seiner Expedition zur Tundra am Fluss Jenissei in Sibirien. Ein anderes, veröffentlicht 1890, als Collingwood zehn war, handelte von japanischen Vögeln – eine außerordentliche Leistung in Anbetracht der Tatsache, dass Seebohm nie in Japan war.

In diesem Buch schrieb Seebohm auch über Vogelexemplare, die Philipp von Siebold gesammelt hatte. Der deutsche Botaniker und Arzt hatte von 1823 bis 1829 in der kleinen niederländischen Handelsniederlassung Dejima gelebt, einer künstlichen Insel im Hafen der südjapanischen Stadt Nagasaki. Seit jeher an Zugvögeln interessiert, las Collingwood voller Faszination Seebohms These, hundertdreißig Vogelarten in Japan und Großbritannien seien »absolut identisch oder so eng verwandt, dass sie höchstens als unterartlich verschieden betrachtet werden können. Die Vögel Japans unterscheiden sich nicht sehr stark von den Vögeln auf den Britischen Inseln.«[14]

In Thanet waren die Monate März und April für Collingwood besonders wichtig, denn dann bauten die heimischen Vögel ihre Nester, legten Eier und fütterten ihre Jungen. Jeden Nachmittag schnappte sich Collingwood ein paar Sandwiches und einen Skizzenblock und machte sich auf zur Küste oder zum Quex Park, einem großen Anwesen in der Nähe.

Woche um Woche verbesserten sich seine Zeichenkünste, und allmählich fertigte er präzise Illustrationen. Inspiriert wurde er dabei durch Louis Wain, einen von Großbritanniens renommiertesten Künstlern der 1890er Jahre, der nicht nur für die Illustrated London News arbeitete, sondern auch ein enger Freund der Familie war.[15] Er begleitete die Ingrams gelegentlich in die Ferien und unternahm lange Wanderungen mit Collingwood. Im Jahr 1895 zog Wain nach Westgate-on-Sea in die Collingwood Terrace, eine Häuserzeile, die Sir William gehörte und die er nach seinem Sohn benannt hatte. Er wohnte nun keine hundert Meter von The Bungalow entfernt. Tragischerweise verlor Wain später nicht nur sein Vermögen, sondern auch seinen Verstand und verbrachte den Rest seines Lebens in Nervenheilanstalten, bevor er im Juli 1939 starb.

Collingwoods erste bekannte Skizze, die er mit elf oder zwölf Jahren anfertigte

Collingwood beobachtete nicht nur die Vögel in den Marschen von Thanet, sondern besuchte auch regelmäßig Quex Park, ein Anwesen, das sich seit 1777 im Besitz der Familie Powell-Cotton befand. Im Jahr 1894, als Collingwood dreizehn war, hatte der junge Percy Horace Gordon Powell-Cotton nach dem Tod seines Vaters das Anwesen geerbt. Percy war jemand, den Collingwood sehr bewunderte. Er liebte Vögel, Insekten, den Schutz der Natur und Erkundungen und hatte wie Collingwoods Onkel Walter im Burenkrieg gekämpft. In Quex Park wanderte Collingwood umher und vergaß die Zeit, während er Mönchsgrasmücken, Hänflinge, Nachtigallen und Grasmücken beobachtete und ihrem Gesang lauschte.[16]

Als Collingwood zum jungen Mann heranwuchs, folgte sein Leben einem festen Ablauf. Im Winter war Jagdsaison, dann zogen die örtlichen Jagdgesellschaften über die flachen Felder von Thanet. Oft sah er sich auch die beliebten Windhund-Hetzjagden in Thanet an, wo auf Windhunde gewettet wurde, die auf einem festgelegten Kurs einen Hasen verfolgten. Der Frühling gehörte der Vogelbeobachtung. Der August war für die Moorhuhnjagd mit der Familie in Schottland und im Lake District reserviert. Und im November fand, ebenfalls in Schottland, die Rotwildjagd statt.

Wild zu töten, schrieb Collingwood, sei »ein urtümlicher Instinkt aller Männer«. Aber auch: »Ich hoffe und glaube, dass ich dabei immer Fairness geübt habe, was bedeutet, mit einem nur sehr geringen Maß an Grausamkeit zu töten.«[17] Im September 1905 hätte Ingram bei einem Unfall fast selbst das Leben eingebüßt, als er mit seinem Vater in Barras in Westmorland auf der Jagd war. Der Vorfall wurde zu einer landesweiten Meldung: »Sohn eines Baronet erschossen«, lautete die Schlagzeile des Manchester Courier. Später hieß es dann allerdings, Collingwood werde entgegen den Befürchtungen nicht sein Augenlicht verlieren.

Zwischen all den sportlichen Aktivitäten gab es noch den Dezember, den die Familie oft an der französischen Riviera verbrachte. Oder sie reiste zu einer Nilkreuzfahrt nach Ägypten und nahm einige ihrer Lieblingsvögel mit. »Ein paar ägyptische Spatzen kamen an Deck und beleidigten auf irgendeine Art die englische Flagge«, erinnerte sich Lady Ingram an eine dieser Reisen.[18]

»Tony (ein Spatz) war erbost und legte sich mit ihnen an. Wir verloren ihn fünf Stunden lang aus den Augen. Unser ältester Sohn fand ihn schließlich wieder. Ich hoffe nur, dass Tony bei diesem nachgeahmten Krieg der Vögel die englische Vorherrschaft klargestellt und dem Spatzenderwisch, der ihn so beleidigt hat, einen Denkzettel erteilt hat.« Sie fügte noch hinzu, man habe der Crew ein Schaf spendiert, um die Rückkehr des Vermissten zu feiern, und auf dem Boot »erklangen ›Salaam Tony‹-Rufe«.

Collingwood liebte das Segeln. Ein schwimmendes Boot, schrieb er, sei »eines der schönsten menschengemachten Objekte – eine der wenigen erfreulichen Hervorbringungen der Zivilisation«.[19] Er war sich der Gefahren des Segelns sehr wohl bewusst, hatte er doch vom Tod seines Großvaters auf dem Michigansee gehört und selbst zwei Schiffsunglücke mitbekommen. Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag segelte Collingwood auf einer Yacht vor der Küste von Margate, als auf einer nahe gelegenen eisernen Bark, der Blengfell, das Rohbenzin an Bord Feuer fing und neun Mannschaftsmitglieder ums Leben kamen. Jahre später, im November 1910, stand der 30-jährige Ingram auf den weißen Klippen von Dover und sah, wie die Preussen, das einzige Fünfmast-Vollschiff der Welt, nach der Kollision mit einem Dampfer an den Felsen zerschellte.

Zwischen den Familienurlauben absolvierte Collingwood mit seinen Brüdern und Eltern das Programm der traditionellen englischen Gesellschaftssaison – Pferderennen in Epsom, die Ruderregatta in Henley, die Segelregatta in Cowes und Cricketturniere im Lord’s Cricket Ground oder in The Oval für die elitären Spiele: Oxford gegen Cambridge, Gentlemen gegen Players, Eton gegen Harrow. Bei seinen häufigen Besuchen in London erweiterte Collingwood sein Wissen über die Natur durch Besuche im Londoner Zoo, im Naturhistorischen Museum und im Königlichen Botanischen Garten in Kew. Nur wenige Kinder genossen einen solchen Zugang zu den vielfältigsten Angeboten auf dem Höhepunkt des britischen Empire.

Collingwood war fraglos begabt, aber er war auch frühreif, und sein ausgeprägtes Anspruchsdenken kam nicht immer gut an. Im Oktober 1897, kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag, wurde er zum Leiter der Thanet Harriers, der örtlichen Jagdgesellschaft, ernannt, hauptsächlich weil sein Vater das Ganze finanzierte. Der Jagdausschuss war alles andere als begeistert. Sie »rieben sich die Augen, rückten ihre Brillen zurecht und brachten ihre Überraschung mit weiteren Gesten zum Ausdruck«, bevor sie Collingwood mitteilten, er sei zu jung.[20] Collingwood verzichtete schließlich auf den Posten mit den Worten: »Wenn ich euch nicht alt genug bin, um den Ton anzugeben, bin ich bestimmt auch nicht alt genug, um die Musik zu bezahlen.«[21]

 

9500 Kilometer entfernt, auf einer anderen grünen Insel, wo man gerne Tee trank, vollzog sich eine ganz andere historische Entwicklung.

Collingwood in Jagdkleidung im Alter von etwa sechzehn Jahren

4. Erzwungene Abschottung

Als ich in den 1960er Jahren in Tokio aufwuchs, beklagte sich meine Großmutter Katsuyo, die 1899 geboren wurde und bei uns wohnte, manchmal über die Berufswahl meines Vaters. Damals arbeitete er als Journalist bei der Tageszeitung Mainichi – ein hochangesehener Posten. Großmutters ältere Söhne Masatsugu und Yukio waren beide kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gestorben, und Hiroyoshi, mein Vater, war das einzige Kind, das ihr geblieben war. Großmutter war unzufrieden. Mindestens vierzehn Generationen von Abes, bis zurück in das Jahr 1560, waren hochranginge Ärzte gewesen. In ihren Augen hatte mein Vater mit einer geradezu heiligen Familientradition gebrochen, als er eine andere Karriere einschlug. Er hatte sich an einer Elitehochschule im westjapanischen Okayama für Medizin eingeschrieben, dann aber zu Literaturwissenschaften gewechselt, nachdem er im Operationssaal in Ohnmacht gefallen war.

Großmutter war überaus stolz auf die lange Ahnenreihe von Ärzten und fühlte sich ihren Vorfahren gegenüber verpflichtet, diese Tradition fortzusetzen. Ihr verstorbener Ehemann Takatomo hatte davon geträumt, ein Krankenhaus zu eröffnen, in dem seine drei Söhne als Ärzte arbeiteten. Er war 1941 mit neununddreißig Jahren an Tuberkulose gestorben, nachdem er sich bei einem Patienten angesteckt hatte. »Ich kann nicht mit den Füßen in Richtung des Ahnenaltars schlafen, weil ich mich so schäme«, sagte Großmutter. »Naoko, warum wirst du nicht Ärztin und nimmst die Tradition wieder auf?« Da ich ein Mädchen war, könne sie mich nicht zwingen, meinte Großmutter. Damals wurde von Mädchen erwartet, dass sie heirateten und eine Familie gründeten und keinen Gedanken an eine berufliche Karriere verschwendeten. Und was meinen Vater betraf … Sie sog den Atem ein und schwieg vielsagend.

Nach dem Tod meiner Großmutter im Februar 1978 versammelte sich die ganze Verwandtschaft in Tokio, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Nach der Einäscherung stocherten meine Eltern mit langen Holzstäbchen in der Asche, um ein paar Knochen von Großmutter herauszuholen. »Asche zu Asche« heißt es bei Trauerfeiern in Großbritannien. In Japan verehren wir die Knochen als Überreste des Verstorbenen. Wir nahmen sie in einer kleinen Keramikurne mit nach Hause, die in einer schmucklosen, von einem weißen Baumwolltuch umhüllten Holzkiste verstaut wurde. Gemäß den japanischen Begräbnisriten wurde die Kiste auf den Familienaltar gestellt, der sich in einem Winkel von Großmutters Zimmer in unserer Wohnung im elften Stock in Chōfu, Präfektur Tokio, befand. Später besuchten Mama und Papa das Familiengrab in Yonago, einer Stadt am Japanischen Meer, und nahmen die Kiste mit. Dort stand auf einem großen, grauen Grabstein: »Abe Ke Daidai no Haka« (»Grab der Familie Abe«). Ohne weitere Namensangaben.

Zur Beisetzung entfernte ein buddhistischer Mönch den Stein, und meine Eltern stellten schweigend Großmutters Urne neben die unserer anderen Vorfahren. Dort gesellte sie sich zu den ausgebleichten Wadenbeinen und pulverisierten Oberschenkelknochen längst vergessener Abes – Knochen, die durch die Sanddünen von Tottori gelaufen waren; Knochen, die in den nahe gelegenen Chūgoku-Bergen unter wilden Kirschbäumen gelegen hatten, umschlungen von ihren Liebsten; Knochen, deren Besitzer die Gebrechen zahlloser Fürsten und ihrer Familien geheilt und ihre Schmerzen gelindert hatten; Knochen, die die Geschichte der über zweihundert geheimnisvollen Jahre erzählen könnten, in denen Japan praktisch von der Welt abgeschnitten war.

 

Was hat es damit auf sich? Kurz gesagt, lässt sich Japans Geschichte in den vier Jahrhunderten vor 1853, als das Land seine alles verändernde Begegnung mit dem Westen erlebte, in zwei Phasen teilen. Die erste, die 1467–1600 dauerte, war die Zeit der Streitenden Reiche oder Sengoku-Zeit. Die zweite bis 1853 war eine friedliche Phase der Abschottung, Sakoku genannt, was »Land in Ketten« bedeutet.[22] Damals hatte Japan kaum Kontakt zur Außenwelt. Es war das goldene Zeitalter der Kirschblüten.

Zur Zeit der Streitenden Reiche herrschte in großen Teilen des Landes Anarchie. Unterschiedliche Clans, jeder angeführt von einem Feudalherrscher oder daimyō und seinen Samurai-Kriegern, rangen auf allen vier Hauptinseln Japans um Macht und Land: auf Honshu, der größten Insel; auf Shikoku südlich von Honshu, Kyushu südwestlich von Honshu und auf der rautenförmigen Insel Hokkaido im Norden. Verrat, Argwohn und Mord waren an der Tagesordnung, selbst innerhalb eines Clans. Meine Familie gehörte dem mächtigen Amago-Clan an, der über ein riesiges Gebiet im Westen der Insel Honshu herrschte. Er wurde von einem aufstrebenden neuen Clan unter Führung des daimyō Motonari Mouri herausgefordert. Als der Mouri-Clan in den 1560er Jahren die Amago besiegte, brach der Amago-Clan auseinander, und meine Vorfahren ließen sich in Yonago in der Präfektur Tottori im Westen Honshus nieder. Dort erlernte der erste Arzt der Abes seinen Beruf, ohne von den destabilisierenden Kräften aus Portugal und Spanien, die Japan und seine asiatischen Nachbarn bedrohten, etwas zu ahnen.

Zu dieser Zeit wetteiferten die europäischen Königreiche Portugal und Spanien aggressiv um politischen, wirtschaftlichen und religiösen Einfluss auf der ganzen Welt; unterstützt wurden sie dabei durch technische Fortschritte im Bereich der Navigation, des Schiffsbaus und des Schießpulvers. Sie entsandten ihre Seefahrer, und es kam zu so bedeutenden Ereignissen wie Vasco da Gamas Entdeckung des Seewegs nach Indien 1498 und Ferdinand Magellans Weltumseglung 1521.[23] Christoph Kolumbus, der in Diensten des spanischen Königs stand, »entdeckte« 1492 Amerika, und der spanische Konquistador Hernán Cortés eroberte 1519 Mexiko.

Die meisten Europäer waren der Ansicht, sie könnten die Welt unter sich aufteilen, sie nach Belieben erforschen, ausbeuten und kolonisieren, ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung. Auch die Kunde von der Existenz Japans war nach Europa gedrungen. Marco Polo hatte nach seinem Besuch Chinas in seinen Reiseberichten aus dem 13. Jahrhundert Japan »Cipangu« genannt, »Land des Goldes«. Obwohl er selbst nie einen Fuß in das Land gesetzt hatte, inspirierten seine anschaulichen Beschreibungen des kolossalen Reichtums Japans viele Abenteurer, darunter auch Kolumbus.

Mit Vasco da Gamas Expedition nach Indien, der ersten Reise von Europa nach Asien auf dem Seeweg, begann eine Epoche des westlichen Imperialismus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Nanbanjin, wie die südeuropäischen »Barbaren« in Japan hießen, in dem Land ankommen würden, das die Japaner selbst Nippon oder Nihon nannten, »Land der aufgehenden Sonne«. Zu dem ersten Kontakt mit Japan kam es fast zufällig, als eine chinesische Dschunke mit portugiesischen Kaufleuten an Bord im Jahr 1543 auf der subtropischen Insel Tanegashima südlich von Kyushu strandete. Angeblich kamen damit zum ersten Mal Feuerwaffen nach Japan. Andere portugiesische Kaufleute folgten und gründeten einen Handelsposten auf der Insel Hirado in der Nähe von Nagasaki auf Kyushu. Zunächst wurden sie willkommen geheißen, weil die japanischen daimyō-Fürsten Musketen, chinesische Seide und Porzellan sowie andere Handelsgüter wollten. Doch die Ankunft jesuitischer Missionare wie Francisco de Xavier 1549 brachte eine massive Bedrohung der bestehenden Ordnung: den Katholizismus. Innerhalb von dreißig Jahren waren über 100000 Japaner, darunter viele daimyō, zum Christentum konvertiert, hauptsächlich auf Kyushu.

Die rasante Ausbreitung des Katholizismus, die Gefahr durch die europäische Kolonisierung und der fortwährende Machtkampf zwischen rivalisierenden Clans bildeten zur Zeit der Streitenden Reiche ein toxisches Gemisch. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts trat jedoch der mächtige daimyō Hideyoshi Toyotomi auf den Plan, dem es mit politischem, sozialem und militärischem Geschick und großer Umsicht gelang, viele der sich bekriegenden Clans zu einen. Nach Toyotomis Tod im Jahr 1598 kam es ab 1600 zu Kämpfen zwischen Allianzen aus daimyō und Samurai im Westen und Osten des Landes. Unter Führung des charismatischen daimyō Ieyasu Tokugawa, der sich Shōgun, oberster Militärbefehlshaber, nennen ließ, gewann der Osten die Oberhand. Shōgune waren feudale Militärführer, die seit 1192 unterschiedlich erfolgreich in Japan regiert hatten. Tokugawas Sieg sicherte ihm die Kontrolle über das ganze Land, das er im selben Jahr konsolidierte, indem er das Hauptquartier seines Shōgunats in Edo einrichtete, wie Tokio ursprünglich hieß.

Die Sengoku-Ära war zu Ende. Und in den über zwei Jahrhunderten der Sakoku-Ära herrschte auf Japans Inseln Ruhe.[24]

Tokugawa und seine Nachfolger im Shōgunat begegneten dem Problem des wachsenden ausländischen Einflusses und des Christentums mit mehreren harten Dekreten. Der Erlass von 1635 beinhaltete eine Reihe drakonischer Maßnahmen. Nicht nur wurde der Katholizismus verboten, auch sämtliche Missionare kamen ins Gefängnis und jeder Japaner, der versuchte, das Land zu verlassen, wurde hingerichtet. Der Handel mit dem Ausland beschränkte sich auf eine Handvoll autorisierter Häfen, und jeder Kontakt mit den Portugiesen endete. Das Land wurde von der Außenwelt abgeschnitten.

Durch seine Abschottung vom Rest der Welt und das Verbot des Katholizismus entging Japan der Kolonisierung und genoss mehr als zweihundert Jahre Frieden. Das Tokugawa-Shōgunat führte ein landesweites System von zweihundertsiebzig Territorien ein, die jeweils von einem daimyō regiert wurden. Obwohl der Shōgun der oberste Herrscher war, hatte in diesem Feudalsystem jedes Territorium seine ganz eigene politische, wirtschaftliche und soziale Struktur und funktionierte wie ein kleines Land oder Fürstentum, das dem Shōgunat unterworfen war. Auch pflegte jedes Territorium ein strenges Klassensystem. An der Spitze standen natürlich die daimyō, in deren Diensten Samurai-Krieger standen, die einzigen Japaner, die ein Schwert tragen durften. Es folgten die Bauern, die Nahrungsmittel produzierten, und die Handwerker, die Kleider, Schwerter und andere Güter fertigten. Dann kamen die Kaufleute, die ausgegrenzt und geächtet wurden, weil sie mit der Arbeit anderer Leute Geld verdienten. Und auf der sozialen Stufenleiter ganz unten standen die Eta: die Gerber, Totengräber und Scharfrichter, die mit dem Töten von Tieren und dem Tod allgemein zu tun hatten.