Hegel und wir - Albrecht Koschorke - E-Book

Hegel und wir E-Book

Albrecht Koschorke

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Beschreibung

Welche Faktoren lassen eine kulturelle Großerzählung entstehen und wirkmächtig werden? Insbesondere die grandiose narrative Syntheseleistung, die Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie gelingt, provoziert nach wie vor eine Antwort auf diese Frage. Und so ist es der große Epiker Hegel, der sich in das Gewand der philosophischen Systematik kleidet, den Albrecht Koschorke in den Mittelpunkt seiner Frankfurter Adorno-Vorlesungen stellt. In Hinsicht auf den nach 1806 finanziell ruinierten, territorial zersplitterten und auch politisch-kulturell fragmentierten Agrarstaat Preußen, um den sich das System des späteren Hegel zentriert, hat seine philosophische Erzählung einen eher kontrafaktischen als beschreibenden Charakter. Überhaupt ist die Erzeugung schöpferischer Gebilde, die sich dann als politische selbstständig machen, ein generelles Merkmal der Ära der Nationalmythologien – wohingegen symbolische Integration durch Erzählen unter heutigen postnationalen Vorzeichen nur in weit geringerem Ausmaß gelingt. Vor diesem Hintergrund geht es Koschorke nicht zuletzt um die Erzählbedingungen der europäischen Gegenwart. Er zeigt, warum es ein umschließendes, nach innen stark integrierendes Europa-Narrativ, wie es die Politik zumal in Zeiten der Eurokrise fordert, nicht gibt – und auch nicht geben sollte.

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Welche Faktoren lassen eine kulturelle Großerzählung entstehen und wirkmächtig werden? Insbesondere die grandiose narrative Syntheseleistung, die Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie gelingt, provoziert nach wie vor eine Antwort auf diese Frage. Und so ist es der große Epiker Hegel, der sich in das Gewand der philosophischen Systematik kleidet, den Albrecht Koschorke in den Mittelpunkt seiner Frankfurter Adorno-Vorlesungen stellt.

In Hinsicht auf den nach 1806 finanziell ruinierten, territorial zersplitterten und auch politisch-kulturell fragmentierten Agrarstaat Preußen, um den sich das System des späteren Hegel zentriert, hat seine philosophische Erzählung einen eher kontra-faktischen als beschreibenden Charakter. Überhaupt ist die Erzeugung schöpferischer Gebilde, die sich dann als politische selbstständig machen, ein generelles Merkmal der Ära der Nationalmythologien – wohingegen symbolische Integration durch Erzählen unter heutigen postnationalen Vorzeichen nur in weit geringerem Ausmaß gelingt.

Vor diesem Hintergrund geht es Koschorke nicht zuletzt um die Erzählbedingungen der europäischen Gegenwart. Er zeigt, warum es ein umschließendes, nach innen stark integrierendes Europa-Narrativ, wie es die Politik zumal in Zeiten der Eurokrise fordert, nicht gibt – und auch nicht geben sollte.

Albrecht Koschorke, geboren 1958, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Seit 2006 gehört er dem Konstanzer Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an und ist seit 2010 Sprecher des Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne«. 2002 wurde er mit dem Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.

Albrecht Koschorke

Hegel und wir

Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Albrecht Koschorke

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Inhalt

Vorwort

Zur Einführung

1. Typologie des Schauplatzes

2. Allgemeine Fragestellung des Buches

3. Preußen und Europa

Teil I: Hegel

 1. Ankunft in Berlin

 2. Erzählformen der spekulativen Geschichtsphilosophie

 3. Philosophieren aus der Mitte

 4. Narrative Kompression und Zentrierung

 5. Das Zeitalter der Kollektivsingulare

 6. Systemische Schließung, rekursive Struktur

 7. Das Anfangsproblem

 8. Vorgeschichtliche Reste

 9. Selbstzeugung und Vergangenheit. Die beiden Zeitweisen der Moderne

10. Hegels Vermächtnis

Teil II: Wir

1. Stilhöhen, Heldenformate

2. Europas narrative Ressourcen – eine kurze Revue

3. Kontrafaktische Evidenz

4. Erzähl- versus Sozialstruktur

5. Aufschwung der Technik, Verdüsterung der Geschichtsphilosophie

6. Einige Gründe gegen ein starkes Europa-Narrativ

7. Netzverdichtung

8. Geschichten vom europäischen Sonderweg, oder nicht

9. Epos und Episode

Literatur

Vorwort

Anfang der 1980er Jahre, als Student im dritten oder vierten Semester, schien es mir an der Zeit, Adornos Werke durchzuarbeiten. Aus dieser Phase rühren heftige Anstreichungen in den betreffenden Suhrkamp-Taschenbüchern meiner kleinen Arbeitsbibliothek. Besonders in der Ästhetischen Theorie gibt es kaum einen Absatz, den der frenetische Leser, der ich damals gewesen sein muss, nicht mit Bleistift und Lineal traktiert hat. Manchmal sind ganze Seiten unterstrichen und mit dicken vertikalen Balken versehen, die auf dem schmalen Seitenrand des sparsamen Satzspiegels der stw-Bände kaum Platz finden. Ich wohnte während meiner Studienzeit in einer zum Abriss vorgesehenen Siedlung im Münchner Norden und gab mich meinen Adorno-Lektüren vorzugsweise in einem zur Siedlung gehörenden, gemeinschaftlich genutzten Kleingarten hin. Ich erinnere mich noch, wie ein Nachbar, werdender Elektroingenieur, gar nicht mit ansehen konnte, wie ich Stunde um Stunde berserkerhaft meine Linealbahnen durch das Buch zog. Er schlug vor, der Verlag solle doch die Bücher gleich unterstrichen ausliefern, dann könnte ich in der eingesparten Zeit etwas anderes tun.

Aus heutiger Wahrnehmung ist mir die Hingabe, mit der ich mich damals dem Studium von Adornos Schriften gewidmet habe, etwas rätselhaft. Nicht dass mir Adorno ganz unverständlich geworden wäre. Aber irgendwie ist mir die Pointe abhandengekommen; sie erreicht mich nicht mehr. Die Naherwartung der Apokalypse, die damals die treibende Kraft der Lektüre gewesen sein muss, scheint sich verflüchtigt zu haben, obwohl sie heute vielleicht noch zwingendere Gründe geltend zu machen hätte als in den Zeiten des Kalten Krieges. Wenn ich jetzt lese:

Je totaler die Gesellschaft, je vollständiger sie zum einstimmigen System sich zusammenzieht, desto mehr werden die Werke, welche die Erfahrung jenes Prozesses aufspeichern, zu ihrem Anderen. […] Neue Kunst ist so abstrakt, wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind.[1]

– kann ich weder die Gesellschaftsdiagnose noch die entfremdungstheoretische Prämisse ganz teilen; und selbst wenn ich beide bejahte, bliebe meine Lektüre doch taub. Was hat mich damals für solche Diagnosen so empfänglich gemacht? Worin bestand die Erregungsqualität des Satzes:

Denn Kommunikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welche er sich unter die Waren einreiht, und was heute Sinn heißt, partizipiert an diesem Unwesen.[2]

– warum musste ich diesen Satz mit fünf Seitenstrichen und einem großen Ausrufezeichen versehen? Welche Kunsterfahrungen, auf die ich als Dreiundzwanzigjähriger zurückblicken konnte, haben mich dazu bewogen, einen Passus über das Verhältnis zwischen Kunst und Ideologie[3] mit der beflissenen Anmerkung »Kunst = Sublimierung lädierter Existenz« zu versehen, die in dem gegebenen Zusammenhang nichtssagend und überdies sicher falsch war? Wenn ich mir diese Fragen stelle, scheint nur eine Alternative zu bleiben: Entweder sehe ich mich, den Kontinuitätsriss in meiner Lesebiographie überspringend, von meinem damaligen Standpunkt her als jemanden an, der inzwischen alle Verdinglichungen, gegen die Adorno anschrieb, mit postapokalyptischem Gleichmut hinnimmt, ja nicht einmal mehr registriert. Dann bin ich fatalerweise zu einem jener verwalteten Menschen im Spätkapitalismus geworden, vor denen Adorno mich damals zu warnen versuchte. Oder ich blicke vom Standpunkt des Älteren zurück und bin versucht, mich selbst als jemanden zu belächeln, der sich in Studentenjahren ohne existenziell zwingenden Grund in einem eher philosophischen als praktischen Leiden an der Gesellschaft gefiel. Aber warum ist mir damals der bildungsbürgerlich indignierte Ton von Adornos modernekritischen Auslassungen nicht aufgestoßen? In meinen ersten Seminararbeiten finde ich Adorno-Imitate wie das berühmte postponierte Reflexivpronomen, und erst ein barsches Machtwort meiner akademischen Lehrerin Renate von Heydebrand hat mich davon kuriert, als Literaturstudent im Hauptstudium nach Art des Meisters die altertümelnde Verbform »ward« statt »wurde« zu verwenden.

Es wäre eine eigene Studie wert, warum manche Schreibweisen schneller altern als andere. Adornos Texte sind nach meinem Eindruck binnen weniger Jahrzehnte rapide gealtert, vielleicht mit Ausnahme einiger Aufsätze aus den Noten zur Literatur. Mit der Rezeption der Poststrukturalisten ist er nach und nach aus den Literaturverzeichnissen kulturwissenschaftlicher Abhandlungen verschwunden – anders als Walter Benjamin, der seinen in den 1980er Jahren erworbenen Status als theoretischer Kultautor, zumal in den USA, bis heute erfolgreich verteidigen konnte. Dafür lassen sich verschiedene Gründe angeben, die ich hier nicht auflisten will. Ein wichtiger Faktor, der allerdings beide Autoren betrifft und die Diskrepanz ihres akademischen Nachlebens nicht zu erklären vermag, besteht in der schweren philosophischen Bürde, die sie mit sich herumtragen: nämlich der Dialektik in Gestalt von Hegels und, daran anschließend, Marx' Geschichtsphilosophie.

Hier bietet sich ein Anknüpfungspunkt zwischen Adornos Denken und der Fragestellung, der ich im Folgenden nachgehen will – ein Bezug, der über ratlose Lektürereminiszenzen hinausreicht. Was diesen Aspekt angeht, kann ich für mich fast von einem Vermächtnis Adornos sprechen, denn die Auseinandersetzung damit reicht wieder in meine Studienzeiten zurück.[4] Im Kunstwerk-Aufsatz hat Benjamin bekanntlich die Probe auf das revolutionäre Prinzip des Marxismus gemacht, indem er ganz im Sinn von Marx' Frühschriften die unterdrückten Massen zum Subjekt einer neuen, emanzipatorischen Ästhetik erklärte. Wie für Marx das Proletariat »nur das Geheimnis seines eigenen Daseins« ausspricht, wenn es »die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet«, weil es »die faktische Auflösung dieser Weltordnung« ist,[5] sah Benjamin in der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst, insbesondere des Films, neue massenmediale Bedingungen gegeben, die aus der Masse als dem entfremdetsten Subjekt das »fortschrittlichste« machen sollte.[6] Gegen diese revolutionäre Zuversicht hat Adorno Einspruch erhoben. In einem Brief an Benjamin warnt er vor »blindem Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proletariats im geschichtlichen Vorgang – des Proletariats, das doch selber bürgerlich produziert ist«:[7] Man müsse »das tatsächliche Bewußtsein der tatsächlichen Proletarier« im Auge behalten, »die vor den Bürgern nichts aber auch gar nichts voraushaben außer dem Interesse an der Revolution, sonst aber alle Spuren der Verstümmelung des bürgerlichen Charakters tragen«.[8] Letztlich geht es hier, durch Marx hindurch, um die an Hegels Dialektik zu richtende Frage, wie aus der Negation der Negation eine Position hervorspringen kann, die nicht den dauerhaften Abdruck der Negation – der Entfremdung, des erlittenen Unrechts, des Leids und des Hasses – in sich trägt. Der dialektische Prozess, der sich bei Hegel im Medium der Selbsterfüllung und letzthinnigen Überwindung aller Trennungen und Widersprüche vollzog, war bei Marx zum Agens eines absoluten Bruchs mit der bisherigen Geschichte geworden. Ein solcher Bruch lässt sich jedoch mit den Mitteln der idealistischen Dialektik, die ihrem Wesen nach eine Reproduktionslogik des Identischen ist, nicht bewerkstelligen. Die Versöhnung der Antagonismen bei Hegel beruhte auf dem berühmten Satz, dass das Ganze, als das durch seine geschichtliche Entwicklung »sich vollendende Wesen«, mit dem Wahren zusammenstimme.[9] Wo aber keine verborgene Teleologie die versöhnte Einheit der Welt sichert, wo die Wahrheit etwas jenseits des immanenten Selbstvollzugs der Geschichte Ausstehendes ist, führt in einem alle Momente einschließenden dialektischen Vermittlungsgeschehen kein Weg zu ihr hin.

Hegel hatte System und Geschichte miteinander verschmolzen, weil er glaubte, die Totalität der historischen Welt als ein aus Systemgründen notwendiges Zu-sich-selbst-Kommen von Vernunft und Freiheit bestimmen zu können. Noch der junge Marx wollte, unter Anleihen an geschichtsphilosophisch-anthropologischen Entwürfen um 1800, das revolutionäre Heraustreten der Menschen aus dem gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang als Resurrektion ihres ursprünglichen und wirklichen Wesens verstanden wissen.[10] Im Weiterdenken des Marxismus durch die Kritische Theorie verliert die geschichtliche Totalität ihren entelechischen Sinn. Sie wird zu einem Zwangszusammenhang, aus dem es auszubrechen gilt, sei es durch Wiedereinführung einer messianischen Differenz zwischen Geschichtsverlauf und Erlösungshoffnung wie bei Benjamin, sei es durch das Abschreiten der Aporien einer negativen Dialektik und negativen Ästhetik bei Adorno. Wenn der Hegelianismus die manisch-grandiosen Aspirationen des bürgerlichen Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert zum Ausdruck bringt, dann nimmt demgegenüber die Gleichung von Geschichte und System im Verlauf des 20. Jahrhunderts paranoische Züge an. Ging es bei Hegel noch vorrangig um die Frage, wem überhaupt Einlass in die Welt des Fortschritts des Geistes gewährt wird – eine Welt, die Hegel mit Attributen sowohl des Universellen als auch des Exklusiven ausstattet –, dreht sich unter den Vorzeichen von Adornos Diktum, dass das Ganze das Unwahre sei,[11] die Suchrichtung um: Wie findet man aus dem Zwangszusammenhang der Geschichte heraus? Welche Zukunftskatastrophen treibt er aus sich hervor? Durch welche Seitenausgänge kann man sich allenfalls vor ihm retten?

Der studentische Adorno-Leser, der ich einmal war, ist mir unzugänglich geworden. (Auch in dieser Erfahrung manifestiert sich übrigens ein Hegel'sches Problem, wie zu zeigen sein wird: ob nämlich die Genese des Subjekts einen appräsentierbaren Teil seiner selbst bildet oder ihm als Vorbedingung entzogen bleibt.) Dagegen hat sich die Frage, was es bedeutet, Geschichte in der Form des Systems und System in der Form der Geschichte zu denken, für mich als ein durch die Adorno-Lektüren vermitteltes, letztlich auf Hegel zurückzuführendes Dauerthema erwiesen. Die Einladung zu den Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013 bot mir Gelegenheit, diese Thematik von meinem heutigen Standort aus gründlicher zu durchdenken.

Ich danke Axel Honneth und dem Institut für Sozialforschung für ihre Einladung und Gastfreundschaft; den Zuhörern und Gesprächspartnern in Frankfurt dafür, dass sie auch noch am dritten Abend erschienen sind; und den Teilnehmern an Seminaren in Konstanz, Basel, Neuchâtel, Berkeley und Yale, mit denen ich mich in unterschiedlichen Phasen des Vorhabens über meine Hegel-Lektüren austauschen konnte.

[1] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 21974, S. 53.

[2] Ebd., S. 115.

[3] Ebd., S. 203.

[4] Die folgenden Ausführungen stützen sich auf meine Magisterarbeit mit dem Titel Die innere und die äußere Zeit. Zum Zusammenhang von Ästhetik und Geschichtsphilosophie im Werk Walter Benjamins, unveröffentlichtes Typoskript, München, April 1984.

[5] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: ders., Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1971, S. 207-224, dort S. 223.

[6] Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [erste Fassung], in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1980, Bd. I.2, S. 431-469, dort S. 459.

[7] Theodor W. Adorno, Brief an Benjamin vom 18. ‌3. ‌1936, abgedruckt in Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.3, S. 1001-1006, dort S. 1003.

[8] Ebd., S. 1005.

[9] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986 [im Folgenden zitiert als Werke], Bd. 3, S. 24.

[10] Im Begriff der Entfremdung klingt das nach – ein Begriff, der nur sinnvoll ist, wenn er die Vorstellung eines nicht entfremdeten Urzustandes mitklingen lässt. Vgl. Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie. Über den Zusammenhang der Nationalökonomie mit Staat, Recht, Moral und bürgerlichem Leben, in: ders., Frühschriften, S. 225-316, dort bes. S. 259-263.

[11] Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/M. 1974, S. 35.

Zur Einführung

1. Typologie des Schauplatzes

Jahre der Verheerung liegen zurück. Krieg und Terror haben unvorstellbare Opfer gefordert. Auch wenn sich eine Alltagsnormalität wiederherzustellen beginnt, bleibt sie von düsteren Erinnerungen grundiert. Die Vorkriegswelt, darin ist man sich einig, ist unwiderruflich versunken. Unter den Gebildeten drängen viele Stimmen darauf, die Phase des Umbruchs für eine tiefgreifende Erneuerung zu nutzen. Diese Erneuerung solle, so meinen sie, vor allem geistiger Natur sein und das Gepräge eines modernen Humanismus tragen. In gleicher Weise ist das politische Denken von dem Bewusstsein eines epochalen Einschnitts geprägt. Die Zeit scheint reif für kühne Reformvisionen. Ihr organisierendes Zentrum bildet die Hoffnung auf Einheit, unabhängig davon, ob diese in größerem oder kleinerem politischem Rahmen zu verwirklichen ist. Daraus leitet sich ein Bündel von weitreichenden Maßnahmen ab. Sie laufen darauf hinaus, administrative Kompetenzen zu zentralisieren, Instanzenzüge zu straffen, Rechtsverhältnisse anzugleichen, veraltete Privilegien zu schleifen und überhaupt das Dickicht von Besitzständen und Machtherrlichkeiten zu lichten, das eine nach vorne gewandte politische Ordnung blockiert. Ein hoher Rang wird der Bildungspolitik zugesprochen. Lehrpläne sollen entrümpelt, das Prüfungssystem angepasst werden, um der heranwachsenden Generation, neben den immer wichtigeren Allgemeinkenntnissen, eine der neuen Zeit gemäße Weltsicht zu vermitteln. Mit dem politischen Programm ist ein ökonomisches eng verzahnt. Es zielt auf die Freizügigkeit von Personen, Gütern und Dienstleistungen, auf die Aufhebung von Handelsbarrieren, den Abbau von Subventionen, die Beseitigung von steuerlichen Ausnahmen und schließlich auf den allgemeinen Gebrauch einer gemeinsamen Währung. All dies soll der Entfesselung der Kräfte innerhalb eines einheitlichen Binnenmarkts dienen, der auch die rückständigen agrarischen Gebiete erfasst und den Weg zu allgemeiner Industrialisierung ebnet. Ohne die langfristige Stärkung der politischen und ökonomischen Integration, so lautet ein immer wieder vorgebrachtes Argument, werde man den Anschluss verlieren und auf der Weltbühne keine Rolle mehr spielen. Zentralisierung sei zudem langfristig der einzige Weg, durch bessere Verwaltung und gesteigerte wirtschaftliche Effizienz der akuten Verschuldung der öffentlichen Hand zu begegnen.

Dieser Erneuerungsprozess wird von führenden Beamten betrieben, die weder im vollen Sinn durch Tradition politisch legitimiert sind noch vom Volk gewählt wurden. Sie berufen sich stattdessen auf eine den außerordentlichen Umständen geschuldete historische Mission. Ihr Credo lautet, dass zuallererst die mentalen Voraussetzungen für den politischen Wandel hergestellt werden müssen. Die Durchführung der Reformen ist für sie deshalb auch eine Erziehungsaufgabe. Zu den eingeleiteten Maßnahmen gibt es in ihren Augen letztlich keine Alternative. Ihr vordringliches Ziel ist es, ein Gemeinschaftsgefühl zu wecken, das über kleinteilige Grenzziehungen, Querelen und Eitelkeiten hinaus zu geschlossenem Handeln befähigt. Auf den Plan des großen Ganzen komme es dabei an, nicht auf die übergangsweise zu gewärtigenden Misshelligkeiten. Nur so ließen sich bleibende Lehren aus der Vergangenheit ziehen.

Das Programm eines forcierten, von oben verordneten Wandels ist indessen nicht unumstritten. Sowohl die zweifelhafte Legitimation der zu diesem Zweck eingerichteten Organe als auch die eingeleiteten Maßnahmen selbst erregen heftigen Widerstand. Man fürchtet, dass die zahllosen Neuregelungen, deren Beweggründe überdies häufig nicht hinreichend kommuniziert würden, wirtschaftliche Verwerfungen nach sich ziehen, den sozialen Zusammenhalt schwächen, tradierte Rechte entwerten, Armutsmigration begünstigen und nicht zuletzt die kulturellen Besonderheiten der betroffenen Länder bedrohen. All diese Befürchtungen gerinnen zu einigen wenigen Topoi, die immerfort wiederholt werden. Sie bestehen im Vorwurf der Gleichmacherei, Überregulierung und Überfremdung, verursacht durch eine vom echten Leben abgelöste Funktionärskaste. Insoweit sich die Reformkritiker, mit welcher Berechtigung auch immer, in offensiver Weise zu Fürsprechern des Volkes erklären, dessen Nöte und Wünsche sie gegen den autoritären Zentralismus der Bürokraten in Stellung bringen, gewinnt ihre Position einen populistischen Zug. Nicht selten mischen sich in solche Vorhaltungen nationalchauvinistische, zum Teil antisemitische Töne.

2. Allgemeine Fragestellung des Buches

Welche Handlungsmöglichkeiten bieten sich den Beteiligten in einer solchen Konstellation? Die Rollen scheinen nach einem festen Schema verteilt: Auf der einen Seite stehen die über die Renitenz der Bevölkerung ungehaltenen Verwaltungseliten, auf der anderen Seite diejenigen, die über einen arroganten und autoritären bürokratischen Apparat klagen. Auch der Verhandlungsspielraum beider Seiten scheint weitgehend durch die jeweiligen Strukturbedingungen vorgegeben. Reine Zwangsmittel – in den Grenzen, in denen sie überhaupt verfügbar sind – greifen nur dort, wo die Mächtigen nicht ihrerseits von Akzeptanz und Kooperation abhängig sind; zudem stellen sie keine verlässlichen Rahmenbedingungen her, weil sie nur den Unwillen der davon Betroffenen steigern. Es ist teuer und ineffizient, dauerhaft gegen bestehende gesellschaftliche Kräfteverhältnisse auf all ihren vielfach untergliederten Niveaus anzuregieren. Infolgedessen müssen die Reformer partielle Koalitionen eingehen, taktische Bündnisse schließen, das ursprüngliche Programm ändern oder verwässern und überdies flexibel auf all die unvorhersehbaren Effekte antworten, die sozialer Wandel seiner Natur nach mit sich bringt.

Daraus ergibt sich auch unterhalb der Ebene der offenen Auseinandersetzung ein Geschiebe und Gedränge einander entgegenwirkender Kräfte. Administrative Vorgaben ziehen schleichende Angleichungen nach sich, die dem Gesetz des geringsten Widerstandes gehorchen; auf längere Sicht spielt ihnen dann die normative Kraft des Faktischen zu. Solche Vorgaben können aber ebenso gut auf schleichende Weise ausgehöhlt, umfunktioniert und wieder in den Dienst älterer Machtregulative gestellt werden, ohne dass dies jemals zu einem offenen Gegenprogramm erklärt würde. Viele dieser Vorgänge spielen sich im Bereich des Unausgesprochenen oder eines vor der großen Öffentlichkeit geschützten Insiderwissens ab. Auch das trägt dazu bei, dass die Durchsetzung von gesellschaftlichem Wandel im größeren Stil eine zähe und komplexe Angelegenheit ist. So sehr gerade die energischeren Reformpläne sich dadurch auszeichnen, dass sie logisch aus einem einheitlichen Prinzip abgeleitet und wie aus einem Guss konzipiert scheinen, so unstet und mäandernd ist in aller Regel der Reformprozess selbst – als schwer vorauszuberechnendes Produkt einer Verkettung von ganz unterschiedlich gearteten Faktoren. Oft ist dann in der Inkonsistenz der eingegangenen Kompromisse kaum noch etwas von der Rhetorik der Dringlichkeit zu spüren, wie sie radikale Reformvorhaben umgibt.

Die auf dieser Ebene ausgetragenen Konflikte betreffen das Geschäft des Regierens in der Prosa seines Alltags: wenn behördliche Maßnahmen ins Leere laufen, Gelder versickern, die Durchführung von Verordnungen verschleppt wird oder Gegenkräfte den Reformeifer lähmen. Weil sich die meisten dieser Ereignisse im unübersichtlichen Terrain lokaler Machtgefüge zutragen und im Einzelnen nur von geringer Reichweite sind, finden sie in den Reformchroniken gewöhnlich wenig Beachtung. Von einem Standpunkt in Bodennähe aus betrachtet, ist diese Missachtung ungerechtfertigt; denn es scheinen weniger die neuen Ideen als die Geschicke ihrer Implementierung zu sein, die den Lauf der Geschichte bestimmen. Und doch wird man den Faktor der ideellen Appellwirkung und ihres Einflusses auf den Erfolg der verwaltungstechnischen Umsetzung von Reformplänen nicht als gering einstufen dürfen. Gemessen an einem alltagserfahrenen Pragmatismus der Macht bringen solche Ideen ein Moment des Inkalkulablen ins Spiel. Oft ist es gerade die Realitätsferne politischer Visionen, die sie eine für die Beteiligten selbst unerklärliche Schwungkraft entwickeln lässt – sei es durch den Anklang, den sie in der Bevölkerung finden, sei es durch ihren Einfluss auf das Verwaltungspersonal selbst. Von daher ist es in einem strengen Sinn absolut realistisch, dem Geist von Reformen eine erhebliche und ihrem Charakter nach autonome, das heißt von der Wirksamkeit einzelner Personen verselbständigte Handlungsmacht zuzuerkennen.

Aus alldem erwächst in Zeiten des Umbruchs ein Bedarf an »höherem Sinn«. Dieser Sinn bildet eine Art Gegenkraft zu dem Schwerefeld der machttechnischen Implementierung, in dem Reformimpulse schnell bis zur Unkenntlichkeit kleingearbeitet werden. Er ist volatiler und sucht sich andere, weniger vorgebahnte Verbreitungswege als das im behördlichen Verkehr verwaltete Wissen. Er kann die Funktion eines Katalysators von gesellschaftlichen Veränderungen annehmen oder doch wenigstens den Rahmen absichern, in den sich die jeweiligen administrativen Maßnahmen einbetten. Je größer die Kluft zwischen Vorgabe und Realisation ist, je mehr Geduld und Opferbereitschaft ein politisches Programm von den Betroffenen fordert, desto stärker fällt dessen Rückversicherung durch »höheren Sinn« ins Gewicht. Er verschafft den Akteuren ein Bewusstsein von ihrer Mission und dient in seiner Funktion als politischer Mythos dazu, den Abstand zur breiten Bevölkerung kommunikativ zu überbrücken. Indem er ein zwar unbestimmtes, aber dank dieser Eigenschaft psychologisch oft umso wirksameres Partizipationsversprechen ausgibt, spielt er eine wichtige Rolle, um politische Zustimmung zu mobilisieren.

Aus diesem Grund sind Verwaltungseliten darauf angewiesen, sich bei größeren Vorhaben der Unterstützung von Sinnexperten zu versichern, die gesellschaftliche Resonanz finden – sofern beide Gruppen sich nicht ohnehin in einem fließenden Austausch befinden oder weitgehend deckungsgleich sind. Allerdings stimmen die Verbreitungseigenschaften von administrativer Macht und akzeptanzfähigem Sinn nicht überein: Verwaltungshandeln bewegt sich in festgelegten Bahnen, während Ideen sich lauffeuerartig über Tausende informeller Kanäle fortpflanzen können. Zudem stützt sich die Allokation von Sinn auf einen anderen Typ von Ressourcen, nämlich auf solche, die schwerer zu kontrollieren sind. Das schränkt den Erfolg administrativer Maßnahmen ein, die darauf abzielen, Sinnmonopole zu errichten. Auf den Fall von Reformdebatten bezogen hat dies den naheliegenden Effekt, dass auch die Reformgegner von der Ressource »höherer Sinn« und ihrer mobilisierenden Wirkung Gebrauch machen. Typischerweise werden sie sich zu Anwälten der Würde des Althergebrachten erklären und den von ihnen verteidigten Status quo als Ausfluss einer natürlichen Ordnung darstellen, wodurch die Reformen im Umkehrschluss als naturwidriger Eingriff in den Gang der Dinge erscheinen. Dies fordert wiederum die Neuerer heraus, sich nicht mit vergleichsweise pathosarmen Werten wie Effizienz oder Wirtschaftlichkeit zu begnügen. Denn nur bei geringem Streitwert lassen sich politische Interessen als bloße Interessen artikulieren. Wo die Einsätze steigen, wächst der Bedarf an tiefer scheinenden Gründen. Entsprechend dem Hitzegrad der Auseinandersetzung kommen ausgreifendere Semantiken zur Anwendung, die den Konflikt der Tendenz nach ins Grundsätzliche heben. Wer auf Veränderung hinauswill, wird »höheren Sinn« etwa dadurch in Anspruch nehmen, dass er die Zukunft, die Vernunft oder das Gesetz der Geschichte – und, daraus abgeleitet, eine eigene, mit den angestrebten Änderungen vereinbare Vorstellung von naturgemäßer Entwicklung – in Anschlag bringt.

Der Erfolg politischer Programme, so lassen sich diese schematischen Überlegungen zusammenfassen, entscheidet sich an der Art der Kopplung zwischen scheinbar frei schwebenden Ideen und ihrer machttechnischen Implementierung. Das ist für sich genommen keine überraschende Einsicht. Die interessantere Frage ist, wie das Wechselspiel zwischen beiden Erscheinungsweisen sozialer Energie genau funktioniert. Unter welchen Bedingungen gelingt es politischen Eliten, ihre jeweilige Agenda in einem solchen Maß mit Sinn und Legitimität auszustatten, dass sie einen anscheinend selbstverständlichen, in weiten Teilen unwidersprechlichen Charakter erhält? Welche politischen Vorhaben und Entitäten eignen sich für kollektive Sinnstiftungen, welche nicht? Wie lässt sich Idealismus herbeiführen und politisch organisieren? Wie ist es möglich, eine dem politischen Programm zugrunde gelegte Sozialfiktion so stark im allgemeinen Bewusstsein zu verankern, dass sie nicht bei jeder Widrigkeit, jedem Rückschlag gleich in Frage gestellt wird und kollabiert? Und wo erweist sich umgekehrt die stille Arbeit einer beharrlichen administrativen Gestaltungsmacht als überlegen, wenn es darum geht, Veränderungen herbeizuführen, die in einer offenen symbolpolitischen Auseinandersetzung kaum eine Aussicht auf Umsetzung hätten?

3. Preußen und Europa

Das Leitinteresse dieses Buches richtet sich auf den Vergleich zwischen Preußen um die Wende zum 19. und Europa um die Wende zum 21. Jahrhundert. Wie andere historische Vergleiche hat auch dieser nur einen sehr begrenzten Schärfebereich. Dennoch erlaubt das auf beiden Schauplätzen vorherrschende Problem – die politische wie ideelle Einigung eines in seiner dispersen Struktur als unzeitgemäß erscheinenden Gebildes – einen vergleichenden Blick auf Strukturähnlichkeiten und Kontraste. Der schwierige Prozess der europäischen Einigung weist eine Reihe von Merkmalen auf, die in kleinerem Maßstab den nicht minder hindernisreichen Nationenbildungen des 19. Jahrhunderts zukamen. In beiden Fällen stand beziehungsweise steht die doppelte Frage im Raum, welches geistige Element das zu schaffende Gemeinwesen zusammenhält und wie, damit verbunden, seine verschiedenen territorialen Bestandteile administrativ integriert werden können. In beiden Fällen erwuchs daraus ein erheblicher Bedarf an »höherem Sinn« – mit dem Unterschied, dass diese Sinnstiftung im Fall Preußens geleistet wurde und im Fall Europas, abgesehen von einer blasser werdenden Nachkriegsrhetorik, fast zur Gänze ausfällt.

Warum ist das so? Warum fehlt ein starkes Europa-Narrativ, während Preußen-Deutschland, ähnlich den anderen sich damals nationalkulturell neu konstituierenden Staaten, seine Mythopoeten in Gestalt von Philosophen, Staatslehrern, Historiographen und Dichtern gefunden hat? Diese Fragestellung soll die folgenden Ausführungen anleiten. Dabei gilt das Augenmerk vor allem dem philosophischen Werk Hegels, das für die politische Rechtfertigung Preußens eine Schlüsselrolle gespielt hat. Meine Analyse erfolgt allerdings nicht in erster Linie wiederum mit philosophischen Kategorien, sondern aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers, dem es darum zu tun ist, die Aufmerksamkeit auf die Organisationskraft narrativer Strategien auch und gerade in nichtliterarischen Zusammenhängen zu lenken. Hegels Werk hat aus dieser Perspektive paradigmatischen Rang, weil dort die wichtigsten historiographischen Erzähllinien der damaligen Zeit in dem großen Epos der europäischen Moderne zusammenlaufen.

An Hegels Geschichtsphilosophie sollen also vor allem die erzählerischen Verfahren als Mittel kollektiver Sinnstiftung interessieren. Wenn man Hegel als philosophischen Epiker anspricht, dann geschieht dies allerdings unter aktuellen Voraussetzungen, die aus verschiedenen Gründen einen erzählkritischen Standpunkt nahelegen. Ganz allgemein wird ja dem Leben in der Moderne bescheinigt, dass es nicht mehr erzählt werden kann. Es habe, heißt es, einen Grad von Abstraktion und funktionaler Verselbständigung gegenüber den Menschen erreicht, der sich einer Rückübersetzung in individuelle Erfahrung verweigert. Prominent ist Adorno, darin Benjamin folgend, mit einer solchen Diagnose hervorgetreten. Sie wird bei ihm durch eine schroffe Aburteilung all jener kulturellen Tendenzen flankiert, die sich nicht in das Bild seiner Zeitkritik fügen. Wenn trotzdem, namentlich unter Bedingungen massenmedialer Überproduktion, Erzählungen in Serie produziert werden, dann ist dies gegenüber der von Adorno zum Maßstab erhobenen avancierten Literatur, die sich von herkömmlichen Sprechweisen lossagt, als Regression und kulturindustrielle »Lüge« einzustufen.[1]

Etwas später hat Lyotard, allerdings mit einer bezeichnenden Phasenverschiebung, das Ende der Großen Erzählungen zum Losungswort der condition postmoderne gemacht.[2] Zwar ändert sich dadurch der historische Bezugsrahmen, aber die Struktur des Arguments selber bleibt gleich: Das Erzählen in großem Stil ist an Voraussetzungen gebunden – Kohärenz des Welt- und Lebenszusammenhanges, dessen Wahrnehmbarkeit als Sinnganzes –, die aus der Gegenwart geschwunden sind. Als Kontrastmittel dient das Bild einer nahen, allerdings nicht genauer bestimmten Vergangenheit, die diese Bedingungen angeblich noch erfüllte.

Lyotards Befund kommuniziert einerseits mit der literarischen Bewegung der Postmoderne, die das Erzählen auf ironische Selbstdesillusionierung verpflichtet. Nach einer anderen Seite hin steht er mit der seit den 1980er Jahren zu verzeichnenden Wende der Gesellschaftstheorie in Verbindung, die sich von der hegemonialen Norm einer einheitlichen, westlich geprägten Moderne zu lösen versucht. An die Stelle der in den Zeiten des Kalten Krieges florierenden Modernisierungstheorien ist seither die Vorstellung einer pluralen Entwicklung getreten, bedingt durch länderspezifische Pfadabhängigkeiten – Stichwort multiple modernities.[3] Für eine Legitimation oder Einheit stiftende Erzählung vom Gang der Weltgeschichte als ganzer ist unter diesen Umständen keine Funktionsstelle mehr vorgesehen.

Gleichwohl besteht nach wie vor ein Bedarf an der handlungsleitenden Funktion politischer Mythologien. Unbeeindruckt von ihrer intellektuellen Verabschiedung im Zeichen der Postmoderne finden sie weiter Verwendung, zumal in Konfliktregionen. Auch die unsicher gewordene Stellung Europas in der Welt wurde in den vergangenen Jahren immer häufiger als ein Erzähldefizit angesprochen. Bekanntlich haben deutsche Politiker in den Jahren der akuten Eurokrise beklagt, dass es an einer integrativen und zu nationenübergreifender Solidarität gemahnenden Europa-Erzählung fehle, die es in ihrer psychologischen Wirkung mit dem von Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag 2008 ins Spiel gebrachten, handfesteren Narrativ der schwäbischen Hausfrau aufnehmen kann.[4] Zu der Unsicherheit darüber, welcher Prozesslogik die Moderne gehorcht, gesellt sich also die Ratlosigkeit hinsichtlich der Rolle Europas in einer nach dem Ende des Kalten Krieges zusehends multipolaren und – um eine inzwischen zum Gemeinplatz gewordene Tautologie aufzurufen – globalisierten Welt. Zwar fehlt es in beiden Fällen nicht an semantischen Angeboten, aber sie scheinen sich darin zu erschöpfen, bloße Postulate zu sein, die keine hinreichend große Gefolgschaft hinter sich sammeln. Jedenfalls erlangen sie nicht die kritische Masse, durch die kulturell erfolgreiche Narrative eine derartige performative Macht entwickeln, dass sie die Verhältnisse, von deren Vorhandensein sie erzählen, am Ende tatsächlich zuwege bringen.

Sofern diese Lagebeschreibung zutrifft, scheint es nahezuliegen, die Epoche Hegels nachgerade spiegelsymmetrisch den heutigen Verhältnissen gegenüberzustellen. Jene Epoche war durch einen ungeheuren Willen zur Synthese geprägt, der in Hegels Geschichtsphilosophie gipfelte; sie ersann, worauf noch zurückzukommen sein wird, zu ihrer Selbstbeschreibung ein Gefüge aus dynamisierend-vereinheitlichenden Abstrakta – Geschichte, Fortschritt, Entwicklung, um vorerst nur die drei wichtigsten zu nennen – und schuf damit die begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen für ein evolutionäres Modell, das für sich in Anspruch nahm, den gesamten Weltprozess zu umfassen; und schließlich war sie selbstbewusst genug, dieses Modell in einer Weise hierarchisch zu zentrieren, dass sein Gravitationspunkt in der damaligen Gegenwart Mitteleuropas lag.

Abb. 1: Gesellschaftliche Selbstbeschreibungskategorien um 1800 und um 2000

Demgegenüber verwenden die Programmatiker der Spät- oder Postmoderne anscheinend alle Mühe daran, diesen festgefügten Komplex aus perfekt abgestimmten Begriffen aufzulösen und in eine Vielfalt unabhängiger oder nur lose verbundener Elemente auseinanderzuziehen. Sie tun dies allerdings, ohne ihrem Streben nach Dezentrierung ein neues linguistisches Fundament unterlegen zu können, und müssen sich deshalb mit einer bloß semantischen, im Grenzfall wortspielerischen Obstruktion überkommener Einheitsbegriffe behelfen. Ihre wichtigste Strategie ist die Pluralbildung – durch Proliferation von Geschichten (im Sinn von histories), Kulturen, Modernitäten, aber auch durch Vervielfältigung altehrwürdiger metaphysischer Singularetanta wie Wahrheit oder Identität –, die stets auf Relativierung abzielt.

An die Stelle eines welthistorischen Monismus mitsamt seinen normativen Universalien trete, so wird argumentiert, eine Mehrzahl von Sprachspielen, die sich wechselseitig die Definitionshoheit streitig machen;[5] die ganzheitliche Darstellung des Ganges der Geschichte zerfällt allem Anschein nach in ein Pasticcio von einzelnen Elementen, die keinem einheitlichen Kompositionsprinzip unterstehen. All dies spiegelt sich in kritischen Auseinandersetzungen mit Hegel wider, dem man im Verlauf seiner inzwischen zwei Jahrhunderte umspannenden Wirkungsgeschichte mit wechselnder polemischer Schärfe vorhielt, ein den Status quo legitimierendes philosophisches Zwangssystem errichtet zu haben, falsche Versöhnung zu betreiben,[6] dem Exzess, dem Überschießen des Sinns, dem Gelächter keinen Raum zu gewähren,[7] das Wirken der Differenz identitätsphilosophisch einzuklammern,[8] schließlich der »respektheischendste Befürworter« eines eurozentrischen Rassismus und »die Nemesis Afrikas und der Menschheit der Dritten Welt im Ganzen« zu sein.[9] Für die Geschichtswissenschaft unserer Tage läuft das, aus ideologischen wie aus methodologischen Gründen, auf eine »Absage an Hegel« hinaus.[10]

Es bleibt aber zu fragen, ob eine so glatte Entgegensetzung zwischen der Epoche Hegels und der heutigen Zeit triftig ist. Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zunächst, einen Überblick über Vorgeschichte und Rahmenbedingungen dessen zu geben, was man als Hegels Geschichtspoetik bezeichnen kann. Im Anschluss daran ist eine folgenreiche Konstruktionsschwierigkeit zu untersuchen, die sich durch die um 1800 vollzogene Umstellung der Metaphysik auf Selbstreflexivität ergibt – folgenreich nicht nur mit Blick auf Hegel, sondern auf die epistemologische und narrative Verfasstheit der Moderne überhaupt. Dies soll schließlich überleiten in einen notwendigerweise vorläufigen Versuch, die Konstituentien des Moderne- und des Europa-Diskurses in unserer Gegenwart zu analysieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, warum die Form der Selbsterzählung der europäischen Moderne seit Hegels Zeit einen so dramatischen Wandel erfahren hat.

Mit den beiden scheinbar nächstliegenden, jeweils in unterschiedlichen Varianten kursierenden Erklärungen dafür ist es nämlich nicht getan. Die erste besagt, dass sich im Abstieg von der Hybris des Hegelianismus zur erzählerischen Kompasslosigkeit unserer Tage schlicht der weltpolitische Bedeutungsverlust Europas manifestiert. Diese Erklärung beruht jedoch auf einer begründungspflichtigen Prämisse. Sie setzt stillschweigend voraus, dass die Großen Erzählungen, die eine Gesellschaft hervorbringt, deren Zustand mehr oder minder getreulich abbilden und in ihrer repräsentativen Funktion weder durch narrative Überschüsse noch durch Übersetzungsverluste beeinträchtigt sind. Mit anderen Worten, sie lässt keinen Raum für die Möglichkeit, dass derart formative Erzählungen eigenen Strukturdynamiken gehorchen, sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungsumstände und Laufzeiten als auch mit Blick auf ihre Interventionskraft in die vorfindliche gesellschaftliche Realität.

Die zweite Erklärung stützt sich auf die bereits zitierten Moderne- beziehungsweise Postmoderne-Diagnosen. Die Argumentation ist hier noch stärker generalisierend als im ersteren Fall. Sie läuft auf die Behauptung hinaus, dass die Welt so aus den Fugen geraten ist, dass sie in keinerlei narrative Fassung mehr passt. Letztlich wird hier, ob in modern-sentimentalischer oder postmodern-spielerischer Manier, der Verlust einer ontologischen Ordnung betrauert, an der Hegel, den man sowohl als ersten modernen Geschichtsdenker wie als letzten Aristoteliker ansprechen kann, noch teilgehabt haben soll. Aber wie schon oft vermerkt wurde, ist die Rede vom Ende der Großen Erzählungen selbst Teil einer, noch dazu eurozentrischen, Großen Erzählung. Sie trägt in sich das Erbe derselben Geschichtsphilosophie, von der sie sich lossagen möchte. In ihrer Verallgemeinerung ist sie blind gegen die auch im Zeitalter der Globalisierung florierende Fabrikation politischer Mythen und ihre fast immer radikalisierende Wirkung. Deshalb bietet der Abgesang auf die grands récits (Lyotard) als solche keine Handhabe, um die aktuelle Schwäche der europäischen Idee, mit der sich Politiker wie Intellektuelle konfrontiert sehen, in ihrer Eigentümlichkeit in den Blick zu bekommen.

Eine vergleichende Betrachtung über Hegel und »uns« lässt solche Erklärungen auf beiden Seiten fragwürdig scheinen. Was Hegels Preußen betrifft, so handelt es sich bei dem Staat, den der Philosoph zum Bestimmungsort des Weltgeistes erklärte, um eine sich aus den Verheerungen der Napoleonischen Kriege erhebende Mittelmacht, die keineswegs zwingend dazu prädestiniert war, der philosophische Hort eines selbstherrlichen Eurozentrismus zu werden. Dazu wären wohl die kolonialen Zentren London oder Paris besser geeignet gewesen als die doch sehr überschaubare Residenzstadt Berlin. Wenn man in diesem Fall vielleicht von einer Art »Über-Narrativierung« sprechen könnte, dann gibt es umgekehrt Gründe für die Vermutung, dass die globalisierte Moderne unserer Tage sich sozusagen erzählerisch unterrepräsentiert. Ganz unabhängig von der Krise ihres Entstehungsherdes Europa scheint sie nicht recht zu wissen, woran sie mit sich selber ist und welche Form sie ihrer Selbstbeschreibung geben soll. Gesellschaftliche Dynamik und kulturelle Semantik sind hier anscheinend auseinandergetreten – aus Gründen, die ihrerseits der Analyse bedürfen.

Von den politisch Verantwortlichen wird die geringe Zugkraft der zur Überwindung der Krise Europas bereitstehenden Narrative mit Bedauern vermerkt. Während Einheitserzählungen im akademischen Diskurs für obsolet erklärt werden, meldet die politische Praxis also eine akute Nachfrage nach ihnen an. Dahinter steht die Erwartung, dass das europäische Projekt leichter durchsetzbar und infolgedessen politisch kostengünstiger wäre, würde es machtvoller von dem erzählerischen Elan einer großen gemeinschaftlichen Vision getragen. Aber das ist, wie dargelegt werden soll, eine einseitige Perspektive. Denn kollektive Erzählungen großen Formats sind niemals unschuldig. Je nach den Verhältnissen, auf die sie treffen, erzeugen sie Pfadabhängigkeiten im kulturellen Imaginären, die wiederum faktische Konsequenzen zeitigen. Wie das Beispiel der Nationalmythen zeigt, ist auch narrative Aufrüstung eine Spielart der Gewalt. Mit dem Stimmengewirr von Selbsterzählungen nationalen, ethnischen oder auch nur regionalen Zuschnitts würde sich ein massiertes Europa-Narrativ nicht nur, wie bisher, im Wettstreit befinden, sondern es müsste sie zu einer alles umschließenden Formation aggregieren. Dabei würde es fast zwangsläufig einen Teil der Eigenschaften annehmen, deren Überwindung ein Kernstück der Europa-Mission nach dem Zweiten Weltkrieg darstellt.

Man sollte die Vorzüge eines politischen Gebildes deshalb nicht gering achten, das, und sei es mehr schlecht als recht, ohne eine starke Selbsterzählung auskommen kann.

[1] Theodor W. Adorno, »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1981, S. 41-48, dort S. 41. – »Etwas erzählen heißt ja: etwas Besonderes zu sagen haben, und gerade das wird von der verwalteten Welt, von Standardisierung und Immergleichheit verhindert. Vor jeder inhaltlich ideologischen Aussage ist ideologisch schon der Anspruch des Erzählers, als wäre der Weltlauf wesentlich noch einer der Individuation, als reichte das Individuum mit seinen Regungen und Gefühlen ans Verhängnis noch heran, als vermöchte unmittelbar das Innere des Einzelnen noch etwas […].« (Ebd., S. 42)

[2] Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht