Wahrheit und Erfindung - Albrecht Koschorke - E-Book

Wahrheit und Erfindung E-Book

Albrecht Koschorke

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Beschreibung

Über Kraft und Macht des Erzählens Überall wird von der prägenden Kraft der Erzählung gesprochen: in der Geschichtsschreibung, in Recht, Politik und Ökonomie. Erzählerisch werden Konfliktzonen vermessen, gesellschaftliche Institutionen begründet, Vergangenheiten und Zukünfte imaginiert. Insofern stellen kollektive Erzählungen ein wichtiges Medium der Selbststeuerung von Gesellschaften dar. Noch immer fehlt es aber an einer Erzähltheorie, die systematisch über ihren klassischen Geltungsbereich, die Literatur, hinausgeht. Das hier vorgelegte Buch zeigt Wege auf, um diese Lücke zu schließen. Es stellt den dichterischen Fiktionen nicht nur die Vielfalt unmittelbar mit der sozialen Praxis verflochtener Erzählweisen gegenüber, sondern fragt allgemeiner nach den kulturellen Transformationsregeln zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Ein wichtiges Buch zu einem der Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaft.

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Albrecht Koschorke

Wahrheit und Erfindung

Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie

Fischer e-books

I.Universalität des Erzählens

I.1Homo narrans

Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild […], der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur; sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.[1]

Zu den anthropologischen Bestimmungen, die den Menschen als vernunftbegabtes und sprechendes Wesen auszeichnen, hat sich im späten 20. Jahrhundert der Begriff des homo narrans gesellt. Er geht auf zwei Publikationen des kalifornischen Kommunikationswissenschaftlers Walter Fisher in den achtziger Jahren zurück.[2] Fisher zufolge beziehen sich Menschen auf ihre Umwelt und auf sich selbst weniger durch reine Beobachtung und rationale Erwägung als durch das Erzählen glaubhafter Geschichten.[3] Sie weben sich ihr Bild der Welt aus Erzählungen zusammen: »human beings are inherently storytellers«.[4] Oder, mit einer abwandelnden Wortprägung Alasdair MacIntyres: Der Mensch ist ein »storytelling animal«,[5] ein Geschichten erzählendes Tier.[6]

Die Einsicht in die sprachliche Verfasstheit des menschlichen Weltbezugs reicht in das Sprachdenken des 18. Jahrhunderts, bis zu Vico und Herder, zurück. Sie wurde durch Nietzsche, Freud, Heidegger, Wittgenstein und andere Denker vertieft und schlägt sich als Paradigma im linguistic turn der Humanwissenschaften des 20. Jahrhunderts nieder. Seither ist es geläufige Rede, dass Menschen in einem elementaren Sinn Symbole gebrauchende und von diesem Symbolgebrauch abhängige Wesen sind, dass sie sich nicht in der Welt, wie sie ist, sondern in Zeichensystemen und Diskursen bewegen.

Was bedeutet es, wenn der Gedanke der unhintergehbaren Sprachlichkeit des menschlichen Weltzugangs durch ein Modell der narrativen Organisation dieses Bezugs ergänzt und präzisiert wird? Was gewinnt man dadurch, den Aspekt der Erzählung hervorzuheben? Und welche Folgerungen ergeben sich, wenn man die Idee einer genuin erzählerischen Weltauslegung des Menschen, wie sie sich im Begriff des homo narrans manifestiert, mit Roland Barthes’ Aussage verknüpft, dass die Erzählung eine kulturelle Universalie bildet, die alle historischen Epochen, Völker, Gesellschaftsschichten, Niveaus und Medien durchquert? Welche Eigenschaften befähigen das Erzählen dazu, sich so geschmeidig und allseitig verwendbar den unterschiedlichsten Umständen anzuschmiegen? Wie funktioniert es? Und welche Funktionen erfüllt es?

Entsprechende Erklärungsversuche von anthropologischer Seite gehen häufig auf Bestimmungen des Mythos zurück – wie überhaupt die Erzählforschung manche Ansätze der älteren Mythenforschung aufnimmt und weiterführt. Sie gruppieren sich um einige wenige Schlüsselkategorien: Bezwingung von Angst, Sinnstiftung, Orientierung.

»Geschichten werden erzählt«, heißt es in Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos, »um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.«[7] Doch wenn das Geschichten-Erzählen tatsächlich eine universelle kulturelle Aktivität ist, wird es kaum reichen, es auf die beiden Motive des Zeitvertreibs und der Angstbewältigung einzuengen. Überdies ist in das Motiv ursprünglicher Angstbewältigung eine fragliche, stark durch die Ethnographie der Kolonialzeit geprägte Prämisse einbeschrieben: nämlich die Idee einer primitiven Entwicklungsstufe der Menschheit, auf der die Menschen noch voller Schrecken einem Universum unverstandener Naturmächte entgegentraten und sich mangels besserer Einsicht damit behelfen mussten, diese Naturmächte als Geister und Götter auszuphantasieren.[8] Zwar mag es einen wichtigen psychologischen Ansporn für Erzählungen bilden – etwa Kindergeschichten –, dass ihr Klang imstande ist, die Welt aufzuhellen. Aber keineswegs überall hat das Erzählen die Aufgabe, Ängste dadurch zu beschwichtigen, dass es ihnen Gestalt und Namen leiht. Ebenso wenig antwortet es immer auf ein Verlangen nach Sicherheit oder Trost; ganze Genres sind darauf spezialisiert, Unsicherheit, Schrecken, Grauen, Trostlosigkeit zu verbreiten.

Eine andere, mit dem Motiv der Angstbezwingung verschwisterte anthropologische Erklärung geht dahin, dass Menschen durch Geschichten-Erzählen ihre Lebenswirklichkeit in einen für sie begreiflichen Gesamtzusammenhang einzubetten versuchen, weil sie es nicht ertrügen, bloßen Zufällen oder Gesetzmäßigkeiten ohne tieferen Bezug auf ihr Dasein ausgeliefert zu sein. (Das moderne Stichwort dafür heißt: Kontingenzbewältigung.) Das Erzählen trägt demnach Sinn in die Welt, versieht ihren Lauf mit Absichten und Zielen, bevölkert sie mit anthropomorphen Akteuren, bringt sie überhaupt erst in eine intelligible Form und verwandelt sie so den Menschen an, die sich in ihr nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch einrichten müssen.

So wichtig diese Funktion von Erzählungen ist, sie erschöpft nicht die Vielzahl der möglichen Fälle. Denn wie noch auszuführen sein wird, kann das Erzählen ebensogut in den Dienst des Abbaus von Sinnbezügen gestellt werden, etwa durch die Demontage von hegemonialen Sinnzwängen. Als eine in hohem Maß formlose Tätigkeit kann es entsprechend gerade die Qualität der Formlosigkeit – sei es durch Deformation, sei es durch Auflösung verfestigter Sinnformen – im Prozess der kulturellen Semiosis ausspielen. In einer Vielzahl von Erzählungen wird Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen.

Ein ähnlicher Einwand lässt sich schließlich gegen einen benachbarten anthropologischen Ansatz vorbringen, der dem Erzählen die Aufgabe zuschreibt, für den Menschen unerlässliche symbolische Orientierungsleistungen zu erbringen. Auch dies ist nur eine halbierte Bestimmung, weil sie das Phänomen narrativ bewirkter Desorientierung nicht einbezieht. Seit erzählt wird, wird indessen auch Klage darüber geführt, dass das Ausfabulieren von Geschichten irreleitet, dass es dazu einlädt, die Wirklichkeit zu verleugnen, dass es Unordnung stiftet und Unsinn erzeugt. Immer wieder hat diese Klage Anlass geboten, das Erzählen als kulturelle Praktik zu diskreditieren. Mit guten Gründen, weist es doch einen grundlegenden ontologischen Mangel auf. Denn die Erzählung herrscht, so scheint es, in ihrem Reich bindungslos und allmächtig; sie muss sich um Kongruenz mit der äußeren Realität nicht bekümmern; sie nimmt sich die Freiheit, alles und jedes zu einem Gegenstand in der Welt zu erklären. Wie das Denken und Sprechen überhaupt, so verfügt auch das Erzählen über kein hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen. Wie in einem Wirbel mischen sich darin Elemente von Wahrheit, Anschein, Hörensagen, Unwissenheit, Irrtum und Lüge. Erzählungen können frei zwischen beiden möglichen Extremen hin- und hergleiten, sich auf eine ihnen gemäße Art der Wirklichkeitstreue verpflichten oder aber ihren Realitätsbezug gänzlich kappen, ohne ihrer inneren Beschaffenheit nach von dieser Alternative berührt zu sein.

Wer deshalb vom homo narrans spricht, denkt den Menschen in seinem Vermögen, zu der Wirklichkeit, in der er lebt, sowohl ja als auch nein sagen zu können; moralisch gewendet, zu lügen; oder genauer, in der Fähigkeit, die Differenz zwischen real und irreal, wahr und falsch auszusetzen, aufzuheben, mit ihr zu spielen. Tatsächlich sind Erzählungen in einem gewissen Sinn Erzählspiele – regelgeleitet, mit unter Umständen großen Einsätzen, aber innerhalb des gegebenen Regelsystems in den meisten Spielzügen frei.

I.2Homo ludens

An dieser Stelle zeigt sich die Verwandtschaft des homo narrans mit dem homo ludens, einer Vorgängerfigur in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Der Begriff ist durch eine Abhandlung Johan Huizingas von 1956 gebräuchlich geworden.[9] Huinzinga stellt seinem Buch die These voran, dass die »großen ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens« – sprachliche Kommunikation, mythische Weltdeutung, Stiftung von Gemeinschaft im Kult – »alle bereits von Spiel durchwoben« seien.[10] Auch wenn für ihn derart alle Kultur im Spiel gründet, bestimmt er soziale Spiele gerade durch ihre Herauslösung aus dem alltäglichen Lebenszusammenhang. Sie stellen für ihn eine sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht gerahmte Tätigkeit dar, die einer freiwilligen, aber verpflichtenden Ordnung gehorcht und eine von Realitätszwängen entlastete Eigenwelt bildet. Entsprechend zielt seine Definition auf die Formseite des spielerischen Arrangements ab:

Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel […] zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.[11]

Die entscheidenden Merkmale sind also: Freiheit, Uneigentlichkeit, Außergewöhnlichkeit, Regelbindung, Vergemeinschaftung, Festlichkeit und ein aus all dem erwachsendes kollektives Lustgefühl. Die Rahmung der Situation erlaubt es, innerhalb des Spiels »eine eigene und unbedingte Ordnung« zu errichten:

In die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige begrenzte Vollkommenheit. […] Diese innige Verknüpfung mit dem Begriff der Ordnung ist vielleicht der Grund, daß das Spiel […] zu solch großem Teil innerhalb des ästhetischen Gebiets zu liegen scheint. Das Spiel […] hat eine gewisse Neigung, schön zu sein.[12]

Es liegt nahe, dieser Gedankenspur weiter zu folgen und Parallelen zwischen Kunst und sozialem Spiel herauszuarbeiten. Auch zu den Qualitäten des Kunstwerks gehört ja, jedenfalls nach klassischen Maßstäben, seine Geschlossenheit. Huizinga selbst stellt Querverbindungen zur Dichtung her, die er als ein aus Gesang, Tanz und Musik hervorgegangenes, metrisch rhythmisiertes Spiel des Geistes verstanden wissen will.[13] Im Gegensatz zu anderen Kulturformen sei die Dichtung ihren spielerischen Ursprüngen treu geblieben:

Denn während Religion, Wissenschaft, Recht, Krieg und Politik in höher organisierten Formen der Gesellschaft die Berührung mit dem Spiel, die sie in frühen Stadien der Kultur offenbar in reichlichem Maße hatten, nach und nach zu verlieren scheinen, bleibt das Dichten, das in der Spielsphäre geboren ist, immerfort in dieser zu Haus.[14]

Entsprechendes würde auf die Erzählkunst als eine der dichterischen Gattungen zutreffen. Auch auf das poetische Geschichten-Erzählen ist Huizingas eben zitierte Spiel-Definition anwendbar. Es stellt »eine freie Handlung« dar, »die als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann«; es vollzieht sich »innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums«;[15] es ist in der aktuellen Erzählsituation gemeinschaftsstiftend und dabei Quelle einer außeralltäglichen, nämlich ästhetischen Lust.

Allerdings gilt für das Erzählen wie für das Spiel überhaupt, dass sie nicht nur als feierlich gerahmte Handlungen vorkommen, sondern häufig aus diesem Rahmen heraustreten und sich mit dem profanen Leben vermengen. Ab einem bestimmten Punkt ist Huizingas kategorische Trennung zwischen spielförmiger sozialer Aktivität und der »Sphäre materieller Nützlichkeit oder Notwendigkeit«[16] nicht aufrechtzuerhalten. Denn auch viele ›ernste‹ Beschäftigungen sind mit Ritualen, das heißt spielerischen Formen, durchsetzt und finden, mit Huizingas eigenem Begriff, auf gesonderten »Spielplätzen« statt.[17] Formale Geschlossenheit durch Aufrichtung von räumlichen und zeitlichen Hürden, interne Ordnung nach eigenen, sonst nicht geltenden Verhaltensregeln, ein besonderer Kleidercode, Geheimnishaftigkeit nach außen und Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den ›Mitspielern‹ – all diese Merkmale von sozialem Spiel kennzeichnen auch Bürokratien und andere institutionelle Gebilde, deren reibungslose Abläufe dem geübten Auge vielleicht sogar einen ästhetischen Genuss zu bereiten vermögen. In der Politik und vor Gericht wird ebenso ›gespielt‹ wie an der Börse, für deren Kalküle nicht zufällig die Spieltheorie, hervorgegangen aus der Analyse fiktiver sozialer Spielsituationen, zuständig ist. Wen nach gesellschaftlicher Teilhabe verlangt, der muss sich ›ins Spiel bringen‹: im Sinn des lateinischen inludere, aus dem sich das Wort Illusion gebildet hat, das folglich die Bereitschaft bezeichnet, an das jeweils aufgeführte Spiel, an seine Wichtigkeit wie an seine Regeln, zu glauben.[18]

Huizinga selbst gibt Denkformen an die Hand, um gerade die Übergänge, Mischformen und Transformationen zwischen ›Spiel‹ und ›Wirklichkeit‹, ›uneigentlichem‹ und ›eigentlichem‹ Handeln verstehen zu können. Genau genommen operiert er mit zwei unterschiedlichen Begriffen von Spiel: Der eine ist Teil der von ihm verwendeten Dichotomien, der andere umspannt sie. Am deutlichsten wird das in seinen Überlegungen zum Spielcharakter von Religionen. Während religiöser Kult für die Beteiligten »höchster und heiliger Ernst« sein müsse, um seine Funktion zu erfüllen,[19] sei vielen magischen Zeremonien doch ein »hintergründiges Bewußtsein von ›Nichtechtsein‹« beigemischt.[20] Die Teilnehmer an primitiven Zauberritualen, ob Akteure oder Zuschauer, seien nach dem Bericht von Ethnologen in ihrem Verhalten und wohl auch in ihrem Gemütszustand uneindeutig, nach einer Seite hin skeptisch und nach der anderen gläubig, »zugleich wissend und betrogen«.[21] Hier verweist der Begriff des Spiels, wie ihn Huizinga gebraucht, nun nicht auf die andere, uneigentliche Seite frommer Ernsthaftigkeit, sondern greift über die Alternative hinaus und bezeichnet das Schwebende dieses Gegensatzes als solches – ein ›Spiel‹ in zweiter Potenz zwischen den beiden Haltungen von Ernst und Unernst. »[…] in dem Begriff Spiel selbst«, schreibt Huizinga, »wird die Einheit und Untrennbarkeit von Glauben und Nichtglauben, die Verbindung von heiligem Ernst mit Anstellerei und ›Spaß‹ am besten begriffen.«[22] Und an anderer Stelle: »Wir sind gewöhnt, den Gegensatz von Spiel und Ernst als einen unbedingten anzusehen. Allem Anschein nach geht er aber nicht bis zum tiefsten Grunde hinunter.«[23]

I.3Ontologische Indifferenz

Auch für das Erzählen kann gesagt werden, dass es »den Gegensatz von Spiel und Ernst«, Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, Phantasie und Realität nicht »als einen unbedingten« behandelt. Er reicht ihm nicht »bis zum tiefsten Grunde« hinab, als ob die Fähigkeit und das Bedürfnis des Menschen, Geschichten zu erzählen, einer ursprünglicheren, unterhalb solcher Gegensätzlichkeiten liegenden Schicht des Daseins entstammte. Aber das ändert nichts daran, dass im praktischen Leben niemand zurechtkommt, ohne zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, klare Unterscheidungen treffen zu können. Man muss also fragen: Was befähigt eine Artikulationsweise, die eine lebensnotwendige Unterscheidung missachtet und insoweit existentiell unbrauchbar ist, dazu, den Rang einer kulturellen Universalie beziehungsweise eines anthropologischen Grundmerkmals einzunehmen? Wie können Menschen einen wichtigen Teil der Organisation ihrer Lebenswelt einem so unzuverlässigen Medium anvertrauen?

Die Mythenforschung, in vieler Hinsicht die Mutter der Erzählforschung, begegnet diesem Problem, indem sie ein Spektrum divergenter Definitionen ihres Gegenstandes auffächert. In polemischer Abgrenzung gebraucht, wird der Mythos als fehlerhafte oder unreife Weltsicht einem überwundenen Stadium kulturhistorischer Entwicklung zugeschlagen. Geltung kommt dieser Art von Mythos nur dann zu, wenn er durch Übersetzung und Deutung als unvollkommene, weil »zeitbedingte Einkleidung einer an sich zeitlosen Wahrheit« entzifferbar ist; dies macht ihn für literarisch-künstlerische Adaptionen geeignet. Erst in funktionalistischen Theorien gewinnt der Mythos einen eigenen Wert, insofern er »als fundierende, legitimierende und weltmodellierende Erzählung« bestimmt werden kann. Alltagsmythen haben an dieser Funktionalität teil, weil sie »mentalitätsspezifische Leitbilder« produzieren, »die kollektives Handeln und Erleben prägen. Solche Orientierungen wirken vorwiegend implizit unterhalb der Bewußtseinsschwelle und modellieren in unverbundenen Einzelaspekten die Wirklichkeitserfahrung von Gruppen […].« In Gestalt von Ideologien oder großen geschichtsphilosophischen Erzählungen können solche neuen Mythen auch »vollbewußte Individualschöpfungen« sein.[24]

Die aufgezählten Konzepte unterscheiden sich vor allem darin, wie sie die Produktion von Mythen historisch verorten – als eine im Prozess der Aufklärung zurückgelassene Kulturstufe oder als eine in der Moderne ungebrochen fortgesetzte soziale Aktivität, als kollektiven, anonymen Prozess oder als Erfindung einzelner, namentlich zurechenbarer Autoren. Die unmittelbare Konsequenz ist, dass sie dem Mythos in seinen unterschiedlichen Fassungen einen schwankenden Wahrheitswert zuerkennen. Ist er von besserem Wissen abgelöst worden oder führt er noch immer Regie, wenn es um die Synthesis kollektiver Erfahrungen geht? Bezeichnet er einen Zustand falschen Bewusstseins (Ideologie) oder ist er auch aus dem Weltverhältnis aufgeklärter Wissensgesellschaften nicht zu bannen?

Es geht hier, technisch gesprochen, um wechselnde Allokationen von Wahrheit im Prozess kultureller Selbstverständigung. Und was vom Mythos gesagt wird, lässt sich auch auf den weiteren, unspezifischeren Begriff der Erzählung anwenden. Als universelle kulturelle Aktivität hat das Geschichten-Erzählen alle Entmythologisierungen, alle Aufklärungen der Menschheit überstanden. Es hat sich von der ursprünglich mündlichen Interaktion zwischen Anwesenden teilweise gelöst und anderer kommunikativer Kanäle bemächtigt. Aber das schränkt weder seine Reichweite noch seine Durchdringungskraft ein; im Gegenteil. Und dies trotz der Tatsache, dass sich ihm kein fester Ort innerhalb der kulturellen Bedeutungsproduktion zuschreiben lässt. Denn nicht nur sind Erzählungen hinsichtlich ihres Gegenstandes ontologisch indifferent, können Irreales als real und Reales als irreal erscheinen lassen; auch die Bestimmung ihrer kommunikativen Funktion ist unsicher und durchquert die ganze Bandbreite der Möglichkeiten. Das Erzählen kann als Technik der Wissensübermittlung anerkannt oder verworfen werden, mit tieferen Wahrheiten im Bunde stehen oder den Makel der Betrügerei an sich tragen. Uneindeutigkeit hinsichtlich der Alternative wahr/unwahr betrifft also nicht nur den Inhalt der jeweiligen Einzelgeschichte, sondern ganz allgemein die kulturelle Gültigkeit der symbolischen Transaktionen, bei denen von der Technik des Erzählens Gebrauch gemacht wird.

Um diese Unsicherheit einzudämmen, wurde dem Erzählen ein eigener Bereich, wenngleich eine Zone verminderter Rationalität, zugewiesen. Der mythos wurde aus dem logos ausgegliedert, dessen ursprüngliches Bedeutungsfeld beide Seiten umfasst hatte: Erzählung und Vernunft, gewinnende Rede und nüchternen Begriff, Vorstellungsbild und Gedanke. Der Mythos, die Gesamtheit der überlieferten Geschichten von Göttern, Ahnen und Helden und der darin enthaltenen Weltdeutungen, fand Zuflucht in der Dichtung und bildenden Kunst – sofern man ihn nicht glattweg in den Bereich der Lüge oder des Aberglaubens verwies. Als funktionsentlastete Sphäre gesellschaftlicher Produktion haben die Künste fiktionale Darstellungsformen entwickelt, die ihnen deshalb einen freien Umgang mit Stoffen von zweifelhaftem Wahrheitswert erlauben, weil sie ihre ontologische Indifferenz, so scheint es, sozial folgenlos und damit unschädlich machen.

Wer den Menschen als homo narrans versteht, kann indessen nicht umhin, jene anfängliche Operation, kraft deren das Erzählen aus dem Universum des logos ausgegliedert wurde, anzuzweifeln. Er wird getrieben sein, vor die Spaltung von mythos und logos zurückzugehen und nach den verbindenden Elementen in ihrer Entgegensetzung zu fragen.[25] In voller Konsequenz würde das heißen, die Grundlegung der abendländischen Philosophie und Wissenschaft im klassischen Griechenland revidieren und die platonische Vertreibung der Dichter aus der vernunftgemäß eingerichteten Polis rückgängig machen zu wollen.

Man muss aber nicht zu den Ursprüngen hinabsteigen, um Zweifel an der Durchsetzbarkeit einer glatten Trennung zwischen Vernunft & Wahrheit einerseits, Erzählung & Lüge andererseits anzumelden. Statt mit der zweieinhalb Jahrtausende alten Teilung des epistemischen Feldes einschließlich ihrer institutionellen, macht- und wissensgeschichtlichen Folgen zu hadern, kann man es bei der schlichten Feststellung belassen, dass sie nicht funktioniert. Das Erzählen hat sich nicht ins Reservat der Schönen Künste einsperren lassen. Der Drang, die Welt erzählerisch zu modellieren, hält sich nicht an die Grenzziehung zwischen gesellschaftlichen Funktionsystemen. Das betrifft alle Ebenen – von den Alltagsgeschichten über wissenschaftliche Theorien bis hin zu den master narratives, in denen sich Gesellschaften als ganze wiedererkennen – und alle Formen: von den konventionellen Floskeln, in denen sich kleine Narrative verbergen und in die Grammatik der Umgangssprache einsenken, bis zu den elaboriertesten, nur von Spezialisten beherrschbaren Erzähllabyrinthen. Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel. Es stellt keinen Funktionscode unter anderen dar, sondern eine Weise der Repräsentation und Mitteilung über alle kulturellen Grenzen hinweg. Hayden White, einer der großen Pioniere auf diesem Forschungsgebiet, spricht deshalb treffend vom Erzählen als »metacode«: »a human universal on the basis of which trans-cultural messages about the shared reality can be transmitted«.[26]

I.4Das Erzählen im Spiegel der wissenschaftlichen Disziplinen

Die Erkenntnis, dass die Erzählung sich mit dem eigens für sie geschaffenen Reservat (Kunst, Dichtung, Unterhaltungsindustrie) nicht begnügt, dass es aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der damit einhergehenden Aufgliederung in unterschiedliche Rationalitätsbereiche ausbricht, schlägt sich inzwischen auch in der Theorielandschaft nieder. Die fachliche Zuständigkeit liegt zunächst bei der Literaturwissenschaft, der indessen ihr unverhofftes Glück, über einen so potenten Begriff zu verfügen, erst allmählich gedämmert ist. Innerhalb der Literaturwissenschaft hat die Narratologie als Theorie poetischer Texte eine sehr weitgehende terminologische Ausarbeitung erfahren. Diese Spezialisierung wird jedoch dem Sachverhalt nicht gerecht, dass der Begriff der Erzählung zu einer der transdisziplinär erfolgreichsten und expansionsfreudigsten literaturwissenschaftlichen Kategorien geworden ist. Durch den New Historicism hat er seinen Weg in die Geschichtswissenschaften genommen und ist von dort in die Wissenschaftstheorie weitergewandert. Auch in den Sozialwissenschaften wurde ein narrative turn proklamiert.[27] In der Politik wie im Recht ist die Bedeutung kleiner und großer Erzählungen unübersehbar – angefangen mit Fallgeschichten und narrativ organisierten Detailregelungen bis hin zu den Gründungsmythen und Lebenslügen ganzer Gesellschaften. Nicht zuletzt werden soziale Konflikte entlang von narrativen Feldlinien choreographiert. Und schließlich lassen sich auch die Modelle der Ökonomie sehr weitgehend als Arrangements entziffern, die auf der Akzeptanz bestimmter Erzählungen beruhen. Immer häufiger tritt dem auf diesem Feld eingebürgerten homo oeconomicus, der auf der Basis vollständiger Information rationale Entscheidungen trifft, der phantasievoll irrlichternde, aber darum nicht unbedingt erfolglosere homo narrans entgegen.

All dies ist Gegenstand einer über die Interpretation literarischer Werke hinausgehenden Allgemeinen Erzähltheorie. Sie kann sich auf viele Erkenntnisse stützen, die sich in anderen Zusammenhängen aus der Analyse von Sprach- und Zeichensystemen ergeben, und trägt insofern ein synkretistisches Gepräge. Doch dieser Synkretismus charakterisiert schon ihren Gegenstand selbst. Denn die Erzählung ist ein gleichsam mehrstöckiges Gebilde und spielt sich auf einer Vielzahl von Ebenen gleichzeitig ab. Als sprachliches Artefakt lässt sie sich auf ihre basalen linguistisch-kognitiven Leistungen hin befragen. Sie schreibt Symbole aus und löst Metaphern aus ihrer Erstarrung, indem sie die in ihnen schlummernden Geschichten erweckt. Sie verknüpft Ereignisse und Aktionen zu Episoden, den Untereinheiten der Erzählsequenz, und lässt durch deren Kombination Handlungsmuster entstehen, die ihrerseits auf die Weltorientierung und das Selbstverständnis der Akteure zurückwirken.

Zu den kognitiven treten emotive und evaluative Funktionen, denn immer spielen sowohl Affektbesetzungen als auch die Verständigung über Werte in die erzählten Vorgänge hinein. Auf diese Weise stellt die Erzählung einen sozialen Begegnungsort dar: Wie auf einem großen Forum gibt sie divergenten Stilhaltungen, Sprechweisen, Redepositionen und Fokalisierungen Raum. Dabei kann fast alles zum Material der Erzählung werden, sie selbst eingeschlossen; sie lässt sich in den Dienst einer Verzauberung stellen, indem sie ihre Adressaten in eine fiktive Welt schickt, und einer gegenläufigen Entzauberung, indem sie von ihrem eigenen Zustandekommen Rechenschaft gibt; sie kann sich bei der Konstruktion der erzählten Welt sogar noch selbst beobachten und kommentieren.

Aus all diesen Komponenten fügt der Erzählvorgang ein zu hoher Komplexität befähigtes, sich in sich abschließendes und doch poröses Gebilde mit eigenen Geltungsgesetzen zusammen. So uneinheitlich ein Erzähltext bei feinerer analytischer Auflösung sein mag – ein Gefüge von Sedimentschichten, die auf die verschiedenen Entstehungsphasen hindeuten, und ein Gewirr von nicht unbedingt harmonisierenden Stimmen –, seine kulturelle Wirksamkeit muss dadurch nicht beeinträchtigt werden. Im Gegenteil scheint ein bestimmter Grad an Polyphonie und Vieldeutigkeit das Stimmvolumen einer Erzählung gerade zu erweitern, ihre Suggestivkraft zu erhöhen.

Warum das so ist, wird zu erörtern sein. Die Richtung der Antwort kann jedoch schon angezeigt werden. Sie ergibt sich aus dem an sich wenig spektakulären Befund, dass Erzählungen sich vorrangig in der Dimension der Zeitlichkeit organisieren. Sie verarbeiten und gestalten Komplexität durch Dynamisierung, durch Auflösung von Zustand in Prozess. Auf der Ebene des plots – der Verkettung von Aktionen, ohne die keine Erzählung möglich wäre – ist dieser Sachverhalt offenkundig. Aber dasselbe gilt für die darunter liegenden Textschichten, für den Auf- und Abbau semantischer Beziehungen und selbst noch auf dem elementaren Niveau des begrifflichen und lexikalischen Materials. Das macht die Erzählung als Gattung besonders geeignet, um Prozessdynamiken zum Ausdruck zu bringen. Die Erzählung senkt Zeitlichkeit noch ins Unbewegliche ein; oder umgekehrt, Stasis erscheint von ihrem allgemeinsten Gattungsgesetz her als eine zum Stehen gebrachte, gleichsam gestaute Narration.

Die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie war bisher vor allem daran interessiert, ein immer genaueres Raster an Klassifikationen für alle erdenklichen Textsorten auszuarbeiten. Soweit sie ein strukturalistisches Gepräge trug, bestand ihr hauptsächliches Anliegen darin, Erzähltexte auf binäre Strukturmuster, das heißt auf eine letztlich unveränderliche Matrix zurückzuführen. Tatsächlich sind binäre Schemata die Grundbausteine jeder stabilisierten kulturellen Semantik. Was den Aufwand an intellektueller Arbeit betrifft, ist es ökonomisch, in glatten Gegensätzen zu denken; sie liefern zu den geringsten Kosten die größte Trennschärfe, weshalb sich vor allem einfache Texte ihrer Organisationskraft bedienen. Aber keine semantische Ordnung kann allein auf solchen Binarismen beruhen, weil neben den festen immer auch bewegliche, ihren Platz im Feld wechselnde Elemente notwendig sind, um überhaupt Ordnung in der Zeit herzustellen. Erzählungen sind, ob auf die Zukunft bezogen oder retrospektiv, sprachliche Artikulationen von Veränderlichkeit. Sie sind in ihrem Aufbau zu dynamisch, indeterminiert und komplex, um sich vollständig in Reihen von Oppositionspaaren zergliedern zu lassen. Statt in binäre Strukturen eingefasst werden zu können, gehen sie solchen Strukturverfestigungen vielmehr voraus. Durch ihre Nicht-Festgelegtheit und innere Unruhe stellen sie Zugänge zu einem kulturellen Fluidum her, in dem binäre Codes sich allererst ausbilden, in Konkurrenzen oder Allianzen eintreten, sich wechselseitig schwächen, stärken, kreuzen, verfestigen oder auflösen.[28]

Es genügt deshalb nicht, das Vorkommen narrativer Elemente auch in literaturfernen sozialen Bereichen nachzuweisen und in einer der bereitstehenden Terminologien durchzudeklinieren. Damit allein ist noch nichts erklärt. Eine Erzähltheorie, die der Universalität ihres Gegenstands Rechnung trägt, ist ohne eine entsprechende Kulturtheorie nicht zu haben. Vor allen Dingen muss sie der Erkenntnis Rechnung tragen, dass das Erzählen nicht bloß eine reproduktive, den erzählten Inhalten gegenüber nachrangige Tätigkeit ist, kein bloßes Rekapitulieren after the fact. Die Pointe des linguistic turn, in dessen Folge auch das Erzählen als semiotische Aktivität interessant wurde, liegt vielmehr in seinem aktivischen Verständnis von Bezeichnungsvorgängen: Das Bezeichnen interveniert in die Welt, die es scheinbar nur widerspiegelt, und lässt sie in einem kreativen Aneignungsprozess in gewisser Weise überhaupt erst entstehen. So bildet nicht nur das Zeichen den zu bezeichnenden Weltsachverhalt nach, sondern auch umgekehrt gestaltet sich das Bezeichnete entsprechend der ordnenden Kraft der verwendeten Zeichen. Man könnte mit Blick darauf von einer epistemologischen Rückkopplung sprechen, die sich, wenngleich in unterschiedlichem Maß, auf die Gesamtheit kulturell appräsentierbarer Gegenstände erstreckt; hier berühren sich Erkenntnis- und Erzähltheorie.[29] Konkreter und noch bedeutsamer macht sich diese Zirkelstruktur im Bereich der sozialen Ontologie geltend, also dort, wo Sachverhalte durch das praktische Handeln der Menschen geschaffen und entsprechend von deren Wahrnehmungs- beziehungsweise Repräsentationsformen abhängig sind. In diesem Fall hätte man es mit einer im engeren Sinn performativen Rückkopplung zwischen Zeichen und bezeichneten Gegebenheiten zu tun.

Dieses Wechselverhältnis ist oft und in vielen Versionen formuliert worden. Es herrscht grundsätzlich in allen Arten des Zeichenhandelns. Die hier zu erörternde Frage lautet, welche besonderen Rückkopplungseffekte ein narrativer Weltzugang mit sich bringt – welcher Unterschied sich ergibt, wenn man die Analyse eben auf Erzählungen und nicht etwa auf Ideensysteme, symbolische Ordnungen oder Diskurse richtet. Wie entstehen Erzählungen aus lebensweltlichen Situationen, und worin besteht in der Umkehrrichtung das narrative Apriori des Sich-Einrichtens in der Welt?

Dieses Apriori kann stark oder schwach ausgeprägt sein, sich lediglich auf das Arrangement vorhandener Daten oder auf die Erzeugung von Lebenstatsachen als solchen beziehen. Gemäß der schwachen Variante heißt es etwa in einer Studie über die Kommunikation vor Gericht: »Stories are systematic means of storing, bringing up to date, rearranging, comparing, testing, and interpreting available information about social behavior.«[30] Und kurz darauf: »Stories are everyday communication devices that create interpretive contexts for social action.«[31] Sehr viel tiefer wird demgegenüber der narratologische Zugriff angesetzt, wenn man in sozialen Verhaltensweisen selbst Erzählmuster erkennt, die im wirklichen Leben ausagiert werden. So regt die Organisationstheoretikerin Barbara Czarniawska an, »to think of an enacted narrative as the most typical form of social life«.[32] In der prägnanten Fügung des enacted narrative schlägt sich also das Praktisch-Werden von Erzählungen nieder. Tatsächlich stellt es ja eine inzwischen geläufige Übung dar, auf dem Grund einer Biographie, der Konstruktion einer politischen persona, des Marketings von Unternehmen, der Arbeitsweise von Institutionen und sogar der Geschichte ganzer Völker selbstverfertigte narrative Vorlagen wiederzufinden, die gewissermaßen rückwirkend – aus jeweils näher zu bestimmenden Gründen – in die Tat umgesetzt wurden. Die entsprechende Devise heißt: Fact follows fiction.[33] Die gewohnte Zeitfolge dreht sich um: Erst ist die Erzählvorlage da, oft palimpsestförmig unter fremden und zufälligen Bedingungen entstanden, dann wird aus dieser Vorlage ein Skript, an dem sich die Verhaltensweisen, Selbstdefinitionen und dadurch vermittelt auch Objektwahrnehmungen ausrichten. Wie in einer self-fulfilling prophecy kann so am Ende der Effekt als Ursache erscheinen. (Erzähltheoretisch wird diese umgekehrte Kausalität, das Ausgreifen des Erzählten auf den Erzähler, der Binnen- auf die Rahmenhandlung, in Erweiterung einer alten rhetorischen Figur Metalepse genannt; artistische Verwendung findet sie vor allem in Texten, die der phantastischen Literatur zugehören.[34])

In diesem tiefergehenden Sinn ist die Funktionsweise von Erzählungen nicht darauf beschränkt, lediglich eine Spiegelung oder Überzeichnung (Verfälschung) vorfindlicher sozialer Tatsachen zu erzeugen. Das ist Teil der erzählerischen Produktivität, aber eben nur ein Teil. Wenn man den Blick auf den Gesamtzusammenhang richtet, hat man es nicht mit zwei ganz und gar verschiedenartigen Seinsschichten zu tun – nach einem ontologischen Modell, das auf die überkommene Gegenüberstellung zwischen Wirklichkeit und Idee, materieller Basis und geistigem Überbau zurückgeht. Vielmehr finden zwischen den Elementen auf beiden Seiten, wie noch genauer darzulegen sein wird, unablässige Anverwandlungen statt.

In Gestalt von Narrativen kann sich ursprünglich frei Erfundenes im kollektiven Bewusstsein sedimentieren und zu einer harten sozialen Tatsache werden; narrative Elemente sickern in den Sprachschatz von Gesellschaften ein; dort verfestigen sie sich im Lauf der Zeit zu lexikalischen Wendungen, zu Sprech- und damit Denkweisen, zu Begriffen und sogar Dingwörtern. Man könnte sagen, sie ›vereigentlichen‹ sich, jedenfalls wird ihre ›Uneigentlichkeit‹ während dieser Metamorphose allmählich vergessen. Andererseits hat die Reflexion auf das Erzählen eine zutiefst lösende Kraft. Sie ist imstande, Tatsachen, die unumstößlich schienen, als Redeweisen von gestern zu entdinglichen. Auf diese Weise verwandelt sich ›Eigentliches‹ in ›Uneigentlichkeit‹, ›Wesenhaftes‹ in ein ›Spiel der Zeichen‹ zurück. In einem kulturellen Chemismus ganz eigener Art tauschen Zeichen und Bezeichnetes nachgerade ihre Substanz gegeneinander.[35]

Man kann diesen Mechanismus in das Bild eines Stoffwechsels kleiden, in dem Kollektive sich bestimmte Selbst- und Welterzählungen einverleiben und zur zweiten Natur machen (was auch immer diese ›zweite‹ von einer ›ersten‹ Natur unterscheidet), während sie umgekehrt naturhaft gewordene semiotische Artefakte aus dem Bestand des kulturellen Gedächtnisses herauslösen und gewissermaßen entmaterialisieren. In diesem Auf- und Abbau erzählerischer Konstruktionen entsteht die Welt sozialer Tatsachen immer neu und bleibt andererseits für die jeweiligen Bewohner immer gleich selbstverständlich, auch wenn ihre Elemente im Lauf der Zeit ausgetauscht werden.

Dass mithin das Erzählen nicht nur eine Sonderwelt neben der wirklichen Welt hervorbringt, sondern in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt und selbst ein bestimmendes Element dieser Praxis ist, stiftet die Verbindung zwischen Erzähl- und Kulturtheorie. Das Erzählen ist Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation. Folglich stellt sich die Aufgabe, die Transformationsregeln zu bestimmen, die diesen Prozess steuern. Ein erster Schritt besteht darin, die elementaren Operationen des Erzählens mit Blick auf die kulturelle Semiosis im Ganzen zu untersuchen. Darauf aufbauend werden Ansätze zu einer kulturellen Feldtheorie zu entwickeln sein, in der die Funktionalität des scheinbar Dysfunktionalen, des Unscharfen, nicht Systematisierbaren, der losen Enden und Ränder, des Formlosen und Informellen besondere Berücksichtigung findet.

II.Elementare Operationen

II.1Reduktion

Nicht alles Wissen kann erzählt werden oder ist überhaupt kommunizierbar. Michael Polanyis Buch The Tacit Dimension beginnt mit der nüchternen Feststellung,

that we can know more than we can tell. This fact seems obvious enough; but it is not easy to say exactly what it means. Take an example. We know a person’s face, and can recognize it among a thousand, indeed among a million. Yet we usually cannot tell how we recognize a face we know. So most of this knowledge cannot be put into words.[36]

Der antiken Rhetorik war dieser Sachverhalt als egestas verborum geläufig; sie wurde von einer »Grunderfahrung der ›Armut der Sprache‹« geprägt.[37] Während in vielen Sprachphilosophien der Moderne die Sprache einem Ozean gleicht, dessen Sinntiefe das Denken und Empfinden nicht ausloten kann, herrscht in der alteuropäischen Tradition »die Klage über das Ungenügen des Wortes gegenüber dem Anspruch des Denkens« vor.[38] Doch auch die Moderne führt bekanntlich Beschwerde über die Mangelhaftigkeit sprachlicher Ausdrucksmittel, die hinter ihrem intendierten Gehalt zurückbleiben. Dieser Mangel steigert sich zuweilen zu einer metaphysischen Verzweiflung darüber, dass die Sprache das eigentlich zu Sagende immer und notwendigerweise verfehlt; er kann aber auch als ein eher technisches Problem aufgefasst werden und sich auf die Unmöglichkeit beziehen, einen Gedanken, ein Gefühl oder eine Wahrnehmung, und sei es die Wahrnehmung eines individuellen Gesichts, in ihrem vollen Umfang in Worte zu fassen.

Schon aus solchen Diskussionen wird offenkundig, dass zwischen mentalen Prozessen und ihrer sprachlichen Artikulation, anders als man gemeinhin annimmt, kein Abbildverhältnis besteht. Vorstellungen in Worte zu kleiden heißt nicht, zwischen zwei gegebenen Mengen eine (begrenzte) Isomorphie herzustellen. Vorstellungsmenge und Wortmenge decken sich nicht, sondern bilden unübersetzbare Überschüsse auf der einen wie auf der anderen Seite. Und so situiert sich jeder noch so schlichte Sprechakt innerhalb der Schwankungsbreite zwischen dem Exzess der Sprache und dem Unmaß der Vorstellungswelt.

Sosehr das Erzählen sich in der Unendlichkeit sprachlicher Möglichkeiten entfaltet, an seinem Anfang – gleichsam als Einlasstor – steht der Vorgang der Reduktion. Verglichen mit den menschlichen Sinnen, ist die Zunge ein träges und schwerfälliges Organ. Was über einen Gegenstand ausgesagt werden kann, ist gegenüber seinem Wahrnehmungsbild in hohem Maß ungenau, unvollständig und ergänzungsbedürftig. Mögen räumlich-visuelle Eindrücke noch halbwegs detailliert übermittelbar sein, bei weniger distanten Sinnesreizen wie Geschmack und Geruch geht die Rate der sprachlichen Übersetzbarkeit gegen null. Doch auch im visuellen Bereich kommt letztlich das Sagen ohne das Zeigen, also ohne Zuhilfenahme extralinguistischer Evidenzen, nicht aus.[39] Wie jede sprachliche Information nimmt das Erzählen stillschweigend auf einen Fundus an sensorischen und praktischen Erfahrungen Bezug; es muss in vieler Hinsicht ein unartikuliertes Vorwissen aufrufen können, wenn es sich seinem Adressaten erfolgreich mitteilen will. Was im Lichtkegel der sprachlichen Darstellung erscheint, gewinnt Kontur durch das Halbdunkel einer nur undeutlich gestalthaften, niemals vollständig verbalisierbaren Umgebung. Um jeden ausgesprochenen Satz breitet sich ein Hof von Ahnungen aus, die in die unterschiedlichsten Körper-, Sinnes- und Gedächtnisregionen hinausdeuten.

So betrachtet, scheint erzählerische Reduktion aus der Not des Mangels geboren. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Sprache ein unvollkommenes, von einem bestimmten Punkt an unselbständiges Kommunikationsmedium und dass nur ein kleinster Bruchteil von Vorgängen in der Welt erzählbar beziehungsweise erzählenswert ist. Mit diesem beiderseitigen Befremden zwischen Sprache und Welt hat jeder Erzähler zu kämpfen. Indessen birgt die dadurch bedingte Restriktion auch ein schöpferisches Moment. Zum einen liegt eine große Energieersparnis darin, dass nicht immer auch alle mitlaufenden Vorstellungskomponenten ins Licht gerückt werden – was in letzter Konsequenz zu einem sprachlichen Infarkt führen würde. Zum anderen jedoch werden Aufmerksamkeit, Anteilnahme und affektive Besetzung durch den selektiven Charakter dessen, was Einlass in die sprachliche Darstellung findet, gebündelt und intensiviert. Man könnte sagen, die eingesparte Energie werde in Formungsenergie umgewandelt. Das Nadelöhr der Versprachlichung lässt nichts herein, als was den Fortgang der jeweiligen Geschichte befeuert. Darin sind – jedenfalls auf den ersten Blick – erzähltes und gelebtes Leben unterschieden. »[…] in a good story«, so formuliert dies der Erzähltheoretiker David Carr, »all the extraneous noise is cut out. That is, we the audience are told by the story-teller just what is necessary to ›further the plot‹. A selection is made of all events and actions the characters may engage in, and only a small minority finds its way into the story. In life, by contrast, everything is left in; all the static is there.«[40]

II.2Schemabildung

Erzählen ist eine hochgradig selektive Tätigkeit. Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus. Wie diese Selektion im Einzelnen vor sich geht, hängt unter anderem von den Erfordernissen des jeweiligen Plots ab. Dessen Gestaltung ist aber nicht vollkommen willkürlich; kommunikativ erfolgreiche Plots müssen sich der Voreinstellung der Adressaten anbequemen. Erzähltechnische Experimentreihen ergeben, dass Probanden »easily recognize familiar narratives and unproblematically accept, and even reconstruct, their structure«.[41] Läuft eine Geschichte jedoch solchen Vertrautheitserwartungen entgegen, wird sie im Rezeptionsprozess entsprechend umgeschrieben und eingespielten Erzählmustern angepasst. Erzählmuster funktionieren also auf sprachlicher Ebene ähnlich wie kognitive Schemata, die es erlauben, die Überfülle unsortierter empirischer Daten auf typenhafte, leicht wiedererkennbare Formen zurückzuführen, Unbekanntes an Bekanntes zu assimilieren, Abweichungen zu tilgen und überschüssige Details auszublenden.[42] Beides sind Techniken der Komplexitätsreduktion, die zwar zu vielen Fehlleistungen führen, deren großer ökonomischer Vorteil aber darin besteht, dass sie Zeit und Aufwand verringern.

Schematisches Erkennen beruht auf Erwartungen.[43] Von taxonomischen oder seriellen Ordnungen unterscheidet sich das Schema durch die doppelte Verknüpfung seiner Elemente.[44] Taxonomien organisieren sich allein über den vertikalen Bezug der ansonsten unverbundenen Einzelelemente auf den übergeordneten Begriff; Serien kennen nur die horizontale Abfolge. Im Schema dagegen beziehen sich die Elemente einerseits in einer Sequenz aufeinander, andererseits stehen sie in einem Verhältnis von Teil und Ganzem zur Einheit der schematischen Struktur. Ein Plotschema etwa besteht als eine Folge von Ereignissen, die mit einer gewissen Konsequenz auseinander hervorgehen und zugleich in ihrer Gesamtheit eine episodische Einheit bilden, die mithin sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch verstrebt sind. Schematische Ordnungen sind deshalb in einem stärkeren Maß integriert als bloße Serien und Taxonomien, ohne darum unflexibel zu sein: Leicht können einzelne Elemente ausgetauscht oder vernachlässigt werden, solange die Einheit des Schemas nicht in Gefahr gerät. Ein stabiles Handlungsschema entlastet davon, jeden einzelnen Handlungszug zu motivieren. »It provides such a strong basis for coherence that one can leave out all explicit reference to causal and temporal connections from the surface structure, yet leave the narrative comprehensible; the schema itself provides the connectives missing from the surface.«[45] Umgekehrt kann eine verstärkte Binnenmotivierung zwischen den Elementen die Aufmerksamkeit vom Schema als solchem abziehen und dessen Funktion als eine alles übergreifende und verbindende Klammer entlasten. Schemata sind also Dispositive von einem mittleren Härtegrad, insofern sie die in ihnen enthaltenen Elemente konfigurieren, aber nicht bis ins Letzte festschreiben.

Für erzählerische Generalisierungen dieses Typs wird im Folgenden der Begriff des Narrativs vorbehalten, im Unterschied zur unabzählbaren Vielfalt individueller Geschichten (im Sinn von stories). Einzelne Erzähltexte können außerordentlich verwickelten Bauplänen folgen; ihre kommunikative Verbreitung und soziale Verhandelbarkeit hängen jedoch davon ab, in welchem Maß sie dem Grundmuster eines gebräuchlichen Narrativs gehorchen – oder sich nach dessen Vorgaben fehldeuten lassen.

Im Gegensatz zu den umfangreichen Testserien, wie sie etwa der Gestaltpsychologie zugrunde liegen, scheint bisher vergleichsweise wenig experimentelle Forschung auf die Schemabildung durch Erzählketten verwandt worden zu sein. Die zugrundeliegenden Fragen jedoch, etwa nach den Gestaltgesetzen der Wahrnehmung und nach der Funktionsweise sprachlicher Repräsentationen, haben durch den Aufschwung von Hirnforschung und Neurowissenschaften neue Brisanz erlangt. Von dorther wird der Ansatz bestärkt, dass Wahrnehmungs- wie Sprachmuster mentale Konstrukte sind, die aus einer unendlichen Flut von Sinnesdaten relevante Informationen herauspräparieren.[46] Zwischen Neurolinguistik, Evolutionspsychologie und Erzähltheorie öffnet sich hier, trotz divergenter Herangehensweisen, ein breites gemeinsames Forschungsfeld.

In einer 1932 erstmals veröffentlichten Pionierstudie hat Frederic C. Bartlett die Vergleichbarkeit visueller und narrativer Gedächtnistechniken demonstriert. Kettenexperimente mit aus dem Gedächtnis nachgezeichneten Vorlagen zeigen, wie sich der ursprüngliche Gegenstand schrittweise an eine Darstellungskonvention angleicht, die in der Gruppe der Probanden geläufig ist, und zwar vor allem mittels Weglassung und Vereinfachung. Die generelle Tendenz führt also von einem (unidentifizierbaren) visuellen Objekt zum kulturell codierten Piktogramm. Eine besondere Rolle spielt dabei die Neigung, einem amorphen Gebilde durch Namengebung gestalthafte Qualitäten zu leihen und es dann in Angleichung an das benannte Objekt zu reproduzieren – gegenläufigen empirischen Evidenzen zum Trotz.[47]

Auf analoge Weise kommen Konventionalisierungen im Medium des Erzählens zustande; auch sie sind »produced by a combination of innumerable small changes introduced by a large number of individuals«.[48] Dieser Vorgang ist am besten in Szenarien des Kulturtransfers zu beobachten – dort nämlich, wo »cultural materials coming into a group from outside are gradually worked into a pattern of a relatively stable kind distinctive of that group. The new material is assimilated to the persistent past of the group to which it comes.«[49] Kulturelle Assimilation vollzieht sich zu einem guten Teil durch Anverwandlung fremder Stoffe in die eigenen Erzählmuster, die ihrerseits Ausdruck einer »beharrlichen Vergangenheit« des jeweiligen Kollektivs sind.

Systematische Experimente dieser Art könnten wichtige Aufschlüsse darüber bieten, welche »familiar narratives«[50] als Attraktoren in der Kette der Weitererzählungen wirken und welche Teile des Plots als deviantes oder abgestorbenes Material ausscheiden. Mit einem geeigneten experimentellen Design ließen sich auf diese Weise – in Abhängigkeit von Faktoren wie Gruppenstruktur, Vorbildung und kulturellem Kontext – die Mechanismen einer kollektiven Übereignung und ›Verdauung‹ von Erzählstoffen exakter bestimmen. Äußerlich würde diese Versuchsanordnung einem Stille-Post-Spiel entsprechen, nur mit dem umgekehrten Effekt. Legt man nämlich die bisher aufgestellten Prinzipien zugrunde,[51] so käme am Ende nicht eine ›verrücktere‹ Botschaft heraus, als ursprünglich in die Nachrichtenkette eingespeist wurde, sondern es würde sich durch Ausdünnung und Anpassung des Erzählstoffs immer wieder ein altbekanntes narratives Grundmuster abzeichnen. Das Erzählen wäre hier also weniger ein Transportmittel als ein Filter. Mindestens ebenso wichtig wie seine Mitteilungsfunktion ist seine Eigenschaft, Wissen von geringerer Relevanz oder zu hoher Komplexität nicht weiterzugeben. Es gewinnt seine formende Kraft durch Aussparung dessen, was sich als kommunikativ ungeeignet erweist. Dadurch entlastet es die Kommunikation von der Gefahr eines information overflow – allerdings um den Preis der Verarmung ihrer Inhalte.

Dem Zweck der Aufwandsminderung dient indessen auch das scheinbar entgegengesetzte Verfahren, unvollständige Schemata den rezeptiven Voreinstellungen entsprechend zu ergänzen. Denn es kostet weniger Aufmerksamkeit und psychische Energie, eine stabile Erwartung bestätigt zu finden, als sich mit Lücken, sperrigen oder regelwidrigen Details aufzuhalten. Auch die Zutat kann eine Ersparnis bedeuten, sofern sie ein bereitstehendes Schema komplettiert. Schemabildung beruht mithin auf drei Grundvorgängen: Verknappung, Angleichung, Vervollständigung.

Die kognitionspsychologischen Untersuchungen zu diesem Thema heben die Rolle hervor, die das menschliche Gedächtnis im Selektions- und Adaptionsprozess des Weitererzählens einnimmt. Mnemonische und narrative Strukturen scheinen gewissermaßen Hand in Hand zu arbeiten.[52] Narrative verfestigen sich entsprechend der Einprägsamkeit ihrer Züge; das Gedächtnis seinerseits macht von der Fähigkeit des Erzählens Gebrauch, »to organize large amounts of information in coherent fashion«.[53] Menschen legen sich ihre Erinnerungen nach einem »story schema« zurecht, das sie wie einen Satz von Lesezeichen verwenden. »When they cannot recall a particular aspect of the story«, heißt es in einer Studie von Mandler und Johnson aus den siebziger Jahren dazu, »they can use the schema to reconstruct what might have occurred at that point. This general notion also accounts for the increasing regularization of irregular stories over time: Recall comes to approximate the idealized schema more than the actual form of the input.«[54] Derselbe Schematismus wird für das Einprägen von Erzählstoffen verwendet. Während das unmittelbare Verstehen die »twists and turns« schwieriger Texte noch bewältigen kann, sind die Akte des Einprägens und Erinnerns stärkeren Beschränkungen ausgesetzt. »Memory is less rich and flexible. Not only does memory simplify, but material presented in an unusual sequence will gradually conform to a more logical structure than the one constructed during input.«[55]

Das menschliche Gedächtnis ist demzufolge ein großer Gleichmacher und Vereinfacher; entsprechend müsste der Anpassungsdruck auf Erzählungen wachsen, je häufiger und je länger sie memoriert werden. Zu dieser Annahme passt die Beobachtung, dass mündliche Überlieferungen, die ganz von der Merkfähigkeit einzelner Personen abhängig sind, zu einem stark formularischen Sprachgebrauch neigen. Dies lässt wiederum Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Gedächtnisses zu:

Such stories, which stem from an oral tradition, have very similar and unusually clear structural characteristics compared to many other types of prose. The reason seems obvious. If a story is not written down but is preserved only through retelling, it must respect the limitations on memory. We assume that an orally transmitted story will survive only if it conforms to an ideal schema in the first place or has gradually attained such a structure through repeated retellings. Thus, the structure of a folkstory must be one which has been influenced by what people can remember.[56]

Die einfache Struktur solcher mündlich überlieferter Geschichten hindert nicht daran, sie im Einzelfall je nach Bedarf frei zu variieren und auszuschmücken. Es gilt also zu unterscheiden zwischen dem Erzählformular einerseits und andererseits der individuellen Art, das Formular ›auszufüllen‹. Das Schema bietet dem Erzähler nur ein Gerüst, eine Abfolge von Handlungsknoten und aus diesen gebildeten Episoden, von denen nicht viel weggelassen werden darf, soll der Aufbau und Sinn der Geschichte nicht empfindlich gestört werden. Als »ideales« Schema wird es durch die Erzählkette weitergereicht, während es dem geschickten Erzähler obliegt, seine aktuelle Ausführung mit den Umständen an Ort und Stelle, den Wünschen des Publikums etc. in Einklang zu bringen.

Damit gerät eine weitere Variable in den Blick, nämlich das Medium der Erzählung. Kommunikationsmedien nehmen das menschliche Gedächtnis auf unterschiedliche Weise in Anspruch, ganz abgesehen davon, dass sie über gesonderte Funktions- und Speichergedächtnisse verfügen. Die natürliche Gedächtnisleistung von Menschen ist begrenzt und zudem, nach allem bisher Gesagten, in hohem Maß strukturkonservativ. Das wirkt sich am stärksten auf die mündliche Überlieferung aus, während technische Medien wie die Schrift auf eigene Archive zugreifen und so ihre Binnenkomplexität steigern können. Aber sobald die in den Archiven schlummernden Texte, Bilder, Filme zum Leben erweckt und in den sozialen Umlauf eingespeist werden, sind sie den Bedingungen offener zwischenmenschlicher Kommunikation anheimgegeben. Deren Organon ist die Umgangssprache, ihr Modus Mündlichkeit – selbst wenn die ursprünglichste Form der Interaktion, Mündlichkeit zwischen Anwesenden, seit langem von vielfältigen Formen sekundärer oder Quasi-Oralität überlagert wird.

An irgendeinem Punkt werden also auch diejenigen textuellen Gebilde, die in abgesonderten Spezialistenmilieus entstanden und einen entsprechend hohen Grad an Differenzierung und Nuanciertheit erreicht haben, durch den Engpass einer alltagskulturellen Anverwandlung geschickt. Dort erfahren sie eine ähnliche Reduktion, wie sie für rein mündliche Überlieferungsketten typisch ist. (Mit welchem erheblichen Schwund dabei zu rechnen ist, zeigt die tägliche Erfahrung, etwa beim Nacherzählen eines wenige Stunden zuvor gelesenen Zeitungsartikels.) Sie werden gemäß den Kapazitäten des Alltagsgesprächs, seiner knappen Ressourcen an Aufmerksamkeit und Erinnerungsvermögen, kleingearbeitet. Dafür gibt es diverse Verfahren: verallgemeinernde Redensarten, Aufruf von Stereotypen und assoziationsträchtigen Schlagworten, Verwendung von dehnbaren Generalklauseln, Abkürzungen und Auslassungen, aber eben auch Vervollständigungen hin zu einem sozusagen gewohnheitsrechtlich prästabilierten Sinn. Geleistet wird damit zweierlei, sowohl die Abwehr von (ungestalteter) Turbulenz als auch der Abbau von (gestalteter) Komplexität. All diese Verfahrensweisen lassen sich effizient in einem von den verschiedensten Sprechern aufrufbaren Narrativ zusammenführen, dessen Grobstruktur Festigkeit bietet, während es zugleich eine große Varietät von Einzelfällen unter sich subsumiert.

Man macht sich wohl kein ganz falsches Bild von den Mechanismen alltagskultureller Wissensverarbeitung, wenn man sie mit der Diffusionsweise von Gerüchten vergleicht. Gerüchte entstehen, »wenn alle Menschen sprechen und erzählen wollen, ohne den Gegenstand ihrer Darstellung zu kennen«,[57] wenn die Verbreitung von Nachrichten durch Hast und Vorläufigkeit geprägt und die Nachrichtenlage entsprechend instabil ist. Zwar saugen Gerüchte gierig alle Arten von Information auf, doch wäre selten ein Akteur in der Gerüchtekette imstande, deren Quelle und Zuverlässigkeit persönlich zu überprüfen. Ob ihr Inhalt wahr oder falsch ist, lässt sich zum gegebenen Zeitpunkt nicht entscheiden. Es macht gerade das Wesen des Gerüchts aus, dass es die Unterscheidung zwischen bloßem Hörensagen und echter Information, die im Nachhinein sehr wohl möglich und folgenreich sein wird, suspendiert. Gerüchtekommunikation wird nicht durch eigenes Wissen verbürgt, sondern – wie der Mythos[58] – durch den Glauben, dass alle anderen daran glauben; eine Annahme, der sich in der wechselseitigen Spiegelung der Kommunikanten zu bewahrheiten scheint.[59] Vor vereinzelten Einsprüchen weicht das Gerücht ins Ungefähre aus, während es der Struktur der eigenen Botschaft nach auf suggestive Weise einschränkend und selektiv wirkt. Insofern erbringt es, trotz seines gegenteiligen Rufes, eine wichtige kognitive Leistung, die darin besteht, in einer Phase oder Zone unvollständigen Wissens »Wahrscheinlichkeiten herzustellen anstatt Unklarheit, Unsicherheit, Ambiguität«.[60] Das hängt mit dem in die Verbreitungsweise von Gerüchten eingebauten Selbststärkungsmechanismus zusammen. Bekanntlich wirken Gerüchte ansteckend, sie pflanzen sich im Medium von Ähnlichkeit und assoziativer Nachbarschaft fort, so wie eine in Alltagskonversationen erzählte Geschichte die zustimmende Mitteilung einer zweiten, ähnlich gelagerten Anekdote nach sich zieht. Diese Art der Ausdehnung über mimetische Resonanz hat eine doppelte Folge. Zum einen erhöht sie, jedenfalls kurzzeitig, den Grad an kollektiver Erregung, was sich wiederum förderlich auf die Reichweite und Verbreitungsgeschwindigkeit von Gerüchten auswirkt. Zum anderen nutzt sie – wie Strom auf dem Weg des geringsten Widerstandes – all jene affektbesetzten Vorurteile und Wahrnehmungskonventionen, die sich innerhalb der jeweiligen Bezugsgruppe am mühelosesten verbreiten.

Wie sich in solchen Fällen die Sozialdimension des kommunizierten Wissens auf Kosten seiner Sachdimension verselbständigt, soll später noch ausführlicher erörtert werden.[61] An dieser Stelle geht es zunächst nur um die Transformationen, denen das artikulierte Wissen einzelner Akteure bzw. Akteursgruppen ausgesetzt ist, wenn es als allgemeiner Gesprächsstoff durch den Kanal des Hörensagens vergesellschaftet wird. Das Universalmedium, in dem dieser Vorgang sich abspielt, ist die natürliche Sprache. Die entscheidenden Verhandlungen einer Kultur werden im weitesten Sinn des Wortes umgangssprachlich geführt. Zwar gibt es, zumal in entwickelten Gesellschaften, viele Funktionsbereiche, deren Akteure sich in Spezialsprachen miteinander verständigen, die für Außenstehende mehr oder weniger unverständlich sind. Aber es existiert doch immer eine Art allgemeiner Verkehrszone, in der sich die Sprecher der unterschiedlichen Idiome begegnen und in eine öffentliche Auseinandersetzung eintreten, deren Universalmedium eine natürliche Sprache ist (oder ein Gefüge aus mehreren, partiell ineinander übersetzbaren natürlichen Sprachen).

So muss selbst kultisches Geheimwissen in irgendeiner Form in die Welt der Gläubigen hinein vermittelt werden; Gerichtsurteile, die aufgrund komplizierter formaljuristischer Abwägungen zustande kommen, müssen erklärbar sein; politische Programme, die nicht zu eingängigen Slogans verknappt werden können, lassen sich in einer breiteren Wählerschaft kaum durchsetzen; Fachwissen bedarf der Popularisierung, um gesellschaftliche Akzeptanz zu erringen; umgekehrt werden etwa die Variablen abstrakter ökonomischer Modellrechnungen durch alltagsweltliche Vorannahmen mitbeeinflusst – wie überhaupt selbst stark formalisierte Wissenssysteme gegenüber der Lebenswelt ihrer Bewirtschafter sehr viel durchlässiger sind, als es sich die Beteiligten gewöhnlich eingestehen. Noch der Diskurs der Spezialisten wächst aus dem Kommunikationsraum der Gesamtgesellschaft hervor und wirkt auf ihn zurück. In dieser allgemeinen Verkehrszone stoßen die Ansprüche und Rationalitäten der funktionssprachlichen Sonderwelten gegeneinander, werden politisch verrechnet oder eskalieren zu einem Konflikt. Sogar Konfliktparteien benötigen indessen eine wie auch immer rudimentäre gemeinsame Sprache, die sie immerhin in die Lage versetzt, sich auf artikulierte Weise misszuverstehen.

Erzählungen gedeihen im Medium sozial geteilten Wissens. So kunstvoll sie sein mögen, sie beruhen in der Regel weitestgehend auf dem Wortschatz von Umgangssprachen. Erzählt werden kann jedenfalls nur das und all das, was in natürliche Sprachen übersetzt werden kann. Tatsächlich bestand ein wichtiger Antrieb für die Ausbildung von Formalsprachen darin, etwa im Entstehungsprozess der neuzeitlichen Naturwissenschaften, unberufene Mitsprache zu beschränken. Das hieß vor allem, erzählerischen Entgrenzungen zwischen Alltags- und Fachwissen, den Metamorphosen des Gerüchts und der freien Assoziation, einen Riegel vorzuschieben. Im Unterschied zu den meisten Techniken der Wissensverarbeitung hat das Erzählen keinen oder nur einen äußerst unvollständigen Prozess der Spezialisierung durchlaufen. Man könnte auch sagen, es habe der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, wo sie stattfand, erfolgreich widerstanden.

So betrachtet, stellt das Erzählen ein in hohem Maß unspezifisches Medium dar. Auch wo es sich in exklusiven künstlerischen Genres ausprägt und eine entsprechende Raffinesse erreicht, bewahrt es einen Zug ins Informelle und bleibt insoweit der Alltagskommunikation nahe. Es bildet eher ein Sammelbecken von Redeweisen als eine Gattungsform im strikten Sinn; seine kulturelle Leistung liegt weniger im Trennen als im Verbinden. Das Erzählen ist, wenn man so will, eine demokratische Kunst, deren Integrationskraft darauf beruht, dass es im Gegensatz zu anderen Wortkünsten nur geringe formale Hürden aufbaut.

Dieser informellen und in gewisser Weise einladenden Offenheit steht jedoch die Gravitationskraft bestimmter kulturprägender Narrative entgegen. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen ›Schauseite‹ und Tiefenstruktur. Die Buntheit der Erzähloberfläche, in der die Turbulenzen der Welt ›draußen‹ nachklingen, wird durch Reduktion auf wiederkehrende Grundmuster gleichsam ausgefiltert – ein Prozess der Akkomodation, der das Neue, das jeden Augenblick aufglüht und vergeht, in die langsamere, gleichförmigere Arbeit der kulturellen Semiosis überführt.

II.3Redundanz und Variation

wechselnde Einstellungen: Näheerzeugung, Distanzgewinn

Die kollektive Anverwandlung von erzähltem Wissen lässt sich auch in ihrer räumlichen Dimensionierung beschreiben, nach Art einer Wegekarte von unzähligen Itineraren, auf denen Erzählstoffe den sozialen Raum durchkreuzen, teils diffundieren und alle möglichen Kombinationen eingehen, teils verschwinden oder sich als Nischennarrative festsetzen. Über die Reichweite von Narrativen entscheidet wiederum ihre Eignung zur Amplifikation, zur Ausweitung auf ein von einer größeren Referenzgruppe geteiltes Wissen und Empfinden.[62] Während einerseits ein ständiger Zustrom von Begebenheiten narrativ zu bewältigen ist und infolgedessen immer neue Geschichten entstehen, nimmt mit wachsender Entfernung vom Erzählanlass und mit nachlassendem Interesse der Druck auf konventionalisierende Verknappung hin zu. Die Anverwandlung von Erzählstoffen spielt sich also im Gefälle zwischen individueller story und überindividuellem Erzählschema ab. Für die Betroffenen (etwa: bei einem Autounfall von Angehörigen) geht es um den Einzelfall unter Ausbreitung aller konkreten Umstände; Fernstehenden reicht es, das narrative Skelett (»es ist immer dieselbe Geschichte, junge Leute nachts auf dem Heimweg«) mitzuteilen. Wie jedermann aus der Erfahrung mit redseligen Nachbarn weiß, geht Erzählen mit Relevanzzumutung einher. Ob etwas für den Zuhörer erzählwürdig scheint oder nicht, ist in hohem Maß relativ und hängt von zwei Faktoren ab: in der Sache von der Resonanz mit eigenen Erfahrungen, Wünschen und Ängsten; kommunikativ von der Nähe zum Erzähler und der damit verbundenen Bereitschaft zur Empathie. Die Reduktion auf die schematische Grundformel des Erzählten steht hier im Dienst von Empathieentzug, Distanzgewinn und Vergleichgültigung. Die episodische Dichte nimmt ab, der Schauplatz wird unspezifisch, die handelnden Personen verlieren oder variieren ihren Eigennamen und verschwinden in Rollenstereotypen. Die anfangs mit einer Fülle von lebhaften Details ausgestattete Geschichte schrumpft zu einer Sequenz von wenigen allgemeinen Merkzeichen zusammen, die auch in einer anderen Version erzählt werden könnte.

In diesem Verarbeitungsprozess wechseln Erzählungen ihre Temperatur und ihre Funktion. Die Schilderung einer singulären Ereignisfolge geht entweder in exemplarisches oder in summarisches Erzählen über, wird also entweder in die Form ›ein Fall für viele‹ gebracht oder unter ein unspezifisches Ganzes subsumiert. Alle drei Subgenres lassen Anschlussoperationen zu, wenngleich jeweils auf andere Art. Die Nacherzählung einer einzigartigen Begebenheit lädt dazu ein, den Erregungszustand der kommunikativen Situation aufrechtzuerhalten, um ähnliche oder sonst in einem Zusammenhang stehende Begebenheiten anzuknüpfen. Eine exemplarische Darstellung bewegt sich in der Spannung zwischen dem anschaulichen Fallbeispiel einerseits und seinen in einem weiteren Horizont signifikanten Merkmalen auf der anderen Seite; ausgehend von dem jeweiligen individuellen Kern leitet sie zu verallgemeinernden Ausdeutungen und Belehrungen an. Während exemplarisches Erzählen seinen Gegenstand semantisch verdichtet, vermindert ein bloß summarischer Bericht die erzählerische Energie. Er ist deshalb am ehesten geeignet, die Inanspruchnahme durch das Einzelgeschehen zurückzudämmen – was im Gegenzug einen freieren Umgang mit dem mitgeteilten Inhalt ermöglicht. Denn je größer die Distanzen sind, die ein Erzählstoff zurücklegt, desto mehr geht er, was seine ursprünglichen Entstehungsumstände betrifft, in einen verwandlungsfähigen Aggregatzustand über. Indessen kann der Verlust an Bestimmtheit dadurch ausgeglichen werden, dass die von ihren Entstehungsumständen abgerückte Erzählung für Vorstellungsmaterial anderen Ursprungs empfänglich wird und sich damit amalgamiert. Weitererzählen heißt Entdifferenzierung der auf diesem Weg mitgeteilten Wissensbestände; Entdifferenzierung öffnet das semantische Feld und erhöht die Konnektivität in der Kontaktzone sozialer Sphären.

Damit ist eine sehr grundsätzliche Problematik berührt. Will man in der hier angedeuteten Weise die semiotischen Mechanismen beschreiben, die in einer Kultur am Werk sind, dann kann man sich nicht mit der Prämisse der soziologischen Systemtheorie zufriedengeben, der zufolge Gesellschaften durch einen einheitlichen Grundtypus von Differenzierung geprägt und als ganze in geringerem oder stärkerem Maß ›ausdifferenziert‹ sind. Stattdessen gilt es, das semiotechnische Zusammenspiel und die wechselseitige Bedingtheit von Differenzierung und Entdifferenzierung zu untersuchen. Dazu empfiehlt es sich, vom Begriff des Systems auf den des Feldes umzustellen. Diesem Ansatz liegen zwei Beobachtungen zugrunde: erstens, dass Differenzierung und Entdifferenzierung ungleichmäßig im semiotischen Feld verteilt sind; und zweitens, dass jede Gesellschaft Zonen und Praktiken der Entdifferenzierung benötigt – nicht zuletzt, damit die Funktionscodes und Differenzierungsstile der diversen sozialen Systeme überhaupt miteinander in Austausch treten können. Gerade dort, wo sich Differenzierungen auflösen oder noch nicht fixiert sind, wo sich alle Unterteilungen als vorläufig erweisen, wird gesellschaftliche Selbstverständigung möglich. Und diese Selbstverständigung, das Aushandeln von sozialem Sinn über Funktionsgrenzen und definitorische Hoheiten hinweg, bedient sich in weiten Teilen der Technik des Erzählens.[63]

Differenzierungsleistungen setzen einen gesteigerten Artikulationswillen voraus. Sie bauen sich ab, sobald die dafür nötige Energie nicht mehr aufgebracht wird. Wo keine besonderen Einrichtungen getroffen werden, vermindert sich der Komplexitätsgrad des sprachlich vergegenwärtigten Wissens. Es gerät dann leicht in den Gravitationsbereich eines eingängigeren Narrativs, das auf weniger aufwendige Weise kognitive Klarheit verheißt und überdies den Vorteil bietet, von einer größeren Gruppe geteilt werden zu können, also den Bedingungen des kommunikativen Alltagsverkehrs bequemer zu entsprechen.

Einer solchen Sichtweise gemäß stellt sich gesellschaftliche Kommunikation als Verteilungskampf nicht um materielle Ressourcen, sondern um Artikulationschancen dar. Dieser Kampf findet an zwei Fronten statt. Zum einen wird darum gerungen, wer die Definitionshoheit über die kulturell prägenden Narrative erringt oder sie am geschicktesten für seine Zwecke zu usurpieren versteht. Zum anderen aber müssen sich die Parteien auch den Abstand von narrativen Generalisierungen erstreiten, wollen sie einem komplexen Anliegen Aufmerksamkeit verschaffen und es gegen die allgemeine Tendenz zur Desartikulation behaupten. Individuen machen mit entsprechendem Darstellungsaufwand ihre Einzigartigkeit geltend, Betroffene ihren besonderen Fall. Gruppen errichten soziale Barrieren, um der Kommunikation ihrer Mitglieder erhöhte Relevanz zuzusichern. Ganze Wissenssysteme sondern sich ab, die höhere Ansprüche an Nuanciertheit, Kohärenz und formale Strenge erheben, als umgangssprachlich erreichbar wäre. Soziale und linguistische Ausdifferenzierung gehen hier Hand in Hand, denn solche Systeme können sich nur durch Exklusivität und Ausbildung eigener Funktionsrollen aufrechterhalten.[64] In Reaktion darauf machen sich an den Rändern derartiger Wissensregimes entropische Regungen breit, die sich parasitär an die im Innern gepflegte Hochsemantik heften und sie kommunikativ verflüssigen (oder zersetzen). Das ist an vielen Orten beobachtbar, vor allem in dem Schwellenbereich von Räumen, in denen konzentrierte Disziplin gefordert ist: an den Ausgängen von Kirchen, Schulen oder Hörsälen ebenso wie auf Internetforen, auf denen komplexe Themen durch Zerreden vergemeinschaftet werden. Hieraus ließen sich, aber das ist ein anderes Thema, Rückschlüsse auf die soziale Funktion von Klatsch ebenso wie von Nonsense und Albernheit ziehen.[65]

Die Widerstände gegen Differenziertheit – in Hinsicht auf Zeit, Infrastruktur, Personal, Kosten, Energie – sind einer der Gründe dafür, warum Lernprozesse selten nachhaltig wirken und warum sich bei erlahmender Anstrengung überwunden geglaubte Vorurteile unbeschadet wiederherstellen, die ja nichts anderes als primitive Erzählschemata sind. Zwar besteht eine wichtige Rolle von Expertenkulturen darin, gängige Narrative in Frage zu stellen, überhaupt die vorschnelle erzählerische Konstruktion von Kausalitäten zu durchkreuzen. Aber erstens ist einem machtvollen Narrativ, an das sich Interessen oder starke affektive Besetzungen knüpfen, durch einfache Falsifikation in der Regel nicht beizukommen. Zweitens wird häufig die differenziertere Sichtweise nicht als ein Wissen höherer Art, sondern als ein anderes ›Sprachspiel‹ aufgefasst, das in einem fremden Bezugsfeld situiert und deshalb für die eigene Erzählwelt irrelevant ist. Drittens sind viele Narrative (vor allem solche, die man als Verschwörungstheorien bezeichnet) so flexibel und raffiniert, dass sie sogar ihre ›Gegendarstellung‹ mühelos in die scheinbar zwingende Logik der eigenen fabula integrieren, ja dass sie durch Widerspruch eher stärker als schwächer werden. Viertens schließlich bleibt auch das Wissen der Spezialisten begrenzt; es ist, wo auch immer es ansetzt, von einem Meer von Halb- und Unwissen umgeben. Keine kulturelle Synthese ist imstande, allein die hellen Zonen der Expertisen aneinanderzufügen und so einen Raum lückenloser Gewissheit zu schaffen. Überhaupt stehen Wissen und Ignoranz in einer intrikaten, allem Anschein nach unauflöslichen Wechselwirkung miteinander: Der Zuwachs an Wissen mag bisheriges Nichtwissen vermindern, treibt aber neues hervor.[66]

So könnte es sich erklären, dass außerhalb von Expertenmilieus, die auf hohe Komplexität geeicht sind und dafür eigene, von der Umgangssprache abgelöste Idiome erfinden, die Wahrnehmung und Beantwortung von Problemen selten über vorher feststehende kulturelle Grundeinstellungen hinausreicht und ein bestimmtes Niveau kollektiver Intelligenz nicht überschreitet. Jedenfalls ist diese kollektive Intelligenz durch Expertenwissen nur in sehr begrenztem Umfang beeinflussbar und lässt sich nicht durch dessen Anhäufung linear steigern. Ähnlichen Beschränkungen unterliegen die Experten selbst, sobald sie sich aus der Zone ihrer Spezialisierung herauswagen und etwa zu allgemeinen gesellschaftlichen Fragen äußern. In diesem für sie fachlich undefinierten Bereich geraten auch sie in das Gravitationsfeld des kollektiv geteilten Wissens, das eigenen Sprech- und Denkregeln gehorcht, die kein Individuum für sich allein dauerhaft zu durchbrechen vermag. Dort sind sie tendenziell den gleichen kognitiven und semantischen Voreingenommenheiten unterworfen wie jedermann sonst, teilen sich in die gleichen Parteiungen auf und begehen mit derselben Kurzsichtigkeit dieselben Irrtümer.

Nach dem Gesagten kann die Rolle von Erzählungen im sozialen Verkehr schon etwas genauer bestimmt werden. Nur mit einem Bruchteil ihres Volumens erfüllen sie den Zweck, zusätzliches Wissen zu übermitteln. Würde man Erzählungen in ihrem lebensweltlichen Gebrauch daran bemessen, inwieweit sie sich als Vehikel für große Informationsmengen eignen, wäre ihre Effizienz sehr gering. Es ist ein Mythos der klassischen Kommunikationstheorien, dass man vor allem deshalb kommuniziert, um ein Informationsgefälle zu überwinden. Alltagsgespräche lehren das Gegenteil. Eher wäre die Umkehrung richtig: Dank seiner hohen Selektivität befähigt das Erzählen im täglichen Umgang dazu, Kommunikation fortzusetzen, ohne dass diese durch einen Überfluss an unverarbeitbarer Information blockiert wird.

Dass narrative Restriktionen den ›Wirklichkeitsstoff‹ reduzieren und dadurch die Kommunikanten von einem jederzeit drohenden information overload entlasten, bezeichnet indessen nur eine Seite ihrer Wirksamkeit. Positiv gewendet, versorgen sie das Kommunikationssystem mit Redundanz. Sie fassen die unendliche Zahl möglicher Geschichten in wiederkehrende Muster und Abläufe ein. Das hat den Effekt, Streuung in Redundanz zu verwandeln (und dadurch, wie noch zu erörtern sein wird, Interessen, Befindlichkeiten und Affekte zu kanalisieren). Noch genauer: Die einzelnen Geschichten werden zu Unterfunktionen der Redundanz des Schemas selbst; sie setzen dessen Verbreitung in einem bestimmten kulturellen Sektor nicht abstrakt, sondern individuell und anschaulich in Szene.

Es wäre, nebenbei bemerkt, ein interessantes Gedankenexperiment, die Redundanzrate von Kommunikation, angefangen vom Alltagsgespräch über den politischen Diskurs bis hin zu wissenschaftlichen Texten, quantitativ zu bestimmen. Vermutlich liegt sie in allen Fällen bei weit über 90