Heimat am Berg - Hans Ernst - E-Book

Heimat am Berg E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Magdalena ist bei ihrem Großvater in der Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Berge aufgewachsen. Vom Leben weiß sie nichts und so fällt sie auf den egoistischen Toni Bruckner herein, der sie gewissenlos belügt und betrügt. Aus Liebe geht sie sogar für ihn ins Gefängnis. Aber bald schon legt sie alle Naivität ab und geht allein und zielstrebig ihren Weg – bis sie eines Tages den stolzen Gutsbesitzer Hocheder trifft…

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 1998

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelbild: Michael Wolf, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54743-0 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Heimat am Berg

Magdalena ist bei ihrem Großvater in der Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Berge aufgewachsen. Vom Leben weiß sie nichts und so fällt sie auf den egoistischen Toni Bruckner herein, der sie gewissenlos belügt und betrügt. Aus Liebe geht sie sogar für ihn ins Gefängnis.

Aber bald schon legt sie alle Naivität ab und geht allein und zielstrebig ihren Weg – bis sie eines Tages den stolzen Gutsbesitzer Hocheder trifft…

Er geht durch den Wald, sein Rücken ist krumm, sein Gang langsam und schleppend, so, als wollte er eine Spur durch den Wald ziehen, in dem er nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert zu Hause ist. Wenn er stehen bleibt und sein verwittertes Gesicht mit dem weißen Vollbart zu den Wipfeln aufhebt, sieht er beinahe schon selbst aus wie ein Baum, auf den die Sonne scheint oder der Regen tropft, wie es sich gerade ergibt.

Kajetan Rauscher geht täglich durch den Wald, obwohl er nicht mehr der Waldhüter des Barons von Kronstein ist, sondern ein alter Mann, der aus einem vergangenen Jahrhundert übrig geblieben ist und die vertrauten Wege geht, als wolle er feststellen, ob noch die gute alte Ordnung in den Wäldern herrsche, die er so lange behütet hat für einen Mann, der jetzt schon seit zwanzig Jahren im Ausland lebt.

Kajetan hat das Gewehr mit einem knorrigen Wurzelstock vertauscht, mit dem er auf seinen Wegen manchmal einen giftigen Fliegenpilz köpft und den er ansonsten als Spazierstock verwendet. Ja, manchmal ist er mit Gott und sich selbst unzufrieden, seit die Gutsverwaltung in Kronstein ihm gesagt hat, er sei nun zu alt, um den Dienst als Waldhüter noch zu versehen. Man gewährte ihm eine kleine Rente und auch freies Wohnen in der Blockhütte im Frauenwald bis an sein Lebensende. Man sei damit einverstanden, wenn er weiterhin in den Wäldern auf Ordnung sehen wollte und etwaigen Waldfrevel gleich auf der Stelle unterbinde, aber das sei nur sein freier Wille, zwingen könne ihn niemand mehr dazu.

Eigentlich wäre das ein Leben, wie es ihm behagte, man hätte ihm nur nicht sagen dürfen, dass er schon zu alt sei. Bisher hatte er das nicht gespürt, aber seit man es ihm gesagt hat, denkt er dauernd daran, spürt das Reißen in den Gliedern und meint, dass sein Atem nicht mehr so leicht geht wie früher. Und er darf doch wegen Magdalena noch nicht alt sein. Ihr Leben liegt in seinen Händen, er hat es vor den Gefahren dieser Welt zu beschützen, damit sich an dem Kind nicht wiederhole, was der Mutter einst geschehen war.

Seine Tochter hat er mit viel Liebe aufgezogen, es ist eine einfältige, vernarrte Liebe gewesen. Er hat sehr böse werden können, wenn die Frau die Hand zum Schlag gegen die Tochter hat erheben wollen. Aber als es an der Zeit war, wo er für seine Güte und Nachsicht Gehorsam glaubte erwarten zu können, da war er enttäuscht worden. Da ist seine Tochter Barbara schon zu eigensinnig gewesen und hat nicht verstehen wollen, warum sie den jungen Ingenieur vom Stauwerk nicht lieben durfte.

Kajetan Rauschers Haar ist damals grau geworden und er hat sich nie mehr ganz erholt von dem Schlag. So viel ist geschehen seither und er war mit der kleinen Magdalena allein zurückgeblieben. Ein Kind war es, ein Kind in Windeln, ein kleines, hilfloses Geschöpf, das Barabara ihm zurückließ und mit dem er gar nichts anzufangen wusste, als er ein Jahr nach dem Tod seiner Tochter auch seine Frau beerdigen musste.

Damals, als er nach der Beerdigung, die Kleine auf dem Arm, langsam durch den Bergwald zu seiner Hütte hinaufstieg, damals hat er sich geschworen, dass dieses Geschöpf nicht durch seine Schuld und durch eine einfältige Liebe auf den falschen Weg geraten dürfe. Und so hat er Magdalena die ganzen Jahre sehr streng erzogen. Sie ist sein Geschöpf geworden und er will sie nach seinem Willen formen. Er glaubt, dass ihm dies bereits gelungen sei, denn niemals hat Magdalena ihm in den Ohren gelegen, dass sie ein schönes Kleid haben möchte, Schuhe mit hohen Absätzen oder gar Schmuck. Noch nie hat sie verlangt, zum Jahrmarkt zugehen oder ins Dorfhinunter zum Tanz.

Ganz bewusst hat er sie in Kleidung und allen Dingen äußerst knapp gehalten. Sie darf die alten Frauenkleider auftragen, die in der Hütte vorhanden sind. Zuweilen läuft sie wie eine Zigeunerin herum, zerrissen und zerlumpt, ungepflegt und schmutzig. Sie muss schwerste Arbeit tun, Holz sammeln, es aufhacken, Seegras mähen, es trocknen und die drei Stunden Fußmarsch bis zur Kreisstadt Langenau tragen. Wenn er sie so zerlumpt sieht, spürt Kajetan eine wohlige Zufriedenheit und denkt sich, dass sie bei solchem Aussehen kein Lockvogel sein kann, wer immer auch während seiner Abwesenheit an der Hütte im Frauenwald vorbeikommen mag.

Wer verirrt sich auch schon in diese Einsamkeit? Hin und wieder ein Bauer, der Hilfe oder eine Salbe für ein krankes Stück Vieh braucht, auf deren Zubereitung Kajetan sich versteht. Oder der Postbote Adam Rossgotter. Adam aber kommt im Monat auch nur einmal, wenn er Kajetans Rente bringt. Dann schimpft er über den weiten Weg, trinkt den selbst gebrannten Enzian, den Kajetan ihm zu bieten hat, und bleibt oft sehr lange auf der Bank sitzen, weil er sonst keinen Menschen kennt, mit dem er sich in so hitzige Diskussionen einlassen kann wie mit Kajetan Rauscher.

Von Adam erfährt Kajetan dann, was sich im Dorf Mooskirchen und insbesondere auf dem Gutshof Kronstein abspielt. Kajetan braucht nicht danach zu fragen, denn Adam ist von einem Mitteilungsbedürfnis ohnegleichen, wenn er den dritten Enzian getrunken hat.

Als Adam an diesem Monatsersten kommt, erzählt er unter anderem, dass der Herr Baron zurückgekehrt sei. Da hebt Kajetan wie elektrisiert den weißen Schädel.

»So?«, sagt er. »Dann wundert es mich, dass er noch nicht hier war.«

Das ist für Adam der erste Anlass, dem Kajetan eins auszuwischen. »Bild dir nur nicht ein«, sagt er, »dass der Baron deinetwegen aus dem Ausland zurückgekommen ist. Was sollte er auch bei dir?«

»Du darfst nicht vergessen, Adam, dass ich über fünfzig Jahre Hüter seiner Wälder gewesen bin. Als sein Vater mich damals angestellt hat, ist er, mein heutiger Chef, noch in den Windeln gelegen.«

»Das verpflichtet ihn aber zu gar nichts, denn heute liegt er nun einmal nicht mehr in den Windeln und ich glaube auch nicht, dass du ihn damals trockengelegt hast.«

Kajetan schluckt und überlegt, wie er den anderen nun auch treffen könne. Ein paarmal streicht er durch die Bartsträhnen, dann sagt er:

»Du hast Recht, das verpflichtet ihn nicht, mich zu besuchen. Aber ich habe ihm später so manches beigebracht. Unter meiner Anleitung hat er den ersten Zwölfender geschossen. Ich habe ihn gelehrt, wie man ein Fuchseisen stellt, wie man ein Wild weidgerecht aufbricht und wie man eine Rehleber zubereitet. Er ist immer ein guter Mensch gewesen. Aber das verstehst du ja nicht, weil du noch nie für einen Gutsherren gearbeitet hast, sondern immer nur für den Staat.«

Damit hat er nun Adam an der empfindlichsten Stelle getroffen, denn Adam ist auf nichts so stolz wie auf sein Beamtentum. Wir Beamten, sagt er immer und zählt sich ungeniert zu den höheren Staatsbeamten, weil er ja dem Staat dient und nicht wie der Isidor Weindl der kleinen Gemeinde Mooskirchen.

»Über den Staat darfst du mir nichts sagen, Kajetan«, begehrt er auf und schiebt energisch sein blaues Käppi mit der Kokarde aus der Stirn. »Ich habe meinen Eid geleistet und wir Beamten stehen hinter dem Staat, darum kann ...«

Kajetan hat seine Pfeife angezündet und lächelt nun zufrieden hinter den Rauchwolken. Nun hat er den Adam dort, wo er ihn haben will. »Wie viele Eide hast du eigentlich schon geleistet, Adam?«

»Wie viele? Das bleibt sich gleich.«

»Meinst du? Pass einmal auf! Zuerst hast du dem Kaiser einen Eid geleistet. Da will ich noch nichts sagen. Dem habe ich auch einen Eid geleistet, als ich bei den schweren Reitern in Bamberg war. Das war noch der alte Kaiser. Mein Kaiser ist gestorben. Dein Kaiser ist nach Holland gegangen und der Briefträger Adam Rossgotter hat ihn vergessen. Sei nur ruhig, ich weiß schon noch, wie du dir deinen Schnurrbart hast stutzen lassen, weil du nicht mehr aussehen wolltest wie er. Dann hast du der Republik den Eid geleistet und ihn gebrochen, weil dann die ›Tausend Jahre‹ kamen, und diesem Reich hast du dann wieder einen Eid geleistet.«

»Bloß wegen der Pension«, wirft Adam ein, greift aufgeregt nach der Enzianflasche und schenkt sich ein.

»Aha«, sagt Kajetan. »Bloß wegen der Pension. Andere haben es nicht getan und sind auch nicht verhungert. Ja – und dann hast du jetzt wahrscheinlich auch wieder schwören müssen. Oder verlangt der heutige Staat keinen Eid mehr?«

»Warum sagst du mir das eigentlich alles?«

»Weil ich dir beweisen will, dass man Pflichtbewusstsein und Treue nicht gleich immer beeiden muss. »Geh hin und hüte meine Wälder, hat der alte Baron vor fünfzig Jahren zu mir gesagt. Und als er starb, hat der Sohn mir die Hand gedrückt und gesagt: ›Mach nur so weiter, Kajetan, wie bisher.‹ Und ich habe so weitergemacht, bis ich diesen Verwaltungsmenschen da unten in Kronstein zu alt geworden bin. Wann wirst du deinem Staat zu alt?«

»Nächstes Jahr gehe ich in Pension.«

»Dann bist du höchstens fünfundsechzig und jammerst schon, dass der Weg hierher dir Beschwerden macht. Ich aber bin fünfundachtzig und renne den ganzen Tag in den Wäldern herum, weil ich kein Geld einstecken will, das nicht durch eine Gegenleistung verdient ist, weil es sonst wie Gnadenbrot aussieht.«

»Ach, Unsinn«, antwortet Adam zornig, rückt seine Mütze zurecht und steht auf. »Bin neugierig, was du im nächsten Monat wieder auszusetzen hast an meinem Staat!«, schreit er noch über die Schulter zurück und verschwindet.

Kajetan klopft seine Pfeife an der Banklehne aus. Zufrieden streicht er seinen Bart und denkt dabei, dass er sich in den nächsten Tagen nicht weit von der Hütte entfernen darf, damit er den Baron nicht verfehlt, wenn er kommt. Dass er kommen wird, davon ist Kajetan felsenfest überzeugt.

Kajetan hat sich nicht getäuscht, er hat nicht umsonst gewartet. Eines Tages kommt der Baron zur Hütte im Frauenwald. In seiner Begleitung sind sein Sohn Wilhelm-Erich und dessen Braut Hedy von Arnsfeld, ein elegantes Mädchen mit hellrot geschminkten Lippen.

Kajetan hört die Stimmen schon aus der Tiefe des Waldes kommen und weiß sofort, dass nun »sein« Besuch kommt, den Adam ihm durchaus nicht hat zustehen wollen. Es ist nur schade, dass Adam jetzt nicht auf der Bank sitzt.

»Magdalena!«, ruft er ins Haus. »Bring mir meine gute Lodenjacke und den Jägerhut!«

Gleich darauf erscheint ein junges Mädchen, barfuß und ungekämmt, reicht ihm das Gewünschte und hilft ihm in die Jacke.

»Der Herr Baron kommt«, sagt Kajetan. »Zieh Schuhe an und bring dein Haar in Ordnung. Komm aber nur heraus, wenn ich dich rufe.«

Dann setzt er den grünen Jägerhut mit der wallenden Adlerfeder aufs weiße Haar und reckt sich. So steht er dann unbeweglich. Nur die dünnen Strähnen seines Bartes bewegen sich leicht im Wind.

Dieses Bild ergreift den Baron von Kronstein so sehr, dass er unter den letzten Bäumen stehen bleibt, um es ganz bewusst in sich aufzunehmen. Zwanzig Jahre ist es her, dass er fortgegangen ist und den Alten nicht mehr gesehen hat. Vor zwanzig Jahren ist der Alte genau so vor der Hütte gestanden und hat ihn erwartet. Und nun kam es dem Baron vor, als hätte sich Kajetan in der langen Zeit nicht vom Fleck gerührt.

Natürlich ist Baron Kronstein inzwischen auch nicht jünger geworden. Er geht nicht ohne Rührung auf den Alten zu. Kaum aber hat er sich ihm bis auf fünf Schritte genähert, brüllt Kajetan wie eh und je:

»Melde Herrn Baron, dass in den Wäldern alles in Ordnung ist!«

»Danke, Kajetan, danke!«

Sie reichen sich die Hände, stehen lange voreinander und sehen sich in die Augen. Dann legt der Baron seine Hand auf Kajetans Schulter und sagt:

»Habe schon gehört, Kajetan, Sie hüten meinen Wald noch über Ihre Zeit hinaus.«

»Der Herr Baron hat mich davon nicht entbunden.«

»Nein, ich nicht. Aber man schrieb mir, dass Sie Ihren wohlverdienten Feierabend haben sollten.« Kronstein wendet sich zu seinen Begleitern um. »Das ist Kajetan. Du wirst dich nicht mehr an ihn erinnern können, Wilhelm?«

»Nein, Papa.«

»Und Sie, Kajetan? Können Sie sich noch an ihn erinnern?«

»Er trug einen blauen Matrosenanzug, als er mit Ihnen ins Ausland ging.«

»Richtig! Da sehen Sie nun, dass auch er bereits ein Mann geworden ist. Sehen Sie, Fräulein von Arnsfeld«, wendet sich der Baron an das Mädchen, »das ist nun so etwas wie das unwandelbare Pflichtbewusstsein, über das wir kürzlich debattierten. Kajetan hat bereits meinem Vater gedient, ist von mir übernommen worden und« – er lacht ein wenig, »es sieht geradeso aus, als ob er auch von Wilhelm noch übernommen werden will. Wie alt sind Sie jetzt, Kajetan?«

»Fünfundachtzig, Herr Baron!«

»Wahrscheinlich nie geraucht?«, fragt jetzt das Mädchen mit den hellroten Lippen.

»Rauchen und Rauchen ist zweierlei«, antwortet Kronstein an Kajetans Stelle und es soll eine kleiner Seitenhieb auf Hedy sein, von der es ihn wundert, dass sie sich nicht schon längst wieder eine Zigarette angesteckt hat.

Langsam wandern Kajetans Augen von dem jungen Herrn über die junge Frau hin und zuletzt bleiben sie dann doch wieder am Baron hängen.

»Es fehlt noch jemand, Herr Baron.«

Kronsteins Brauen ziehen sich in schmerzlicher Erinnerung leicht zusammen.

»Sie haben Recht, Kajetan. Es fehlt jemand. Und dieser Jemand fehlt niemandem mehr als mir. Vor sechs Jahren ist meine Frau gestorben. Wie hat sie doch gleich immer gesagt zu Ihnen?«

»Moses, Herr Baron.«

»Moses mit dem Bart! Da sehen Sie, wie die Zeit vergangen ist. Wir sind alt und müde geworden, nicht wahr, Kajetan?«

»Ich weiß nicht, ob Sie es schon bemerkt haben, Herr Baron? Die Bäume sind auch alt geworden, aber nicht müde. Sie dürfen nicht müde werden, weil sie unsere Zeit überdauern müssen.«

»Sie sind immer noch ein Philosoph!«, lacht Kronstein. »Aber wissen Sie, was ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gegessen habe und mir immer gewünscht habe? Eine Reh ...« Der Baron unterbricht sich, denn er sieht auf Magdalenas Gesicht hinter dem Fenster. »Wer ist das?«

Ohne das Gesicht zu wenden, antwortet Kajetan: »Meine Enkelin Magdalena.«

»Ach ja, ich erinnere mich dunkel. Es war doch damals etwas mit deiner Barbara. Wo ist sie jetzt?«

Da wird Kajetans Gesicht undurchdringlich. Die schweren Lider senken sich und es sieht aus, als wäre alles Leben in ihm erstarrt. Nur die Bartsträhnen bewegen sich sachte im Wind.

»Wahrscheinlich immer noch im Fegefeuer, weil ich zu wenig für sie bete«, antwortet er.

Der Baron merkt sofort, dass er eine empfindliche Stelle berührt hat und will davon ablenken.

»Ja, also, Kajetan, eine Rehleber, auf Ihre Art zubereitet, möchte ich gern wieder einmal essen.«

»Ich weiß einen herrlichen Sechserbock, Herr Baron.«

»Gut, gut, Kajetan. Nur gleich los dann! Ihr beide kommt doch auch mit?«, wendet er sich an seinen Sohn und an Fräulein von Arnsfeld.

Wilhelm räuspert sich. »Hedy fühlt sich etwas müde, Papa, und außerdem möchte sie nicht dabei sein, wenn ein Tier getötet wird. Wenn sie inzwischen hier auf uns warten könnte?«

»Wie sie will«, antwortet Kronstein und wirft das Gewehr mit einem energischen Ruck hinter die Schulter. »Los, Kajetan, sonst kommen wir in die ärgste Hitze hinein!«

»Gib Obacht, Wilhelm, dass dir nichts zustößt«, sagt Fräulein von Arnsfeld.

»Nur keine Angst, Herzchen! Mach's gut, bis nachher.«

»Keinen Kuss mehr?«, fragt sie enttäuscht.

Das hat Wilhelm wohl im Sinn gehabt, aber da steht plötzlich dieses in Lumpen gekleidete Mädchen in der Tür und schaut mit großen Augen zu ihm hinüber. Das geniert ihn ein wenig. Aber Fräulein Hedy geniert es nicht. Sie wirft die Arme um seinen Hals und küsst ihn.

Immer größer werden Magdalenas Augen und plötzlich wendet sie sich ab und geht ins Haus.

Hedy von Arnsfeld, die besonderen Wert darauf zu legen scheint, dass das Rot der Fingernägel um einen guten Ton tiefer liegt als das der Lippen, setzt sich auf die einfache Bank vor der Hütte und lehnt den dunklen Wuschelkopf gegen die Holzwand. Sie hört das Rauschen der Bäume und hört einen Specht klopfen. Wie Maschinengewehrgeknatter hört es sich an, bricht plötzlich ab, so ruckartig, wie es eingesetzt hat. Hedy kommt sich vor wie jemand, den man auf einer Insel zurückgelassen hat und der nun geduldig darauf wartet, dass sich am fernen Horizont ein rettendes Segel zeigt.

Da sie nicht sicher ist, ob der Lippenstift, den sie erst vor ein paar Tagen in diesem unmöglichen Nest Mooskirchen gekauft hat, auch kussecht ist, entnimmt sie ihrer Handtasche einen Spiegel und färbt mit hingebungsvoller Geduld ihre Lippen nach. Und bei dieser Tätigkeit sieht Magdalena ihr mit großem Befremden zu. Sie steht in der Tür und getraut sich kaum zu atmen, aus Angst, das Fräulein könnte erschrecken, wenn sie sich bei dieser Malerei ertappt sieht.

Das Fräulein fühlt aber die Nähe eines Menschen, wendet den Kopf und lächelt dem Mädchen in der Tür zu. Magdalena verzieht keine Miene, sie begreift nicht, was hier geschieht, weil sie so etwas noch nie gesehen hat.

Inzwischen ist Hedy fertig geworden und sagt sich, dass es wohl angebracht ist, sich hier leutselig zu geben. Vielleicht in der Art, wie der Baron sich diesem Rübezahl gegenüber gegeben hat. Sie findet, dass Kajetan wie Rübezahl aussieht, mit dem man sie in der Kinderzeit erschreckt hat, wenn sie irgendetwas angestellt hatte.

»Na, Fräulein«, fragt sie. »Wer sind Sie denn und was machen Sie hier?«

Magdalena erschrickt sichtlich, nicht über die Frage selbst, nein, es gäbe ein Dutzend Arbeiten aufzuzählen, die sie täglich zu verrichten hat. Sie erschrickt nur deshalb, weil jemand das erste Mal Fräulein zu ihr sagt. Sie schiebt die Unterlippe ein wenig vor, wie immer, wenn sie sich keinen Rat weiß oder von ihrem Großvater geschlagen worden ist.

»Na?«, ermuntert Hedy sie. »Warum denn so schüchtern? Setzen Sie sich doch zu mir.«

»Ich bin so frei«, antwortet Magdalena leise und setzt sich ganz auf die äußerste Ecke der Bank, die Hände unter der Schürze verborgen.

»Warum tust du das?«, bricht es plötzlich aus ihr heraus.

»Was meinst du?«

»Ich meine, warum du den Mund anschmierst mit Farbe?«

»Ach so! Aber sagten Sie du zu mir!«

»Ich werde es nimmer sagen«, stammelte Magdalena.

»So habe ich es nicht gemeint. Ich weiß, dass man sich hierzulande duzt. Mir gefällt das eigentlich sehr gut, das schafft eine so herzliche Atmosphäre. Wenn Sie gestatten, dann möchte ich auch recht gern du zu Ihnen sagen.«

»Zu mir hat noch nie jemand Sie gesagt.«

»Dann darf ich also?« Hedy streckt ihre Hand hin.

Zaghaft zieht Magdalena ihre zerarbeitete Hand unter der Schürze hervor und legt sie in die des Fräuleins. Dabei stellt Hedy von Arnsdorf fest, dass es eigentlich gar nicht schwer ist, leutselig zu sein.

»Du wolltest wissen, warum ich mich schminke? Weil es zur Körperpflege gehört. Du brauchst es freilich nicht, dein Mund ist auch so schön. Wie machst du das eigentlich, dass du so braun wirst? Ich gäbe viel darum, wenn ich dieses Braun erreichen könnte. Und deine Augen – die haben so etwas wie ein See am Abend. Weißt du – dieses grünlich Schillernde, mit dunklem Blau vermischt. Ich habe diese merkwürdige Augenfarbe noch nie gesehen.«

»Ja? Wirklich?«

»Nein, noch nie. Aber du weißt es doch selber ganz genau, wie schön du bist.«

»Schön?« Die langen Wimpern flattern unsicher, wie ein Vogel, der sich im ersten Flug zu weit vom Nest gewagt hat. »Das hat mir auch noch niemand gesagt.«

»Dann freut es mich, dass ich die erste bin, und mir darfst du glauben. Nur müsstest du dich ein wenig netter kleiden. Ich sehe, dass du keine Schuhe anhast. Du müsstest mehr auf dich halten. Du hast zum Beispiel so schönes Haar. Warum trägst du es so unordentlich? Diese Frisur passt nicht zu deinem Gesicht. Ich wette, dass noch nie ein Friseur an deinem Haar gewesen ist.«

»Überhaupt noch keiner.«

»Was? Noch keiner? Wie bringst du dann bloß diesen goldfarbenen Glanz hinein?«

»Ich wasche es mit Seifenpulver und mitunter mit Ziegenmilch.«

»Das habe ich nie gehört. Von Shampoo weißt du wahrscheinlich gar nichts? Wie kann man denn bloß so rückständig sein?«

In ratloser Hilflosigkeit hebt Magdalena die mageren Schultern und lässt sie wieder sinken. Bei dieser Bewegung rutscht ihr das Schultertuch herab und Hedy sieht auf dem nackten Arm blauschwarze Flecke. Erschrocken betrachtet sie sie.

»Was hast du denn hier? Es sieht aus, als ob du dich gestoßen hättest.«

Magdalena zieht das Schultertuch wieder über ihren Arm.

»Ach wo, das ist bloß noch von den letzten Schlägen!«

»Von den letzten Schlägen? Um Himmels willen, wer schlägt dich denn?«

Erstaunt schaut Magdalena in das entsetzte Gesicht des Fräuleins. »Der Großvater halt. Wer denn sonst?«

»Was? Der Alte? Warum schlägt er dich denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber er kann dich doch nicht ohne Grund schlagen?«

»Doch, das kann er schon. Es ist wegen des Gehorsams, sagt er. Und dass ich keine dummen Gedanken kriege.«

»Was heißt hier dumme Gedanken und Gehorsam? Wehr dich doch! Schlag zurück.«

»Das darf ich nicht. In der Bibel steht: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe auf Erden. Und – er ist doch mein Großvater. Ich muss ihn noch mehr ehren.«

Fräulein von Arnsfeld schüttelt verständnislos den Kopf, nimmt ein Zigarettenetui aus der Handtasche und lässt es aufspringen.

»Bitte, bediene dich. Ach so, du rauchst nicht, das hätte ich mir eigentlich denken können.« Sie knipst das Feuerzeug an, eine bläuliche Flamme zuckt vor ihrem Gesicht, dann bläst sie den Rauch von sich.

»Hör mal zu, Mädchen. Deine Anhänglichkeit in allen Ehren! Aber wo geschlagen wird, muss zurückgeschlagen werden. Das ist die einzige Sprache, die verstanden wird. Jetzt würde mich bloß noch interessieren, was dein Freund dazu sagt.«

»Ich habe keinen Freund«, antwortet Magdalena.

»Jetzt schlägt’s dreizehn! Sag mal, wie alt bist du?«

»In diesem Sommer werde ich zwanzig.«

»Und da sagt du, du hättest keinen Freund?« Die Glut an der Zigarette glimmt heftig auf. »Ich bin einundzwanzig. Mit siebzehn Jahren habe ich mich das erste Mal verlobt.«

Nun ist es an Magdalena, aufs Heftigste erstaunt zu sein. »Kann man sich denn öfters verloben?«

»Natürlich, warum denn nicht? Man verliebt sich, man verlobt sich, man stellt fest, dass man doch nicht für immer zusammenpasst, und gibt sich die Ringe zurück. Das ist entschieden vernünftiger, als wenn man erst nach der Heirat feststellt, dass man nicht zusammenpasst. Mit Wilhelm von Kronstein, das ist meine dritte Verlobung.«

In der Ferne fällt ein Schuss und der Widerhall geht von Hochwald zu Hochwald, bis er in einem fernen Echogrund erstirbt. Fräulein von Arnsfeld wirft ihre Zigarette von sich, steht dann auf und zertritt sie, kehrt zur Bank zurück und nimmt das Gespräch wieder auf.

»Aller guten Dinge sind drei. Bei Wilhelm werde ich bleiben, weil wir voller Gegensätze sind, und Gegensätze ziehen sich an!«

»Versteh ich nicht«, sagt Magdalena. »Ich mein halt, dass man nur einen lieben kann, und dann ist Schluss für immer.«

»Ach, du Dummchen«, lacht Hedy auf. »Was du bloß für Vorstellungen von der Liebe hast. Noch ganz rosarote Träume, was? Du bist doch kein Kind mehr! Hast du denn noch nie einen Mann geküsst?«

»Nein, noch nie – aber ich möchte es gern.«

»Sind denn hier alle blind? Sieht denn keiner, wie schön du bist?«

»Ich komme doch zu niemandem. Der Großvater bewacht mich hier wie eine Gefangene. Ich war noch nie bei einer Tanzveranstaltung.«

»Und das nennt sich Leben? Magdalena, du musst dich freimachen, weil du dich sonst selbst um deine Jugend betrügst. Wenn du willst, werde ich mit deinem Großvater sprechen, schließlich leben wir doch nicht mehr im finsteren Mittelalter. Kann er denn wollen, dass du allein bleibst? Er lebt doch auch nicht ewig, und dann stehst du hilflos und allein da.«

»Das schon, ja, aber man darf nicht auf den Tod eines Menschen warten.«

»Das habe ich auch nicht sagen wollen. Ich glaube nur, dass du noch nie ernstlich versucht hast, dich aus deinen Fesseln freizumachen. Also, willst du, dass ich mit ihm spreche?«

»Bitte, tu es nicht«, antwortet Magdalena. »Du gehst wieder und ich muss bleiben. Ich kann ihn doch nicht allein lassen. Was auch alles gewesen ist und noch sein wird, eines weiß ich – er hat mich lieb. Ich bin das letzte Glück in seinem Leben. Horch – ich glaube, sie kommen schon.«

»Schade«, meint Hedy von Arnsfeld. »Aber ich danke dir. Du hast mir eine ganz neue Seite des Lebens gezeigt. Bisher ahnte ich nicht, dass es das gibt. Ich werde viel an dich denken.« Sie umschließt Magdalenas Hand und drückt sie fest. »Vielleicht hörst du noch mal von mir.«

Die Stimmen kommen näher, Magdalena huscht ins Haus und legt ein paar Scheite in den Herd, gerade noch rechtzeitig, bevor die letzte Glut erlöscht.

Eine halbe Stunde später steht die Rehleber, nach Kajetans Art zubereitet, auf dem Tisch. Selbst Hedy von Arnsfeld findet, dass es ausgezeichnet schmeckt, und fragt nach dem Rezept.

Kajetan ist fünfundachtzig. Aber kann er nicht hundert werden? Kann er seinen jetzigen Herrn nicht überleben? Dann wird der Freiherr Wilhelm sein Herr und diese Schmalgeiß an seiner Seite wird dann seine Herrin sein. Und deshalb – und nur deshalb muss Kajetan höflich sein, dürfen die lackierten Fingernägel ihn nicht stören, obwohl sie wie ein rotes Tuch auf ihn wirken und er heftig versucht ist, mit seinem Löffel daraufzuschlagen.

Und so erfährt Fräulein von Arnsfeld, obwohl sie wahrscheinlich nie in ihrem Leben eine Rehleber dünsten wird, wie man sie zubereitet. Sie weiß genau, dass sie in acht Tagen schon wieder auf irgendeiner Hotelterrasse an der Riviera sitzen wird bei einem auserlesenen Dinner mit einer Nachspeise, die wahrhaftig anders beschaffen sein wird als der Enzian, der jetzt serviert wird und den dieser Rübezahl selber brennt. Auf den leisesten Wink schon gehorcht Magdalena und schenkt die Gläser noch dreimal voll, bevor man sich verabschiedet.

Kajetan steht auch jetzt, als man schon zum Gehen bereit ist, wieder so unbeweglich in der Tür wie am Vormittag, als er die Gäste erwartet hat. Er rührt sich auch nicht, als plötzlich Fräulein von Arnsfeld noch mal zurückkommt, dicht vor ihm stehen bleibt, ihn am Rockaufschlag fasst und mit ungewöhnlicher Schärfe sagt:

»Hören Sie, Herr Kajetan, geschlagen wird nicht mehr, verstanden?«

Kajetan macht die Augen schmal. Seinem Gesicht ist nicht anzusehen, ob er verstanden hat.

»Sie sind in Ehren weiß geworden«, fährt Fräulein von Arnsfeld fort. »Bei aller Achtung, die ich vor Ihrem Alter habe – aber dass Sie Ihre liebe Enkelin schlagen, das kann ich Ihnen nur verzeihen, wenn es in Zukunft nicht mehr vorkommt.«

Sie wirbelt auf ihren hohen Absätzen herum und springt den anderen nach. Kajetan aber steht noch lange mit schmalen Augen da.

»Was nimmt sie sich heraus –«, murmelt er grimmig vor sich hin. »Was diese Schmalgeiß schon weiß, wie man einen jungen Menschen heranzieht!«

Langsam streift er seine gute Lodenjacke ab, legt sie mit dem Hut auf die Bank und geht in den Wald hinein.

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