Schatten, die verdämmern - Hans Ernst - E-Book

Schatten, die verdämmern E-Book

Hans Ernst

0,0
16,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Toni und seine blinde Schwester Johanna leben in einem kleinen Haus im Geiertal. Seine Leidenschaft für die Wilderei bringt ihn vor Gericht, und als er aus dem Gefängnis heimkehrt, beginnt sich eine tiefe Liebe zwischen Toni und Johanna zu entwickeln. Beide sind zutiefst verwirrt, doch dann taucht Johannas leiblicher Vater auf und klärt ihre Herkunft. Dennoch müssen sich beide trennen, denn der Vater nimmt Johanna mit auf Reisen, Toni zieht sich traurig in die Berge zurück.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2004

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: Bildagentur Mauritius GmbH, Pöhlmann

Bearbeitung und Redaktion: Dr. Elisabeth Hirschberger, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54745-4 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Schatten, die verdämmern

Toni und seine blinde Schwester Johanna leben in einem kleinen Haus im Geiertal. Seine Leidenschaft für die Wilderei bringt ihn vor Gericht, und als er aus dem Gefängnis heimkehrt, beginnt sich eine tiefe Liebe zwischen Toni und Johanna zu entwickeln. Beide sind zutiefst verwirrt, doch dann taucht Johannas leiblicher Vater auf und klärt ihre Herkunft. Dennoch müssen sich beide trennen, denn der Vater nimmt Johanna mit auf Reisen, Toni zieht sich traurig in die Berge zurück.

1

Eine grimmigkalte Nacht steht über dem stillen Bergdorf. Dick liegt der Schnee auf den breiten Dächern der Häuser, hinter deren Fenstern die Lichter schon vor Stunden erloschen sind.

Alles ist still. Nur manchmal schreit kläglich irgendwo ein Hund an, dem Vergesslichkeit oder Hartherzigkeit die Tür verschlossen haben, und ganz von fern hört man ein Brausen und Rauschen, bald näher, bald weiter weg. Das ist der Wasserfall im Geiertal, den selbst die grimmige Kälte nicht zum Stocken bringen kann.

Vom Kirchturm schlägt es elf Uhr in hallenden Tönen, als ein Bursche mit raschen Schritten den Kirchplatz überquert und am Pfarrhaus läutet.

Unmittelbar darauf werden im ersten Stock zwei Fenster hell, von denen eins sich knarrend öffnet. Der Pfarrer beugt sich über die Brüstung.

»Was gibt es?«

»Herr Pfarrer, Sie möchten so gut sein«, ein Würgen kommt in die Stimme des Burschen.

»Wer bist du denn?«, fragt die Stimme vom Fenster.

»Der Toni vom Geiertal.«

»Ach, du bist es, Toni. Geht es deiner Mutter wieder schlechter? Wart einen Augenblick. Ich komme sofort.«

Bald darauf tritt der Pfarrer aus dem Haus und geht durch den Friedhof in die Kirche.

Toni steht indessen unbeweglich da und starrt die funkelnden Lichter am Himmel an. Er ist noch jung, fünfundzwanzig Jahre alt. Groß und kräftig ist seine Gestalt und sein Gesicht scharf gemeißelt in allen Zügen.

Er zieht eine kurze Pfeife aus der Tasche seiner Lodenjacke, füllt sie mit Tabak und steckt sie wieder ein, ohne sie in Brand gesetzt zu haben.

»Rauchen schmeckt mir auch nimmer«, denkt er trübsinnig und seufzt. Es will ihm einfach nicht in den Sinn, dass seine Mutter sterbenskrank ist. Er braucht sie doch so notwendig! Wer ist denn sonst bei der kleinen Hanna, wenn er aus dem Haus geht. Er kann sie doch nicht mitnehmen auf die Berge zu seiner Arbeit.

Der Geistliche kommt aus der Kirche und schreckt ihn aus seinen Gedanken. »Jetzt komm, Toni«, sagt er und zieht mit der einen Hand das Gittertürchen hinter sich zu.

Doch der Bursche rührt sich nicht. Er schaut den Pfarrer nur an und sagt:

»Da hab ich gehört, Herr Pfarrer, dass nach der Letzten Ölung oft schon jemand wieder gesund geworden ist. Ist da was Wahres dran? Ich kann mir gar nicht denken, dass sie sterben soll. Und wenn es eine Gerechtigkeit gibt …«

»Aber Toni«, antwortet der Pfarrer ernst und mit Nachdruck. »Das Sakrament gehört doch zum geistlichen Leben und ist keine Wundermedizin. Du bist doch alt genug, um das zu begreifen.«

»Ja, ja«, stottert Toni. »Man klammert sich halt an alles, wenn’s so weit ist. Also gehen wir, in Gottes Namen!«

Sie müssen eine halbe Stunde gehen. Toni stapft wegweisend voraus durch den Wald. Kein Wort fällt mehr zwischen den beiden Männern.

Das Rauschen des Wasserfalls kommt immer näher, und dann sehen sie plötzlich Licht durch die Lücken der Bäume schimmern. Es ist das Haus der Witwe Langegger, die im Sterben liegt.

Im Flur zieht der Priester das Gefäß mit der geweihten Hostie unter dem weiten Mantel hervor und betritt das Sterbezimmer. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen erhebt sich vom Bettrand und geht ihm mit ausgestreckten Händen entgegen.

»Gelt, die Mutter braucht nicht zu sterben?«

Es ist ein Ton in dieser Stimme, der seltsam berührt. Dabei richtet das Mädchen zwei glanzlose starre Augen auf den Pfarrer, Augen, in denen kein Leben ist, denn die Hanna ist schon von Geburt an blind.

Der Pfarrer streicht über den blonden Scheitel. »Wenn Gott es will, dann wirst du deine Mutter noch lange haben«, sagt er und winkt dem Toni, damit er mit dem Mädchen das Zimmer verlässt. Dann geht er an das Bett und berührt die welken Hände der Kranken. Er weiß sofort, hier ist nichts mehr zu erhoffen.

»Kennen Sie mich, Langeggerin?«

Keine Antwort. Nur ein leises Stöhnen. Die Hände liegen nebeneinander auf dem blau gemusterten Betttuch. Es ist schon jede Farbe aus ihnen gewichen.

Andächtig vollzieht der Priester die sakrale Handlung. Er hat sie noch nicht ganz beendet, da geht ein Zucken durch den Körper der Frau, er streckt sich und liegt still.

»Seht«, sagt er, »wie ruhig und still eure Mutter hinübergeschlummert ist. Und da sagt man immer, das Sterben sei so etwas Schweres.«

Mit einem gellenden Aufschrei wirft sich das Mädchen über die Tote. Toni tritt an das Bett heran, klammert die Fäuste um die Kante und rührt sich nicht. Nur manchmal zuckt es in seinem Gesicht, und dann schließt er flüchtig die Augen.

Der Pfarrer versucht zu trösten, indem er meint, dass es letztlich kein Mittel gebe gegen den Tod und dass die Langeggerin doch nie mehr gesund geworden wäre. Der Tod sei für sie eine Erlösung gewesen.

»Mit einer Operation wäre vielleicht schon noch zu helfen gewesen«, antwortet der Toni dumpf. »Aber der Wieshofer hat uns die Hypothek gekündigt …«

»Hat er das wirklich getan?«, fällt der Geistliche ihm ins Wort.

»Ja, gleich nach Neujahr. Und seit dem Tag ist es mit der Mutter immer schlechter geworden.«

»Na, lass gut sein, Toni, mit dem Wieshofer werde ich schon reden, damit er die Kündigung zurücknimmt. Vielleicht kann ich ihn zur Vernunft bringen. Du darfst jetzt nicht alles schwarz in schwarz sehen. Komm im Lauf des heutigen Tages einmal zu mir, damit wir über die Beerdigung sprechen.«

Der Pfarrer verabschiedet sich, und Toni begleitet ihn bis an den Weg hinaus. Als er zurückkommt, ist Hanna neben der toten Mutter eingeschlafen.

In stummer Trauer steht er vor den beiden. Still steht die Luft im Zimmer, sie hat einen fremden Geruch. Toni wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und zieht dann die Schublade einer alten Kommode auf. Lange Zeit findet er nicht, was er sucht. Erst im untersten Fach liegen die Kerzen; seine eigene, die er vor vielen Jahren getragen hat, als er zur Kommunion ging, und die andere hatte die Mutter einmal von Birkenstein mitgebracht.

Als man den Vater tot und starr aus dem Wald heimbrachte, hat die Mutter die beiden Kerzen angezündet, und heute tut es der Sohn. Seine Hände zittern, als er die Kerzen in die Leuchter steckt und anzündet. Auch seine Schultern zucken, sein ganzer Körper, und endlich kann er weinen. Still und lautls kommen die Tränen und tropfen auf seine kräftigen braunen Hände. Dann nimmt er die Schwester auf die Arme und trägt sie hinüber in die Wohnstube. Wie leicht sie ist! Ein Bündel Federn nur für seine Arme, die an Axt, Säge und Baumstämme gewohnt sind.

Über die Fenster geht ein graues Dämmern. Es ist der neue Tag. Eine Glocke beginnt zu läuten. Dünn und abgerissen hängen die Töne in der eiskalten Luft.

Eine Kuh brüllt im Stall nach Futter. Das bringt den Alleingelassenen in die Wirklichkeit zurück. Er nimmt den Eimer und melkt sie. Eine Arbeit, die vor kurzem noch die Mutter getan hat. Wie lange noch, dann braucht diese Arbeit niemand mehr zu machen, denn wenn der Wieshofer sein Geld haben will, muss alles Vieh verkauft werden.

In der Wohnstube ist der Ofen kalt. Schrecklich, was auf einmal an Arbeit da ist, wenn jemand fortgeht aus dem kleinen Kreis, in dem man einträchtig gelebt hat in Freud und Leid.

Er weckt die Schwester erst, als die dampfende Milch für das Frühstück auf dem Tisch steht.

»Ich mag nichts«, wehrt das Hannerl ab.

»Doch, Hannerl! Ein bissl musst du essen.«

Nach langem Zureden gehorcht sie, nur um den großen Bruder, der so liebevoll für sie sorgt, nicht zu kränken.

Toni fragt, ob sie mitgehen wolle in das Dorf. Nein, sie will bei der Mutter bleiben, und er brauche die Tür gar nicht abzuschließen, weil sie sich nicht fürchte.

Sie rückt einen Hocker neben das Bett, faltet die Hände im Schoß und verhält sich ganz regungslos. Sie weint nicht mehr, sondern hat die blicklosen, großen Kinderaugen weit geöffnet, wie sie es immer tut, wenn sie über etwas angestrengt nachdenkt. Und zu denken hat das Kind an diesem Morgen viel, denn langsam begreift sie, was sterben heißt.

So kalt ist der Mensch, wenn er tot ist, denkt sie. Und gestern noch war die Mutter so warm. Hanna steht auf und tastet vorsichtig über das Gesicht der Mutter. Jede Linie zeichnet sie nach, wie sie es oftmals in früheren Tagen getan hat. Es ist alles noch da, die kleine Narbe am Kinn, die leichte Krümmung der Nase, die kleinen und die großen Falten. Nichts ändert der Tod, denkt das Kind. Und wenn alles so bleibt, dann würde ich die Mutter immer wieder erkennen.

Gegen Mittag kommt der Toni heim. Er hat einen Arm voll Tannenzweige. Am Nachmittag werden sie einen Kranz daraus flechten. Die Glocken läuten, der Pfarrer hält die Totenmesse umsonst.

Es schneit in großen Flocken aus dem hohen Himmel, als man die Langeggerin zu Grabe trägt. Es ist kein großer Leichenzug, nur ein paar ältere Frauen folgen dem Sarg. Aber dafür beten sie andächtiger als manches Dutzend Trauergäste, die zwischen ihrem Beten immer noch etwas anderes zu plaudern wissen und sei es nur über das Wetter oder über die Frau Fredige, die nach drei Totgeburten jetzt endlich einem gesunden Buben das Leben geschenkt hat.

2

Zwei Tage nachdem man die Langeggerin zur letzten Ruhe gebettet hat, tritt im Nebenzimmer des Gasthofs »Zur Krone« der Gemeindeausschuss zusammen.

Alle Wohlgerüche des Dorfes sind in dem engen Raum beklemmend vermengt. Hinter einem grauen Schleier von Tabakswolken sitzen die zwölf Wortführer der Gemeinde, eng aneinander gepresst, um den Tisch herum. Nach einer kurzen Beratungsrunde fragt der Bürgermeister:

»Also, was machen wir jetzt? Ist einer dabei, der die unmündige Johanna Langegger zu sich auf den Hof nimmt?«

Es entsteht eine lange Pause.

Der Bürgermeister zuckt die Schultern. »Sonst müsst man halt das Mädchen auf Gemeindekosten in eine Blindenanstalt überweisen. Das bedeutet allerdings für die Gemeinde eine erhebliche Etatsbelastung, auf die ich den Ausschuss heut schon aufmerksam mache.«

Jetzt erhebt sich der Wieshofer, räuspert sich und reckt den wuchtigen Kopf hoch, wobei seine kleinen, unruhigen Augen spöttisch die versammelten Bürger mustern. Bedächtig klopft er die Asche von seiner Virginia und beginnt hoheitsvoll:

»Also, meine Herren! Das mit der Blindenanstalt lassen wir schon gleich ganz aus dem Spiel. Ich meine, das Gemeindewohl geht vor. Drum habe ich mich entschlossen, die blinde Johanna Langegger auf meinen Hof zu nehmen. Es muss doch jeder zugeben, dass dabei für mich gar kein Vorteil herausschaut. Aber man ist doch schließlich Mensch und Christ. Und auf einen Esser mehr oder weniger kommt’s ja bei mir Gott sei Dank nicht an. Hat einer gegen meinen Antrag was einzuwenden?«

Niemand rührt sich. Nur der Kramer stößt seinen Nachbarn an und flüstert: »Etwas hat der wieder im Hinterkopf.«

»Was gibt’s denn da hinten zu tuscheln?«, schreit der Wieshofer. »Wer gegen meinen Antrag was einzuwenden hat, der soll es frei heraus sagen. Heimlichkeiten kann ich nicht vertragen.«

»Ich meine bloß«, antwortet der Kramer, »das ist man von dir sonst gar nicht gewöhnt, dass du dich um die Langeggerischen annimmst. Hast doch den Toni nie leiden können.«

»Um den kümmere ich mich jetzt nicht. Ums Mädchen handelt’s sich. Und die ist nirgends besser aufgehoben als bei mir.«

»Ganz richtig«, stimmt der Schreinermeister Haferl bei, »der Wieshofer kann’s am leichtesten machen. Er ist der wohlhabendste Bauer im Bezirk, hat den ganzen Stall voll Vieh und …«

»Ja, der Wieshofer kann seine Cilly auch ins Internat schicken«, spöttelt der Kramer drein.

»Stimmt! Ich kann mir’s leisten!« Ganz purpurrot wird das Gesicht des Wieshofers und, sich weit über den Tisch beugend, schreit er dem Kramer ins Gesicht: »Ich kann mir alles leisten, was ich will. Und du, windige Kramerseele, kannst hinter dem Ladentisch stehen und Klopapier verkaufen.«

Mit zorniger Bewegung stülpt der Wieshofer seinen Hut auf und verlässt ohne zu grüßen den Raum.

Draußen fährt er sich mit dem Ärmel über die erhitzte Stirn und spuckt aus.

»Bettlerpack!«

Er stapft schon die Dorfstraße entlang, da kommt ihm der Bürgermeister nachgerannt und fasst ihn am Arm.

»Geh, Wieshofer. Musst es doch nicht gleich so krumm nehmen. Kennst ihn doch, den Kramer.«

»Ein kompetenter Ausschuss, das muss ich schon sagen«, poltert der Wieshofer los. »Da muss einmal hart durchgegriffen werden.«

»Geh zu, Wieshofer. Was fragst denn du nach dem Kramer! Die Mehrheit ist da doch auf deiner Seite. Und auch ich weiß, was ich an dir habe. Du hast schon manches Gute für die Gemeinde getan, und das werd ich nicht vergessen.«

»Das will ich auch hoffen. Wäre ja noch schöner, wenn in der Gemeinde etwas geschehen tät, was mir nicht recht ist. Verdammt noch mal. Ich bin der Wieshoferbauer, verstehst mich, Bürgermeister?«

»Reg dich doch nicht auf, Wieshofer.«

»Weil’s wahr ist!«

Inmitten des Dorfes stehen die beiden Männer. Der Wieshofer breit und protzig mit geblähten Nasenflügeln, der andere eingeschüchtert und mit hilflosem Blick. Nach einer Weile sagt der Bauer:

»Jetzt gehe ich grad demonstrativ hinunter ins Geiertal und hole das Mädchen. Möchte einmal sehen, ob ich meinen Willen nicht durchsetze.«

»Wenn’s dir recht ist, geh ich mit, Wieshofer.«

»Freilich gehst du mit. Bei so was ist es immer besser, wenn der Bürgermeister selbst dabei ist.«

Die beiden stapfen durch den tiefen Schnee.

»Das sag ich dir, Bürgermeister«, beginnt der Bauer wieder. »Der Kramer muss hinaus aus dem Ausschuss.«

»Ja, ja! Freilich, ja!«

»Geht’s vielleicht den was an, wenn ich meine Cilly ins Internat tu?«

»Gar nichts geht’s ihn an.«

»Das will ich meinen. Oder meinst du vielleicht, meine Tochter soll auch so aufwachsen wie ein gewöhnliches Bauerndirndl? Ja, mein Lieber! Bildung muss der Mensch bekommen, und drum habe ich sie fortgetan in die Stadt. Ich weiß schon, dass sich der Kramer auch darüber sein Maul zerrissen hat. Aber was geht’s denn den eigentlich an? Meine Cilly hat alle Anlagen, dass sie was Besseres wird.«

»Freilich, ja. Da bei uns draußen lernt sie ja nichts«, pflichtet der Bürgermeister dem Bauern bei, wie er ihm überall beipflichtet, auch wenn es für ihn oder die Gemeinde von Nachteil ist.

Unterdessen haben sie das kleine Haus im Geiertal erreicht. Der Bürgermeister klopft seine Stiefel an der Hauswand ab, während der Wieshofer mit Eisklumpen an den Schuhen die Stube betritt.

Das Hannerl sitzt auf der Ofenbank und zupft mit den Fingern an einer alten Gitarre. Es ist eine ganz einfache, zärtliche Melodie, die unter den Fingern des blindes Kindes hervorquillt. Das bleiche Gesicht mit den lichtlosen Augen lehnt wie in tiefer Versunkenheit oder Weltentrücktheit an dem dunkel gebeizten Holz.

Mit rauem Ton zerstört der Wieshofer dieses idyllische Bild, indem er fragt:

»Wo ist dein Bruder?«

»Oh!«, stammelt das Mädchen erschrocken. »Jetzt hab ich gemeint, der Toni ist in die Stube gekommen. Wer bist denn du?«

»Der Toni bin ich freilich nicht. Aber der Wieshoferbauer bin ich und hätte mit deinem Bruder ein wichtiges Wörtlein zu reden. Weißt du nicht, wo er ist?«

»Im Stall wird er sein. So – und du bist der Wieshoferbauer, von dem der Toni sagt, dass er schuld wäre, dass die Mutter so früh ins Grab hat müssen?«

Der Wieshofer läuft rot an. Aber er beherrscht sich und fragt so freundlich, wie es ihm gelingt:

»Wer sagt denn das?«

»Ich sag’s«, klingt eine feste, doch ruhige Stimme von der Tür her.

Der Wieshofer fährt mit dem Gesicht herum. Seine Augen funkeln. Doch kalt und ruhig begegnet der Toni seinem Blick. Dann sagt er, als wäre der Wieshofer gar nicht anwesend, zum Bürgermeister:

»Was verschafft mir die Ehre?«

»Komm, Toni, setzen wir uns«, meint der Bürgermeister.

Und während sie sich dann am Tisch gegenübersitzen, nimmt der Wieshofer auf der Ofenbank Platz, spreizt die Hände auf seinen Stock und legt das Kinn darauf.

»Also, Toni«, beginnt der Bürgermeister nach einigem Räuspern, »es ist heute in der Ausschusssitzung verhandelt worden, dass dir die Gemeinde in jeder Hinsicht beistehen soll. Unser verdienstvolles Gemeinderatsmitglied, der Wieshofer, hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, deine Schwester unentgeltlich auf den Hof zu nehmen, bis sie mündig ist und über ihr weiteres Leben selber bestimmen kann.«

Toni verzieht keine Miene. Und als der Bürgermeister schweigt, bleibt er immer noch ruhig sitzen und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Dann steht er auf, stemmt die Fäuste auf die Tischplatte und sagt ganz ruhig:

»Und habt ihr gemeint, man braucht nur einfach das Mädchen auf den Wieshof zu schleppen? Gott sei Dank bin aber ich auch noch da.«

»Wer sagt denn was von Schleppen?«, fragt der Wieshofer, sich ebenfalls erhebend. »Einer meiner Angestellten kann sie hinfahren. Und gut soll sie’s haben bei mir.«

»Ihr habt ja mich noch gar nicht gefragt, ob mir’s recht ist.«

»Das wär ja noch schöner«, trumpft jetzt der Bürgermeister auf. »Du sollst doch froh sein, dass deine Schwester so gut untergebracht wird und dass der Wieshofer so gut ist.«

»Es ist zwecklos«, sagt der Toni ruhig und bestimmt. »Wir wollen nicht lange streiten. Ich sag’s euch gleich: Das Mädchen bleibt bei mir, und basta!«

Mit einem erstickten Jubelschrei taumelt das Hannerl auf den Bruder zu und umklammert ihn.

»Ich hab’s ja gewusst, Toni, dass du mich nicht hergibst!«

Der Wieshofer betrachtet die Szene mit spöttischem Lächeln, dann sagt er hämisch:

»Da werd ich halt ans Bezirksamt oder an das Vormundschaftsgericht einen salzigen Bericht schreiben. Die werden dir dann schon beibringen, dass ein unmündiges Kind in die richtige Hand und Pflege gehört.«

»Ja«, entgegnet Toni ruhig. »In eine richtige Hand, aber zu keinem solchen Blutsauger, wie du einer bist.«

»Du, tu dich ein bisschen zurückhalten.«

»Ich halt mich nicht zurück. Und wenn die ganze Gemeinde vorm Wieshofer katzbuckelt, ich nicht.«

»Ah, so bist du eingestellt!? Na, wart, Bürscherl. Du wirst schon noch zahm werden. Und dass du’s weißt, bis zum ersten April will ich mein Geld haben. Andernfalls lass ich dich pfänden.«

»Das sieht dir ähnlich«, sagt Toni mit zusammengebissenen Zähnen.

»Da wirst du schaun, wenn’s blechen heißt, verstehst du mich. Und zahlen musst du, da kenne ich nichts.«

Toni spürt, wie ihm das Blut in die Schläfen schießt. Er schiebt das Kind zur Seite und stellt sich breit und wuchtig vor den Wieshofer hin.

»Jetzt hast du einmal dein wahres Gesicht gezeigt, Wieshofer. In der Kirche hast du den Platz in der ersten Reihe, und bei der Prozession trägst du den Baldachin. Einem armen Teufel aber tätst am liebsten das Blut aus den Adern saugen. Nobel ist das! Respekt vor so einem Christentum. Aber dein Geld sollst haben, so bald wie möglich. So, jetzt haben wir zwei ausgeredet. Jetzt geh mir aber aus den Augen, sonst …«

Toni, dem die Fäuste zu zittern beginnen, weist mit ausgestreckter Hand zur Tür.

Diese drohende Bewegung veranlasst den Wieshofer, so schnell wie möglich zur Tür zu gelangen. Der Bürgermeister drückt sich neben ihn her. Der Bauer stößt ihn grob an.

»Warum machst du dein Maul nicht auf, wozu bist du denn Bürgermeister? Sonst hast dein Maul dauernd offen, aber wenn du reden sollst, bist stumm wie ein Fisch.«

»Hinaus!«, schreit jetzt der Toni und macht ein paar federnde Schritte nach vorne. Dann schlägt er krachend die Tür hinter den beiden zu und geht zurück an den Tisch. Da fällt sein Blick auf den Herrgottswinkel.

»Du da droben. Sag mir, ob’s überhaupt noch eine Gerechtigkeit gibt auf der Welt. Da muss man schon schier zweifeln, ob’s überhaupt noch einen Herrgott gibt.«

Stumm blickt der geschnitzte Christus herunter auf den erregten Zweifler – stumm und regungslos.

Da lässt Toni mutlos den Kopf sinken und legt die Arme über das Gesicht. Und als Hannerl nach einer Weile kommt und ihr Ärmchen um seinen Hals schlingt, da presst er das zarte Ding so fest an sich, dass es stöhnt. Seine Stimme zittert nun doch etwas, als er sagt:

»Jetzt wirst bald kein Zuhause mehr haben, armes Hascherl.«

»Das macht nichts, Toni. Wenn ich nur dich hab.«

Im Ofen krachen die Scheite, und der Geruch von Bratäpfeln, die auf der Herdplatte liegen, erfüllt die kleine Stube mit süßem Duft.

Eng aneinander gepresst sitzen die beiden da, während draußen die Dämmerung Haus und Garten und alle Dinge verschlingt und am Himmel die ersten Sterne aufblinken.

3

An diesem Abend wird die Stube auf dem Wieshof frühzeitig leer. Der Bauer ist in einer Stimmung, die alle an ihm fürchten, von der Bäuerin bis hinunter zum jüngsten Dienstboten. Deshalb drückt sich einer nach dem anderen nach dem Essen aus der Stube.

Als der Wieshofer sich allein sieht, macht er seiner Wut ungeniert Luft.

»Das ist doch verflucht! Heut ist mir aber schon alles gegen den Strich gegangen.«

Er kann nicht fassen, dass plötzlich einer da ist, der sich seiner Meinung widersetzt. Bisher ist in der Gemeinde immer noch alles nach seinem Willen geschehen, und nun besitzt einer die ungeheure Frechheit, sich ihm in den Weg zu stellen! Und es ist einer, den man nicht einfach beiseite schieben könnte. Das könnte schlimm ausgehen, und man kann Gott bloß danken, dass es noch andere Mittel gibt, so einen Kerl zu klein zu kriegen. Ganz klein soll er werden, und bereuen soll er es, dass er ihn, den Wieshofer, fortgewiesen hat wie einen Schulbuben.

»Verdammt! So eine Blamage! Aber jetzt muss der Pfarrer eingreifen. Jawohl, hinter den werd ich mich klemmen. Wenn ich ihm ein neues Messgewand verspreche, dann … und außerdem steht ja die Sache als leuchtendes Beispiel christlicher Nächstenliebe da. Ist das etwa nicht großzügig und lobenswert, wenn ich das blinde Mädchen unentgeltlich großziehe?«

Nein, er gibt die Sache noch lange nicht auf. Wenn er zahlen muss, der Langeggerbub, dann wird ihm das Wasser bald bis zum Hals stehen. Dann muss er nachgeben. Vielleicht ist er dann froh, wenn er seine Schwester losbringen kann.

Und dann wird sich er, der Wieshofer, befriedigt die Hände reiben und wird sagen: »Na, siehst, du uneinsichtiger Kerl, jetzt hast es. Hättest halt gleich nachgegeben!«

Den Nutzen, den er sich von der ganzen Sache verspricht, verschweigt er wohlweislich. Aber er hält es für selbstverständlich, dass sich das Mädchen im Haushalt ein wenig nützlich macht. Wenn sie auch blind ist. Da gibt es so viele Arbeiten, bei denen man nicht zu sehen braucht. Beim Melken zum Beispiel braucht man nicht zu sehen. Da kann man sich ganz schön von einer Kuh zur andern tasten. Wenn man die Arbeit öfter macht, dann bekommt man’s schon ins Gefühl.

Die Hände auf dem Rücken, wandert der Bauer in der Stube auf und ab. Die Bilder an den Wänden – alte, verblasste Fotografien seiner Vorfahren – blicken ernst auf ihn herunter. Es scheint, als schämten sie sich, dass einer aus ihrem Stamm sich mit so unlauteren Gedanken trägt.

Die Wieshofer sind ein altes Bauerngeschlecht, haben immer untadelig gelebt und innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Kein Makel lag auf ihrer Sippe, wohl an die dreihundert Jahre oder noch länger zurück. Und wenn sie jetzt alle aufständen, die Wieshofer, und nur eine Stunde in der braun getäfelten Stube wären, sie gingen gern wieder fort, denn der letzte Nachkomme hat sich losgesagt von ihrer Art. Er lebt in einer anderen Welt als sie, in einer, die er sich selbst geschaffen hat und die keine Achtung hat vor Gott und jenen Menschen, die guten und aufrichtigen Herzens sind.

Bei seinem Wandern durch die Stube innehaltend, überlegt der Wieshofer, wie er den Brief an das Vormundschaftsgericht schreiben soll. Endlich hat er sich in seinen Gedanken alles zusammengereimt, sodass er seine Briefmappe holt und zu schreiben beginnt.

Als er fertig ist, liest er den Brief durch und nickt befriedigt vor sich hin.

»So. Jetzt wird sich’s schon herausstellen, wer Recht bekommt, ich oder der Habenichts vom Geiertal.«

Er steigt die Stiege hinauf und pumpert an eine Tür.

»Michl! Unten in der Stube liegt ein Brief, den bringst morgen früh aufs Postamt und lässt ihn einschreiben. Ich hab das Portogeld hingelegt. Was du rauskriegst, lieferst mir wieder ab. Hast mich verstanden?«

»Ja«, kommt es schläfrig aus der Kammer. Und leiser, damit es der Bauer nicht mehr hört, brummt Michl in die Kissen: »Geizkragen, mistiger!«

Am nächsten Vormittag bringt der Postbote einen der zart farbigen Briefe auf den Wieshof, denen der Bauer immer mit gerunzelter Stirn entgegensieht. Nicht etwa wegen der feinen Farbe – im Gegenteil, das verrät die Bildung und Vornehmheit, die sich die Cilly angeeignet hat –, sondern des Inhalts wegen, der gewöhnlich besagt, dass Cilly wieder einmal mehr Geld braucht.

Dem Wieshofer ist es deshalb schon zur Gewohnheit geworden, die Briefe vom Ende her zu lesen, weil zum Schluss meist die Summe steht, die sie angeblich so dringend braucht.

Die Falten auf der Stirn des Bauern verschwinden, als er die zärtliche Überschrift liest.

»Lieber Papa.« Drei, vier Mal sagt es der Wieshofer vor sich hin. Er kostet die Worte nach wie einen guten Wein und sagt zur Bäuerin: »Siehst, Frau, es klingt halt doch ganz anders als das ordinäre Vati. Ja, ja, meine Cilly. Das ist halt ein Mädchen. Papa hat’s geschrieben. Mein lieber Papa.«

»Renk dir nur den Mund nicht aus mit lauter Papa«, wirft die Bäuerin ärgerlich hin. »Meinst du vielleicht, die Cilly ist so dumm und weiß nicht, wie sie dich am leichtesten um den Finger wickeln kann? Pass nur auf! Das nächste Mal, wenn sie noch mehr braucht, dann schreibt sie: ›hochverehrter Herr Papa‹!«

»Jetzt da schau her, wie sich die aufregt«, sagt der Bauer halb verwundert, halb spottend, macht dann eine wegwerfende Handbewegung und wendet sich zum Fenster. »Es ist bloß, weil du nichts verstehst von feinen Umgangsformen.«

»So? Wenn das feine Umgangsformen sind, wenn so ein Madel alle vierzehn Tage mehr als hundert Mark braucht, dann weiß ich nimmer. Wenn’s nach mir ging, müsst das Madel heim, denn dass sie da drinnen was Gescheites lernt, das glaub ich in alle Ewigkeit nicht.«

Ohne den Kopf zu wenden, erwidert der Bauer:

»Dann hättest sie doch gleich nicht fortlassen sollen.«

»Als ob ich vielleicht was zu sagen hätt! Ihr habt mich ja gar nicht gefragt, ob’s mir recht ist.«

»Man kann auch reden, wenn man nicht gefragt wird. Im Übrigen möcht ich bloß wissen, warum du dich jetzt so aufregst. Lassen andere Bauern ihre Kinder nicht auch ausbilden? Warum soll ich es mir nicht leisten können? Und überhaupt hat die Cilly Talent! Du wirst selber wissen, dass unser Sommergast voriges Jahr gesagt hat, es wär eine Schand, wenn so ein Talent verkommen müsst.«

»Ja, das glaub ich. Gesagt hat er’s schon, weil er gewusst hat, dass du es gern hörst. Du hast einen Narren gefressen an dem Dirndl! Wie gesagt: Wenn’s nach mir ging, müsst sie wieder in den Kuhstall hinaus.«

»Ja, freilich, sonst nichts mehr. Ich glaub gar, du brächtest das fertig.«

»Warum nicht? Meinst du, dass ihr das schaden könnt? Ich hab’s auch tun müssen.«

»Ja du. Das ist was ganz anderes. Du hast deswegen auch einen Bauern geheiratet. Aber unsere Cilly kann jetzt schon auf was Besseres spekulieren.«

»Ah, da willst du hinaus.«

»Ja, da will ich hinaus!«, äfft der Bauer nach.

Ohne noch ein Wort zu sagen, verlässt die Wieshoferin die Stube und geht in die Küche. Ein schwerer Seufzer löst sich aus ihrem tiefsten Inneren herauf.

Diese Frau ist noch nicht alt. Nur ein paar Jahre älter als vierzig. Und doch haben die zwanzig Jahre Ehe tiefe Falten in ihr Gesicht gezeichnet. Ihr Rücken ist frühzeitig behandlungsbedürftig wegen der Last ihres Kummers, und die Zeiten sind längst verschwunden, in denen sie hat herzlich lachen können. Da muss sie schon weit zurückdenken, die Wieshoferin, bis in die Kindheit und Jugend, die sie weitab von hier verlebt hat, auf einem stillen Waldbauernhof. Das war eine schöne, harmonische Welt, in der sie lebte mit Brüdern und Schwestern. Es war auch noch schön, als der Wieshofer kam und um sie warb. Und schön war es auch noch, als sie auf seinen Hof zog als Bäuerin. Es sollte keine Tränen geben auf so einem Hof, mit so prachtvollen Feldern und Wiesen. Aber wer würde nicht weinen, wenn er plötzlich erschreckend erkennt, dass der Mensch, mit dem man ein ganzes Leben leben soll, ohne Herz und Gefühl ist! Die Wieshoferin hat nachts oft in die Kissen geweint, noch bevor er die Hand erhob, um sie zu schlagen. Das war damals, als sie eine Magd vom Hof fortschickte, weil sie dem Bauern offensichtlich sehr gut gefiel. Und so vieles liegt in den zwanzig Jahren, was sie nie und nimmer vergessen kann. Aber sie hat sich gegen nichts mehr aufgelehnt, hat auch kein Wort gesagt, als er das Kind ganz auf seine Seite zog, damit sie keinen Einfluss auf seine Erziehung habe. Und Cilly schlägt ihm in allem nach. Sie ist hartherzig und aggressiv und von grenzenlosem Eigensinn beherrscht. Sie, die Mutter, hat überhaupt keinen Einfluss auf ihre Tochter und versucht auch gar nicht, ihr starrköpfiges Wesen zu ändern. Sie hat gelernt, sich widerstandslos in dieses Leben zu fügen, hat gelernt da zu sein, wenn man sie ruft, und von selbst wieder unterzutauchen in ihre grenzenlose Einsamkeit.

Während die Wieshoferin in solch schweren Gedanken ihre Arbeit verrichtet, malt der Bauer in der Stube fein säuberlich die Adresse auf die Postanweisung.

»So«, sagt er. »Jetzt schick ich meiner Cilly das Geld. Schütt ich halt alle Tage ein Tröpferl Wasser in die Milchkannen, dann kommt’s bald wieder herein.«

Nach der Brotzeit setzt er die Pelzkappe auf und geht ins Dorf. Der Weg dorthin beträgt eine halbe Stunde, denn der Wieshof liegt hoch oben auf einer Anhöhe. Von dort aus hat man einen schönen Blick in das Land hinaus. Man kann auch das kleine Haus im Geiertal sehen, zwar fast versteckt hinter den hohen Tannen. Der Bauer sieht feinen Rauch zwischen den Ästen aufsteigen und murmelt: »Wart nur, du brauchst nimmer lang Feuer zu machen da hinten. Dir heize ich schon ein, aber ganz gehörig.«

Am Postschalter werden an diesem Tag gerade die Renten ausgezahlt, und es herrscht ein ziemlicher Andrang. Unbekümmert um die Wartenden bahnt sich der Wieshofer mit dem Ellbogen den Weg zum Schalter. Mit protziger Gebärde legt er das Geld auf das Zahlbrett und schiebt es durch das Guckfenster, wobei er laut sagt:

»Hier! Geld für meine Cilly!«

Der Beamte, der erst einige Tage Dienst macht und den Wieshofer nicht kennt, fährt ihn grob an:

»Können Sie nicht warten, bis Sie an der Reihe sind?«

Der Wieshofer ist so verblüfft, dass er im Augenblick nichts herausbringt als: »Ha, was haben Sie gesagt?«

»Dass Sie gefälligst warten sollen, bis Sie dran sind!«

Erst das Kichern hinter seinem Rücken bringt den Wieshofer zum Bewusstsein seiner Würde. Mit schriller Stimme schreit er durch das Schalterloch:

»Ja, wie hätten wir es denn? Sie wissen wohl nicht, wer ich bin? Ich bin der Wieshoferbauer! Verstehen Sie mich?«

»Das ist mir ganz gleich, wer und was Sie sind«, erwidert der Beamte. »Jedenfalls ist das nicht in Ordnung, wenn Sie hereinkommen und sich vordrängen, wo andere schon länger als eine halbe Stunde warten.«

»Von denen versäumt ja keiner was.«

»Das spielt hier keine Rolle.«

»So, das wird nachher sehr wohl eine Rolle spielen. Das werden wir schon sehen. Da täuschen Sie sich aber ganz gewaltig, wenn Sie meinen, Sie könnten uns Bauern so behandeln. Wir rühren uns schon, darauf können Sie Gift nehmen. So wär’s recht! Was sich der schon einbilden tät, der windige Postler.«

»Wenn Sie nicht ruhig sind, zeige ich Sie an wegen Beamtenbeleidigung.«

»Freilich. ’s Maulhalten lass ich mir auch noch anschaffen von dir. Dazu bist du mir noch zu jung, dass du es weißt.«

Der Beamte weiß keine Antwort mehr, fertigt die Postanweisung ab und schiebt dem Wieshofer den Abschnitt hin.

»Wir sprechen uns an einem anderen Platz«, sagt der Beamte ganz ruhig. »Der Nächste bitte.«

Wie ein gereizter Gockel verlässt der Wieshofer das Postamt und schwört dem Beamten blutige Rache.

»Den treffe ich schon einmal unter vier Augen. Aber dann hat er sich gewaschen. So putz ich ihn zusammen, dass er kleiner wird als mein kleiner Finger. Bürschlein, werd ich sagen, wenn du mich noch einmal so behandelst, dann rutscht mir die Hand aus. Oder glaubst du vielleicht, du bist mehr als ich?«

Der Bauer spricht alles laut vor sich hin und fuchtelt mit den Armen herum, wie wenn das Opfer seines Zornes leibhaftig vor ihm stünde.

Plötzlich verstummt er und fällt in eine langsamere, gemütliche Gangart, weil er den Herrn Pfarrer hinter dem Fenster seines Büros bemerkt.

Sie wollen wissen, wie es weitergeht?Dann laden Sie sich noch heute das komplette E-Book herunter!

Besuchen Sie uns im Internet:www.rosenheimer.com