Melodie der Liebe - Hans Ernst - E-Book

Melodie der Liebe E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Florian Eck hat von seinem früh verstorbenen Vater nicht nur das leidenschaftliche Temperament geerbt, sondern auch die Begeisterung für Musik. Dank seines großen Talentes kann er alle Schwierigkeiten überwinden und seinen Lebenstraum verwirklichen: Der Junge vom Land steht nun als berühmter Geiger im Rampenlicht, wird von seinem Publikum umjubelt und die Frauenherzen fliegen ihm zu. Eigentlich müsste Florian glücklich sein, doch auch wenn seine Konzerte ihn um die halbe Welt führen, kann er seine Heimat und seine verlorene Jugendliebe Maria niemals ganz vergessen.

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2011

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Bearbeitung und Lektorat:Petra Schnell, Stephanskirchen am SimseeTitelfoto oben: Johannes Netzer, © www.fotolia.comTitelfoto unten: Studio von Sarosdy, DüsseldorfSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54383-8 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Melodie der Liebe

Florian Eck hat von seinem früh verstorbenen Vater nicht nur das leidenschaftliche Temperament geerbt, sondern auch die Begeisterung für Musik. Dank seines großen Talentes kann er alle Schwierigkeiten überwinden und seinen Lebenstraum verwirklichen: Der Junge vom Land steht nun als berühmter Geiger im Rampenlicht, wird von seinem Publikum umjubelt und die Frauenherzen fliegen ihm zu. Eigentlich müsste Florian glücklich sein, doch auch wenn seine Konzerte ihn um die halbe Welt führen, kann er seine Heimat und seine verlorene Jugendliebe Maria niemals ganz vergessen.

I

Ein Vorfrühlingstag. Die Luft ist erfüllt vom Geruch der frischgepflügten Äcker, die sich hoch hinaufziehen, bis zu dem schattendunklen Buchenwald, durch den man stundenlang wandern kann auf geheimnisvollen, uralten Wegen.

Es gibt kein Geräusch an diesem milden Frühlingsnachmittag. Nur manchmal hört man von den Weingärten herab den schrillen Klang einer Harke, wenn sie auf einen Stein trifft. Ab und zu ist vom Rhein herauf auch das Klingen einer Schiffsglocke vernehmbar oder die langgezogene Sirene eines Schleppers.

Hoch oben in einem Weinberg arbeitet Florian Eck mit seiner Mutter. Sie arbeiten ein gutes Stück voneinander entfernt, der Junge am Steilhang, die Mutter neben dem schmalen Weg.

Florian Eck ist gerade sechzehn Jahre alt geworden; ein schmächtiger, schmaler Junge, dessen Gedanken immer erfüllt sind vom Leben draußen in der Welt. Bis jetzt ist er noch nicht viel weiter gekommen als ein Stück den Rhein abwärts, nach Bacharach, oder über den Rhein hinüber, nach Bingerbrück und Bingen. Manchmal überfällt ihn die Sehnsucht nach der Ferne so unvermittelt, daß er auf und davon laufen möchte. Aber da ist die Mutter, die ihn braucht und der das Herz brechen würde, ginge er fort.

Die hohe, von schwarzen Locken umkräuselte Stirn des jungen Winzers ist in nachdenkliche Falten gelegt. In leisem Selbstgespräch bewegt er die Lippen, dabei sind seine Augen sehnsüchtig in die Ferne gerichtet. Auf einmal beginnt er eine Melodie vor sich hin zu summen — eine neue Melodie, die er selbst nicht kennt.

Frau Eck horcht ein wenig zu und arbeitet dann wieder weiter. Klein und gebückt steht die Frau im Weinberg und harkt unermüdlich, und der Frühlingswind spielt mit ihren grauen Haaren, die sich unter dem Kopftuch hervorstehlen. Sie ist erst etwas über vierzig. Aber das Leben und das Schicksal sind hart und grausam zu ihr gewesen und haben in das schmale Gesicht Falten gezeichnet, die sie um zehn Jahre älter erscheinen lassen.

Auf einmal ist Florian in ihrer Nähe. Unweit von ihr sitzt er auf einem Holzblock, hat die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und schaut ihr ins Gesicht.

»Wenn du müde bist, Mutter«, sagt er, »dann laß die Arbeit sein. Das kann auch ich machen, sobald ich morgen da oben fertig bin.«

»Wenn du da oben fertig bist, geht es drüben im andern Stück weiter, Flori.«

Der Junge seufzt.

»Weinbergharken, ackern, Weinbergharken, Kartoffelsetzen, Heuarbeiten, in den Wingert gehen ... « Immer dasselbe, Jahr für Jahr. Er wird es nächstes Jahr wieder tun, in derselben Reihenfolge, und in zehn und in zwanzig Jahren auch. So wird sein Leben ablaufen, immer im gleichen Einerlei, und seine Träume werden nie Wirklichkeit werden und seine Sehnsucht wird nie Erfüllung finden. In dieser Arbeit wird sein Leben ablaufen. Am späten Abend geht man heim, und da schmecken die einfachen Dinge am besten. Schwarzbrot, frische Butter und ein Stück Käse, ein Glas Milch dazu, ein königliches Essen, wenn man von der Frühlingsluft so richtig ausgeweht und redlich müde ist von der Arbeit, die die dreißig Morgen Weinberg von den beiden abfordern.

»Nächste Woche ist schon Ostern«, sagt Florian nach einer Weile. »Da kommt Bäckers Maria und Reinhards Erich in Ferien heim.«

»Meinst du, daß sie dich noch kennen?«

»Warum nicht, Mutter? Ich hab’ mich doch nicht so verändert seit dem vorigen Sommer.«

»Nein, du nicht. Aber die andern werden sich verändert haben. Äußerlich und innerlich. Wirst ja sehen, ob sie dich noch kennen wollen.«

Der Junge starrt über den Berg hinweg, schließt in angestrengtem Nachdenken die Augen und sagt dann: »Die werden mich sicherlich noch kennen wollen. Sie haben mich doch immer abgeholt und sehen wollen.« »Sie waren aber inzwischen in der Großstadt, kennen die Welt und das Leben von der anderen Seite.«

»Und da meinst du, daß man deshalb die alten Freunde vergessen könnte?« Florian steht erregt auf, seine Augen funkeln, und seine Hände ballen sich zu Fäusten. »Mutter, die haben keinen Grund, auf mich herunterzusehen.«

Mit diesen Worten wendet er sich ab und steigt wieder den Berg hinan.

Die Mutter legt die Hände auf dem Harkenstiel aufeinander, legt das Kinn darauf und blickt ihrem Jungen nach, der langsam, Schritt für Schritt, hinaufsteigt und nun nicht mehr singt wie vorhin. Sie kennt ihn und weiß, daß er nun über das Gespräch nachdenkt und doch zu keinem Schluß kommt, weil er nicht begreifen will, daß die Kinderzeit vorbei ist, von da ab also vieles anders kommt, ganz gleich, ob man es will oder nicht.

Und während ihr Blick den Sohn mit warmer Zärtlichkeit verfolgt, denkt sie auch an ihren Mann, der bei einem unglückseligen Autounfall ums Leben kam und nichts zurückließ als die kleine Bergonzi-Geige und einen Sohn, den er nie zu sehen bekam.

Ja, eine kleine, braune Geige. Ein sehr wertvolles Ding, auf der der Sohn nun spielt, jeden Abend und im Sommer auch vor den Gästen, die sich in der kleinen Straußwirtschaft ab und zu einfinden.

Die Sonne sinkt. Glocken läuten von jenseits des Hügels. Dunkle, ernste Töne, die etwas Trauriges haben. Mutter und Sohn machen Feierabend und gehen heim.

*

Das Anwesen der Witwe Eck liegt außerhalb des Städtchens. Der ebenerdige Stock, der einen kleinen Stall und eine Futterkammer umfaßt, ist aus Felsstücken gebaut und lehnt sich mit der Rückwand gegen einen Weinberg. Der Oberstock ist weiß getüncht und umfaßt neben Flur und Küche eine Wohnstube und zwei Kammern. Im Flur, der sich nach hinten etwas erweitert, sind einige Tische und Bänke angebracht; eine sogenannte Straußwirtschaft. Auf einer Steintreppe mit einem hölzernen Geländer, gelangt man in das Innere des Hauses. Inmitten des Gartens, der sich bis zur Straße hinaus erstreckt, steht ein mächtiger Lindenbaum, in dem um diese Abendstunde die ersten Stare um die Wette singen.

Während die Mutter in der Küche das Feuer schürt, füttert Florian die Kühe und richtet die Streu zurecht. Da klopft es am kleinen Fenster, und als Florian nachschaut, ist es Bergmanns Anna, eine Kindergespielin von ihm. Seit sie bei einer Schneiderin in der Lehre ist, kommt er eigentlich weniger mit ihr zusammen. Um so verwunderter ist er, daß sie nun plötzlich an das kleine Stallfenster geklopft und nach ihm gerufen hat.

»Was gibt es denn so Wichtiges?« fragt er und sieht ihr ins Gesicht, das in der Dunkelheit ganz matt leuchtet. »

Ich habe etwas zu einer Kundin bringen müssen, und nun bin ich in die Nacht hineingekommen. Der Pechvogel hat gerufen, und nun fürchte ich mich, Flori. Sei doch so lieb und begleite mich. Nur bis zu den ersten Häusern, wo die Straßenlampe brennt. Willst du, Flori?«

»Natürlich will ich«, sagt er überlegen lächelnd. »Wenn du dich fürchtest, will ich dich gern begleiten. Komm!« Er faßt sie beim Handgelenk und geht mit ihr durch den Garten auf die Straße hinaus.

»Und das mit dem Pechvogel«, sagt er nach einer Weile, »das ist Humbug. Das gibt es nicht.«

»Doch! Hörst du? Jetzt ruft er wieder. Und wenn er ruft, dann ist ein Unheil nahe. Es stirbt vielleicht jemand.«

Wirklich, ja, es kommt ein Ruf über den Wingert vom Wald herab. Ein langsamer, kläglicher Ruf, ein so verstörtes Klagen, bald laut und dann wieder geheimnisvoll und leiser.

»Eine Eule ist es«, sagt Florian und lacht das ängstliche Mädchen, das sich so fest an seinen Rockärmel klammert, herzhaft aus. Dann beginnt er leise vor sich hin zu singen, wie am Nachmittag hinterm Pflug, ohne Worte. Ein schwermütiges Lied, passend zur Dunkelheit, und das Mädchen geht leise neben ihm her, läßt seinen Rockärmel immer noch nicht los und hört zu.

Da kommen sie in den Lichtkreis der ersten Straßenlampe, und Florian fragt, ob sie sich nun allein nach Hause getraue.

Sie trennen sich, und Anna fragt ihn noch, ob er sich auch freue, wenn Ria und Erich nächste Woche in Ferien kämen.

»Aber natürlich freu’ ich mich«, antwortet Florian. »Dann sind wir endlich mal wieder alle vier zusammen. Vielleicht zum letztenmal. Erich geht nämlich zum nächsten Semester nach München und will zwei Jahre fortbleiben. Also, gute Nacht, Anna! Wenn du dich wieder fürchtest vor einer Eule, dann komm nur.

Vor sich hin pfeifend geht er den Weg zurück, ein wenig schneller, als mit der ängstlichen Anna, weil er denkt, daß die Mutter schon mit dem Essen auf ihn wartet.

So ist es auch. Der Tisch ist schon gedeckt, und bei seinem Eintreten schlägt die Mutter das Kreuz, betet laut vor, und Florian braucht nur das Amen zu sagen. Dann sitzen sie unter dem freundlichen milden Schein der Lampe und löffeln wortlos die Nudelsuppe.

»Iß nur fest«, sagt die Mutter und schiebt Florian die Schüssel hin. Dann steht sie auf, um im Ofen nachzulegen.

Florian legt den Löffel weg, lehnt sich zurück und schließt einen Moment die Augen. Er horcht auf den Frühlingswind, der draußen leise rauscht.

Die Mutter hat inzwischen den Tisch abgeräumt und das Nähkästchen aus dem Wandschrank genommen.

»Bub, das ist schauderhaft, was du zusammenreißt«, sagt sie und breitet eine alte Lodenjoppe auf den Knien aus. » Schau nur einmal her. Wo bist du denn da wieder hängengeblieben, Flori?«

Florian muß seine Gedanken erst herholen aus weiten Fernen.

»Das ist doch nicht so schlimm, Mutter. Das kann man wieder zusammenflicken. Anders ist es, wenn ein Herz einen Riß hat. Da ist mit Nadel und Faden nichts zu machen.«

Frau Eck hebt das Gesicht. »Was redest du wieder für Zeug, Flori? «

»Ach, laß nur gut sein, Mutter. Das sind nun mal meine Gedanken. Ich weiß selbst nicht, wo die herkommen.« Er geht hinter dem Tisch herum, bleibt hinter der Mutter stehen und schlingt dann plötzlich seine Arme um ihren Hals.

Frau Eck läßt den Anfall stürmischer Zärtlichkeit lächelnd über sich ergehen. Dann sagt sie: »Was fehlt dir denn wieder, Flori?«

Es zuckt ein wenig um die Mundwinkel des Jungen. Dann strafft er sich und wendet sich ab.

»Nichts, Mutter! Was soll mir denn fehlen? Wenn du bei mir bist, ist alles gut, muß alles gut sein.«

Seufzend beugt sich Frau Eck wieder über ihre Arbeit. Sie weiß, daß ihn etwas bedrückt. Aber sie weiß auch, daß sie nicht in ihn dringen darf, weil er sonst noch verschlossener wird.

Ganz still ist es in der Stube geworden. Auf einmal wird ein singender Ton laut. Florian sitzt hinten beim Ofen im Dämmerwinkel und stimmt seine Geige.

Sie hat ihr Schicksal, diese Geige. Weiß Gott, was die schon alles gesehen hat. Kindertränen und jubelnde Feste. Schnaps und Bier ist darübergeflossen. Sie hat sich alles geduldig gefallen lassen, die kleine, braune Geige, und empfindet sicher auch die leise Zärtlichkeit, mit der sie dieser Jüngling behandelt.

Die Hände Florian Ecks gleiten liebkosend über das dunkelpolierte Holz; schmal und langgliedrig sind diese Hände, und unter der braunen Haut wölben sich die blauen Adern.

Die Mutter blickt über die Achsel zurück nach ihrem Sohn. Der hat die Geige unter dem Kinn und beginnt zu spielen.

Erst ist es ein zartes, verschleiertes Suchen. Dann bekommen die Töne Kraft und Klang. Die schlanke Knabengestalt kommt in ein leichtes, rhythmisches Wiegen, seine Augen leuchten.

Die Mutter läßt die Hand mit der Nadel sinken, verschränkt die Hände im Schoß und lauscht.

Der letzte Ton verklingt im Raum. Es ist wieder ganz still, bis die Mutter sagt: »Das war schön, Florian. Wie heißt das Lied?«

»Das war kein Lied, Mutter. Das war die Frühlingssonate von Beethoven. « Er kommt aus seinem Winkel heraus und stellt sich vor die Mutter hin. In seinen Augen ist noch immer der frohe, erregte Glanz, seine Wangen glühen. »Du hast recht, Mutter. Es war doch ein Lied. Alles, was wir fühlen und empfinden, sind Lieder. Auch das Leben ist ein Lied. Die Melodie dieses Lebens ist zwar immer verschieden, dem einen klingt sie lieb und freundlich, dem andern hart und traurig. Frau Eck schüttelt verständnislos den Kopf. »Was du da wieder sagst ... «

Die Augen des Jungen verlieren den frohen Schimmer, und ein dunkler Schatten fällt über sein Gesicht.

»Ich weiß, Mutter, du verstehst mich nicht.«

Frau Eck ist zumute, als verspüre sie einen Dolchstoß. »Florian«, sagt sie streng. »Wie sollte eine Mutter ihr Kind nicht verstehen? Aber du bringst manchmal Dinge daher, die ich mit dem besten Willen nicht verstehen kann. Sie sind auch nicht für Leute, wie wir es sind. Gewöhne dir ab, Florian, mit Gedanken und Worten zu spielen.«

»Mutter! Man kann doch das, was einem im Herzen und in der Seele brennt, nicht immer in sich ersticken. Man geht ja zugrunde dabei.«

Plötzlich legt Florian Geige und Bogen auf den Tisch, kniet vor der Mutter nieder und umklammert ihre Knie. Hastig und erregt, als hätte er Angst, sie möchte ihn in seinem Redeschwall unterbrechen, spricht er zu ihr: »Mutter, ich fühle es ganz tief drinnen, ich muß Musik studieren, mich ganz der Musik verschreiben. Mein Spiel hat noch keinen Sinn, ich will mehr, es fehlt noch etwas. Ich will es richtig lernen!«

Seine Sätze sind abgehackt, aber seine Augen sind voller Zielstrebigkeit.

Frau Eck beugt sich zu ihm nieder und umschließt mit beiden Händen sein Gesicht.

»Bub, du weißt doch, wie arm wir sind.«

»Es wird gehen, Mutter. Du mußt nur den Willen haben. Ich hab’ doch jeden Pfennig für das Konservatorium gespart. Du sollst mir nichts dazugeben, Mutter! Willst du denn gar nicht, daß etwas aus mir wird?«

»Du weißt doch, Flori, daß ich nur dein Bestes will. Schau einmal: dein Vater war auch Musiker, aber ich hab’ nie von ihm gehört, daß er hätte mehr sein wollen. Warum willst denn du so hoch hinaus? «

»Weil ich keine Lust hab’, mein Leben lang einen Kaffeehausgeiger zu machen, der nur mechanisch die Noten herunterspielt.

»Sprichst du von deinem Vater?«

»Nein, Mutter! Ich hab’ doch Vater gar nicht gekannt. Ich spreche nur von mir. Ich kann dir das nicht so sagen, Mutter, aber ich fühle es, daß ich in der Musik etwas erreichen kann. Bitte, Mutter, laß mich doch aufs Konservatorium. Glaub doch an mich, Mutter. «

Frau Eck muß ihren Blick von den bettelnden, zwingenden Augen ihres Sohnes fortwenden. Sie fühlt, daß sie »ja« sagen müßte. Aber in ihrem Herzen sträubt sich etwas dagegen, und eine panische Angst steigt in ihr hoch. Sie will ihr Kind nicht verlieren. Und verloren geht er ihr, wenn sie ihm hilft, seine geheimen Pläne zu verwirklichen.

»Nein«, sagt sie nach einer Weile gepreßt. »Ich kann dich nicht fortlassen. Jetzt noch nicht. Du bist noch zu jung. «

Mit einem Ruck schnellt er hoch. Seine Augen füllen sich mit trotzigen Tränen, die Lippen sind hart aufeinandergepreßt.

»Mutter! Fühlst du denn nicht, wie weh du mir tust?«

»Aber Kind, sei doch vernünftig!«

»Ich werde es sein. Ich liebe dich und werde tun, was du willst. Aber jetzt laß mich gehn, ich will allein sein. Gute Nacht, Mutter!«

Mit raschen Schritten eilt er aus dem Zimmer. Frau Eck macht eine hilflose Geste.

Da öffnet sich die Tür noch einmal. Florian steht auf der Schwelle, eine tiefe Falte zwischen den Augen.

» Es tut mir leid, Mutter, daß ich so hart war, aber ich muß dich Dinge fragen, die du mir bisher immer vorenthalten hast.«

Frau Eck hält beide Hände an die Ohren. »Hör auf, Flori. Ich will nichts mehr hören.«

»Doch, Mutter! Ich will endlich Klarheit haben. Du sollst mir sagen, Mutter, ob mein Vater — — ein — Zigeuner war ... «

Zuerst geht ein leises Zucken über das Gesicht der Frau, dann richtet sie ihre Augen auf den Sohn.

»Warum mußt du das wissen?«

»Weil ich es sehr oft zu hören bekomme, immer ein wenig boshaft und spöttisch.«

»Es hat niemand ein Recht, über deinen Vater zu spotten. «

»Sie tun es aber doch. Immer auf eine höhnische, versteckte Art, die mir das Blut ins Gesicht treibt. Und drunten, auf dem Grabstein, steht es ja auch: Bela — Bela Eck! Bela heißt hierzulande kein Mann. Solche Namen gibt es mehr bei den Zigeunern in Ungarn. «

»Das sagt immer noch nicht, daß dein Vater deswegen ein Zigeuner gewesen sein muß.«

»Du weichst meiner Frage aus, Mutter. Ich muß es wissen, weil ich mich selbst dann leichter begreifen kann. Diese Unruhe, die mich zuweilen überfällt, die muß ich doch irgendwo herhaben.«

»Dein Vater war nicht unruhig. Er war immer sehr ruhig und still. Ruhig trat er in meinen Weg, und ganz still hat er um mich geworben. Komm, Flori, du sollst nun alles wissen.«

Frau Eck steht auf und geht in den Dämmerwinkel.

»Setz dich zu mir, Flori! «

Als Florian sich zu ihren Füßen auf einen kleinen Schemel gesetzt hat, beginnt die Mutter zu erzählen: »Es ist nicht ganz richtig, wie ich vorhin sagte, daß er still um mich geworben hat. Er selbst hat kaum etwas gesprochen. Aber die kleine, braune Geige hat für ihn geworben. Es war um die Zeit der Weinlese! Ich kam vom Wingert, mit der Legel auf dem Rücken und Erdklumpen an den Schuhen. Da sah ich ihn zum erstenmal. Ich habe wohl gehört, daß in den Sommermonaten eine ungarische Zigeunerkapelle im Städtchen gespielt hat. Aber ich habe sie nie gesehen, bis dieser fremde Mann auf dem schmalen Wingertweg vor mir stand. Er stand auch am andern Tag und die nächstfolgenden Tage dort, sprach nie ein Wort, das mich hätte ahnen lassen, was er mit seinem täglichen Erscheinen bezwecken wollte. Es kam dann so, daß ich traurig war, wenn er einmal nicht da war.

Und dann — eines Nachts, begann es vor meinem Fenster zu singen und zu klingen. Es waren seltsame, traurige Weisen, die er spielte. So seltsam, wie du sie manchmal spielst. Ich stand wohl auch dann eines Nachts bei ihm unterm Lindenbaum, sagte ihm, daß er fortgehen solle, weil es keinen Wert habe. Aber da war es schon zu spät. Zu tief hatte er sich schon in mein Herz gespielt. Wir konnten nicht mehr voneinander lassen.

Damals lebte mein Vater noch, und es gab einen fürchterlichen Auftritt, als ich ihm sagte, daß ich den fremden Geiger heiraten wolle. Ich entschloß mich dann, mit dem fremden Geiger fortzuziehen. Aber dann kam es anders. Mein Vater wurde krank, und es kam ganz von selbst, daß Bela Eck unseren Acker pflügte und in den Wingert ging. Mein Vater sah wohl ein, daß dieser Fremde nicht nur geigen konnte, sondern daß seine Hände jede Arbeit anzupacken wußten.

Zwei Monate später haben wir geheiratet, in aller Stille, weil mein Vater krank war. Acht Tage später starb er schon. Vorher aber hat er Bela zu sich gerufen, hat ihn lange bei den Händen gehalten und hat gesagt: »Dich hab’ ich verkannt. Bist ein tüchtiger Kerl und kannst mein Mädl wohl glücklich machen. Ja — glücklich sind wir gewesen, wie es nur zwei Menschen sein können, die einander alles sind. Auf einer Reise nach Wien ist sein Auto von der Straße abgekommen, den Rest kennst du ja ... Am zehnten August haben wir ihn beerdigt, und am zwölften kamst du auf die Welt.«

In schmerzlicher Erinnerung deckt Frau Eck einen Moment die Hand vor die Augen. Dann sagt sie: »So, Flori. Nun weißt du alles! «

»Ja, Mutter. Ich danke dir.«

Ganz still, mit hängenden Schultern, geht er hinaus, und er kommt sich vor, als sei er in dieser Stunde um Jahre gealtert, als sei die Zeit auf einmal über ihn hinausgewachsen. Dann steht er in seinem Zimmer vor dem offenen Fenster.

»Der Wind hat auch eine Melodie«, denkt Florian und beugt sich ein wenig aus dem Fenster.

Und Florian hört auf die Stimme des Windes, bekommt allmählich wieder Mut und verliert sich wieder in das stille Träumen, wohin kein Mensch ihm folgen kann. Er denkt dabei wohl auch an den Mann, den seine Mutter geliebt hat, und der nun drunten auf dem Friedhof ruht und nichts zurückgelassen hat als eine Frau und ein Kind und eine kleine, braune Geige. Auch seine Mutter stellt er sich vor, wie sie damals wohl gewesen sein mag: jung und wunderschön.

Ganz versunken ist Florian in seine Gedanken. Er hört nicht, daß die Türe aufgeht, und fährt erschrocken zusammen, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legt.

Die Mutter ist es. Ganz still steht sie vor ihm, und das weiße Mondlicht umleuchtet sie. Dann zieht sie seinen Kopf an ihre Brust und spricht ihm ins Ohr: »Ich hab’ mir’s überlegt, Bub. Du kannst fortgehen diesen Winter! «

»Mutter! «

Ein lauter Jubelschrei entfährt ihm. »Mutter! Weißt du denn, wie glücklich du mich machst?«

Frau Eck lächelt still und wehmütig. Dann küßt sie ihn und geht still und leise, so wie sie gekommen ist, aus dem Zimmer.

II

Nun ist der Frühling mit Macht ins Land gekommen. Die Bäume blühen. Ostermontag ist es. Von Bingen läuten die Glocken zur Nachmittagsandacht über den Rhein. Ein Weilchen später hört man auch die Rüdesheimer Glocken über den Berg herüberklingen.

»So seid doch einmal still und horcht«, ruft Florian Eck den anderen nach, die lachend ein Stück vor ihm auf dem Fußweg dahinstürmen, der von Assmannshausen zum Niederwald-Denkmal führt.

Nur Anna Bergmann bleibt stehen und wartet auf Florian, der langsam, mit versonnenem Blick, daherkommt. Erich Reinhard und Maria Werner marschieren unbekümmert weiter.

Florian ist stehengeblieben, und Anna steht nun neben ihm, zierlich und schmal.

»So sag doch etwas, Flori«, sagt sie nach einer Weile. Er gibt keine Antwort. Erst als das leise Rauschen in den Wipfeln verstummt ist, wendet er ihr sein Gesicht zu.

»Das mußt du dir merken, Anna. Wenn ich über etwas nachdenke, dann darfst du mich nicht stören.«

»Ich tu’ es nicht mehr, Flori. Über was hast du denn nachgedacht? «

»Ach, über so vieles. Hast du nicht achtgegeben, wie seltsam das vorhin alles war. Dieses harmonische Ineinanderklingen der Glocken von hüben und drüben. Die einen kraftvoll, die anderen ganz leise, sehnsuchtsvoll und verträumt. Wenn ich meine Geige hier hätte, möchte ich es versuchen, ob ich das nachspielen könnte.«

»Du brächtest das schon fertig, Flori.«

» Meinst du?«

»Ich glaub’ es sicher, Flori.«

Er faßt sie bei der Hand. Man weiß aber nicht, will er ihr dadurch danken für dieses Wort oder tut er es aus einer alten Gewohnheit heraus. Jedenfalls behält er ihre kleine Hand in der seinen, als sie langsam weitergehen. Erst nach einer langen Weile fragt er: »Warum glaubst du das, Anna?«

»Ach, weil du doch immer alles fertigbringst. Du kannst aus deiner Geige so vieles herausholen. Ich glaube, daß noch einmal ein großer Künstler aus dir wird. «

»Ja? Glaubst du das? Und Maria? Meinst du, daß Maria auch daran glaubt?«

» Ria meinst du?«

»Maria Werner, Bäckers Maria, meine ich, ja.«

»Ich weiß es nicht, ob sie auch daran glaubt«, antwortet Anna nach einigem Überlegen. »Ria hat sich seit dem letzten Jahr ein wenig verändert. Hast du es noch nicht gemerkt? «

Seine Lippen pressen sich ein wenig zusammen.

»Sie versteht sich gut mit Erich, ja? Warum laufen die beiden eigentlich fort von uns? «

»Laß sie nur«, sagt Anna mit einem leisen Lächeln. »Ich bin lieber mit dir allein.«

Florian drückt ihre Hand.

Ganz still ist es im Wald. Der Lärm aus der Tiefe dringt zur Höhe nicht mehr herauf. Er verfängt sich schon im Gezweig der ersten Bäume am Fuße des Berges.

Sie wandeln wie in einer kühlen Halle, die schattig ist und ein grünes Dach trägt. Nur manchmal huschen durch die Lücken des Gezweiges ein paar Sonnenstrahlen.

»Wo wollen wir eigentlich hin?« fragt Anna.

Florian bleibt einen Augenblick stehen und blickt das Mädchen an.

»Zum Mäuseturm wollten wir doch. Aber eigentlich sind wir dumm, wenn wir den andern nachlaufen. Wenn sie nicht warten wollen, sollen sie sich allein begnügen. Komm.«

Er zieht sie bei der Hand hinter sich her, zu einer kleinen Lichtung, die unweit zwischen den Bäumen durchschimmert. Dort strecken sie sich ins Gras. »Warte«, sagt Florian, »du kannst meine Jacke haben. Hier ist der Boden noch feucht.« Er zieht seine Jacke aus, legt sie zusammen und schiebt sie als Polster unter ihren Kopf.

Er selbst setzt sich neben sie, verschränkt die Arme um die angezogenen Knie und träumt ins Land hinein. Er sieht den Rhein aus der Tiefe schimmern, ein breites, silbernes Band.

Maria kommt ihm in den Sinn. Ja, es ist irgend etwas Eigenartiges um Maria. Auf eine ihm unerklärliche Art zieht es ihn zu dem Mädchen hin. Daß sie mit Erich Reinhard fortgelaufen ist, erfüllt ihn mit Wut und Zorn. Aber er will es ihr sagen. Er überlegt, was er ihr sagen will.

»Bin ich dir jetzt nimmer gut genug? Dann geh aber auch zu Erich, wenn du Begleitung zum Klavierspielen haben willst.«

Jawohl! Dies und jenes wird er sagen. Ein wenig spitz und lakonisch will er es ihr hinwerfen, daß sie sich recht ärgern muß.

Er weiß eigentlich nicht, warum er sie ärgern will, er weiß überhaupt so vieles nicht. Aber wenn zum Beispiel Anna mit Erich fortgelaufen wäre, das würde ihn nicht mit solchem Zorn erfüllen, wenigstens nicht zu sehr.

Ach ja, die kleine Anna. Plötzlich erinnert er sich ihrer und wendet den Kopf nach ihr. Sie liegt ganz still neben ihm und schläft. Er betrachtet sie etwas eingehender, mit der Neugier eines jungen Mannes. Blond ist ihr Haar. Sie trägt einen kinnlangen Pagenkopf. Es hat die Farbe eines reifenden Kornfeldes und bildet einen seltsamen Kontrast zu den schwarzen, für ihr Alter etwas starken Augenbrauen. Ihr Gesicht ist schmal und ein wenig bleich. Nur der kleine Mund leuchtet darin — ganz dunkelrot, wie Rosenblätter. Schneeweiß blitzen die Zähne hinter den halbgeöffneten Lippen, und ihre Brust hebt und senkt sich unter den ruhigen Atemzügen.

Sie ist eigentlich hübsch, denkt er, angenehm erregt von ihrem Anblick. Ja, hübsch ist sie, die kleine, sanfte Anna, die einmal Schneiderin werden will. Aber Maria ist schöner. Maria ist wunderschön. Er beugt sein Gesicht über die Schlafende und drückt seine Lippen auf ihre Grübchen am Hals.

Darüber erwacht sie.

Florian fühlt, wie ihm alles Blut ins Gesicht springt. Er sagt etwas und weiß nicht, was er spricht. Aber es muß schon recht was Dummes gewesen sein, weil Anna so lacht. Das gibt ihm seine Fassung wieder.

»Warum lachst du? « fragt er fast grob.

»Weil du doch jetzt ganz etwas anderes sagen müßtest. «

»Deswegen brauchst du nicht zu lachen, du brauchst dich nicht lustig zu machen über mich.«

Erschrocken legt sie ihre Hand auf seinen Arm.

» Ach nein, Flori. Ich lach’ ja nur, weil ich so froh bin, weil du mich liebst.«

»Ich? Wieso? Wie kommst du auf diese Idee?«

»Ja, weil du mich doch geküßt hast.«

»Deswegen muß man nicht immer gleich jemand lieben. Aber natürlich hab’ ich dich ein wenig lieb, sonst hätte ich’s wohl nicht getan«, setzt er etwas wärmer hinzu. »Aber verstehst du denn schon etwas von Liebe?«

Nein, sie versteht wirklich noch nichts davon, weil sie ihn gleich fragt, ob er sie heiraten möchte. Sie sieht ihn dabei nicht an, sondern schaut in die Luft.

Florian hat das Gefühl, daß sie ihn bei dieser wichtigen Frage doch mindestens anschauen müsse. Aber da richtet sie sich schon auf, rückt eng an seine Seite und fragt zum zweitenmal: »Sag, Flori. Heiraten wir zwei einmal? «

»Aber natürlich, Mar — Anna, wollte ich sagen. Wenn du einmal die Jahre dazu hast.«

»Jetzt bin ich fünfzehn Jahre alt. Fünfzehn und fünf wären zwanzig«, meint sie.

»Ich wäre dann erst einundzwanzig«, rechnet Florian und meint, daß das für einen Mann noch zu früh sei. »Im übrigen«, sagt er, »müssen wir mindestens solange warten, bis etwas aus mir geworden ist. Und da kann noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen.«

»Ich warte gern so lange«, antwortet Anna und wickelt einen Grashalm um ihren Finger.

Ich bin eigentlich ganz glücklich, denkt er. Anna ist ein lieber, guter Kerl, und ich glaube, daß wir uns einmal gut vertragen. In diesem Augenblick aber sagt sie etwas, das ihn wie ein Schlag trifft.

»Ich hab’ immer geglaubt«, sagt sie, »du hättest Ria lieb.«

Etwas zu rauh auflachend, starrt er ihr ins Gesicht.

»Wie kommst du darauf?«

» Weil sie schöner ist als ich. «

»Du gefällst mir besser«, kommt es ihm über die Lippen.

Anna sucht seine Augen, um den warmen Schein darin aufleuchten zu sehen.

»Ja«, sagt sie dann, »es wird einmal sehr schön werden mit uns zwei. Wenn du einmal ein großer Künstler bist, dann reise ich immer mit dir von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Ich will immer um dich sein, damit du nicht einsam bist.«

Jetzt faßt er nach ihren Händen und spricht zu ihr von seinen Plänen und Zielen. Auch daß er im nächsten Winter aufs Konservatorium geht, erzählt er ihr. »Wirklich«, ruft sie erfreut. »Hat deine Mutter nun doch ein Einsehen gehabt? Flori, wie mich das freut. Und ich — ich habe auch schon gespart für diesen Zweck. Elf Mark und siebzig Pfennig habe ich beisammen. Die kannst du haben, Flori.«

»Ach, Annamädel«, sagt er gerührt. »Du bist ein guter Kerl.« Dabei nimmt er ihren Kopf in die Hände, sieht ihr ins Gesicht, biegt es ein wenig hinunter und küßt sie. Diesmal auf den Mund.

Da hört man Stimmen oben im Wald. Erschrocken lösen sich die beiden voneinander und blicken rückwärts. Zwischen den Stämmen sieht man Marias hellblaues Kleid schimmern.

»Wir wollen den beiden nicht merken lassen, wie es um uns steht«, befiehlt Florian kurz.

»Vielleicht sehen sie uns gar nicht«, meint Anna in scheuer Hoffnung.

Aber Maria Werner hat sie schon entdeckt und kommt auf die kleine Lichtung zugestürmt. Erich Reinhard folgt ihr auf dem Fuß. Sie strecken sich neben den beiden andern ins Gras.

»Ach«, seufzt Maria. »War das eine Hetzjagd. Ich wäre auch lieber hiergeblieben.«

Es gibt niemand eine Antwort. Nur Florian schaut über Anna hinweg zu ihr hin.

Maria ist wirklich schön. Sie ist so alt wie Anna, ist aber von einer ganz anderen Art. In ihren weichen, grazilen Bewegungen liegt eine tiefe Melancholie, und ihre dunklen Augen blicken zuweilen sehnsüchtig in die Ferne. Ihr Mund ist weich und schwellend. Manchmal zuckt es um die Mundwinkel wie in verhaltenem Schmerz. Ihr dunkelblondes Haar ist im Nacken zu einem schweren Zopf geflochten, der von einer grellroten Seidenschleife gehalten wird.

Sie spricht langsam, und ihre Stimme hat eher einen dunklen Klang. Lacht sie aber, so meint man eine ferne, helle Glocke schwingen zu hören. Wenn sie so sinnend in die Ferne blickt und dabei kaum merklich die Lippen bewegt, so könnte man sie am Ausdruck ihres Gesichts älter und reifer schätzen.

Florian starrt sie immer noch an.

»Warum seid ihr denn nicht nachgekommen?« fragt jetzt Erich, indem er seine Mütze abnimmt und sich den Schweiß von der Stirn wischt.

»Ich laufe niemandem nach«, versetzt Florian boshaft. »Gelt, Anna, wir laufen niemandem nach?«

Er fühlt, daß Maria ihn ansieht, und wird rot. Zorn und Wut schwinden zusehends, und er weiß, daß er kein Wort wird sagen können von all dem, was er sich zurechtgelegt hat. Er fühlt nur, daß alles gut und schön ist, weil sie nur da ist. Ja, schon allein ihre Nähe hat etwas Beglückendes für ihn.

Da sagt Erich zu Maria etwas auf Französisch, worauf sie lacht und ebenfalls in dieser Sprache antwortet. Sie sprechen überhaupt eine Weile diese fremde Sprache. Florian versteht kein Wort davon und denkt, sie sprechen nur deshalb so, weil es etwas ist, das er und Anna nicht zu wissen brauchen. Vielleicht spotten sie über ihn und Anna.

Sein Blick wird immer drohender, und auf einmal faucht er wild: »Du kannst schon deutsch reden, Maria. Mit diesem blödsinnigen Gequassel kannst du mir absolut nicht imponieren.«

Maria blickt ihn groß an, sagt aber kein Wort. Das ärgert Florian um so mehr. Er springt auf und steht mit geballten Fäusten vor ihr. »Ja, du! Du bist überhaupt ein ganz eingebildetes Ding geworden! Meinst du, weil du in der höheren Schule bist, kannst du auf unsereins herunterschauen? Bilde dir nur nichts ein! « »Aber Flori! « ruft Anna besänftigend.

Maria sagt immer noch nichts. Nur ihre Augen hängen an seinem Gesicht. Sie schimmern feucht, und ihre Lippen zucken.

Florian fährt erregt fort: »Meinst du, ich bin so dumm und merke nichts? Dich habe ich durchschaut! «

»Warum bist du denn so taktlos, Florian?« fragt jetzt Maria. Ihre Stimme will ihr kaum gehorchen. »

Wie kannst du denn von einem Bauernlümmel Takt verlangen, Ria ? « sagt Erich Reinhard hochmütig und gefaßt. — Es wäre besser gewesen, wenn er geschwiegen hätte, denn Florian springt mit einem heiseren Wutschrei auf ihn los und schlägt ihm die Fäuste ins Gesicht. Im nächsten Augenblick sind die beiden ein ringendes Knäuel. Erich ist größer und um zwei Jahre älter als Florian. Aber gegen die wilde Kraft des Jüngeren kommt er nicht an.

Endlich läßt Florian von ihm ab und geht, ohne sich umzusehen, fort. Die Fäuste in die Hosentaschen vergraben, den Kopf eingeduckt, schreitet er dahin. Er weint. Ja, jetzt, nachdem die fürchterliche Spannung, die auf ihm gelegen hat, sich ein Ventil verschafft hat, jetzt weint er.

»Warum hab’ ich es eigentlich getan?« denkt er. »Wegen dem Bauernlümmel vielleicht? Nein, nur wegen Maria. Ich habe gefühlt, daß der andere sich Rechte anmaßen will, daß er Maria verehrt.«

Ria — sagen die andern. Alle sagen Ria im Städtchen, auch ihre Mutter. Nur er kann es nicht. Er muß immer Maria sagen. Er weiß nicht, warum er den ganzen Namen sagen muß. Er muß es einfach.

Ohne auf den Weg zu achten, stolpert er wie ein Blinder dahin, in seiner Erregung immer schneller. Plötzlich merkt er, daß Anna neben ihm geht.

»Ach«, sagt er, »du bist da. Ich dachte, du seist bei den andern geblieben.« Er stößt das kurz und gereizt heraus.

»Ich laß dich doch nicht allein, Florian«, antwortet sie und trippelt weiter neben ihm her. »Sag einmal, Flori, warum bist du zu Ria so grob gewesen? Sie hat bitterlich geweint.«

»So? Hat sie geweint? Na ja, dann ist’s ja gut! «

»Und Erich hast du sauber zugerichtet. Das hättest du doch nicht tun sollen.«

»Doch, doch«, fährt er auf. »Das mußte sein. Der soll sich nicht einbilden, weil er jetzt studiert, daß — daß nun ja, du hast ja gehört, was er mich geheißen hat. Aber wenn es dir leid tut, dann bitte — —« Er macht dazu eine entlassende Handbewegung. »Du kannst ruhig zu den andern halten. Ich brauche niemanden! «

»Aber Flori! Willst du mit mir auch Streit suchen?« Sie hat Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

»Nein, Anna, ich will dir nicht weh tun. Komm, wir gehen zum Mäuseturm.«

Als sie dort ankommen und über die Wendeltreppe zur Terrasse hochsteigen, bietet sich ihren Augen ein Bild von unvergleichlicher Schönheit.

Drüben auf der anderen Seite des Rheins leuchten die Rebenhänge im Sonnenuntergang. Lichte Wolken stehen über dem Hunsrück, langsam verfließend sinken sie in den Waldrand. Und jetzt — jetzt ist der Strom da unten überstrahlt von Gold.

Die beiden jungen Menschen lehnen still an der Mauer und blicken in die Ferne. Dunkel und verschwiegen steht der Wald unter ihnen. Hell funkelnd steht der Abendstern über dem Strom. Der Sturm in Florians Herz beruhigt sich, und Anna hat ihren Anteil daran.

» Flori, wir müssen heimgehen«, sagt Anna nach einer Weile.

»Natürlich«, antwortet er, rührt sich aber nicht von der Stelle.

Erst als sie ihn nach einer Weile schüchtern am Ärmel zupft und sagt: »So komm doch, Flori, meine Mutter ängstigt sich sonst«, nimmt er sie bei der Hand und führt sie den dunklen Turm hinunter.

Ängstlich schmiegt sie sich an ihn. Und als sie durch das kleine Türchen ins Freie treten, sagt er: »Wenn ich bei dir bin, braucht deine Mutter sich nicht ängstigen. Sag ihr das. Oder nein, sag ihr lieber nicht, daß wir allein waren. Maria war bei uns, verstehst du?

Nein, sie versteht es nicht und fragt ihn, warum sie lügen soll.

»Du brauchst nicht zu lügen, wenn du nicht willst. Ich hab’ nur so gemeint. Aber schön war es doch«, sagt er dann, jäh auf ein anderes Thema überspringend. »Dieser Abend, nicht wahr? Das war doch alles so schön — die einfallende Dämmerung, das langsame Erlöschen aller Farben. Ich hab’ das noch nie so beobachtet wie heute.«

Anna hört ihm beseligt zu, wie er in lebhafter, glühender Phantasie Bild um Bild der abendlichen Schönheit entwirft.

»Weißt du«, sagt er dann, »das ist alles in meiner Seele. Alles hab’ ich in mich aufgenommen, und ich werd’ es auch behalten.«

»Ja, ja«, sagt sie andächtig und in tiefer Bewunderung, daß er für all diese Dinge eine Deutung hat.

»Das kann man nicht erlernen, Anna. Das kann man nur fühlen und innerlich erleben. Man muß dazu viel im Freien sein, mit der Natur also recht innig verbunden sein.«

»Ja, das möchte ich wohl auch, recht viel im Freien wandern. Recht große Freude macht es mir gerade nicht, den ganzen Tag in der Nähstube zu sitzen. Aber irgend etwas muß man ja lernen. Und die paar Jahre kann ich es schon aushalten. Bis dahin ist aus dir sicher schon was geworden, dann heiraten wir.«

» Was meinst du da?«

»Aber Flori!« lacht sie herzhaft auf. »Weißt du denn nimmer, was du gesagt hast? Es ist doch erst ein paar Stunden her.«

»Natürlich weiß ich das. Aber wir wollen nicht immer davon sprechen. Das hat noch Zeit.«

Der Weg kommt ihm recht langweilig vor, und er atmet befreit auf, als die ersten Häuser in Sicht kommen. Er bringt Anna noch bis an die Haustür. Dort gibt er ihr die Hand und sagt: » Gute Nacht, Anna! Schlaf gut! «

Sie hält seine Hand fest, und plötzlich schlingt sie ihre Arme um seinen Hals und küßt ihn. Im nächsten Moment ist sie in den Flur gehuscht, und die Tür klappt ins Schloß.

Florian steht einen Augenblick wie benommen, dann wendet er sich hastig um und geht durch die enge, spärlich erleuchtete Straße nach Hause.

Von der Kneipe dringt Lärm und Musik an sein Ohr. »Dort müßte ich jetzt sein«, denkt er. »Vielleicht könnte ich dann diese verdammte Unruhe von mir abschütteln.«

Er zermartert sich in Gedanken, bis er vor dem Haus steht. Ein Lichtschein füllt die Ritzen der Fensterläden. Die Mutter ist noch auf.

Als er dann am Tisch sitzt und seine Suppe löffelt, sagt die Mutter: »Ria und Erich sind schon lange daheim. Habt ihr Streit gehabt? «

»Ja, Mutter! Erich hat mich einen Bauernlümmel geheißen, und da hab’ ich ihn verdroschen.«

»Aber Florian! Kannst du denn dein Temperament gar nicht im Zügel halten? Erich hat das sicher nicht so gemeint. «

Florian legt den Löffel weg, starrt eine Weile vor sich hin und sagt: »Ach, weißt du, Mutter, das allein ist es ja auch nicht gewesen. Es ist wegen Maria. Da hat sie ... « Erschrocken hält er inne und weicht dem forschenden Blick der Mutter aus.

»Ich hab’ dir ja schon oft gesagt, daß ihr euch fremd werden müßt. Die Kinderzeit ist nun einmal vorüber. «

»Anna hat sich aber nicht verändert, Mutter.«

»Anna ist auch nicht fort gewesen. Aber es wird auch noch kommen. Wart nur, bis sie einmal ausgelernt hat und selbständig ist.«

» Nein, Mutter, Anna wird sich nicht verändern. «

Frau Eck blickt ihren Jungen abermals forschend an. »Wie willst du das wissen, Flori ? «

Er zuckt die Schultern. »Ich hab’ nur so gemeint. Im großen und ganzen wäre es ja auch egal. Es wird wohl so sein, daß es nie mehr so sein wird wie in den Jahren der Kindheit. Da hielt man zehn oder zwölf Jahre zusammen, und auf einmal hört es auf, und schließlich geht man aneinander vorbei, als ob man sich nie gekannt hätte.«

Florian begleitet seine Worte mit einem eigentümlichen Lachen. Dann steht er auf und holt seine Geige aus dem Kasten. Mitten im Spiel bricht er dann ab und stellt sich vor die Mutter hin.

» Mutter! Wie war es denn damals mit dir und Vater? Habt ihr euch sehr geliebt?«

»Wie kommst du jetzt auf so etwas, Kind?«

»Weil ich es wissen möchte — ich meine, ob da kein Alltag eingekehrt ist bei euch.«

»Nein, dazu war unsere Zeit zu kurz. Wir waren ja nur zehn Monate verheiratet, dann passierte der schreckliche Autounfall. Aber ich glaube, daß der Alltag auch dann nicht gekommen wäre. «

»Ja, so wird es wohl sein. Eine Liebe, wenn sie groß und tief ist, kann also nicht zum Alltag werden. Das wollte ich wissen.«

Er tritt wieder zurück ins Dunkel und spielt das Stück zu Ende, beginnt dann etwas anderes und hört dann plötzlich auf. »

Ich weiß nicht«, sagt er, »es will nicht recht gehen heute. « Er legt die Geige etwas unsanft in den Kasten. Sie gibt einen schrillen Ton von sich, und die Mutter wendet den Kopf zurück.

»Aber, Florian. Was ist denn heute mit dir?«

»Nichts, Mutter. Was soll denn los sein mit mir? Ein bißchen müde bin ich, weiter ist nichts.«

Er geht aus der Stube, hinauf in sein Zimmer. Dort reißt er das Fenster auf und beugt sich weit über die Brüstung und atmet in tiefen Zügen die Luft ein.

Florian fühlt eine Unruhe in sich, wie noch nie. Schließlich nimmt er ein Glas, geht in den Keller und füllt es bis zum Rand mit Assmannshauser Spätlese.

In einem Zug stürzt er den Wein hinunter und steht dann wieder still vor dem Fenster. Die Nacht ist voll von Geräuschen. Auf dem Rhein zieht still und feierlich ein hellerleuchteter Personendampfer dahin. Später hört man das Rauschen des Wassers beim Anlegen an der Brücke. Dazwischen klingt frohes, vertrauliches Lachen und Geigenspiel. Das kommt von der kleinen Kneipe her und dauert bis nach Mitternacht.

*

Um diese Stunde steht auch Maria Werner am Fenster ihres Zimmers. Vor dem Fenster erhebt sich der Glockenturm der Kirche. Gerade schlägt die Uhr. Elf schwere Schläge sind es, die das Zimmer mit ehernem Klang erfüllen.

»Jetzt sind es sieben Stunden«, denkt sie, »daß Florian mich so gequält hat. Ob er weiß, wie tief er mich verletzt hat? Und warum er es getan hat?«

Jedes seiner Worte ruft sie sich ins Gedächtnis zurück und sucht es zu deuten. Und immer wieder kommt der Schmerz, mit der gleichen Größe und der gleichen Schwere, wie sie ihn im Dunkel des Waldes empfunden hat.

Ein einzelner Schlag klingt vom Turm und über eine Weile sind es zwei. Maria tritt vom Fenster zurück und zieht die Vorhänge zu.

» Florian ... «, sagt sie leise, und hält, kaum ist ihr der Name entschlüpft, ängstlich den Atem an. Da ist ihr, als sei das ganze Zimmer erfüllt von diesem Namen. Sie spricht den Namen nochmal vor sich hin und stellt sich vor, Florian sei bei ihr. Ja, ganz deutlich sieht sie ihn vor sich stehen, braungebrannt, mit dem bestimmten Lächeln um den Mund und dem verträumten Blick in den Augen.

» So ist er fast immer «, denkt sie. » Nur wenn er spielt, verändert er sich. Da leuchten seine Augen, da ist alles an ihm Konzentration und Leidenschaft.

III

Am anderen Vormittag geht Florian einkaufen, um Brot zu holen.

»Gehst zum Werner«, sagt die Mutter. »Dort haben wir schon lange nichts mehr geholt.«

»Ja«, sagt er, aber denkt sich dabei: »Zum Werner geh’ ich nicht.«

Wie er so auf der Straße dahinwandert, fühlt er plötzlich, daß er den ganzen Morgen an nichts anderes gedacht hat, als an Maria. Und dieses An-sie-Denken ist nun auf einmal ganz anders als in früheren Tagen. Es beginnt da in seiner Seele etwas zu klingen und zu schwingen. Und dann hat er doch wieder Angst vor einer Begegnung mit ihr, besonders nach dem gestrigen Vorfall. »Ich bin ein Esel«, denkt er. »Hab’ mich da gestern so hinreißen lassen, aus bloßer Eifersucht, und weiß doch gar nicht, ob Erich ihr etwas will. Ich müßte sie fragen, müßte ihr sagen, daß ich sie lieb habe.«

Plötzlich wird er aus seinen Gedanken herausgerissen. Oben, an einem Fenster eines Fachwerkhauses, steht Anna und winkt ihm glücklich lächelnd zu.

Willenlos hebt auch er die Hand, versucht ein Lächeln, das ihm aber nur mit den Lippen gelingt, und sucht dabei mit den Augen einen Ausweg, daß er so schnell wie möglich ihrem Blickfeld entschwinden könnte. Rechts über der Straße ist die Bäckerei Werner. Und hat er vor wenigen Minuten noch geglaubt, sein Brot beim anderen Bäcker holen zu müssen, so ändert er in diesem Augenblick seinen Sinn und geht die Steinstufen zum Laden hinauf.

Die Ladenglocke schrillt durch das Haus. Florian steht mit klopfendem Herzen. »Hoffentlich kommt Maria nicht«, denkt er, und im nächsten Augenblick: » Hoffentlich kommt sie. «

Da öffnet sich die Tür des Wohnzimmers. Maria tritt ahnungslos heraus, hebt die Augen und begegnet seinem Blick. Keiner bringt ein Wort heraus, und plötzlich wendet sie sich mit einem Ruck um und stürzt davon.

Florian hört sie nach der Mutter rufen: »Mutter! Du mußt in den Laden! «

»Ich kann augenblicklich nicht weg. Geh nur du«, ruft Frau Werner über die Treppe herab.

Florian lächelt befriedigt und ein wenig schadenfroh. »Jetzt muß sie mich doch ansprechen«, denkt er.

Maria kommt wieder, blickt an ihm vorbei und fragt mit schwankender Stimme: »Was möchtest du?«

» Einen Brotwecken und drei Pfund Mehl. «

Sie schiebt ihm den Brotwecken hin und reißt eine Papiertüte von der Stellage ab. Sie tut alles mit abgewandtem Gesicht, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Florian weidet sich an ihrer Verlegenheit und fühlt sich in dem Bewußtsein des Überlegenen. Die Fäuste auf die Ladentheke gestemmt, sieht er ihr zu, wie sie mit der Blechschaufel das Mehl in die Tüte füllt. Er merkt, wie sie schwankt, ob sie das beträchtliche Übermaß herausnehmen soll oder nicht. Plötzlich wirft sie die Schaufel in die Mehltruhe zurück und wickelt die Tüte zu.

»Ein Brotwecken und drei Pfund Mehl macht ... « — Maria legt einen Moment die Hand vor die Augen.

»Macht eine Mark und fünfundsiebzig Pfennig«, sagt Florian und lächelt recht spitzbübisch. Er nestelt ein Fünfmarkstück aus seiner Geldbörse, hält es ihr hin und faßt in dem Augenblick, als sie es nehmen will, nach ihrer Hand.

Maria zuckt ein wenig zusammen. Aber dann begegnen sich ihre Augen.

Ihm ist plötzlich, als stände jemand hinter ihm und flüstere ihm zu: »Jetzt sprich ihren Namen recht leise und zärtlich aus, so zärtlich, wie du nur kannst.«

»Liebe Maria«, sagt er und erschrickt vor dem heiseren Klang und der Farblosigkeit seiner Stimme. »Bist du mir bös, Maria?«

Sie schüttelt den Kopf und schließt flüchtig die Augen.

Da hört man den Schritt der Bäckersfrau auf der Treppe. Maria löst erschreckt die Finger aus den seinen, zieht die Schublade auf und kramt in der Kassette mit dem Kleingeld.

»Eine Mark fünfundsiebzig — achtzig — neunzig — zwei und drei sind fünf Mark.« Sie zählt die Münzen der Reihe nach auf den Ladentisch und sagt dann: »Zähl’s nach, ob es stimmt.«

Frau Werner betritt den Laden.

»Ach, der Florian. Sieht man dich denn auch einmal wieder?«

Florian schiebt die Münzen in die Geldbörse, steckt sie ein, nimmt den Brotwecken unter den einen Arm und unter den andern die Tüte mit dem Mehl.

»Wart, ich mach dir die Tür auf«, sagt Frau Werner und trippelt eilfertig um die Ladentheke herum.

»Hast du Florian nicht eingeladen, daß ihr wieder mal zusammen spielt?« fragt sie ihre Tochter.

»Doch, doch«, stammelt Maria verwirrt. »Natürlich hab’ ich das. Du kommst doch heute abend, Florian?

»Selbstverständlich komme ich«, antwortet Florian und tritt mit gerötetem Gesicht auf die Straße. Ein scheuer Blick huscht hinüber zu dem Fenster, an dem vorhin Anna gestanden ist. Jetzt ist es leer. »

Grüß mir die Mutter schön«, ruft ihm die Bäckersfrau noch nach, und Florian steht allein mit einem Brotwecken, drei Pfund Mehl und einer Menge verwirrter Gedanken.

Da bleiben seine Gedanken plötzlich wie vor einer großen unüberwindlichen Mauer stehen. »Wäre doch dieses Gestern nicht gewesen«, grübelt er vor sich hin. »Was ich aus Trotz getan habe, um meine Eifersucht zu betäuben, hat Anna für bare Münze genommen. Nun glaubt sie wohl, daß ich sie liebe und einmal heiraten werde. Ist ja alles Kinderei, und später werden wir alle beide einmal herzlich lachen darüber.«

*

Maria ist sofort, nachdem Florian den Laden verlassen hat, in ihr Zimmer gestürmt. »Er liebt mich«, flüstert sie leise vor sich hin. »Und ich liebe ihn auch«, hallt es aus ihr zurück. »Ja, ich liebe ihn«, gesteht sie sich freimütig und ohne die geringste Angst, daß sie sich täuschen könne. »Seit gestern liebe ich ihn. Und heute abend will ich ihn fragen, daß ich Gewißheit habe. Aber nein. Das ist ja unnütz. Seine Augen haben es bereits gestanden. Seine Augen lügen nicht.«

Es klingelt wieder im Laden, und die Mutter ruft nach ihr, daß sie in der Küche nach dem Feuer sehen solle.

Maria ist plötzlich wie verwandelt. Sie sieht die Welt mit einem Male in einem anderen Licht. Jede Minute und jede Stunde ist ihr wie ein langer Tag voll heller Fröhlichkeit. Nach dem Mittagessen steht sie vor dem Laden und blickt nach der Richtung, wo Florian wohnt. Sie kann das Haus nicht sehen. Nur die Krone des Lindenbaums ist sichtbar. Da kommt der Herr Vermessungsrat Reinhard mit seinem Sohn Erich das Gäßchen herauf. Maria ist es sofort klar, wo die beiden hin wollen. Und das will sie um jeden Preis verhindern.

»Tag, Ria«, sagt Erich recht kleinlaut. Er schämt sich offenbar mit seinem verbeulten und verkratzten Gesicht.

»Ja, kleines Fräulein«, sagt der Herr Vermessungsrat recht salbungsvoll und leise, »da habt ihr also gestern zugesehen bei der Rauferei und könnt es bezeugen, wie es war. «

»Um Gottes willen! « stammelt Maria erschrocken. »Sie werden doch kein so großes Aufheben machen wegen der kleinen Rauferei?

»So? Kleine Rauferei? Sieh dir meinen Jungen einmal an, wie er ausschaut. Wenn ihm auch in einem Teil ganz recht geschieht — ich habe ihm schon oft gesagt, er soll sich mit diesem Zigeunerjungen nicht abgeben — so kann ich es doch nicht ohne weiteres gut sein lassen.«

»Herr Rat, glauben Sie mir, Florian hat es längst schon bereut. Ja, gewiß, er ist heute hier gewesen und hat es mir gesagt. Und er wird auch gewiß alles zurücknehmen.«

Der Herr Rat lacht sarkastisch auf. »Zurücknehmen, ja. Die Prügel wird er zurücknehmen.« Er schwingt dabei seinen Spazierstock auf drohende und gefährliche Art. Dann nickt er seinem Sprößling zu und sagt barsch: »Komm, mein Junge. Wir wollen dem jungen Herrn da oben alles redlich zurückgeben.«

Maria steht einen Augenblick ratlos und voller Angst. Dann stürmt sie durch den Hausgang über den Hof und dann durch die Gärten. Sie springt, daß die Röcke flattern, und hat nach kurzer Zeit Florians Haus erreicht.

Frau Eck erschrickt, als sie hört, um was es sich handelt. Florian aber lächelt ganz gelassen und streckt sich dann wie einer, den die Arbeit ruft. »Daß du mich aufmerksam gemacht hast, Maria, dafür danke ich dir. Aber nun geh wieder. Und du auch, Mutter. Habt nur keine Angst um mich. Ich werde schon fertig mit den beiden.«

Aber es ist schon zu spät. Die beiden kommen schon durch den Garten. So geht Maria einfach in die Kammer hinaus und wartet, bis die beiden die Stube betreten. Dann führt sie Frau Eck durch den Stall, und von dort aus stürmt sie durch die Gärten wieder nach Hause.

Der Herr Vermessungsrat poltert, ohne anzuklopfen, in das Zimmer. »Da ist er ja, der Flegel!« schreit er und geht auf Florian zu.

Florian weicht keinen Schritt zurück, nimmt allen Mut zusammen und mißt Erich mit einem verächtlichen Blick. Dann sagt er: »Sonst ist es Brauch, daß man anklopft, wenn man in ein fremdes Haus kommt. Ich glaube, man nennt Leute, die das nicht tun, Flegel. «

»Bürschchen! Wie redest du denn mit mir?«

»In meinem Haus rede ich, wie es mir beliebt. Der Herr Rat meint vielleicht, in einem Armeleutehaus kann er die Regeln des Anstands nicht beachten. Aber zur Sache! Was wollen Sie von mir?«

»Ich will Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Rüpelhaftigkeit von gestern Ihnen nicht ohne weiteres geschenkt sein soll.«

Ja, der Herr Vermessungsrat spricht den »Zigeunerjungen« auf einmal mit »Sie« an.

»Bitte«, sagt Florian. »Wenn Sie es nicht gut sein lassen wollen, sie können mich ja jederzeit anzeigen. Übrigens « — er sagt dies zu Erich — »ich würde mich schämen, wenn ich du wäre. Mir wäre es nicht eingefallen, meiner Mutter davon nur ein Sterbenswort zu sagen. Du bist zwei Jahre älter als ich und brauchst deinen Vater als moralische Stütze. Hast du gemeint, ich krieche dann zu Kreuz und leiste Abbitte? Das glaubst auch nur du.«

Erich sagt kein Wort und blickt betreten auf seinen Vater, der den Unterkiefer hin und her bewegt, als hätte er eine Nuß zu kauen. In seinem tiefsten Innern mußte er Florian Eck recht geben, ja, ihn wegen seiner Courage bewundern, und er hätte seinem Sprößling am liebsten gesagt: »Da, sieh dir diesen an. Das ist ein armer Kerl. Nimm dir ein Beispiel an ihm.« Aber er darf sich doch um alles in der Welt keine Blöße geben. Deshalb sagt er: »Anzeigen, was hat das für einen Zweck? Bezahlen könnt ihr ja doch nichts. Das vernünftigste wäre wohl, ich würde meinen Stock auf deinem Rücken tanzen lassen, damit du dich in Zukunft im Zaum hältst.«

Florian lacht ihm wütend ins Gesicht, innerlich zittert er.

»Sie glauben wohl, ich würde mich hinstellen und mich von Ihnen schlagen lassen. Ich mache Sie auf die Konsequenzen aufmerksam, Herr Rat. Die Blamage, von einem Sechzehnjährigen zum Haus hinausgeworfen zu werden, die werden Sie sich doch wohl ersparen wollen. «

»Kerl! Du wirst frech! «

»Bitte, Herr Rat, wir wollen uns nicht mehr lange streiten. Erstens habe ich keine Zeit mehr, weil ich in den Wingert muß, und zweitens ist mir die Sache zu lächerlich. Erich hätte eben vorher bedenken müssen, daß ich mich nicht beschimpfen lasse. Wenn Sie meinen, die Sache nicht gut sein lassen zu können, dann zeigen Sie mich eben an!«

Mit diesen Worten geht Florian ruhig und gelassen an den beiden vorbei zur Tür hinaus, nimmt im Schuppen eine Haue, und geht, ein lustiges Liedchen pfeifend, den Hang hinauf. Als er nach einigen Schritten zurückblickt, verlassen die beiden eben das Haus, und er hört den Herrn Vermessungsrat sagen: »In Zukunft wähle dir eine andere Gesellschaft. Du mußt wissen, was du unserer Familie schuldig bist. Ich habe dir immer schon gesagt, du sollst dich mit diesem Zigeuner nicht abgeben.«

Florian steht mit aschfahlem Gesicht.

Zigeuner ...

Seine Fäuste umklammern den Stiel der Harke, daß die Knöchel weiß hervortreten. Am liebsten wäre er den Hang hinuntergesprungen und hätte verlangt, daß er dieses Wort zurücknähme. Aber da tritt die Mutter unter die Tür, und Florian wendet sich wortlos ab, stößt mit einem grimmigen Fußtritt das Gatter auf und geht den Weinberg hinauf.

*

Als Maria wieder zu Hause ankommt, stellt sie sich auf die Ladentreppe und wartet ängstlich, bis Erich mit seinem Vater zurückkommt. Sie hat Angst um Florian, denn sie kennt ihn und weiß, daß er, wenn er gereizt wird, alle Selbstbeherrschung verliert.

Da wird sie gerufen. Anna ist es, die drüben auf der anderen Seite unter dem Haustor steht und herzhaft in einen Apfel beißt.

»Komm rüber«, sagt Maria. Ihr Herz ist so voll, und sie will der Freundin von ihrem Glück erzählen.

»Wie bist du denn heimgekommen, gestern?« beginnt sie.

»Gut, Ria. Und schön ist es gewesen. Wir waren noch nach dem Mäuseturm. Übrigens, was ich dich bitten wollte, sei nicht bös mit Florian. Er hat es sicher nicht so gemeint. «

Eine kleine Falte schiebt sich zwischen Marias Augenbrauen.

»Hat er es dir gesagt? Und warum bittest du für ihn? « »Ach, Ria, hast du es denn nicht gemerkt? Wir haben uns doch lieb, ich und Florian.« Und sie beißt wieder von ihrem Apfel ab und blickt der Freundin glückstrahlend ins Gesicht. Und da erschrickt sie.

Maria steht da, ihre Wangen werden aschfahl. Nur der Mund leuchtet in diesem bleichen Gesicht und steht halb offen.

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV