Karol Wojtylas Theorie der Teilhabe als sozialphilosophische Grundlage personalistischer Pädagogik - Hans Ernst - E-Book

Karol Wojtylas Theorie der Teilhabe als sozialphilosophische Grundlage personalistischer Pädagogik E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Ausgangspunkt und Zentrum des Ansatzes von Karol Wojtyla ist die Person. In seiner Theorie der Teilhabe wird folglich Personalität - neben Solidarität und Subsidiarität - zum leitenden Prinzip eines Personalismus, der sich sowohl in Vernunft (Kant) als auch in Liebe (Scheler) begründet. Auf diesem Hintergrund kann personalistische Pädagogik im Dialog mit führenden Vertretern der Erziehungswissenschaft herausgearbeitet und konturiert werden. Karol Wojtyla, der akademische Lehrer aus der Lubliner Schule der Philosophie und spätere Papst Johannes Paul II., wollte mit seiner kritischen Theorie der Teilhabe von Anfang an politische und soziale Verhältnisse in Frage stellen und verbessern. Nach der von ihm maßgeblich unterstützten friedlichen Revolution in Polen, die sein Heimatland in eine westliche Demokratie, in die Europäische Union und in die NATO führte, stellt sich heute erneut in drängender Weise die Frage, wie ein friedliches und gedeihliches Miteinander von Menschen, Völkern und Staaten aussehen soll. Es geht in diesem Buch folglich um die richtige Form humanen Zusammenlebens, wie sie die Theorie der Teilhabe in sozialphilosophischer, soziologischer, politischer und pädagogischer Perspektive vorstellen will.

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Reihe Studien zur transzendentalphänomenologischen Pädagogik und Wertlehre

Band 3

Studie 10

Phänomenologisch fundierte Pädagogik im Anschluss an die transzendentale Phänomenologie (v. a. Husserl, Scheler) und die darauf gegründeten philosophischen Hauptschriften (Habilitationsschrift, „Person und Tat“) des Karol Wojtyła

„… die Person ist ein solches hohes Gut, daß einzig die Liebe die angemessene, gültige Haltung zu ihr bildet.“ (Karol Wojtyła)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Hinführung und Vorschau auf die Studie zur sozialphilosophischen Theorie der Teilhabe von Karol Wojtyła

2 Wesentliche Erkenntnismodelle des Sozialen aus der zeitgenössischen Schule der Phänomenologie um Husserl und Scheler als Hintergründe von Wojtyłas Theorie der Teilhabe

2.1 Husserls Erkenntnismodell der Intersubjektivität als artifizielles Konstrukt

2.2 Die genetische Vorgegebenheit des Mitmenschen bei Scheler (soziales Apriori, Du-Evidenz)

2.3 Vergleich der beiden Modelle im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit für die Theorie der Teilhabe

3 Das Spektrum sozialphilosophisch und soziologisch wesentlicher Kategorien als Zugangsweisen zur Theorie der Teilhabe im Anschluss an Husserl, Scheler und Wojtyła

3.1 Das monadische Ego Husserls

3.2 Das egoistische Individuum

3.3 Die interpersonale Gemeinschaft („Ich“-„Du“) mit ihrer konkreten Nächstenschaft als Communio personarum im engen Sinn

3.4 „Gesamtperson“ (Scheler) als größere Gemeinschaft („Wir“) – Communio personarum und Nächstenschaft im weiten Sinn

3.5 Gesellschaft und soziologische Systeme als Möglichkeiten sozialer Fehlentwicklungen (z. B. Individualismus, Antiindividualismus, Entfremdung, Entmenschlichung, Vernichtung)

4 Karol Wojtyłas sozialkritische Position

4.1 Der zeitgeschichtliche Kontext der Theorie der Teilhabe

4.2 Wojtyłas Drama „Der Bruder unseres Gottes“ als eine problemgeschichtliche Verortung seines sozialphilosophischkritischen Wirkens

5 Karol Wojtyłas sozialphilosophische Theorie der Teilhabe

5.1 Die Person als Fundament der Beschreibung von Gemeinschaft in „Person und Tat“

5.1.1 Verschiedene Haltungen in der Gemeinschaft

5.1.1.1 Authentische Teilhabe – Solidarität, Kritik, Dialog

5.1.1.2 Nicht-authentische Haltungen – Konformismus, Ausweichen

5.1.1.3 Weitere Fehlformen in der Haltung zur Gemeinschaft

5.1.2 Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft und das Verhältnis zum „Nächsten“

5.2 Die sozialphilosophische Theorie der Teilhabe im Spiegel der Kommentare/Fußnoten in „Person und Tat“

5.3 Die Weiterentwicklung der Theorie der Teilhabe im Aufsatz „Person: Subjekt und Gemeinschaft“

5.3.1 Die zwischenmenschliche Dimension der Gemeinschaft („Ich“-„Du“)

5.3.2 „Wir“: Gemeinschaft in Relation zur Gesellschaft (Die gesellschaftliche Dimension der Gemeinschaft)

5.3.3 Die sozialphilosophische Theorie der Teilhabe als Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit Fehlentwicklungen in der Gesellschaft

5.4 Zusammenfassende Darstellung der Theorie der Teilhabe unter Einbezug der diese erläuternden sozialphilosophischen und soziologischen Kategorien in einem Schaubild

6 Konsequenzen der kritischen, sozialphilosophischen Theorie der Teilhabe im Hinblick auf eine Grundlegung personalistischer Pädagogik

6.1 Anknüpfungsmöglichkeiten des personalistischen Ansatzes in der Pädagogik/Erziehungswissenschaft im Überblick

6.2 Sozialanthropologische/sozialphilosophische Grundlagen personalistischer Pädagogik nach Scheler/Wojtyła

6.2.1 Subsidiarität

6.2.2 Personalität

6.2.3 Solidarität

7 Die sozialphilosophische Theorie der Teilhabe und ihre Relevanz für Bildungstheorie/Didaktik (Klafki) und Bildungssoziologie/Organisationspädagogik (Fend)

7.1 Die bildungstheoretische, kritisch-konstruktive Didaktik Klafkis im Dialog mit Wojtyłas sozialphilosophischer Theorie der Teilhabe

7.1.1 Vergleich der Biographien

7.1.2 Vergleich der Bildungsbegriffe und der Bildungstheorie

7.1.2.1 Die Bildungstheorie von Wolfgang Klafki

7.1.2.2 Das Bildungsverständnis bei Karol Wojtyła

7.1.2.3 Vergleich der beiden Ansätze

7.1.2.4 Fazit

7.2 Der Erziehungswissenschaftler Helmut Fend als Bildungssoziologe im Dialog mit Karol Wojtyła

7.2.1 Der strukturfunktionale Ansatz (Parsons) in Fends Theorie der Schule unter personalistischer Perspektive

7.2.2 Der funktionalstrukturelle Ansatz (Luhmann) im Vergleich mit der personalistischen Theorie der Teilhabe (Wojtyła)

7.2.3 Der akteurzentrierte Institutionalismus (Max Weber) als Grundlage der Möglichkeit, die Theorie der Teilhabe soziologisch abzubilden und in eine personalistische soziologische Theorie zu transformieren

7.2.4 Fazit

8 Karol Wojtyłas Theorie der Teilhabe als Grundlage personalistischer Pädagogik

8.1 Was ist Personalismus?

8.1.1 Die historische und problemgeschichtliche Verwurzelung des Personalismus: Gründet er im christlichen Humanismus?

8.1.2 Ist der „höchste Wert“ im Personalismus die Freiheit?

8.1.3 Sollen Vertreter des Personalismus hinsichtlich ihrer Volks- oder Staatszugehörigkeit besonders akzentuiert werden?

8.2 Eine charakteristische, ideale Darstellung personalistischer Pädagogik (Józef Stala) im kritisch-komplementären Dialog mit Wojtyłas Sozialphilosophie und mit Erziehungswissenschaft

8.2.1 Charakterisierung personalistischer Pädagogik

8.2.2 Die ideale Form personalistischer Pädagogik bei Józef Stala

8.2.2.1 Ermöglichung von Kritik und Entwicklung von Kritikfähigkeit als komplementäre Ergänzung des Ideals

8.2.2.2 Der umfassende Einbezug der Theorie der Teilhabe in die Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsinstitutionen

8.2.2.3 Der notwendige Einbezug pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Grundlegung personalistischer Erziehung und Bildung

9 Rückblick, Ausblick und Dank

9.1 Rückblick

9.2 Ausblick

Literaturverzeichnis

Personen- und Stichwortverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Studie versucht, verschiedenen Ansprüchen nachzukommen, deren Bearbeitung noch ansteht oder noch weiter betrieben werden sollte. Zum einen widmet sie sich dem Vorhaben, Pädagogik auf dem Boden der originären transzendentalen Phänomenologie weiter zu begründen und zu konturieren. Dazu liegen vorausgehende Studien (die Studien 1 bis 9) vor, auf deren dort entfaltetem Personverständnis mit der entsprechenden philosophischen Anthropologie diese Studie zur Teilhabe aufbauen will. Personsein in Fülle kann erst richtig verstanden werden, wenn man es in seinen sozialen Kontext stellt. Insofern rundet die vorliegende sozialphilosophische Arbeit das Vorhaben ab, Pädagogik und Wertlehre im Gefolge der transzendentalen Phänomenologie zu fundieren und vorzustellen.

Zum anderen soll es mit dieser Arbeit möglich werden, das philosophische Werk Wojtyłas, dessen Rezeption in Deutschland noch in seinen Anfängen steht1, weiter herauszuarbeiten und verständlich zu machen. Da sich Wojtyłas philosophische Anthropologie an die von Scheler anschließt und weitergehend dazu Transformationen vornimmt, musste dieser Philosoph und Anthropologe für die Theorie der Teilhabe ebenso einbezogen werden wie Husserl, der das Paradigma der transzendentalen Phänomenologie mit einer besonderen Form der Intersubjektivität begründet hat. Wojtyła konnte seine Theorie der Teilhabe immer wieder im Anschluss sowie auch im Kontrast zu diesen beiden Forschern entwickeln und sie als Hintergrund seiner Form personalistischer phänomenologischer Anthropologie nutzen.

Da Scheler, mit dessen grundlegender Schrift sich Wojtyła schon in seiner Habilitationsarbeit auseinandergesetzt hat, als Begründer des ethischen Personalismus gelten kann, konnte in dieser Studie der Versuch gewagt werden, auf diesem Hintergrund das entsprechende Verständnis von Person und Personalismus im Anschluss an Scheler/Wojtyła weiter zu erhellen. Gerade die Theorie der Teilhabe stellt in diesem Zusammenhang – neben der Darstellung des Personbegriffs in früheren Studien – dafür eine weitere, wesentliche Grundlage dar.

Pädagogik ist ohne die Gemeinschaften, in denen ihre Praxis stattfindet, kaum denkbar. Deshalb kann die Theorie der Teilhabe mit ihren Prinzipien der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität in diesem Zusammenhang Anregungen für die Konturierung und vorbildliche Gestaltung von Erziehung, Unterricht und Bildung gerade auch im institutionellen Rahmen bieten.

Die Studie erwächst aus einer intensiven Zusammenarbeit beider Autoren/Autorinnen. Da die Theorie der Teilhabe die Bedeutung der nahen zwischenmenschlichen Gemeinschaften herausstellt, konnte sich diese im engsten Austausch, in Anregungen sowie Kritik und Dialog bestätigen und bewähren. In diesem Zusammenhang stehen auch weitere Personen, deren Dasein dieses Buch mit existenzieller Wirkung begleitet hat. Deshalb widmen wir ihnen dieses Werk: Cecilia, Irene, Max und Felix.

Würzburg, 10. Januar 2023

Hans Ernst, Gisela Ernst

1 zum Forschungsstand: vgl. Voderholzer 2021, 16; Endriß 2020, 5

1 Hinführung und Vorschau auf die Studie zur sozialphilosophischen Theorie der Teilhabe von Karol Wojtyła

Die zehnte Studie beschäftigt sich mit der aus der Schule um Husserl und Scheler hervorgegangenen Denkrichtung der transzendentalen Phänomenologie und ihrer Weiterentwicklung und Transformation durch Wojtyła in erster Linie unter sozialphilosophischem Aspekt. Deshalb sollen hier vor allem die sozialen Kategorien der Lebensgemeinschaften, der Gemeinschaften im weiteren Sinn, der gesellschaftlichen Gemeinschaften, der Gesellschaft und der soziologischen Systeme zur Sprache kommen, die auch in ihren möglichen Fehlentwicklungen (Egoismus, Individualismus, Antiindividualismus, Entfremdung und Entmenschlichung) zum Thema werden. Dass gerade die sozialen Beziehungen und Konstellationen der Entwicklung und des Daseins des Menschen mitmenschlich gefördert und begleitet werden müssen bzw. sollten, führt uns am Ende dieser Studie organisch zu den pädagogischen Konsequenzen, weshalb wir schließlich die so gewonnenen Grundlagen für die Pädagogik fruchtbar machen können. Wir erwarten Erkenntnisse, die gerade bildungstheoretisch, didaktisch und bildungssoziologisch wertvolle Hinweise für die richtige Gestaltung von Erziehungsprozessen, Lehrstrukturen, Schulen, Heimen und sonstigen pädagogischen Institutionen geben können. Indes bleibt die zehnte Studie dem eingeschlagenen Weg treu, eine phänomenologisch fundierte Pädagogik im Anschluss an die transzendentale Phänomenologie erarbeiten zu wollen. Wegen des damit verbundenen Anliegens, personalistische Pädagogik im Anschluss an Husserl, Scheler und Wojtyła zu konturieren, muss sich unsere Arbeit zunächst vertieft um die Herausarbeitung der sozialphilosophischen Grundlagen bemühen. Dabei gilt es vor allem, die Theorie der Teilhabe, welche sowohl in „Person und Tat“ (Wojtyła [1969, 1977] 1981) nur als Abriss vorliegt und in einem Aufsatz „Die Person: Subjekt und Gemeinschaft“ (Wojtyła [1976] 2011) in den Analecta Cracoviensia2 als Beitrag zur polnischen philosophischen Anthropologie ebenfalls von Wojtyła nur als unvollständige Skizze bezeichnet wurde, einer breiteren Öffentlichkeit, die an den philosophischen Grundlagen des Werkes Wojtyłas interessiert ist, vorzustellen und verständlich zu machen.

Zunächst besprechen wir das Erkenntnismodell Husserls, auf das sich Wojtyła immer wieder bezogen hat (vgl. Nissing 2011). Da dieses Modell für die phänomengetreue Erfassung der sozialen Dimension sehr problematisch ist, werden wir uns aber dann vorwiegend auf Schelers Modell des sozialen Apriori stützen, das von der genetisch natürlichen Vorgegebenheit der Mitmenschen ausgeht. Mit diesem Modell war es Scheler möglich, seine sozialphilosophischen und soziologischen Sichtweisen zu begründen, die wir folglich aufgreifen wollen, um Wojtyłas sozialphilosophischen Ansatz weitergehend zu entfalten und gesellschaftstheoretisch einzubetten. Auf diesem Hintergrund wird es möglich, ein Spektrum soziologisch relevanter Zugangsweisen und wichtiger Kategorien aufzufächern, das von der Monade Husserls bis zum abstrakten Gesellschaftssystem reicht.

Dieses Spektrum nutzen wir dann, um Wojtyłas Theorie der Teilhabe auf seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund vorzustellen und zu verstehen. Dabei fällt auf, dass die Theorie der Teilhabe kritisch-konstruktiven Charakter zeigt, worauf erst in neuerer Zeit explizit hingewiesen wird (vgl. Winter 2021, 118), wenngleich das literarische Schaffen Wojtyłas in den 40-er Jahren als Bühnenautor (vgl. Kaminskij/Kaminskij 2015) mit dessen dissidentischem Charakter schon unübersehbar sozialkritisch ausgerichtet war.

Nach der Besprechung der Theorie der Teilhabe auf dem herausgearbeiteten zeitgenössischen Hintergrund können wir Wojtyłas Ansatz weiter soziologisch einbetten. Dafür eignet sich die Theorie des akteurzentrierten Institutionalismus bestens, die auf Max Weber zurückgeht. Wir referieren sie im Anschluss an den Bildungssoziologen Fend, der seine Organisationspädagogik ebenfalls im akteurzentrierten Institutionalismus verankert hat. Damit können wir die Sozialphilosophie Wojtyłas auf dem Boden der Soziologie mit ihrer Fachsprache abbilden und so problemlos eine Brücke zur neueren Erziehungswissenschaft bauen.

Vorher beschäftigen wir uns aber mit den bildungstheoretischen Implikationen der Theorie der Teilhabe. Dabei möchten wir aufzeigen, welch große Übereinstimmungen zum Bildungstheoretiker Klafki und dessen bahnbrechender Theorie bestehen.

Am Ende dieser Studie diskutieren wir darauf folgend grundsätzlich, was unter Personalismus verstanden werden könnte. Dazu befassen wir uns mit der idealen Kontur, die personalistische Erziehung, Bildung und Schule bei Stala gefunden hat. Auf dem Hintergrund der in dieser Studie gewonnenen Erkenntnisse ist es uns dann möglich, dessen Beschreibung aus der Perspektive Wojtyłas und aus Sicht der Erziehungswissenschaft komplementär zu erweitern und zu ergänzen.

2 siehe Analecta Cracoviensia, Bd. 5 – 6 (1973 – 1974), S. 49 – 272

2 Wesentliche Erkenntnismodelle des Sozialen aus der zeitgenössischen Schule der Phänomenologie um Husserl und Scheler als Hintergründe von Wojtyłas Theorie der Teilhabe

In seiner Habilitationsschrift widmet sich Wojtyła dezidiert Schelers ethischem Personalismus und dessen materialer Wertethik. Die Aufgabe der Qualifikationsarbeit bestand vor allem darin zu überprüfen, ob es möglich ist, mit ihr eine christliche Ethik zu begründen (vgl. Ernst 2017, Studie 2). Von daher war der Krakauer Wissenschaftler engstens mit dem entsprechenden Ansatz der Schelerschen transzendentalphänomenologischen Bewusstseinsphilosophie vertraut. Auch die erste Auflage von „Person und Tat“ 1969 stützt sich auf die über Scheler gewonnene Theorie des intentionalen Fühlens von Werten und dessen Phänomenologie des emotionalen Lebens, auf deren Grundlage Wojtyła u. a. besonders die psychische Struktur der Person sehr eindrucksvoll anthropologisch erfassen und beschreiben konnte.

Erst in der amerikanischen, mit Tymieniecka überarbeiteten und mit Fußnoten versehenen Ausgabe von Person und Tat 1977 findet dann eine verstärkte Befassung mit Husserls Erkenntnismodell statt (siehe unten Punkt 5.2). Vielleicht war dieser späte Einbezug Husserls der Herausgabe der englischen Übersetzung in den Analecta Husserliana geschuldet. Gerade im Abriss zur Theorie der Teilhabe wird andererseits aber auch kein expliziter Bezug zu der auf dem sozialen Apriori begründeten Sozialphilosophie Schelers oder zu dessen Soziologie hergestellt. In den Fußnoten, die erst in der englischen Übersetzung 1977 angefügt wurden, wird dagegen ein (nachträgliches?) Bemühen um einen Bezug zu Husserl sichtbar. Deshalb müssen wir im Folgenden zum einen Husserls Modell der Intersubjektivität in unsere weiteren Überlegungen einbeziehen, zum anderen aber auch überprüfen, ob nicht Schelers apriorischer Ansatz der genetischen Vorgegebenheit des Sozialen besser zur Theorie der Teilhabe gepasst hätte. Der Abriss der Theorie der Teilhabe in „Person und Tat“ (1981) fußt nämlich auf dem dort herausgearbeiteten Verständnis der Person, das gerade in den anthropologischen Teilen zur Integration von Geist, Psyche und Somatik (vgl. Ernst 2017, Studie 5; Ernst 2020a; Ernst 2021a) in unübersehbarer Weise von Schelers philosophischer Anthropologie profitiert.

2.1 Husserls Erkenntnismodell der Intersubjektivität als artifizielles Konstrukt

Es war Descartes ([1641] 1976, 19ff.), der in einer Art Gedankenexperiment die Erfahrung der Außenwelt, darin auch die der Menschen in ihr, außer Geltung setzte. Ein böser Geist könnte ihn in deren Wahrnehmung täuschen, am Ende wäre die Welt vielleicht gar nicht oder anders als wahrgenommen da. Sicher war ihm nur das Ego mit seinem Denken. Berühmt wurde er mit dem bekannten Ausspruch des „ego cogito, ergo sum“ (Descartes, [1644] 2005, 15). Auf diesem Weg der (reduzierten) Egologie wird es aber ausgesprochen schwierig zu beschreiben, wie wir andere Menschen erfassen. Übrig bleibt nur der Analogieschluss vom eigenen Ego zum fremden Ich. Genau in dieser Problematik ist Husserl noch 1929 befangen, denn er konnte den anderen mit seinem Erkenntnismodell der Intersubjektivität nur in dieser Form – vom eigenen Ich ausgehend – erfassen.

„Also indiziert … der in meiner monadischen Sphäre [Herv. v. mir] auftretende Körper im Modus Dort, der als fremder Leibkörper, als Leib des alter ego apperzipiert ist, ‚denselben‘ [Herv. v. mir] Körper im Modus Hier, als den, den der Andere in seiner monadischen Sphäre [Herv. v. mir] erfahre.“ (Husserl [1929] 1977, 120)

Der andere wird also so erfasst, als „wenn ich dort wäre“ (a.a.O., 121; Herv. v. mir). In dieser Weise ergibt sich nach Husserl (a.a.O.) das, was er als „Paarung“ bzw. Intersubjektivität bezeichnet. Denn dabei, in der Wahrnehmung des anderen

„…, vollzieht sich Paarung. In sie tritt nicht nur die zunächst geweckte Erscheinungsweise meines Körpers sondern er selbst als synthetische Einheit dieser und seiner mannigfaltigen anderen vertrauten Erscheinungsweisen. So wird die verähnlichende Apperzeption möglich und begründet, durch welche der äußere Körper dort von dem mir eigenen analogisch den Sinn Leib erhält; in weiterer Folge den Sinn Leib einer anderen ‚Welt‘ nach Analogie meiner primordialen.“ (a.a.O.; Herv. v. mir)

Folgerichtig werden Gefühlsäußerungen des anderen

„…, z. B als äußeres Gehaben des Zornigen, des Fröhlichen etc. – wohl verständlich von meinem eigenen Gehaben her unter ähnlichen Unständen [sic!].“ (a.a.O., 123; Herv. v. mir)

Eine solche Art des Fremdverstehens stößt allerdings schnell an seine Grenzen, denn man erfährt angesichts des anderen eigentlich nur sich selbst in Analogie. Das hat auch Husserl als indirekte Wahrnehmung erkannt, die nur auf assoziativem Weg dazu führen kann, dass

„… jedes gelungene Einverstehen in den Anderen … neue Assoziationen und neue Verständnismöglichkeiten … [eröffnet]; wie es umgekehrt, …, das eigene Seelenleben nach Ähnlichkeit und Andersheit enthüllt, und durch die neuen Abhebungen für neue Assoziationen fruchtbar macht.“ (a.a.O.)

Husserl sieht selbst, welch gewagte Konstruktion seine Form der Fremderfahrung darstellt, dass sie – wie von Scheler ([1924] 1980, 56) – kritisiert und als Artefakt aufgefasst werden könnte, wenn er schreibt: „…; ist diese Tatsache nicht ein Rätsel?“ (Husserl [1929] 1977, 124)

Und bei aller Achtung für die herausragenden Leistungen des Forschers können auch die weitergehenden Glättungs- und Erläuterungsversuche dieser Art des Fremdverstehens (a.a.O., 124ff.) nicht recht überzeugen.

Scheler ([1913/16] 1980, 517) gibt Husserls Modellierung der Erfassung des Fremden ihre Berechtigung ausschließlich im besonderen Fall des Anderen in der anonymen Massengesellschaft, der – da unbekannt – nur in Analogie erfasst werden kann. Von daher ergibt sich folglich die Behauptung der Gleichheit aller, also auch unbekannter, anonymer anderer Personen, vor dem Gesetz, in Rechten und Pflichten im Staat.

Wojtyła (1981, 362f.) führt Husserls Modell des Fremdverstehens vermutlich wegen seines künstlichen Charakters nicht wirklich weiter, obgleich er sich in seiner Theoriebildung, beginnend mit den Fußnoten in der englischen Übersetzung, immer wieder darauf beruft. Der Sache nach steht er Scheler näher, der in seiner sozialphilosophischen und soziologischen Theorie Gemeinschaften im engen und weiten Sinn als „communio personarum“ auf dem sozialen Apriori begründet hat, eine Auffassung, die durchaus als Vorläufer von Wojtyłas späterem Verständnis von Teilhabe aufgefasst werden könnte. Anders als in seiner Habilitationsschrift (Wojtyła 1980), in der sich Wojtyła intensiv mit Scheler befasst hat, bezieht er sich aber in seiner Theorie der Teilhabe, soweit ich sehen kann, fast nicht auf ihn. Dessen soziologisches Konzept von Person, Gemeinschaft und Gesellschaft dürfte ihm allerdings bekannt gewesen sein, weil es – mit seiner philosophisch-anthropologischen, sozialphilosophischen und soziologischen Grundlegung – bereits in der Schrift zum ethischen Personalismus (Scheler [1913/16] 1980, 509 – 558) ausformuliert vorlag. Wojtyła, der sich – wie gesagt – in seiner Habilitationsarbeit intensiv mit dem Werk Schelers zum ethischen Personalismus befasst hat, setzt sich dagegen in seiner sozialphilosophischen Theorie explizit leider fast ausschließlich nur mit Husserl auseinander.

„In der vorliegenden Studie ist die Tat [nicht das monadische Ego] die grundlegende Quelle für das Erkennen des Menschen als Person. … Auf diese Weise wird die ‚Intersubjektivität‘ [Husserls] als reine Erkenntniskategorie hier in gewisser Weise in die ‚Teilhabe‘ umgewandelt. […] Es zeigt sich, daß wir auf diesem Weg zu einer umfassenderen (und – auf jeden Fall – zu einer komplementären) Fassung der menschlichen Intersubjektivität gelangen.“ (Wojtyła 1981, 362f.)

Für das Begreifen des Mitmenschen verwirft Wojtyła folglich Husserls Ansatz der Intersubjektivität nicht gänzlich, sieht in ihm jedoch eine Version des Fremdverstehens, die die angemessene Erfassung des Menschen, der gemeinsam mit anderen handelt, als künstliches Erkenntnismodell nur ansatzweise behandeln und nicht getreu den Phänomenen ausschöpfend vorstellen kann. Diese Zugangsweise Husserls zum Sozialen stellt für ihn also eine artifizielle methodische Engführung dar, die seinem Verständnis von Erfahrung nicht gerecht wird. Wojtyła entwickelt nämlich seine sozialphilosophische Theorie im Anschluss an das Phänomen des Menschen als „Person, die gemeinsam mit anderen handelt“, das jedem in der Erfahrung zugänglich ist, weshalb ihm die an der gemeinsamen Handlung beteiligten Menschen nicht zum schwierigen Rätsel oder Problem werden. In dieser Weise erweitert er seinen Ansatz von „Person und Tat“ um die soziale und soziologische Dimension, die natürlich – mit ihren mitmenschlichen Bezügen – immer schon im Horizont stand, nun aber in der fortgeschrittenen Entwicklung seiner Anthropologie in der Theorie der Teilhabe explizit in den Fokus seiner personalistischen Lehre rückt.

2.2 Die genetische Vorgegebenheit des Mitmenschen bei Scheler (soziales Apriori, Du-Evidenz)

„Die Lehre vom Analogieschluß als Ursprungslehre [der Fremdwahrnehmung] haben bereits Riehl und Lipps einer vernichtenden Kritik unterzogen.“ (Scheler [1923, 1926] 1974, 232) „Die Schwierigkeiten dieses Problems sind meist dadurch erst selbst gemacht worden, daß man annahm, es sei jedem «zunächst» nur das eigene Ich und dessen Erlebnisse «gegeben», ….“ (a.a.O.)

Schelers Beschreibung der Phänomene des Verstehens anderer Lebewesen stützt sich neben der Beobachtung menschlichen Verhaltens u. a. auf die Verhaltensbeobachtung bei Tieren „…, die sicher keine «Analogieschlüsse» machen“ (a.a.O.), gleichwohl aber sogar menschliche Verhaltensweisen „verstehen“. Zur Illustration zitiert er ein Experiment, das 1918 von Wolfgang Köhler durchgeführt worden war.

„«Es ist nicht schwer, etwa alle Schimpansen der Station auf einmal genau auf die gleiche Stelle sehen zu machen, indem man plötzlich den heftigsten Schreck markiert, und dabei wie gebannt auf den gewünschten Punkt starrt. Sofort fährt auch die ganze schwarze Gesellschaft zusammen – wie vom Blitz getroffen – und starrt an die gleiche Stelle, selbst wenn da gar nichts zu sehen ist.» Nach der üblichen Auffassung impliziert das einen Analogieschluß auf «mein Bewußtsein».“ (a.a.O., 232f.)

Mit Schelers Bezug auf die Phänomene der Tierbeobachtung und der kindlichen Entwicklung („Auch einem 25 Tage alten Säugling wird man schwerlich Analogieschlüsse zutrauen dürfen.“ – a.a.O.) erweist sich die Erfassung des Mitmenschen im Anschluss an die „philosophische Analogieschluß- und Einfühlungstheorie des Fremdbewußtseins“ (Scheler [1924] 1980, 56) – wie schon im Punkt 2.1 bemerkt – als unzureichend. Die Sache erhellt sich nämlich im Phänomen geradezu gegensätzlich. Genetisch ist es nämlich die

„… entgegengesetzte Richtung, in der wir fremde Erlebnisse als unsere eigenen erleben. Das heißt: «Zunächst» lebt der Mensch mehr in den anderen als in sich selbst; mehr in der Gemeinschaft als in seinem Individuum. Belege hierzu sind sowohl die Tatsachen des kindlichen Lebens als die Tatsachen allen primitiven Seelenlebens der Völker. Die Ideen und Gefühle und Strebensrichtungen, in denen ein Kind lebt, sind – abgesehen von den generellen wie Hungern, Dürsten usw. – zunächst ganz und gar diejenigen seiner Umwelt, seiner Eltern, Verwandten, größeren Geschwister, Erzieher, seiner Heimat, seines Volkstums usw. Eingeschmolzen in den «familiären Geist», verbirgt sich ihm sein Eigenleben zunächst fast völlig! [Herv. v. mir] … Erst sehr langsam erhebt es – gleichsam – sein eigenes geistiges Haupt aus diesem über es hinbrausenden Strome und findet sich als ein Wesen vor, das auch zuweilen eigene Gefühle, Ideen und Strebungen hat.“ (Scheler [1923, 1926] 1974, 241)

Ontogenetisch sind die Anderen also längst da und erlebt, bevor der Mensch seiner selbst gewahr wird. Die Fremderfahrung ist somit ursprünglicher als die Selbsterfahrung und längst gegeben, bevor sich der Mensch zum Individuum entwickelt und sich als solches erfährt. Das transzendentale Ego lässt sich deshalb nur künstlich unter Ausblendung der natürlichen Welt – im Sinne des Kunstgriffs des Descartes – als Monade konstruieren.

Unter Berufung auf die in „Wesen und Formen der Sympathie“ (Scheler [1923, 1926] 1974) dargelegten Phänomene, Argumente und Belege aus dem dritten Kapitel „Vom fremden Ich“ dagegen kann Scheler ([1924] 1980, 52) sein oberstes Axiom der Wissenssoziologie formulieren:

„Das Wissen jedes Menschen, er sei «Glied» einer Gesellschaft überhaupt, ist kein empirisches Wissen, sondern «a priori». Es geht genetisch den Stufen seines sog. Selbst- und Selbstwertbewußtseins vorher: Kein «Ich» ohne ein «Wir», und das «Wir» ist genetisch stets früher inhaltlich erfüllt als das «Ich».“ (a.a.O.) „Die «Du-heit» ist die fundamentalste Existenzkategorie des menschlichen Denkens.“ (a.a.O., 57)

Folglich ist die Genese des Menschen zum personalen Geistwesen nur aus vorangehender menschlicher Gemeinschaftserfahrung mit ihrer Zentriertheit im „Du“ und „Wir“ einleuchtend. Die phylogenetisch und ontogenetisch späte Stufe des „Ich“-Bewusstseins oder gar der Konstitution des Ego im Sinn der cartesischen Monade ergibt sich also erst als Folge der Auseinandersetzung des Subjekts mit dem „Du“ und dem „Wir“. Sie gründet in der „Du-Evidenz“ sowie im sozialen Apriori, weshalb die von Wojtyła gewählte Kategorie der Teilhabe sehr gut mit den sozialanthropologischen Erkenntnissen Schelers in Harmonie gebracht werden könnte, denn die Person existiert von der Zeugung an („suppositum“) gemeinsam mit anderen und sie wird sich ihrer im Laufe des Umgangs mit den anderen erst als Selbst bzw. als transzendentales Ego bewusst.

Wenn Scheler ([1916] 1957, 356) sagt: „Der Mensch ist, ehe er ein ens cogitans ist oder ein ens volens, ein ens amans.“, dann denken wir an das neugeborene Kind, das mit einer seiner frühesten Ausdrucksformen, nämlich mit einem Lächeln, auf das Gesicht seiner Mutter und seines Vaters reagiert und in die liebende Kommunikation mit seiner nahen sozialen Umwelt eintritt, lange bevor es ein Ich-Bewusstsein ausprägt.

Ich habe das Phänomen des Primats der Gemeinschaft unter dem Axiom des sozialen Apriori deshalb hier vertiefend ausgeführt, weil die sozialphilosophische Theorie der Teilhabe, wie sie Wojtyła formuliert hat, mit ihr bestätigt und vertieft werden könnte, denn sie beweist: Der Mensch lebt bzw. handelt immer schon mit und unter anderen Menschen, wie Wojtyła (1981, 303) das in seiner Theorie der Teilhabe als „gemeinsam mit anderen“ existieren und „gemeinsam mit anderen“ handeln zur Grundaussage seines Ansatzes macht. Als Phänomen findet jeder Mensch die Mitmenschen naturgegeben vor und kann sie ursprünglicher wahrnehmen und verstehen als sich selbst.

2.3 Vergleich der beiden Modelle im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit für die Theorie der Teilhabe

Wojtyłas Theorie der Teilhabe knüpft anscheinend in der mit Tymieniecka überarbeiteten englischen Übersetzung von „Person und Tat“ ([1977] 1981) an Husserls Erkenntnismodell der Intersubjektivität an, folgt man den dort neu angefügten Fußnoten. Fest steht aber, dass dieser Bezug im Text nicht hergestellt wird und Wojtyła Husserls Erkenntnismodell nicht übernimmt, es stattdessen transformiert und mit seinem Ansatz des gemeinschaftlichen Handelns von Personen komplementär ergänzt und weiterentwickelt.

Scheler dagegen hat schon in seinen frühen Schriften ([19232, 19263] 1974) den Analogieansatz Husserls hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeit des „Alter-Ego“ kritisiert und einen eigenen Zugang zu den Phänomenen des sozialen Daseins im Sinne des transzendentalen sozialen Apriori, der Du-Evidenz und der genetischen Vorgegebenheit des Mitmenschen vor aller Konstitution des „Ich“ gefunden und damit die Entwicklung modernen sozialphilosophischen und soziologischen Denkens vorbereitet. Der Ansatz Schelers ist dazu noch – nach wie vor – aktuell, denn viele seiner wegweisenden Erkenntnisse aus der Sozialphilosophie und Soziologie sind bis heute noch nicht aufgegriffen worden. (vgl. Cusinato 2015)

Dabei soll aber nicht übersehen werden, dass es Husserl war, der das Paradigma der transzendentalen Phänomenologie begründet und damit die hier zu behandelnde Thematik des Erfassens und Verstehens des Mitmenschen bzw. des „fremden Ich“ und die Erhellung der genetischen Vorgegebenheit des Mitmenschen bei Scheler methodisch angebahnt und ermöglicht hat (vgl. Loch 2005). Seine Lösung zur Frage der Intersubjektivität, an der er noch in den „Cartesianischen Meditationen“ (Husserl [1929] 1977) festgehalten hat, also die vom Ego ausgehende Konstitution des Alter-Ego bzw. „fremden Ich“, zeigt sich allerdings aufgrund der von Descartes stammenden Engführung auf das „denkende Ego“ im Sinne einer Erkenntniskategorie als unzureichend und in den wirklichen Phänomenen nur in wenigen Sonderfällen brauchbar – Scheler geht nur bei der Erfassung des anonymen, unbekannten Mitglieds der Gesellschaft von der Berechtigung des analogen intersubjektiven Begreifens aus. Ansonsten wurde – wie gesagt – die „philosophische Analogieschluß- und Einfühlungstheorie des Fremdbewußtseins“ von Scheler ([1924] 1980, 56) entkräftet und kritisiert.

Näher besehen hatte Scheler schon 1912 das Problem des Begreifens des anderen Ich besser erfasst als Husserl und seine Lösung in der zweiten Auflage von „Wesen und Formen der Sympathie“ in einem neuen Hauptteil C „Vom fremden Ich. Versuch einer Eidologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik der Erfahrung und Realsetzung des fremden Ich und der Lebewesen.“ (Scheler [1923, 1926] 1974, 8, vgl. auch a.a.O., 10) systematisiert und in anthropologisch-interdisziplinärer Zugangsweise mit großer Plausibilität und deshalb auch „realistisch“, d. h. in einer Weise, die in den Phänomenen Deckung findet, herausgearbeitet. Scheler profitiert in dieser Hinsicht gerade auch von der genetischen Perspektive, zu der die damals jungen Forschungen zur Entwicklungspsychologie, Tierpsychologie und Verhaltensforschung wie auch die philosophische Biologie (v. a. Plessner, Lorenz) wesentliche Erkenntnisse beigetragen hatten, die letztlich zum Entstehen der philosophischen Anthropologie als datenverarbeitender, interdisziplinärer Wissenschaft unter dem integrierenden Dach der Philosophie (Scheler, Plessner, Gehlen) geführt haben. Der von Scheler eingeschlagene Weg erwies sich anthropologisch als erfolgreich und wurde in seinem Gefolge in der philosophischen Anthropologie weiter beschritten.

Wojtyła bezieht sich in seinem sozialphilosophischen Vorgehen immer wieder auf diese Tradition, die zuerst von Husserl begründet wurde, wenngleich er dessen Ansatz – wie gesagt – transformiert und komplementär ergänzt. Dabei rückt er nicht die egologische Monade Husserls in den Mittelpunkt seines Denkens, sondern er entfaltet eine eigene Theorie der Teilhabe bzw. Intersubjektivität, die – ähnlich dem Schelerschen sozialen Apriori und der „Du-Evidenz“ – davon ausgeht, dass jeder Mensch sich von seiner anthropologischen Anlage her immer in Gemeinschaft mit anderen Menschen befindet und mit diesen „gemeinsam handelt“.

Denkt man den Ansatz Schelers zur Person, die a priori auf Mitmenschen ausgerichtet ist und sich in dieser Weise schon bevor sie das Licht der Welt erblickt unter anderen Personen vorfindet, konsequent weiter, führt dies zunächst zum Begriff der engsten Lebensgemeinschaft im Sinne interpersonaler Nächstenschaft („Ich“-„Du“-Beziehungen). Später kommen zu diesen Lebensgemeinschaften soziale Einheiten mit Nächstenschaft im weiteren Sinn („Wir“) hinzu. Wojtyła könnte sich auf diesem Hintergrund den mit der philosophischen Anthropologie Schelers gewonnenen Kategorien des Sozialen ohne Bruch anschließen.

Für prosoziale Konstellationen der Gemeinschaft, bei denen sich die Einzelnen nicht mehr persönlich kennen, etwa wie die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, einer Landsmannschaft (z. B. Franken, Badener) oder eines Volkes, hat Scheler auf dem Boden seiner Anthropologie den soziologischen Begriff der Gesamtperson geprägt. Mit dieser Kategorie führt er seine organisch-ganzheitliche Sicht des Sozialen weiter in die Beschreibung von Gemeinschaften im weiteren Sinn. Es geht ihm dabei um

„die Einheit selbständiger, geistiger, individueller Einzelpersonen «in» einer selbständigen, geistigen, individuellen Gesamtperson.“ (Scheler [1913/16] 1980, 522)

An dieses organisch-ganzheitliche Verständnis allerdings könnte sich Wojtyłas Theorie der Teilhabe nicht mehr anschließen, denn mit der soziologischen Kategorie der Gesamtperson geht Scheler über Wojtyłas Theorie der Teilhabe hinaus. Auch wenn „Person und Tat“ (1981) der Kenntnis der personalen Bewusstseinsphilosophie sehr viel verdankt, folgt das philosophische Werk hinsichtlich dieser soziologischen Kategorie der Schelerschen Soziologie nicht. Dies dürfte seinen Grund darin finden, dass sich diese Kategorie der Gesamtperson in der Soziologie nicht durchgesetzt hat, wohingegen sie als ein überindividuelles, organisch-ganzheitliches Subjekt im Bild des einen Leibes in der Theologie durchaus anerkannt ist. Wir verfolgen den Begriff hier gerade deshalb weiter, weil er für das Verstehen der sozialphilosophischen Theorie der Teilhabe Wojtyłas in „Person und Tat“ heuristischen Wert hat und stets als Horizont präsent ist. Gerade hinsichtlich des Verhältnisses der Einzelperson zur Gesamtperson und umgekehrt lassen sich nämlich auch wesentliche Übereinstimmungen feststellen (siehe unten Punkt 3.4). Denn es fällt auf, dass Scheler die „selbständige, geistige, individuelle Gesamtperson“ (Scheler [1913/16] 1980, 522) am Beispiel der christlichen Liebesidee und der „Heilssolidarität Aller im corpus christianum“ (a.a.O.), also am Beispiel der überindividuellen Sozialeinheit Kirche, herausarbeitet. Damit gewinnen wir über Scheler mit der Kategorie der Gesamtperson einen zur Theorie der Teilhabe komplementären Aspekt, der im Gesamtwirken Wojtyłas stets eine unübersehbar wichtige Rolle gespielt hat. Wir werden uns deshalb im nächsten Punkt 3, in dem ein Spektrum sozialphilosophisch für die Theorie der Teilhabe relevanter Kategorien aufgefächert werden soll, u. a. auf die Vorstellung der Gesamtperson (siehe Punkt 3.4) konzentrieren. Auf diesem Hintergrund kann dann im Punkt 5.3.2 Wojtyłas Verständnis größerer Gemeinschaften („Ich“-„Wir“) mit ihren Gemeinsamkeiten, aber auch im Kontrast herausgearbeitet werden.

3 Das Spektrum sozialphilosophisch und soziologisch wesentlicher Kategorien als Zugangsweisen zur Theorie der Teilhabe im Anschluss an Husserl, Scheler und Wojtyła

Wir erreichen nun neben dem Feld der Sozialphilosophie auch das der Soziologie mit ihren Begriffsbildungen zur sozialen Stellung/Rolle der Einzelperson und zu verschiedenen gemeinschafts-, gesellschafts- oder systemtheoretisch beschreibbaren sozialen Formen. Im Rahmen unseres Themas wollen wir uns in der Entfaltung dieser Kategorien vor allem an Husserl, Scheler und Wojtyła anschließen, die unterscheidbare, gegensätzliche oder komplementäre Perspektiven auf diese transzendentalphänomenologischen, sozialphilosophischen und soziologischen Kategorien eingenommen haben. Es geht uns dabei um das Spektrum der verschiedenen Formen des Sozialen zwischen den extremen Polen der singulären Ego-Monade