Ikarien - Uwe Timm - E-Book

Ikarien E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Der neue große Roman von Uwe Timm - »ein wuchtiges Nachkriegsepos« Der Spiegel Deutschland Ende April 1945: Michael Hansen, 25, kehrt als amerikanischer Offizier in das Land seiner Geburt zurück und übernimmt einen Auftrag des Geheimdienstes. Er soll herausfinden, welche Rolle ein bedeutender Wissenschaftler im Nazireich gespielt hat.Während regional noch der Krieg tobt, bricht Hansen von Frankfurt nach Bayern auf und bezieht Quartier am Ammersee. In einem Münchner Antiquariat findet er einen frühen Weggefährten des Eugenikers Professor Ploetz, den Dissidenten Wagner. Von ihm lässt er sich die Geschichte einer Freundschaft erzählen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau begann und die beiden Studenten über Zürich bis nach Amerika führte – und mitten hinein in die Auseinandersetzung um die beste gesellschaftliche Ordnung: Hier ein Sozialismus nachMarx, dort das utopische Projekt der Gemeinde Ikarien, die vom französischen Revolutionär Étienne Cabet in Amerika gegründet wurde.Hansen kommt durch die Lebensbeichte Wagners dem faustischen Pakt auf die Spur, den der Rassenhygieniker Ploetz mit den Nazis einging, und dem ganz anderen Schicksal, das den Antiquar wegen seiner widerständigen Haltung ereilte. Seine Reise durch das materiell und moralisch zerstörte Land lässt Hansen Zeuge eines Aufbruchs werden, der die deutsche Geschichte prägen sollte. Zugleich wird sie zu einer éducation sentimentale – auch in der Liebe werden ihm einige Lektionen erteilt.Eine gleichermaßen erschreckende wie berührende Geschichte von der Suche nach Alternativen zum Bestehenden und nach einem anderen Leben.

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Seitenzahl: 525

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Uwe Timm

Ikarien

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

HinweisWidmungMottoIkarienDie AusfahrtDer AuftragDas Haus am SeeDer alte Mann1. TagErkundungen2. TagDie Kaulbach-Villa3. TagMolly4. TagPX5. TagDer Mann mit dem Gamsbart6. TagLinderhof7. TagHamburg, Eppendorfer Weg 978. TagDas Motorboot9. TagDer Bronze Star10. TagDer Fichtenkreuzschnabel11. TagAbtransport der Forschungskartei12. TagFeindaufklärung13. TagGoing home14. TagDer letzte BesuchKrähenNachtrag 1Nachtrag 2EndeDanksagungLiteraturverzeichnis
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Nicht alles ist frei erfunden, aber alles frei gestaltet.

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für Dagmar

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Ein wissenschaftlicher Mann sollte keine Wünsche haben, keine Gefühle – nichts als ein Herz aus Stein.

Charles Darwin

Es ist tödlich, an die Stelle des alten Gottes eine löbliche und erfreulich immer vorwärtswachsende Welt zu setzen.

Gustav Landauer

Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.

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Er lebt.

Ich bin Zeuge.

Er hat überlebt.

 

Er lief durch die Straße und lachte und rief etwas und tanzte, ein wenig tapsig, aber es war ein Tanz, und er klatschte in die Hände. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen. Wie vom Himmel gefallen. Gedrungen war er und lallte, ging die Straße hinunter, vorbei an den Trümmern des Eckhauses, entlang der tarngrauen Fassade, aus der weiße Betttücher hingen, vorbei an dem Milchladen, am Schuhgeschäft, am Fischladen Grün, ihm entgegen kam Adolf Andersen, an diesem Frühlingstag nicht in brauner Uniform und glänzenden Schaftstiefeln, sondern in unauffälligem Grün, grün, grün, grün sind alle meine Kleider, auch hob er nicht, wie gestern noch, den Arm, rief nicht Heil, nein, er zog den Hut, grüßte übertrieben freundlich nach rechts und links, stutzte, blieb stehen, als dieser tapsende Junge ihm grinsend entgegenkam und seine kurzfingrige Hand ausstreckte, die Andersen nahm, überrascht und verlegen, und schon tappte der Junge weiter, stieß eigentümlich gurgelnde Rufe aus, Schreie, kein Schmerz, wohl eher Lust, vielleicht beides, Schmerzlustschreie – aus dem Mund, der zu klein schien für die Zunge, quollen Worte: Wolken meinte wohl eins, ein anderes Baum und eins Himmel. Oder Himmler?

Nein, Himmel.

Der Junge klatschte wieder in die Hände, tatsächlich, er tanzte, ein ungelenker Tanz, deutlich zu sehen, wie er einen langsamen Rhythmus mit den Händen klatschte, wie er zum Baum ging, dem einzigen hier stehen gebliebenen, der Bomben, Brand und die Sägen im Winter überstanden hatte, eine Kastanie mit Blättern wie kleine grüne Tatzen. Der Junge drängte sich an den Stamm, befühlte die Rinde, und seinem Mund entströmte ein Gurgeln. Er lief über die Straße, schlug mit den Armen, als wolle er fliegen, stieß heisere Schreie aus und folgte den Krähen, ahmte ihren Ruf nach.

 

Drei, vier Monate später, inzwischen wieder eingeübt in das, was normal sein sollte, begannen die Kinder, ihn zu ärgern. Sie verstanden ihn nicht. Er drohte mit der Faust. Aber selbst wenn es ihm gelang, eines von ihnen zu ergreifen, schlug er es nicht, sondern sagte nur: Schlaf brav! Und sagte: Schön leise!

Warum schlafen?

So spricht das Kind: Ich war der Jüngste und habe am längsten zu ihm gehalten. Wie wundersam, wenn er die Wolken mit einem Besen wegschieben wollte.

Als auch ich ihn zu hänseln begann, fragte die Mutter, warum tust du das?

Weil er komisch ist.

Nein, er ist nicht komisch, nicht böse. Kinder können böse sein. Er nicht. Er tut niemandem etwas. Er wird immer ein wenig Kind bleiben.

So ungefähr war das Gespräch. Und mit ihm verbunden das Gefühl der Scham, jemanden verraten zu haben, um anderen zu gefallen.

 

Zwölf Jahre hatten die Eltern ihn in der Wohnung versteckt gehalten.

Ein Mietshaus, acht Parteien, vierter Stock, eine Endwohnung. Dort lebten zwei Erwachsene und ein Kind. Das Kind wurde in der Wohnung gehalten. Es galt aufzuteilen, was für zwei Erwachsene auf der Lebensmittelkarte vorgesehen war: Butter, Brot, Käse, Gemüse und Kartoffeln. Kaum, dass es für zwei reichte, wie denn für drei. Und der Junge aß viel, hatte Hunger, ständig Hunger, so die Mutter, wie ein Scheunendrescher, so der Vater, der hin und wieder von der Arbeit etwas mitbrachte, Karotten, etwas Kohl, ein Stück Seife und sehr selten Honig. Ein Kollege des Vaters in der Behörde für Wasserwirtschaft hielt in seinem Garten zwei Bienenstöcke. Er wusste von dem Jungen und seinem Versteck. Bienenhonig war ein Fest.

Wussten die Mieter im Haus etwas? Vielleicht der eine oder andere, vielleicht die darunter Wohnenden, weil sie, auch wenn die oben auf Socken gingen, doch hören mussten, dass sich da nicht nur zwei Menschen bewegten. Sie haben nichts verraten. Er war etwas anders. Man hätte ihn getötet.

Sie haben geschwiegen.

Hätten sie geschwiegen, wenn es eine jüdische Familie gewesen wäre?

Der Schrecken, das Unaussprechliche.

 

Es muss zur Sprache kommen.

 

Die Trümmer. Im Sommer führten Wege über die Schutthügel. Trampelpfade. Dort ging der Trümmermörder. Dort lag die Asche. Dort lagen Knochenreste. Ziegelmehl. Humus. Fettes Grün, Lupinen und Disteln, auch der Huflattich. Kleine Wolken flogen aus den Senken auf, Kohlweißlinge. Die Alten sagten, nie habe es so viele Schmetterlinge gegeben wie im Sommer 1945. Schädlinge seien das. Sie fraßen den Kohl mit unersättlicher Gier, und auch der war knapp. Die Kinder jagten sie, schlugen mit dünnen Weidenruten nach ihnen, die Flügel zerfetzt, taumelten sie zu Boden.

Wir waren die Retter. Wir töteten die Schädlinge.

 

Im Traum konnte ich fliegen. Einfach war es. Ich breitete die Arme aus und schon war ich in der Luft. Unten: Häuser, Straßen, Bäume, der Lehrer Herr Blumenthal, dem die Haare aus Ohren und Nasenlöchern wuchsen, und dort ein Fahrradfahrer, der schwankte, zu kippen drohte, ja, er stürzte. Ich flog voller Lust. Ich freute mich auf das Zubettgehen. Ich freute mich auf das Einschlafen.

 

Meine Erinnerung: Karlchen kaute. Ein beständiges Kauen, ein langsames Mahlen der Kiefer. So, als kaute er an seiner Zunge. Sein das Gesicht in die Breite ziehendes Lachen.

Meine Erinnerung: Der Jeep, ein Auto, so einfach, so erkennbar in seinen Funktionen, die Räder unverkleidet, das Lenkrad, die Gangschaltung, das Getriebe als Metallkugel über der Hinterachse sichtbar, am Heck der Ersatzreifen, auf der anderen Seite ein Spaten, die Frontscheibe konnte umgeklappt werden, der Wagen hatte keine Türen, die Soldaten stiegen einfach ein, bei Regen wurde ein Verdeck auf zwei Bügeln hochgeklappt.

Den Jeep fuhren auch die englischen Besatzungssoldaten in Hamburg, dieser aber, der im Juli im Eppendorfer Weg stand, hatte einen Stern auf der Kühlerhaube, und vorn saß ein amerikanischer Offizier in einer gestärkten Khakiuniform, die Hosen mit scharfen Bügelfalten, das blieb im Gedächtnis. Er rauchte. Der Fahrer, kein Schwarzer, obwohl, wie sich später erweisen sollte, viele Fahrer Schwarze waren, verteilte Kaugummiplättchen. Welch ein Selbstzweck: nur Geschmack, lirum larum Löffelstiel, und das Kauen, diese mahlende Bewegung im Gesicht, die den Körper ruhigstellte. Der Wagen roch nach Gummi, nach Benzin, ein Geruch, der mich seitdem begleitet und die ferne Erinnerung des Anderen, des Neuen ist.

Das Überraschende war, der Mann in Uniform verstand uns, er sprach Deutsch. Der Mann fragte nach den Namen der Kinder. Die nannten ihre Vornamen, auch ihr Alter. Karlchen war weit mutiger oder aber auch nur neugieriger, befühlte das Metall, die Reifen, den Spiegel, schließlich vorsichtig mit seinen etwas stumpfen Fingern auch die Uniform des Offiziers. Der fragte: Wie heißt du? Und Karlchen sagte: Karlchen. Er musste seinen Namen wiederholen, wie auch seine Frage: Kann Auto springen?

Der Offizier lachte. Nein.

Der Fahrer schenkte Karlchen ein in Silberpapier gewickeltes Plättchen, und als der Junge das in den Mund schieben wollte, ließ der Offizier es sich wiedergeben, wickelte das Kaugummi aus und gab es dem Jungen. Karlchen kaute und klatschte in die Hände.

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Die Ausfahrt

Die Gischt über den Wellen. Auf dem Schiff steht ein junger Mann, er hat einen Auftrag. Er heißt Hansen, Michael, genannt nach dem Engel, den die Deutschen für sich reserviert haben. Den Vornamen hat sein Vater ausgesucht. Hansen ist ein recht normaler, unauffälliger junger Mann. Er ist groß und Frauen sagen, er sehe gut aus. So, wie er geht, aufrecht, sieht man, er treibt Sport, seine Bewegungen sind ruhig, kraftvoll. Er kann zuhören, das ist eine Tugend. Auch ist er ein Fragender. Viele gute Eigenschaften, aber nichts Hervorstechendes.

Der junge Mann steht mit einem Kameraden an der Reling und schaut über das Meer, über diesen bedeckten Atlantik, der in den Himmel übergeht. Sie blicken angestrengt, wie auch der Ausguck auf der Brücke. Sie halten Ausschau nach den grauen Wölfen. Nach einem Periskop, einem Schnorchel, nach der Blasenbahn eines Torpedos. Kein Wolf in Sicht. Die werden inzwischen gejagt, mit Radar, Flugzeugen, Wasserbomben. Das Schiff, ein dunkelgrauer Truppentransporter, der früher einmal ein weiß leuchtendes Passagierschiff gewesen war, ist schneller als jeder dieser Wölfe.

Der junge Mann ist einer der Berufenen.

Warum er?

Er spricht Deutsch und hat einen Führerschein.

Und von wem berufen?

Von der Psychological Warfare Division. PWD. Aber noch weiß er das nicht.

 

Vor sieben Monaten hatte er sich freiwillig zur Army gemeldet und war zur Nachrichtentruppe gekommen, erkennbar an zwei gekreuzten Fahnen auf den Uniformknöpfen. Er bekam einen A-Rucksack und einen B-Rucksack, die mit einem Riemen und Karabinerhaken verbunden und über der Schulter zu tragen waren. Er machte seine Grundausbildung, lernte das Bettenbauen und damit die Ordnungsschikanen kennen: Die Bettdecke musste derart straff gespannt werden, dass ein vom Ausbilder darauf geworfenes Fünfundzwanzig-Cent-Stück wieder hochsprang. Er lernte das Robben mit vorgehaltenem Karabiner, das Balancieren über Balken, das Kriechen unter Stacheldrahtrollen, das Hochsteigen an Bretterwänden, abermals balancieren, Waldlauf. Er konnte gut mithalten, hatte an der Washington University Basketball und Tennis gespielt. Er lernte, mit dem Karabiner zu schießen. Und wurde mit guten Bewertungen zu dem Offizierslehrgang kommandiert, lernte Taktik und das Übermitteln von Nachrichten, die schnell, genau und knapp sein mussten, wie der Colonel der Nachrichtenschule sagte, entscheidend für jede Schlacht. Selbst die tapfersten Soldaten, die ihre Befehle nicht rechtzeitig oder ungenau erhalten, tappen nur in der Gegend herum. Die Flaggen auf den Uniformknöpfen kamen noch aus der Zeit, als die Befehle mit Signalfahnen von Berg zu Berg weitergegeben wurden. Jetzt gab es das Morsen, das Telefonieren, das Funken. Auch das Codieren. Und auch die Entschlüsselung feindlicher Funksprüche. Die Aufklärung. Einschätzung der Stärke, der Angriffspläne, der Stimmung in der feindlichen Truppe.

Sie, sagte der Oberst, sind das Gehirn und die Nervenstränge unserer Truppe. Muskeln, Sehnen, Knochen, das sind die anderen, Infanterie, Artillerie, Panzertruppe.

Oder besser, Sie sind die Engel, die alle Botschaften weiterreichen. Aber auch alles sehen. Und hören. Sie haben den Feind im Blick. Nicht nur, wo welche Truppen stehen, sondern, was denkt der Feind? Was will er? Wie ist seine Stimmung?

 

Nach einem halben Jahr hatte Hansen seinen Offizierseid abgelegt und war zum Second Lieutenant ernannt worden. Ein sogenanntes six month wonder. Er konnte gegen die Deutschen, die Krauts, die Nazis, eingesetzt werden. Er war Amerikaner, wenn auch in Deutschland geboren, niemand fragte ihn, was er bei der Vorstellung empfand, dort kämpfen zu müssen, einmal abgesehen von der Angst, dabei zu Schaden oder gar zu Tode zu kommen.

 

Zu Hause, in Ringwood bei New York, hatte es mit seinen Eltern Diskussionen gegeben. Warum musste er sich gleich nach seinem Masterabschluss melden? Zwar wäre er eingezogen worden, hätte jedoch einen Weg finden können, sich zurückstellen zu lassen. Er aber hatte es so gewollt. Die Angst der Mutter, die sagte, Krieg ist Mist. Sie sagte das auf Deutsch, und auch das: Man kümmert sich um die Kinder, zieht sie groß, mit all den Sorgen, Mühen, und dann kommen die da oben, schicken sie in den Krieg und, sie werden erschossen. Auch der Vater war dagegen gewesen, allerdings aus einem anderen Grund. Er, der schon vor Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen und seine deutsche aufgegeben hatte, sagte, man kämpft nicht gegen das Geburtsland, nicht gegen Blutsverwandte.

 

Hansen hatte sich in einem Magazin eingekleidet, eine knapp sitzende Uniform, die sich in Machart und Qualität des Stoffes von dem unterschied, was er als Gemeiner hatte tragen müssen, jetzt trug er eine dunkelgrüne Jacke mit blitzenden Knöpfen, rosafarbene Hosen, Hemd, Schlips, Schirmmütze, darauf der goldene Adler, auf der Schulterklappe ein schmaler Messingstreifen. Leicht und praktisch war die Uniform.

 

Drei Monate vor seiner Abreise nach Europa hatte er Catherine kennengelernt, kurz vor Weihnachten, im Zug. Ein Blizzard hatte den Verkehr in New York zum Erliegen gebracht.

Für ein verlängertes Wochenende hatte er Urlaub bekommen. Schon bei der Abfahrt fing es an zu schneien, und als der Zug in das Grand Central Terminal einlief, tobte der Schneesturm. Busse, Taxis, auch die Züge in die Vororte fuhren nicht mehr. Er stand mit der jungen Frau, die im Zug durch den Gang getrennt neben ihm gesessen und mit der er ein wenig geplaudert hatte, in der überkuppelten Halle, vor dieser zum Treffpunkt bestimmten Normaluhr. Hier sollte sie ihr Freund abholen. Hansen hatte ihr für das Münztelefon ein paar Quarters gegeben, und sie hatte von den Eltern ihres Freundes gehört, der sei zwar losgefahren, habe dann aber von unterwegs angerufen, weil er im Verkehr stecken geblieben sei.

Hansen war mit ihr in eine kleine, gegenüber dem Bahnhof gelegene Bar gegangen, wo sie noch zwei Stühle an einem wackeligen Metalltisch fanden. Eingezwängt saßen sie zwischen den anderen Gestrandeten. Die Fenster waren von den Ausdünstungen der feuchten Kleidung beschlagen. Hin und wieder sah man langsam die Scheinwerfer eines Autos vorbeiziehen. Sie tranken Bier, teilten sich, worauf sie bestand, den letzten erhältlichen Sandwich und hatten Zeit, einander zu erzählen. Zwischendurch war sie aufgestanden, hatte ihn abermals um Münzen gebeten und telefoniert. Er sah sie in der Nähe des Tresens stehen, wie sie in den Hörer sprach, wie sie den Kopf schüttelte, dieses dichte dunkelbraune, leicht rötlich schimmernde Haar. Graue weich fallende Hosen, ein dicker heller Pullover in Zopfmuster, unter dem sich schwach ihr Busen abzeichnete. Sie kam zurück, sagte, sie habe den Namen der Bar durchgegeben, falls denn Horace anriefe. Dieser Name Horace. Ihr Name? Catherine. Sie saßen in dieser überfüllten Bar näher beieinander, als es sonst bei einer derart kurzen Bekanntschaft der Fall gewesen wäre. Er spürte, lachte sie, ihren Körper an seinem Arm. Und sie lachte oft. Die Unterhaltung wechselte vom Englischen ins Deutsche. Hansen hatte sie gefragt, was sie beruflich mache. Sie studiere Anthropologie an der Columbia, verdiene ihr Geld aber mit Sprachunterricht, Deutsch, hauptsächlich für Militärs, die nach Europa gingen. Ob sie aus einer deutschen Familie komme? Nein, sie sei Französin, aber zu Hause werde deutsch gesprochen. Sie komme aus dem Elsass. Vor vier Jahren, kurz nachdem Frankreich kapituliert hatte und von den Deutschen besetzt worden war, hatte ihr Vater sie über Spanien zu einem Onkel nach Amerika geschickt. Eine Vorsichtsmaßnahme, da nicht abzusehen war, wann der Krieg enden würde. Das Elsass war ja nach der Kapitulation vom Deutschen Reich annektiert worden. Ihre Familie hatte die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen müssen. Aber sie war in Sicherheit gebracht worden. Bei ihrem Bruder sei das nicht geglückt, da er in der französischen Armee gekämpft hatte und nach der Niederlage in ein deutsches Gefangenenlager nach Ostpreußen gekommen war. Und später wurde er dann mit seiner neuen Staatsbürgerschaft in die deutsche Wehrmacht eingezogen.

Was für Zeiten. Welch ein Wirrwarr. Ich hoffe, er lebt. Ich hoffe, sie leben. Seit drei Monaten habe sie keine Nachrichten von den Eltern.

Er legte, einer spontanen Regung folgend, die Hand auf ihren Arm und sagte: Das Gute an den schlechten Nachrichten ist, sie erreichen uns meist schneller.

Sie sah ihn an. Und er sagte: Ich bin bei der Nachrichtentruppe. Ich muss es wissen. Er bot ihr, die, wie sie betonte, nur an Festtagen rauche, eine Zigarette an. Und so saßen sie eine Zeitlang rauchend nebeneinander, in einem einvernehmlichen Schweigen.

Nach gut zwei Stunden ging die Tür der Bar wieder einmal auf, und ein junger Mann kam herein, in einen braunen Dufflecoat gekleidet, schneebestäubt. Hello, sagte er, umarmte Catherine, gab Hansen die Hand, drückte, fest, und Hansen drückte kräftig dagegen, es war ein kurzes, ihm später ein wenig peinliches Kräftemessen. Er fragte sich, ob der andere es ebenso empfunden hatte. Das ist Horace, sagte sie, und der sagte abermals Hello und dann, leider sei keine Zeit, er könne sich nicht setzen, es sei ja auch kein Platz, aber vor allem, der Wagen stehe draußen, wo er nicht stehen dürfe, sie müssten schnell los. Sie wollte zahlen. Horace wollte zahlen. Hansen wehrte ab, der Sandwich sei teilbar, nicht der Preis, was insofern stimmte, da dieser ungerade war. Es blieb aber noch Zeit, Adressen zu tauschen. Er schrieb die Adresse des Camps und die Telefonnummer seiner Eltern auf. Als sie gegangen war, betrachtete er ihre Visitenkarte. In Stahlstich stand: Catherine Weckmann. Er roch an der Karte, ein Parfum, ein ferner Duft, und steckte sie ein, als er die Augen der Umsitzenden auf sich gerichtet sah und in diese distanziert fragenden Mienen blickte. Es war vielleicht nicht ratsam gewesen, miteinander deutsch in einer so zugewandten, ja verschworenen Weise zu reden. Man hätte sie für deutsche Spione, vor denen in New York auf Plakaten gewarnt wurde, halten können.

Hansen und Catherine hatten sich in den folgenden drei Monaten Briefe geschrieben, auf Deutsch, so konnten sie in seinem Ausbildungscamp von Kameraden nicht mitgelesen werden, obwohl sich nichts Intimes darin fand, allenfalls der Wunsch, sich recht bald wiederzusehen. Ihr Deutsch gefiel ihm, da es mit altertümlichen Wendungen durchsetzt war wie: So gehab dich wohl.

 

Zwei Tage bevor er sich auf dem Truppentransporter nach Europa einschiffen sollte, hatte er sich abends mit ihr in Keen’s Steakhouse verabredet. Sie redeten, tranken Cocktails und bestellten Essen. Sie wollte wissen, was seine Familie mache.

Die sei durch einen Affen nach Amerika gekommen.

Sie lachte und hielt es für einen Witz.

Doch. Sein Vater, von Beruf Präparator, habe in Deutschland einen Gorilla ausgestopft, der im Berliner Naturkundemuseum ausgestellt worden sei. Dort hatte der Direktor des New Yorker American Museum of Natural History auf einer Europareise das Tier gesehen und für seine Lebensechtheit bewundert. Der Vater habe ein Angebot des Museums erhalten und sei gefahren, habe dann 1932, also zwei Jahre später, die Familie, die Mutter, seine ältere Schwester und ihn nachgeholt. Später habe seine Mutter noch ein Kind bekommen, einen Jungen, ein Nachkömmling, sagte Hansen, ein stilles, verträumtes Kind, von dem man glauben könne, es trauere der Alten Welt, die es ja gar nicht kannte, nach.

Aber das müsse noch erwähnt werden, der Gorilla soll derart lebendig gewirkt haben, dass die Museumsbesucher, die den dämmrigen Saal ahnungslos betraten, einen Schreck bekamen. Derart tückisch muss er geblickt haben und eben sehr lebendig. Mächtig stand er an einem Ast, als wollte er sich hinaufschwingen. Kamen Mädchenschulklassen, musste dem Tier ein kleiner Schurz vor das Geschlecht gebunden werden.

Sie hatten viel gelacht. Auch über seine militärischen Ausbilder, über die brüllenden Corporals, über Kameraden, und Hansen, sonst eher ein Fragender, Zuhörender, war durch die Cocktails, vor allem aber durch ihr Lachen – ein helles Auflachen, das melodisch verstummte – in ein rasantes Erzählen gekommen. Sie lachen zu hören, war ein Glücksgefühl.

Als sie aufbrachen, war es für den Zug nach Ringwood zu spät. Er hätte sich ein Hotel suchen oder in das Wohnheim für Offiziere gehen müssen.

Sie bot ihm an, er könne in der Wohnung, die sie mit einer Freundin teile, übernachten. Sie würde mit der Freundin in einem Zimmer schlafen.

 

In der Wohnung kam ihnen eine junge Frau entgegen, in Pullover und Hose. Die Brille hatte sie ins Haar geschoben.

Das ist Gillian, die bereitet sich auf das Examen vor.

Sie setzten sich zu dritt an den Tisch, redeten ein wenig.

Du kannst, sagte Gillian zu Catherine, auf dem Sofa schlafen, wenn dich meine Lampe nicht stört.

Catherine bezog ihr Bett, in dem nun er liegen sollte. Fast hätte er einem spontanen Wunsch folgend gesagt, das sei nicht nötig. Gern hätte er in ihren benutzten Laken geschlafen. Sie holte ihm zwei Handtücher. Danach hörte er sie im Bad rumoren. Das Wasser lief. Sie kam, streckte den Kopf in die Tür und sagte: Your turn.

Er duschte, trocknete sich ab, roch an den Flakons, bis er ihren Geruch entdeckte. Er legte sich ins Bett, und auch hier war dieser Duft. Jasmin? Er schaltete das Licht aus und hörte vom Nachbarzimmer das leise Reden der Frauen. Dann plötzliche Stille. Er dachte, sie habe sich drüben hingelegt. Schon im Hinübergleiten zum Schlaf hörte er, wie die Tür sich in eine jähe Helligkeit öffnete und wieder schloss, wie sie auf nackten Füßen ins Zimmer und näher kam. Sie hob die Decke hoch und legte sich zu ihm. Gillian muss arbeiten, flüsterte sie, und ich kann bei Licht nicht schlafen. Sie atmete, als wäre sie eilig eine Treppe hochgestiegen. Und nach einem Moment ihre Stimme: Wir müssen aber leise sein.

 

Ein schmales ebenmäßiges Gesicht, blondes Haar, links gescheitelt. Ein junger Mann mit einem ruhigen Mund und nachdenklichen Augen. Auch diese Erscheinung muss berücksichtigt werden bei der überraschenden Wendung des Abends, unerwartet, doch wie dem Wünschen gehorchend. Und auch das, was weder sie noch er ausgesprochen hatten, die bevorstehende Reise zu den europäischen Schlachtfeldern, wobei sich dort, anders als im Pazifik, der Krieg schon dem Ende näherte.

Zukünftiges war nicht zur Sprache gekommen. Hingabe ersetzte Worte.

 

Am nächsten Morgen war ihre Mitbewohnerin schon früh gegangen. Catherine hatte kurz mit ihr geredet, war zurückgekommen. Vielleicht waren wir doch zu laut? Nein, man müsse sich um Gillian keine Gedanken machen, sagte sie. Die Freundin sei in die Bibliothek gegangen. Wir brauchen jetzt Kalorien, wir brauchen Fruchtsaft, wir brauchen Käse, Toast, Eier und Milch.

Sie fuhr im Fahrstuhl hinunter. Er blickte aus dem Fenster der 9. Etage in die 76th Street West und hoffte, sie beim Hinausgehen zu sehen. Vergeblich, sie war wohl am Haus entlanggegangen. Er betrachtete die beiden in Silber gerahmten Fotografien auf ihrem Schreibtisch, die eine zeigte eine elegant gekleidete Familie, der Mann im dunklen Anzug, die Frau in einem weiß gerüschten Kleid, wohl ihre Eltern, der Junge, ihr Bruder, im Matrosenanzug und das Mädchen, sie, im weißen Kleid.

Auf dem anderen Foto saß ein junger Mann an der Pinne eines Segelboots. Er lachte, zeigte viele weiße Zähne, das Braun seiner Haut hob sich vom Weiß des Polohemds ab. Hansen erkannte Horace nicht gleich, der eingehüllt und schneenass und auch nicht derart zahnweiß lachend in die Bar gekommen war, um sie aus dem Schneechaos zu befreien.

Die Kleidung, das große Segelboot, all das ließ auf eine wohlhabende Familie schließen.

Mit einer großen Papiertüte kam sie zurück ins Zimmer. Er nahm sie in die Arme, sie brachte den Geruch der frischen Luft mit, Sonne, die Haare offen, durchweht, zerzaust. Sie saßen am Tisch und aßen Toast, tranken Kaffee, und als sie ihm über den Tisch die Hand reichte, zog er sie hoch – sie legte den angebissenen Toast achtlos auf den Tisch.

 

Catherine brachte Hansen zum Zug nach Ringwood. Er hatte sie schließlich doch nach Horace gefragt.

Horace? Ja. Nach einem Zögern sagte sie, ihre Verlobung sei geplant. In zwei Monaten. Das war ein wenig verdruckst gesagt. Und nach einem weiteren Zögern: Ihm, Horace, müsse sie nun sagen, was geschehen sei. Das Wort Bereuen. Nein, nicht, aber allein der Gedanke an Horace, das alles stimme sie traurig, und natürlich fürchte sie das kommende Gespräch. Und was werde, wisse sie nicht. Wie auch.

Ein Gespräch über Trennungen, das war ihr Abschied.

Eine lange Umarmung, bei der er sie bat, am nächsten Tag nicht zum Schiff zu kommen. Dort müsse er sich um die Mutter und seine Geschwister, auch den Vater kümmern, und überhaupt seien Abschiede auf Bahnhöfen und an Kais, die er schon als Junge erlebt habe, etwas Kompliziertes, dieses Warten, das sich Hinziehende, das immer noch eine kleine Weile Bleiben und dann endlich Losfahren, das sei alles doch immer quälend. Sie fand das nicht, es sei doch so, dass man sich und den anderen sehr deutlich spüre, da etwas von einem selbst getrennt werde.

 

Sie war dann doch gekommen. Am Hudson lag der Truppentransporter, grau gestrichen, mit dunkelgrauen Zacken, ein kubistischer Tarnanstrich. Oben auf den Decks drängten sich die Soldaten. Mannschaftsdienstgrade stiegen mit ihren Säcken über der Schulter die Gangway hinauf. Auf dem Kai standen Freunde und Angehörige. Es wurde von oben nach unten gerufen. Hansens Offizierskiste war von einem Matrosen hochgetragen worden. Zwei Bücher hatte sein Professor ihm für die Reise geschenkt: Ernst Blochs Spuren und E. T. A. Hoffmanns Nachtstücke. Mit achtundvierzig Zeichnungen von Alfred Kubin.

Hansen stand mit seinen Eltern, seiner Schwester und dem kleinen Bruder zusammen, und der Vater nannte ihm Verwandte, die er, wenn es zu der Kapitulation Deutschlands komme, woran ja kein Zweifel bestehe, besuchen solle, und Michael Hansen versprach es. Und schreiben, gleich, wenn du ankommst, sagte die Mutter. Ja, auch versprochen. In dem Augenblick entdeckte er sie. Catherine stand in dem geblümten Kleid am Kai. Er ging, ja lief zu ihr und sagte, Wie schön, dass du gekommen bist, aber als er sie umarmen wollte, sagte sie schroff: Fass mich nicht an! Ich wollte dir nur Lebewohl sagen. Und schreibe nicht! Sie drehte sich um und ging weg. Es war wie ein körperliches Zurückstoßen.

Verwirrt stand er, überlegte, ob er ihr nachgehen, sie fragen solle, was diese heftige Zurückweisung bedeute, da sie doch zum Abschied gekommen sei. Aber da war sie schon zwischen all den Wartenden, Winkenden verschwunden. Sein kleiner Bruder kam und zog ihn an der Hand zu den Eltern und der Schwester. Auf deren Fragen und Ratschläge gab er verworrene Antworten, bis der Vater sagte: Du bist schon ganz weit weg, du musst jetzt gehen.

 

In Antwerpen angekommen, bekam er seinen Marschbefehl, er sollte sich beim Stab des XII. US Corps in Frankfurt melden. Von Amsterdam wurde er zu einem erst vor sechs Tagen eingenommenen Feldflughafen bei Frankfurt geflogen. Ein paar zerschossene Jagdflugzeuge standen an der Behelfspiste.

- 2. April 1945 -

Fahrt nach Frankfurt. Das Umland ist von den Kämpfen verschont geblieben. Mist oder Heu wird ausgefahren, Wagen, von Rösslein gezogen, Sensen werden gedengelt, Frauen zupfen Unkraut, Kinder stehen am Straßenrand. Fachwerkhäuser mit ihren waagerechten und schrägen Balken. Muss an Hänsel und Gretel denken, das die Mutter vorlas. Keine Traktoren. Man kann nicht glauben, dass dieses Land Raketen und Düsenjäger gebaut hat.

- 3. April 1945 -

In Frankfurt, ein anderes Bild. Zerstörte Fabrikhallen, in denen riesige, rätselhafte Metallteile stehen, aufgeplatzte Röhren, Stellwerke, ausgebrannte Eisenbahnzüge, eine gesprengte Brücke, die schwankende Fahrt über eine pontoon bridge, Hausruinen, Fassaden sind stehen geblieben, dahinter der Ziegel- und Steinschutt, an einem vierstöckigen Haus war die Fassade weggerissen, wie in ein Puppenhaus blickte man in die Zimmer, ein Klavier, ein Tisch und Sessel standen dort. Besonders seltsam der an den Tisch gelehnte Besen. In der darüberliegenden Wohnung war eine Frau damit beschäftigt, Wäsche aufzuhängen, die Sonne schien in ganzer Zimmerbreite hinein auf Schrank, Stühle und Tisch. Eine Küche, Töpfe auf dem Herd. Am Straßenrand verkohlte Balken, verbogene Eisenträger, Mauerreste, es roch nach feuchtem Mörtel, und in den Schuttbergen jener Häuser, die wohl schon im zweiten Kriegsjahr getroffen worden waren, stand Unkraut. Wahrscheinlich lag es an diesem sonnigen Frühling, das Elend wirkt nicht düster, sondern hell. Aber der Geruch ist bestialisch. Eine Mischung aus Moder, Kalk und Verwesung. Noch immer sollen Leichen in den Kellern und unter dem Schutt liegen.

Nur wenige Menschen sind auf der Straße, meist Frauen, zwei, drei alte Männer, einer zog eine mit Holz beladene Karre hinter sich her.

 

Im Quartier des XII. US Corps wurden Hansen von einem CIC-Offizier ein Jeep und ein Fahrer zugeteilt, mit dem Befehl, zu der 42nd Infantry Division zu fahren, die weiter Richtung Würzburg vorstieß. Sein Auftrag: Verhör und Feindaufklärung.

 

Ein Rauch, das war die Stadt.

Die Häuser, Romanik, Barock, Rokoko, Klassik, Kirchen, viele Kirchen, berühmte Kirchen, der Dom, das Grab Walthers von der Vogelweide, die bischöfliche Residenz mit dem weltberühmten Deckenfresko von Tiepolo, das die vier Erdteile zeigt, ein Wunderwerk.

Am 16. März 21:25 Uhr waren 220 Lancaster-Bomber der No. 5 Group Royal Air Force, derselben Gruppe, die zuvor schon Dresden bombardiert hatte, einen Angriff auf die Stadt geflogen und hatten zuerst Sprengbomben abgeworfen. Sie zerstörten Dächer, Türen und Fenster und sorgten für einen kräftigen Durchzug. Danach wurden 315000 Stabbrandbomben abgeworfen. Die Berechnungen für eine optimale Brandbeschleunigung hatten Wissenschaftler erstellt.

 

Und ein Rauch ging aus von der Stadt und zog über das Land, über Täler, Hügel, Flüsse. Die Stadt war danach keine Stadt mehr. Sie war ein riesiger Meiler. Temperaturen über tausend Grad. Was sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte als Verfall vollzieht, dauerte hier keine zwanzig Minuten. Menschen verbrannten in den Kellern. Ich habe sie gesehen, sagt der Engel der Geschichte, Menschen aufgeplatzt wie zu heiß gebratene Würste. Gedärm hing heraus. Deutsche, meist alte Männer, trugen die Leichen weg. Was an verkohltem Fleisch übrig geblieben war, kam kalküberstreut ins Massengrab. Das Schwarzwerden der Sonne, das Verbluten des Mondes, das Schreien der Menschen.

 

Am 3. April setzten Pioniere der 42nd Infantry Division über den Main. Drei Tage wurde in den Ruinen Würzburgs gekämpft. Seit dem Rheinübergang hatte es keinen derartig harten Widerstand der deutschen Truppen gegeben. Am 6. April wurde Würzburg erobert.

Einer aus dem Divisionsstab sagte, die Krauts seien wirklich Kraut gewesen, er sagte higgledy-piggledy. Zusammengewürfelte Soldaten, Hitlerjugend, alte Männer, die jedoch verbissen gekämpft hatten. Der Sohn des Kreisleiters war gefallen, der Gauleiter geflohen.

Ihn hätte Hansen verhören sollen.

- 8. April -

Würzburg. Die Kirchen und Türme in Trümmern und Trümmer die Häuser, verschüttet die Straßen und Gassen.

Fuhren über eine pontoon bridge, sehr schmal, die von den Pionieren über den Main geschlagen worden war. Es riecht nach Brand. Durchdringend, widerlich der Leichengeruch. Im Straßengraben ein Toter, zugedeckt mit einer Plane, die genagelten Stiefel deuten auf einen deutschen Soldaten, er liegt da wie abgelegt, zwischen Steinbrocken und Waffenschrott. Etwas weiter entfernt steht ein abgeschossener deutscher Schützenpanzer.

Quartier in einer Villa, deren Besitzer samt Familie geflohen ist. Nur das Dienstmädchen, eine Zwangsarbeiterin aus Polen, haben sie zurückgelassen, und die führte uns zum Weinlager im Keller. Aus dem Volksempfänger Tanzmusik von Beromünster. Schweizer Foxtrott und ein wenig – nun ja – Alpenswing. Das Mädchen tanzte tapfer, hatte sich die klobigen Holzschuhe ausgezogen, tapfer, weil sie beim Tanzen immer wieder mit einem Fuß unter einen Stiefel kam. Einmal hüpfte sie auf einem Bein, hielt sich den nackten Fuß, lachte aber.

In einer Pause hört man von fern Artillerie.

Gespräch über die Zerstörung der Stadt. Einer sagte, die Krauts haben es nicht anders verdient. Wirklich alle? Alle! Ich sagte, ja, schon, widersprach dann aber, weil es mir zu einfach erschien, dieses Alle. Gilt das für die Kinder, gilt das auch für die, die sich den Nazis widersetzt haben?

Ein Colonel sagte, die Bombardierung sei militärisch völlig sinnlos gewesen. Idiotisch. Ein Major hingegen sah darin ein gerechtes Strafgericht.

Durch die Straßen irren Menschen. Sie suchen nach Verwandten und Freunden. Bekam den Befehl, einen Priester zu befragen, der in dem Keller eines Klosters den Brand überlebt hat. Seine Haare, die Augenbrauen verbrannt, Brandblasen an den Händen, im Gesicht. Ich fragte, er schüttelte den Kopf. Ein mechanisches Kopfschütteln. Kein Wort.

Der Meister hat recht, das Schreiben macht alles etwas leichter, schiebt es in die Distanz des Erträglichen.

 

Professor Kuppitsch hatte Hansen beim Abschied zwei fadengebundene Leinenhefte geschenkt, um Zeugnis abzulegen: Es gibt ein Hauptbuch der Engel, in dem all die Schandtaten verzeichnet werden, aber auch die Taten der Gerechten. Die himmlische Bürokratie. Schreiben Sie nieder, was Sie sehen. Schreiben Sie auf Deutsch, so kommen Sie sich selbst und dem Land näher und halten es doch auf Distanz.

 

Morgens kam der Befehl, zum Stab der 11th Armored Division zu fahren, die weiter nach Nordosten vorstieß. Joe, ein Schwarzer, fuhr den Jeep. Von fern war hin und wieder der Abschuss eines Geschützes zu hören. Es hörte sich keineswegs gefährlich an, eher gemütlich. Bums. Hansen sollte nach vorn, zum Befehlsstand des Obersten. Am Straßenrand waren von deutschen Soldaten Schützenlöcher ausgehoben und, was man an den herumliegenden Panzerfäusten und Gasmasken sehen konnte, kampflos aufgegeben worden.

Sie fuhren in eine hügelige Landschaft hinein, weiß waren die Blüten der Kirschbäume explodiert, das leuchtende Gelb der Forsythien. What an amazing landscape, sagte Hansen zu seinem Fahrer, und der sagte trocken, Yeah, without Krauts. Niemand war auf den Feldern zu sehen. Sie fuhren durch einen kleinen, dichten Laubwald. Gegenüber ein Hügel, darauf ein hingestreckt liegendes Gebäude, ein großer Bauernhof. Plötzlich, von vorn, Schüsse. Ein Maschinengewehr. Sie waren in die Spitze des Angriffs geraten.

Vor ihnen wurde aus einem Gehöft und einem sich rechts hinziehenden Schützengraben geschossen.

Der Fahrer und Hansen sprangen aus dem Jeep, Joe nach links und Hansen nach rechts, und warfen sich, wie in der Ausbildung eingeübt, in den Straßengraben. Das deutsche Maschinengewehr schoss heftig, aber zu hoch, die Schüsse prasselten über Hansen in die Äste. Er lag im Dreck. Der Helm war ihm vom Kopf geflogen. Er hatte seine Pistole gezogen und in Richtung des Gehöfts geschossen, wissend, dass er aus dieser Distanz niemanden treffen konnte. Immerhin, er tat etwas. Er hörte von vorn Kommandos auf Deutsch und von hinten Kommandos auf Englisch. Dort lagen die eigenen Leute und schossen zurück. Ein Captain brüllte Befehle in ein Funkgerät. Kurz darauf waren die Abschüsse der weiter hinten liegenden Artillerie zu hören. Hansen sah, wie das große Gehöft zu brennen begann, zunächst schlugen zögerlich einzelne Flammen aus den Fenstern, dann brannte der Dachstuhl lichterloh. Zwei leichte Panzer des 761st Tank Battalion rückten vor und, hinter ihnen Deckung suchend, die Infanterie und mit ihr Hansen, der sich den Helm wieder übergestülpt hatte.

Kurz darauf wurde drüben bei den Deutschen die weiße Fahne gezeigt.

Fahne, sagte Hansen später, hört sich so heroisch an, es war ein Unterhemd, das sich einer der Deutschen ausgezogen hatte. Neben dem brennenden Gehöft lagen zwei Tote, ein alter Mann mit der Armbinde Volkssturm und ein Junge, vielleicht sechzehn, in HJ-Uniform. Der Junge lag mit dem Gesicht im Gras, der alte Mann gekrümmt auf der Seite, als hätte er Bauchschmerzen. Was Hansen überraschte, war die Menge des Bluts, die aus dem Körper des Volkssturmmannes geflossen war. Auch so etwas geht einem durch den Kopf, sagte er später, dass ein so alter Mann noch so viel Blut hat. Noch war es nicht getrocknet, aber das Rot hatte sich schon in ein Rotbraun verwandelt.

Abseits standen die Deutschen mit erhobenen Armen, eine buntscheckige Gruppe, einige in Uniform, andere in Zivil. Kinder in HJ-Uniform, ein paar in kurzen Hosen. Neben ihnen am Boden lagen und saßen Verletzte, stöhnten, auch ein kindliches Wimmern war zu hören.

Das Überraschende für ihn war im Nachhinein, er hatte vor neugieriger Aufregung nicht einen Augenblick Angst gehabt. Kein Gedanke, dass es auch ihn hätte treffen können. Es ging zu schnell, begleitet von einer geradezu distanzierten Selbstbeobachtung, um das, was man in der Ausbildung gelernt hatte, jetzt im Ernstfall richtig zu machen. Und er ärgerte sich, weil ihm, als er sich hinwarf, der Stahlhelm vom Kopf geflogen war. Im ersten Moment dachte er, der Helm sei ihm vom Kopf geschossen worden. Aber dann merkte er, der Kinnriemen war nicht straff gezogen gewesen. Wie lächerlich.

Jemand schrie. Sanitäter wurden gerufen. Ein Corporal hatte einen Schuss ins Bein bekommen. Ein junger Texaner hatte einen Streifschuss am Kopf. Ihm war tatsächlich der Helm durchschossen worden. Auch das wusste Hansen, die Helme widerstanden keinem direkten Beschuss.

 

Am 11. April war Hansen mit der Division in Coburg eingerückt. Eine Kleinstadt, die zur Verteidigung gerüstet war, man hatte Barrikaden aus Pflastersteinen an den Einfallstraßen errichtet, Schützengräben am Flussufer ausgehoben – ein Fluss, die Itz, den man leicht hätte durchwaten können. Die Stadt wurde von Artillerie und Panzern beschossen. Oben auf der Veste – was für ein altertümliches Wort, dachte Hansen – wurde die weiße Fahne gehisst. Die SS schoss sie herunter. Wenig später wurde sie abermals gezeigt. Angeblich hatte sie die ehemalige Herzogin persönlich gehisst, tatsächlich war es eine resolute Flüchtlingsfrau aus Schlesien gewesen. Ein Panzer schob den mit Pflastersteinen beladenen Möbelwagen, den man auf der Brücke quer gestellt hatte, beiseite. Die Panzer fuhren die Straße der SA, die früher einmal Mohrenstraße geheißen hatte und jetzt mit weißen Laken und Bettbezügen beflaggt war, entlang zum Rathaus. Dort standen die leichten Panzer des 761st Tank Battalion, die Besatzungen kamen aus den Luken, und die Coburger sahen staunend schwarze Soldaten.

 

Oberbürgermeister Greim, der die Parole ausgegeben hatte, die Stadt wird bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Mann verteidigt, hatte sich am Tag zuvor mit Frau, Kindern und Dienstmädchen abgesetzt. Amtsleiter Sauerteig übergab die Stadt an die Amerikaner. Der amerikanische Colonel übersah die ihm entgegengestreckte Amtsleiterhand und befahl: Wasserwerk, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser arbeiten weiter. Waffen abliefern. Werewolves will be shot. Anyone resisting will be shot. Hansen übersetzte: Werwölfe werden erschossen. Wer Widerstand leistet, wird erschossen.

Noch gab es in der Stadt keine Plakate mit den Verordnungen des amerikanischen Militärs, die eine Ausgangssperre erließen. Noch wirkte das Verbot der anderen Macht: Plünderer und Deserteure werden erschossen. Es war ein Moment, in dem eine Ordnung in eine andere, noch nicht gesicherte überging – ein Moment der Anarchie.

Am Stadtrand brannte ein großes Verpflegungslager der Wehrmacht. Flammen schlugen aus den Fenstern des rechten Gebäudeflügels. Offensichtlich war dieses Magazin von den abziehenden deutschen Soldaten entweder mit Absicht oder aus ängstlicher Hektik nicht systematisch angezündet worden. Frauen, viele Frauen, trugen Konservendosen aus dem Lagerhaus, einige hatten Kinderwagen mit Zucker- und Mehlsäcken bepackt. Die Frauen – Männer waren nicht zu sehen – ließen sich nicht beim Plündern stören, auch dann nicht, als die ersten amerikanischen Soldaten auf ihren Schützenpanzern vorbeifuhren. Da wird eingekauft, wie eine Frau zu Hansen sagte, und als er sehen wollte, was, öffnete sie den Rucksack. Darin waren Dosen, von der Hitze aufgequollen, aber noch verschlossen: Leberwurst und französische Gänseleber. Offensichtlich Bestände der Offiziersverpflegung. Sie sah Hansen an, ängstlich. Würde er sie verhaften lassen?

Er winkte ihr, weitergehen.

 

Am nächsten Tag waren die schon in den Staaten gedruckten Plakate in der Stadt angeschlagen worden. Fotografieren bei Todesstrafe verboten. Sperrstunde von abends 18 bis morgens 7 Uhr.

 

No Fraternisation.

Deutschland scheint geschlagen. Du siehst Ruinen, du siehst Blumen, du siehst schöne Landschaften. Lass dich nicht verwirren; du bist in Feindesland. Sei auf der Hut, sei misstrauisch: Jeder Deutsche kann eine Gefahr sein. Es darf keine Fraternisierung geben. Fraternisieren heißt: sich Freunde machen. Aber die Deutschen sind nicht unsere Freunde. Sie können nicht kommen und ihre Hand ausstrecken und sagen: Es tut uns leid. Es tut ihnen nicht leid, dass sie den Krieg verursacht, sondern dass sie ihn verloren haben.

– Coburg, 14. April 1945 –

Gefordert ist, sie, die Deutschen, die mir entgegenkommen, nicht freundlich anzusehen, sondern sie zu übersehen. Nicht zurückgrüßen. Aber was heißt: die Deutschen? Sicherlich gibt es welche, deren devote Haltung abstößt. Andere zeigen ganz eindeutig Distanz, keine Regung, was wohl den Stolz des Besiegten signalisieren soll. Aber was ist mit dem Jungen, der mir meine Zigarettenkippe brachte, von der er glaubte, ich hätte sie verloren?

Tatsächlich hatte ich sie einfach fallen lassen. Darf man nicht lächeln, nicht Danke sagen oder, wenn schon nicht in der Sprache des Feindes, wenigstens: Thanks?

Nachtrag: Die beiden Panzer, die uns bei Dietersdorf herausgehauen haben, gehörten zum 761. Panzerbataillon. Die einzige schwarze Kampfeinheit in der Army. The Black Panthers. Hochdekoriert und mit einem ausgezeichneten Kampfgeist. Wir können es bezeugen.

 

Hansen hatte dann die auf Deutsch vorbereiteten Flugblätter verteilen lassen, nochmals: die Zeit der Ausgangssperre, das sofortige Abliefern aller Waffen, Schieß- und Stichwaffen. Als er sich im Stab meldete, befahl ihm ein Major vom Divisionsstab, einen genauen Bericht über dieses Gefecht zu schreiben, in das er, man kann es nicht anders sagen, zufällig hineingeraten war.

Werewolves? If so, shoot them.

Die meisten hätten Uniformen getragen, darunter auch zwei Mann in Eisenbahneruniform. Die Eisenbahner und die sechs Zivilisten hätten vorschriftsmäßig Armbinden mit der Aufschrift Volkssturm Deutsche Wehrmacht getragen. Wahrscheinlich hatte der Captain, der das Scharmützel gemeldet hatte, die Armbinden nicht gesehen, vielleicht nicht lesen können. Die Schrift war klein. Jedenfalls hielt er diese so zivil in Jacken und Mäntel und Knickerbocker gekleideten Männer nicht für Soldaten. Auch nicht die Jungen, das letzte Aufgebot, Fünfzehn-, Sechzehnjährige in der braunen HJ-Kluft, einige noch in kurzen Hosen, einer mit Lederhose.

Dennoch, Hansen sollte sie befragen. Man wollte wissen, was treibt die Jungs an, statt hinter Mädchen her zu sein mit einem tschechischen Karabiner zu schießen – und sich erschießen zu lassen? Man sollte ihnen den Hintern versohlen.

Hansen verhörte den Fähnrich, der die versprengte Einheit kommandiert hatte. Zwanzig Jahre alt. Die linke Hand verbunden. Das Weiß vom Blut rot genässt. Auch die Uniform zeigte getrocknete Blutspuren. Er sagte, da er den Blick von Hansen bemerkt hatte, das sei nur ein Kratzer. Nicht der Beachtung wert. Englisch könne er nicht, sagte er, und das sollte wohl dem Plutokraten gegenüber verächtlich klingen, er habe an der Schule nur Griechisch, Latein und Französisch gelernt. Er hatte schon zuvor die ihm angebotene Zigarette abgelehnt, wollte sich auch nicht auf den Stuhl setzen. Er berief sich auf internationales Kriegsrecht, nannte Rang und Einheit, eine Fahnenjunker-Kompanie, die mitten in der Ausbildung an die Front geworfen worden war. Freiwillig, sagte er, alle haben sich freiwillig gemeldet. Er wurde gesprächiger, als Hansen ihn fragte, warum er dieses aussichtslose Gefecht geführt habe, das zwei seiner Männer das Leben gekostet hat. Ein Befehl, sagte er, Pflicht, das müsse Hansen als Offizier doch verstehen.

Der Krieg ist verloren. Der Kampf sinnlos. Sinnlos sind die Toten, sinnlos ist es, die Brücken und Häuser jetzt noch zu zerstören.

Noch ist nichts verloren, sagte der junge Mann mit erhobenem Kinn: Ihr habt das Material, die Waffen, Munition, Flugzeuge, aber wir haben etwas, das stärker ist – Ideale, Tapferkeit, Treue. Und dann fragte er Hansen, wann er denn ausgewandert sei. Nach dreiunddreißig?

Die Fragen stelle ich, sagte Hansen und rief die Wache. Er bereute es, dem Mann eine Zigarette angeboten zu haben.

Get out!

Der Fähnrich salutierte, machte eine zackige Kehrtwende und wurde abgeführt. Wie verbohrt muss man sein, dachte Hansen. Und welch ein Glück, dass ich nicht wählen musste. Er hätte, wäre der Vater damals nicht in die Staaten gegangen, jetzt vielleicht ebenso hier stehen können. Er fragte sich, ob er ähnlich gedacht, ähnlich verbohrt gehandelt hätte. Und er musste sich sagen, dass er darauf keine sichere Antwort geben konnte.

Danach verhörte er einen Feldwebel, der ihm die Orden, während er sie sich von der Uniform nahm, erklärte, das EK I, hier das silberne Verwundetenabzeichen, das Infanterieabzeichen. Hier das Nahkampfabzeichen in Silber. Dreimal muss man das Weiße im Auge des Feindes gesehen haben.

Die brauchen Sie nicht mehr.

Wohin damit?

Können Sie in die Hosentasche stecken, wenn denn so viel Tapferkeit hineinpasst. Waren Sie in der Partei?

Nein.

Wie kommt man dazu? Ich meine, zu so viel Heldenmut.

Befehle, aber auch Wut, manchmal Gleichgültigkeit, schließlich Übung, Vorsicht und List, und vor allem das, sagte der Mann und tippte sich an die Nase. Witterung. Das gehört zum Beruf. Man kann auch darin zum Könner werden. Man schießt und sagt sich, sauber, wenn man getroffen hat. Und man ist zufrieden, wenn man nicht selbst getroffen wurde, weil man den richtigen Riecher hatte. Zum Krieger gehören List und Instinkt. Natürlich gibt es auch Leute, die aus Versehen Helden werden.

Der Mann, dachte Hansen, hat etwas Philosophisches. Im zivilen Leben war er Optiker. Eine lange Ausbildung.

Warum weiterkämpfen?

Die Kameraden im Stich lassen? Die sitzen doch auch in der Scheiße.

Das ist wohl wahr, sagte Hansen und ließ ihn zurück ins Gefangenenlager bringen.

Das waren die interessanten Fälle, die anderen wiederholten nur: Wir mussten. Wir konnten nicht anders. Innerlich waren wir dagegen. Pflicht. Pflicht. Gehorsam. Verweigerung bedeutete Todesurteil. Wir haben anständig gekämpft. Nachdem er vierzehn Gefangene verhört hatte, mochte er innerlich und anständig nicht mehr hören. Das Wort anständig kannte er von zu Hause, ein Wort, das sein Vater aus Deutschland mitgebracht hatte und oft benutzte: anständig bleiben. Auch in der Neuen Welt. Hier waren sie es alle gewesen. Unanständig waren die Nazis. Unanständig waren die da oben. Ein Volk der Anständigen. Nur wenige Unanständige, denen man aber gehorcht hatte. Die man auch gewählt hatte. Nicht die Mehrheit, wie Hansen wusste. Was sein Vater immer betont hatte. Die Mehrheit hatte nicht die Nazis gewählt. Aber sie waren ihnen dann gefolgt, begeistert und gehorsam.

- 15. April -

Das Vokabular, mit dem die Situationen beschrieben werden. Schuld: lange gewundene Ausreden. Angst: meist in der Fäkalsprache. Eine Erinnerung an die Kindheit, als man sich tatsächlich die Hose vollschiss.

- 16. April -

Nach fünf Tagen hat in der Stadt ein kleines Etablissement eröffnet. Ein Hotel mit dem Namen Zum goldenen Anker. Ein altes Gebäude, Fachwerk, mit einer davor gemauerten klassizistischen Fassade. Um Nürnberg wird noch gekämpft. Hier treffen sich unsere Leute mit Frauen. Man sitzt im Schankraum unter den Geweihen und dem Gehörn des in den Thüringer Wäldern geschossenen Rotwilds. Ein Wildschweinkopf blickt mit grimmen Hauern auf den Stammtisch. Ein koloriertes Foto hängt an der Wand, darauf der Herzog Ernst in Uniform und daneben ein gemaltes Bild mit propagandistischer Botschaft: Die deutsche Eiche. An der Tapete der gegenüberliegenden Wand ein helles Rechteck. Dort hat, wie überall, wo solche hellen Stellen zutage treten, das Hitlerbild gehangen.

Ein paar derbe Frauen und Mädchen, die kreischten und tranken und mit verrutschten Röcken auf den Schößen der Soldaten saßen, obwohl doch das Fraternisierungsverbot gilt, aber dazu hätten die Jungs aus Texas und Michigan sagen können, das sei kein Fraternisieren, keine Feinderotik, die Frauen kämen aus der Ukraine und aus Polen, Zwangsarbeiterinnen, und hätten hier in den Fabriken arbeiten müssen. Das war nicht der Feind, das waren die Arbeitssklavinnen, mit denen man die Befreiung feierte. Die Balkendecke bebte, die Deckenlampe schaukelte.

Denke hin und wieder an die beiden Bücher im Gepäck. Aber es ist keine Zeit für Bücher, die Unruhe, die wechselnden und bedrängenden Eindrücke lassen nicht einmal den Wunsch zum Lesen aufkommen, sie aufzuschlagen.

 

Hansen studierte ein gerahmtes Bild, das Kaiser Wilhelm I. zeigte, gekleidet wie ein Gärtner mit Strohhut und einer Harke vor einer hügeligen Landschaft, ihm gegenüber der Kronprinz mit langem Bart und blauer Schürze, eine Forke in der Hand, und unter ihnen, an ein Pferd gelehnt, das in einem Gespann vor einem Pflug steht, in ländlicher Joppe und Stiefeln Bismarck, eine Pfeife rauchend. Ein mittiger Text: Der eine hat die Harke, der andere die Forke. Der dritte lenkt den Pflug. So hätten wir genug.

Darüber wölbt sich ein weiß, schwarz, rot geränderter Schirm mit dem Satz: Beschirmt ist, der hier verkehrt / Sein Geld mit Lieb und Lust verzehrt / Scandal nicht, auch nicht Händel macht / Und auf Bezahlung ist bedacht. / Damit ist es abgemacht.

Vom Stadtkommandanten hatte Hansen den Auftrag bekommen, jemanden zu finden, der kein Nazi war, wenn es denn so einen gab.

Es gab sie, die Nicht-Nazis, nicht viele, aber doch einige, die früh entlassenen Lehrer, die ins Zuchthaus verbrachten Kommunisten, Sozialdemokraten, Mitglieder der Zentrumspartei und Gewerkschaftler. Wenige. Einige, insbesondere die ehemaligen Kommunisten, waren die letzten zwölf Jahre irgendwo in Zuchthäusern oder Konzentrationslagern gewesen. Hansen wurde ein Mann genannt, ein ehemaliger Gewerkschaftler. Hansen hätte ihn sich von der Militärpolizei bringen lassen können, aber da er hörte, der Mann sei 1933 von der SA abgeholt worden und dann für zwei Jahre ins Gefängnis gekommen, entschied er sich, um den Mann nicht zu erschrecken, aber auch aus Neugier, wie so jemand wohnte, hinzufahren.

 

Eine kleine Seitenstraße in einer Siedlung, einstöckige Häuser, Reihenhäuser. Hansen ließ den Jeep vor dem Haus parken, ging über einen sorgfältig gelegten Plattenweg zur Haustür und klingelte. Eine junge Frau in einem blau‑roten Kittel öffnete. Die Schwiegertochter. Hansen wurde hereingebeten, ihm wurde ein Sessel in dem kleinen Wohnzimmer angeboten. Das Sofa war mit zusätzlichen Kissen bedeckt. Eine Anrichte mit einer Figurengruppe aus Porzellan, zwei Schäferinnen, der einen war ihre ehemals wohl anmutig erhobene Hand abgebrochen. Ein Ölbild, das ein mittelalterliches Tor, wahrscheinlich aus dieser Stadt, zeigte. Kurz darauf erschien der Mann, Ende fünfzig. Hansen gab ihm die Hand, bot ihm eine Zigarette an, die der Mann ablehnte. Er rauche nicht.

Hansen fragte ihn, der Funktionär in der Gewerkschaft gewesen war, warum sie nach der Machtergreifung nicht gestreikt hätten, ein Generalstreik.

Kämpfen Sie gegen demokratische Ergebnisse? Der Mann war gewählt worden. Dann kamen die Verbote, erst der Kommunisten, dann der Sozialdemokraten.

Hätte man da nicht den Mund aufmachen müssen?

Hab ich, sagte der Mann, griff sich in den Mund und zog ein Gebiss heraus. Das war die Antwort, sagte er.

Wie er sich die Jahre nach seiner Gefängniszeit durchgeschlagen habe?

Als Betriebsschlosser. Bei der Reichsbahn. Meine Arbeit gemacht, aber so wenig wie nur irgend möglich, damit die Räder nicht zu schnell für den Sieg rollten. Das war nicht viel, genau genommen sehr wenig, aber immerhin ein wenig, und wenn mehrere dieses wenige getan hätten, wäre es nicht zu dem gekommen, was dann kam.

Die Frau brachte einen Kaffee, der nur von fern nach Kaffee schmeckte und wohl auch keiner war. Hansen nahm sich vor, das nächste Mal Kaffee mitzubringen.

Endlich fragte Hansen ihn, ob er bereit sei, für eine Übergangszeit in die Stadtverwaltung zu gehen.

Ja, sagte der Mann. Wann?

Sofort.

Er war zu Hansen in den von Kindern umringten Jeep gestiegen, und sie waren zum Rathaus gefahren. Auf dem Weg zu den Amtszimmern roch es nach Scheiße. Sie kamen an der Toilette vorbei, unter deren Tür floss eine braune Brühe auf den Gang.

Im Rathaus standen die Stadtverordneten, käsig, Schnapsnasen, Anzüge, deren Hosen einen weiten Schlag hatten, übergroße Jackenaufschläge, viel Platz für das Ehrenzeichen jedes Deutschen, das Hakenkreuz mit Anstecknadel, keiner der Herren trug es mehr.

Der Stadtkommandant fragte, welcher der Herren in der Partei gewesen sei. Als der eine anfing, auszuführen, es sei nichts anderes übrig geblieben und innerlich nie, und überhaupt, und ein anderer, dem man an der hellen Stelle unter der Nase ansah, dass er sich vor zwei Tagen die Rotzbremse, diesen kleinen schwarzen Hitlerbart, abrasiert hatte, vom anständigen – Hansen übersetzte – Deutschen zu reden begann, der seine Pflicht und seinen Dienst getan habe, richtete sich der Stadtkommandant auf: Out!, sagte er und wies zur Tür.

Die Herren hatten verstanden. Hansen musste nicht übersetzen. Der Betriebsschlosser wurde zum kommissarischen Bürgermeister ernannt. Alle Toiletten im Rathaus waren verstopft. Die Scheiße quoll über. Seine erste Amtshandlung war, mit einer langen Stahlbürste einen stinkenden Pfropfen aus Hakenkreuzarmbinden, einer Hitlerfotografie, zerrissenen Urkunden und Parteiabzeichen herauszuziehen. Er befahl dem Amtsleiter mit der hellen Stelle unter der Nase, die Scheiße auszuschöpfen und wegzubringen.

 

Hansen hatte überlegt, ob er den Onkel, bei dem sein Vater das Präparieren gelernt hatte, besuchen sollte. Als er am achten Tag nach Einnahme der Stadt einen Marschbefehl zurück nach Frankfurt bekam, machte er sich auf den Weg in die Judengasse. Die weißen Laken an den Häusern waren verschwunden. Dem früheren Kreisleiter hatte man befohlen, in seiner braunen Parteiuniform die Straße zu fegen. Ein Jeep mit einer ausgestopften Dogge auf dem Kühler fuhr durch die Straßen. Die Stadt mit dem mittelalterlichen schiefergedeckten Stadttor, der wuchtigen, auf einem Berg gelegenen Festung, war, wie Hansen später sagte, tatsächlich so pittoresk, wie er es von den zu Hause hängenden Bildern her kannte. Eine so andere Welt als die von St. Louis oder gar New York und auch als die der Stadt seiner Kindheit, Hamburg, mit den Straßenbahnen, den hohen Mietshäusern, den Fabriken, dem Hafen und, woran er sich traumhaft erinnerte, dem anhaltenden Tuten der Schiffe im Herbst und den rastlosen Niethämmern der Werften.

Er ging die Mohrenstraße entlang, die vor zwölf Jahren in die Straße der SA umbenannt worden war und jetzt, als sei nichts gewesen, wieder Mohrenstraße hieß, dann weiter in die Marktgasse, die wieder Judengasse hieß, allerdings war der Name hastig handschriftlich aufgeklebt worden.

Er hatte nach dem Präparator Schröder gefragt, ein Mann in einer Lodenjoppe mit Hirschhornknöpfen und einem grünen Hut bot sich an, ihn zu begleiten, und führte ihn, in einem beflissenen, unverständlichen Englisch auf Hansen einredend, zu einem alten zweistöckigen Haus. Im Schaufenster stand ein ausgestopfter räudiger Fuchs, Federn am Maul, vor einer erlegten Gans, die – so der Appell an die Imagination des Betrachters – wohl wie soeben gerissen wirken sollte. Diese verstaubte Arbeit war also das Werk des genialen Lehrmeisters seines Vaters. Hansen ging das Wort Fraternisierungsverbot durch den Kopf. Er wusste nicht, ob dieser Onkel, mit dem er sich durch einen Besuch gemeinmachte, ein Nazi gewesen oder immer noch war. Nach einem kurzen Zögern betrat er den Laden. Im Halbschatten hingen ein paar Vögel an der Wand, ein Mops, ein ausgestopftes Windspiel. Vermutlich hatten die Auftraggeber in ihnen nicht die erhoffte Ähnlichkeit mit ihren Lieblingen wiedergefunden, oder sie waren in der Zeit ihrer Umwandlung von tot in halbtot einfach vergessen worden.

Ein grauhaariger Alter mit Spitzbart erschien, der finster blickend sagte, er habe seine Schrotflinte schon abgegeben und in der Partei sei er auch nicht gewesen.

Hansen nannte seinen Namen und sagte, sein Vater habe hier das Präparieren gelernt und lebe jetzt in New York und lasse Grüße ausrichten.

Der Alte brummelte etwas, was sich wie Ach so und Na denn anhörte, und zeigte keine Überraschung, keine Neugier und schon gar keine Freude. Nach einiger Zeit sagte er, dein Vater war ein guter Lehrling, sah dann an Hansen vorbei aus dem Schaufenster und gab sich schließlich einen Ruck: So, er müsse wieder an die Arbeit.

- 24. April -

Die Verwandtschaft: ein brummiger Alter, der die Schrotflinte abgegeben hat und kein Nazi gewesen ist – sagt er jedenfalls. Vertraut die Sprache, das Deutsch, nur der Dialekt ist so ganz anders und weckt keine Erinnerungen an Hamburg.

Ging zurück ins Quartier, vorbei an dem Renaissance-Stadthaus mit diesen missglückten Engelsgesichtern, vorbei an dem barocken Rathaus mit all den Fensterschnörkeln und seitlichen Erkern und dem Dachtürmchen, auf dem der heilige Mauritius mit einem Marschallstab steht, genannt das Bratwurstmännle, denn, hat man uns erzählt, so lang wie dieser Stab sollte die Bratwurst sein, die auf dem Markt verkauft wurde. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet diese Kleinstadt, in der doch alles intakt und friedlich scheint, die erste in Deutschland war, die sich einen braunen Bürgermeister erwählt hatte? Schon 1928. Dieses Franken, woher kommt der Hass auf die Juden? Das Wort: Die entjudete Stadt. Die judenfreie Stadt. Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus. Der gelbbraune Sandstein der Häuser, Blumen vor den Fenstern, das Grau, zuweilen ins Dunkelgrün spielend, der Schieferdächer. Aber vielleicht ist es ebendas, diese Nettigkeit, der eine Geducktheit entspringt, etwas Uneingelöstes, Selbstgerechtes, den Hass Suchendes.

Die Bratwurstbude steht noch, aber Bratwürste gibt es keine mehr, das Fleisch fehlt.

 

Am nächsten Tag fuhr Hansen in einem Jeep Richtung Frankfurt, fuhr wieder durch die hügelige Landschaft und meldete sich nach einigem Suchen beim Medical Corps.

I studied literature and history, not medicine.

Doesn’t matter, sagte der Offizier.

Hansen war überzeugt, er sei aus Versehen in diese Abteilung geraten, aber dagegen zu protestieren hatte wohl keinen Sinn.

- 27. April -

Auf der Straße Kolonnen deutscher Gefangener, die nach Norden in ein Lager marschieren. Zerlumpt sehen sie aus. Kaum vorstellbar, dass diese graue Masse einmal davorstand, Europa zu beherrschen. Und auf der anderen Seite der Straße, Richtung Süden, ebenfalls zerlumpte, abgehärmte Gestalten, zwangsverpflichtete Arbeiter aus Polen, der Ukraine, Russland, Gefangene aus den Konzentrationslagern, dann wieder belgische, französische Kriegsgefangene, dazwischen deutsche Flüchtlinge aus dem Osten, Frauen, Kinder und Alte, Pferdewagen, beladen mit Ballen, Koffern, Körben, ein Handwagen, von Frauen gezogen, am Strick eine Kuh, hochbepackte Kinderwagen, zwei Ströme bewegen sich aneinander vorbei in Gegenrichtung. Die Drangsalierten nehmen keine Rache, drohen nicht mit der Faust, keine Rufe, nichts, eine lange schweigende Kolonne. Nieselregen. Auch dieses Grau kommt hinzu. Allerdings erzählt man, dass es seitab der Straßen zu Plünderungen, Vergewaltigungen, auch Morden an der deutschen Bevölkerung komme. Bauern werde das Vieh abgeschlachtet.

- Frankfurt. 2. Mai -

Die Unterkunft – eine requirierte Villa, die bis vor vier Wochen ein Direktor der IG Farben sein Zuhause nannte. Ein aus Sand- und Backstein erbautes kleines Schloss mit gotisch anmutenden Fenstern, Erkern, Türmchen. Eine gewaltige Empfangshalle, ein pompöser Treppenaufgang, im ersten Stock eine Galerie, alles mit schwerer Eiche verkleidet, düstere Solidität, ein massiver Kronleuchter, auf Konsolen schwere chinesische Vasen, an den Wänden Ölbilder, bärtige Männer, Gründungsgesichter, zwei Landschaftsstücke, auf denen Kühe im Abendlicht weiden, im Gebälk eingeschnitzt: FORTES FORTUNA ADIUVAT.

Na denn.

 

Hansen musste sich das Zimmer mit einem First Lieutenant teilen, George, einem schlaksigen, sommersprossigen Psychiater aus Austin, der, wie Hansen fand, Schiller ähnlich sah, jedenfalls jener Abbildung nach zu urteilen, die Professor Kuppitsch über seinem Schreibtisch hängen hatte.

Das große und hohe Schlafzimmer des Besitzers hatte drei Fenster, die mit dunkelgrünen Samtvorhängen verdunkelt wurden. Das Ehebett stand zweigeteilt auf Rollen und konnte auf kleinen Schienen auseinandergezogen werden. Haben die, wenn sie sich stritten, die Betten auseinandergeschoben? Oder wurden sie nur zum Kopulieren zusammengeschoben?

I have to tell you up front that I snore – and then some. All my girlfriends have complained. I hope you can put up with it.

George war nur drei Jahre älter als Hansen und hatte in Belgien in einem Feldlazarett während der Ardennenschlacht Verwundete behandelt. Er erzählte, dass die Militärs psychische Verletzungen nicht ernst nähmen. Diese Berufsoffiziere hätten die emotionale Sensibilität von Panzernashörnern. Den Begriff seelischen Schaden akzeptierten sie nicht. Ein General wollte ihn auf deutsche Gefangene ansetzen, die in Stalingrad gekämpft hatten, verletzt ausgeflogen und dann, nach ihrer Genesung, wieder eingesetzt worden waren. Kälte, Hunger, Hoffnungslosigkeit und doch weiter durchhalten, das sei erstaunlich, das müsse erforscht werden. Das interessierte den General, der für die Motivation der Truppe zuständig war. Was denn Trauma?, sagte ein deutscher General, meinetwegen, sollen sie nachts träumen, am nächsten Tag aber ihren Dienst tun.

Die Überwindung solcher Schocks sei für diese Militärs eine Frage des Willens. An tiefergehende psychische Störungen glaubten sie nicht. Und solange der Krieg andauere, ständen die Patienten immer unter dem Verdacht des Simulierens. Es gab ganz eigentümliche Fälle von battle fatigue, wie jener Private E-2, der behauptete, ihm werde bei jedem Knall schwarz vor Augen. Unmöglich zu reagieren, unmöglich, mit dem Karabiner ein Ziel zu erfassen, geschweige denn zu schießen. Dieses Schwarzsehen war von keinem Zittern der Hände begleitet.

Er habe, sagte George, der entsandt war, das Innere des Schreckens zu erkunden, aber in Ermangelung von Ärzten gleich nach der Landung in Antwerpen ab- und in das Frontlazarett an den Ardennen kommandiert worden war, bis dahin nur in der Anatomie Tote gesehen. Und plötzlich musste er operieren, zunächst Kleinigkeiten, Splitter entfernen, Platzwunden nähen. I hope people aren’t mad at me when they look in the mirror.

Chirurgie habe ihn nicht interessiert, er habe nur die Pflichtübungen an der Uni gemacht: zusehen und mal eine Naht fertig nähen. Das war’s. Das Hirn interessierte ihn. Und plötzlich musste er mit dem Skalpell an Beinen, Brust und Armen herumschneiden: learning by doing. Ein erfahrener Sanitäter habe ihn unterstützt.

Dann wurde er hierherversetzt und konnte das Skalpell aus der Hand legen. Und bekam Fälle wie diesen Private, dem, wollte er schießen, schwarz vor Augen wurde. Der hatte bei einem Granatbeschuss in einem Straßengraben Deckung gesucht und sah dann, wie ein Shermanpanzer von einer deutschen Panzerfaust getroffen wurde und ein Mann der Besatzung sich noch aus dem Turmluk stemmen konnte, zu Boden stürzte, mit brennendem Unterleib am Boden lag, den Oberkörper hochgestemmt, schreiend, als wolle er Liegestützen machen, bis er starb. I declared him unfit for duty. And yet the war in the Pacific is still dragging on.

 

George schnarchte tatsächlich sehr laut und ausgiebig. Hansen hätte nicht sagen können, ob er selbst auch schnarchte. In der Kaserne war er nicht darauf angesprochen worden, und sonst fehlten die Zeugen, denn mit den vier Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war, kurz, nur Tage, ein paar Wochen, hatte er nicht darüber reden können. Es fehlte eine längere zugewandte Vertrautheit, die eine solche Frage möglich gemacht hätte, ohne die romantische Stimmung zu zerstören.

Noch jetzt, wenn er an Catherine dachte – und er dachte oft an sie –, war die Nacht eine Nähe von Atemzügen, einmal hatte sie im Schlaf gesprochen, etwas Unverständliches. Er jedenfalls hatte wach gelegen, voller Glück über jede ihrer Bewegungen und jeden Atemzug. Einmal hatte er sie sacht geweckt, und sie hatte nach einem kurzen Moment nur Ja gesagt. Noch immer war der schmale Lichtstreif unter der Zimmertür zu sehen gewesen. Erst gegen Morgen wurde das Licht gelöscht, und Hansen hörte, wie die Mitbewohnerin leise die Apartmenttür ins Schloss zog.