Helmut Schmidt - Thomas Karlauf - E-Book

Helmut Schmidt E-Book

Thomas Karlauf

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Beschreibung

Was hat Helmut Schmidt als Kanzler außer Dienst
wirklich bewegt?


Fast alle Biographien Helmut Schmidts enden mehr oder weniger mit dem Jahr 1982, dem Jahr seines Ausscheidens aus dem Kanzleramt. Von seinem Leben in den dreiunddreißig Jahren danach drang nur wenig nach außen. Wie aber wurde dieser Mann, der 1982 noch als durchschnittlicher Kanzler galt, zu einem Idol der Deutschen?

Kein anderer Politiker der Bundesrepublik hat eine solche fast kultische Verehrung genossen wie Schmidt. Sein Ruhm gründet allerdings weniger auf der Kanzlerzeit als vielmehr auf seiner zweiten Karriere danach: als Publizist und Elder Statesman, der – scheinbar unbeeinflusst von der Tagespolitik – über den Parteien stand und unbeirrbar an seinen politischen und ethischen Grundsätzen festhielt. Damit erfüllte er zugleich die Sehnsucht weiter Teile der Gesellschaft nach Führung. Die Biographie der späten Jahre 1982 bis 2015 erzählt, wie es dem Kanzler außer Dienst gelang, am Ende so gesehen zu werden, wie er gesehen werden wollte.

Thomas Karlauf, der seit 1987 fast alle Buchveröffentlichungen Schmidts betreute, besaß uneingeschränkten Zugang zu dessen Privatarchiv. Seine Biographie entfaltet ein intimes Stück deutscher Zeitgeschichte, gespiegelt im Leben jenes Mannes, den viele Deutsche zum Vorbild schlechthin erklärten.

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Zum Buch

Dieses Buch beginnt da, wo fast alle anderen Biographien Helmut Schmidts enden: mit seinem Sturz im Oktober 1982. In den 33 Jahren danach machte der Bundeskanzler a. D. eine beispiellose Karriere, auf deren Höhepunkt ihn viele Deutsche zum Vorbild schlechthin erklärten. Thomas Karlauf hat Helmut Schmidt in seinen späten Jahren aus der Nähe erlebt wie kaum ein anderer – sein Buch erzählt, wie es dem Kanzler a. D. gelang, am Ende so gesehen zu werden, wie er gesehen werden wollte.

Der Autor

Thomas Karlauf, geboren 1955 in Frankfurt am Main, ging nach dem Abitur nach Amsterdam und arbeitete zehn Jahre für die Literaturzeitschrift Castrum Peregrini. Von 1984 bis 1996 war er Lektor bei den Verlagen Siedler und Rowohlt und führt seither eine Agentur für Autoren in Berlin, aus der zahlreiche Bestseller zur Zeitgeschichte hervorgegangen sind. 2007 erschien seine vielgelobte Biographie »Stefan George. Die Entdeckung des Charisma«.

Thomas Karlauf

Helmut Schmidt

DIE SPÄTEN JAHRE

Siedler

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Erste AuflageSeptember 2016

Copyright © 2016 Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-17561-0V001

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Vorwort

TEIL IJahre der Zurückhaltung(1982–1990)

1 Inszenierung eines Verrats

2 Die langen Schatten der SPD

3 Zurück in Hamburg

4 Einmal um die Welt

5 Schwierige Verwandte

6 Keine Memoiren?

TEIL IIJahre der Einmischung(1991–2003)

7 Weil das Land sich ändern muss

8 Entdeckung einer Weltmacht

9 Die schwere Hypothek

10 Die rot-grünen Jahre

TEIL IIIWege des Ruhms(2003–2015)

11 Das Gedächtnis der Nation

12 Deutungshoheit

13 Lauter Abschiede

14 Die letzten Monate

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Sachregister

Namenregister

Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespräch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema, das ihn seit vielen Jahren beschäftigte: warum eigentlich kein Historiker sich so richtig für das interessiere, was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers 1982 alles gemacht habe. Das sei doch eine Menge, und manches davon halte er für nicht ganz unwichtig. Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen. Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982, und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen. »Als hätte ich danach kein Leben mehr«, klagte er ein ums andere Mal.

Ich würde mich erkundigen, welchen Historiker der jüngeren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen könnte, sagte ich und fuhr am Abend zurück nach Berlin. Man braucht zwei Stunden. Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin, um Helmut Schmidt für einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen, weiß ich nicht, aber an diese Fahrt erinnere ich mich genau. Als ich zu Hause ankam, stand mein Entschluss fest, das Buch, das Schmidt sich wünschte, selber zu schreiben.

28 Jahre hatte ich das Privileg, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Mächte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte, das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien, habe ich fast alle seine Buchveröffentlichungen betreut. Mit seinen Interessen, seinen Vorlieben, seinen Abneigungen war ich einigermaßen vertraut und wusste in etwa einzuschätzen, worauf es ihm ankam. Kenntnisse, die sich andere erst mühsam hätten erarbeiten müssen, brachte ich also mit. Die nötige Distanz, die eine kritische Biographie verlangt, würde sich mit der Zeit schon einstellen, hoffte ich.

Vier Wochen später trug ich Schmidt meine Kühnheit vor. Es sei mir ja wohl klar, auf wie viel Arbeit ich mich da einließe, meinte Schmidt, ob ich mir wirklich zumuten wolle, Jahre im Archiv zu sitzen. »Als Freund rate ich Ihnen ab.« Schmidts Privatarchiv, das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist, kannte ich gut, bei der Vorbereitung vieler seiner Bücher hatte ich dort recherchiert. Ich machte mir keine Illusionen, was den Arbeitsaufwand anging, war aber davon überzeugt, dass es sich lohnen würde.

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags. Schmidts »Hausverlag« schien mir die passende Adresse: Der Bundeskanzler a. D. hatte dort seine wichtigsten Bücher publiziert und den Verlagsgründer Wolf Jobst Siedler immer als »seinen« Verleger bezeichnet; ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt. Mein Angebot wurde angenommen. Als ich am 11. November 2014 wieder in Hamburg war, kam Schmidt gleich zur Sache und fragte, ob ich mir das Ganze noch einmal überlegt hätte. Ich würde es mir zutrauen, antwortete ich. Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen. »Dann ist das hiermit also verabredet«, sagte er.

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letztem Buch. Dann nahmen unsere Gespräche unmerklich einen anderen Charakter an. Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter, sondern als Biograph, der keine Behauptung ungeprüft übernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbesondere gegenüber allen Versuchen nachträglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst. Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten, hat der Caesar-Biograph Christian Meier einmal gesagt, und um wie viel mehr galt das für einen noch lebenden.

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich für einige Tage nach Langenhorn, um mich durch die Akten zu fressen, und saß jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen. Viele meiner sehr detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten, weil ihm die Zusammenhänge nicht mehr präsent waren, anderes schien ihn nicht zu interessieren. Ich sei auf einer falschen Spur, sagte er dann, die Dokumente, die ich gefunden hätte, seien völlig unerheblich. Ich verteidigte mich, erläuterte, warum sie in meinen Augen wichtig seien – und merkte zu spät, dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich hören wollte, ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte.

Während Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte, war es mein Ehrgeiz, die Stereotypen aufzubrechen, mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte. Vielleicht würde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken können. Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut. Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten ließ, von seinen üblichen Argumentationsmustern abzuweichen, überkam ihn schnell das Gefühl, zu viel von sich preiszugeben. Dann brach er ab und griff zu dem Satz, den er für solche Fälle immer parat hatte: »Das ist mir alles viel zu privat.«

Bücher zu veröffentlichen war für Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden. 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Außer Dienst eines der erfolgreichsten politischen Bücher in Deutschland vorgelegt. Seither war Jahr für Jahr entweder ein Gesprächsband oder ein Sammelwerk erschienen, und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung. Kaum war im Frühjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen, fragte er, was man denn als Nächstes in Angriff nehmen könnte. Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr. So wurde die Biographie der späten Jahre, die er mir übertragen hatte, in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt. Wann das Buch denn erscheinen soll, wollte er wissen. Zeitnah zum Tod – so stehe es im Verlagsvertrag, sagte ich –, spätestens jedoch zum 100. Geburtstag. Da grinste er schelmisch: »Es könnte sein, dass ich hundert werde.«

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus, die sich später möglicherweise in irgendeinem Zusammenhang als nützlich erweisen konnten. Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven – umfassend in den Nachlässen Bucerius und Dönhoff – und arbeitete mich durch die Literatur, die wissenschaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur. Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert: Sobald ich das Quellenmaterial für ein geplantes Kapitel einigermaßen vollständig erschlossen hatte, begann ich zu schreiben. Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr, irgendwann im Material zu ertrinken, und konnte zum anderen die Fragestellung für die jeweils nächsten Kapitel fortwährend präzisieren und aktualisieren. Die Gespräche mit Schmidt verstand ich als ein nützliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses. Machte ich ihn darauf aufmerksam, dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich, was sich aus den Quellen ergab, ermahnte er mich, es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu übertreiben, schließlich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen.

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen sämtlichen Archivalien gewährt; ich durfte sehen, was ich sehen wollte, konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen. Das Vertrauen, das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte, wollte ich rechtfertigen – ohne dabei meine Unabhängigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen. »Machen Sie ihn bloß nicht zu einem Heiligen«, hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben. Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitimationsproblem. Immer öfter stand ich vor der Frage: Wie kritisch durfte ich eigentlich sein? Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gründlichkeit und ein hohes Maß an Objektivität, und er vertrug die Wahrheit. Dennoch wurde mir irgendwann klar, dass die Veröffentlichung meines Buches sein Verhältnis zu mir zweifellos beschädigen und ich nichts dagegen würde unternehmen können. Die Vorstellung, den Mann, den ich verehrte, zu verletzen, belastete mich.

Als Helmut Schmidt am 10. November 2015 starb – fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung –, wusste ich, dass die Verantwortung für das Buch von jetzt an ausschließlich bei mir lag. Wer keine Rücksicht zu nehmen braucht, hat auch keine Ausrede mehr. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben würde, mir aber auch keine Gedanken darüber gemacht, welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben könnte. Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saß, wurde mir klar, dass ich von nun an auf mich allein gestellt war. Dabei machte ich eine merkwürdige Beobachtung: Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach rübergehen und ihn noch einmal befragen konnte, las ich gleichsam für ihn mit, so jedenfalls schien es mir, und diese Vorstellung wirkte auf mich befreiend. Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann, ging mir manches leichter von der Hand.

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes. Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Akten über all die Jahre stets sorgfältig geführt. Dabei wurden vier Überlieferungsreihen unterschieden: private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr), eigene Arbeiten (Aufsätze, Reden, Interviews), Reiseordner sowie die Ordner Pressecho. Ab 1983 kamen neue Ordnerreihen hinzu, insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit, deren Herausgeber Schmidt war, Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ordner und Behälter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Bücher. Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fünfhundert Aktenordner systematisch durchforstet, das sind vierzig laufende Meter, die Hälfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015.

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal, was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Lebens eigentlich gemacht, womit hat er sich beschäftigt. Er verwaltete sein politisches Erbe, pflegte die alten Freundschaften, übernahm neue Verpflichtungen. Vor allem aber wurde er mit zunehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populärsten Deutschen. Hier setzte meine zweite Frage an: Wie kam dieser späte Ruhm zustande? Je länger die Kanzlerjahre zurücklagen, desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu. Je gleichgültiger vielen Deutschen die aktuelle Politik zu werden schien, desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Führung. Dieses Paradox interessierte mich. Es lief auf die Frage hinaus, wie es Helmut Schmidt gelang, von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden, wie er gesehen werden wollte.

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut. Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten geordnet, die Vor- und Rückgriffe nötig machen. Die Fragen, die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschäftigten und für ihn Priorität hatten, bestimmen den Rhythmus des Ganzen. Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas. So nehmen etwa Schmidts Auslandskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein, als es ihrer durchgängigen Bedeutung für Schmidt entspricht. Die Zeit ist über vieles hinweggegangen. Andere Probleme – etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Türkei, das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhältnis zu Russland – sind so aktuell, dass es auch politisch lohnend erscheint, sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen.

Das erklärte Ziel dieser Arbeit war es, die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollständigen. Es sollte eine zuverlässige, auch wissenschaftlichen Anforderungen genügende Grundlage geschaffen werden für die weitere Beschäftigung mit dem Mann ohne Amt. Noch ist es zu früh, ein verlässliches Urteil darüber zu treffen, welche Bedeutung diesen letzten Jahren, die immerhin ein Drittel seines Lebens umfassen, einmal zukommen wird. Bei einer künftigen Bewertung der historischen Leistung des fünften deutschen Bundeskanzlers dürften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen, weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat, der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere »außer Dienst« aufbauen konnte. Außer Dienst nannte Schmidt, nicht ohne Ironie, sein politisches Vermächtnis. Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deutschen in dieser Rolle gar nicht vorstellen. Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird – davon erzählt dieses Buch.

TEIL IJahre der Zurückhaltung(1982–1990)

© Wolfgang Wilde (1982)

1Inszenierung eines Verrats

Der 1. Oktober 1982 war ein Freitag, ein schwarzer Freitag – nicht nur für die deutsche Sozialdemokratie. Millionen, für die an diesem Tag die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand, verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag, die am späten Vormittag mit einer Erklärung des Bundeskanzlers begann. Der Bundestag möge beschließen, so der einzige Tagesordnungspunkt, dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP zugrunde lag, Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszusprechen und den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu wählen.

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis, dass der FDP-Vorsitzende, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, beabsichtigte, den Partner zu wechseln. Aber wie wollte er seine Partei davon überzeugen, dass das Wendemanöver richtig war, und vor allem: Wie wollte er verhindern, hinterher als derjenige dazustehen, der dem Kanzler das Messer in den Rücken gestoßen hatte? An einem »Königsmord« werde er sich nicht beteiligen, sagte FDP-Innenminister Gerhart Baum am 2. September im Stern, und diese Haltung teilten viele Liberale, nicht nur am linken Flügel. Zwei Wochen später warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bundestag vor »Machenschaften«, die geeignet seien, das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschädigen.1 Das mit Bedacht gewählte Wort von den »Machenschaften«, das unausgesprochen auch den »Verrat« implizierte, entfaltete die beabsichtigte Wirkung. Von diesem Tag an, notierte Regierungssprecher Klaus Bölling kühl, saß Genscher »in einem Glaskäfig«.2

Den September über spielten die Partei- und Fraktionsführungen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szenarien durch, die nur einem Zweck dienten: dem Wähler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine möglichst günstige Ausgangsposition für Neuwahlen zu sichern. Das geringste Risiko lag bei der CDU. Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten, die amtierende Koalition abzulösen, aber Druck ausüben konnte er nicht, schon gar nicht auf die FDP, die er brauchte, um endlich auf die Regierungsbank zu kommen. Unabhängig davon, wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abgestimmt haben: Sehr viel mehr als die Bereitschaft, bedingungslos mit der FDP zu koalieren, und die Zusage, dass Genscher das Auswärtige Amt behalten dürfe, konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten. »Im Übrigen musst du wissen, dass du nicht ohne Netz turnst« – mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet.3 Viel war das nicht.

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen, wenn er absolut sicher sein konnte, die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben. Dort aber grummelte es vernehmlich. Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koalitionsaussage – »wer FDP wählt, garantiert, dass Schmidt Bundeskanzler bleibt«4 – deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten. Der fliegende Wechsel mitten in der Legislaturperiode – davon war ein Großteil der Liberalen überzeugt – werde die Glaubwürdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschüttern und sich verheerend auf das Abschneiden der FDP bei möglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken. Es war nicht unrealistisch anzunehmen, dass die FDP den Wiedereinzug ins Parlament verpasste. Die Frage, wann Genscher springen würde, hing deshalb entscheidend davon ab, dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin möglichst viel Zeit verging. Der Wähler hat ein kurzes Gedächtnis.

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin für Neuwahlen verständigen konnte, musste die amtierende Regierung erst einmal aus dem Amt gehievt werden. Helmut Schmidt machte keine Anstalten aufzugeben. Genschers Kalkül, ihn hinzuhalten und so allmählich »weichklopfen«5 zu können, zeugte von geringer Menschenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil. Entweder ließen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen überbrücken, so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche, oder aber er werde dafür sorgen, dass sie vor dem Wahlvolk – und vor der deutschen Geschichte – die alleinige Verantwortung für den Koalitionsbruch trugen. Nicht er, der Kanzler, sollte am Ende nackt dastehen, sondern diejenigen, die ihn aus dem Amt vertrieben hatten. Am 15. September rang sich Schmidt endgültig zu der Erkenntnis durch, dass die Koalition nicht mehr zu retten war, und nahm das Heft des Handelns in die Hand.

Über Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht; von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt, beteuerte Genscher ein ums andere Mal, an der Koalition festhalten zu wollen. Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits Anfang Mai schriftlich hatte ermahnen müssen, sich mit öffentlicher Kritik am Koalitionspartner zurückzuhalten – arbeitsmarktpolitische Überlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Interview als »Gruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeuge« bezeichnet worden6 –, legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach. Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff, wiederum öffentlich, seine Forderung nach notwendigen Umschichtungen im Haushalt, weg von der konsumptiven, hin zu einer investiven Ausgabenpolitik. Vorschläge aus den Reihen der SPD, zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen eine befristete Ergänzungsabgabe auf höhere Einkommen einzuführen, konterkarierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterungen für Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze.

Am 30. August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe, seine Vorschläge, wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln lasse, doch einmal zu Papier zu bringen. Das von Lambsdorff zehn Tage später vorgelegte »Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition. Als solches war es jedenfalls angelegt, hatte Lambsdorff seine wichtigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10. September unter der Überschrift »Manifest der Sezession« veröffentlichen lassen, bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundeskanzleramt eintraf.

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung für einen taktischen Fehler. Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick, der in diesen Wochen unermüdlich für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten warb, hatten ihn vergeblich zurückzuhalten versucht. Am 26. September standen Landtagswahlen in Hessen an, und Genscher wollte mit allen Mitteln verhindern, dass es vor diesem Datum zum Bruch kam; auch die Wahlen in Bayern am 10. Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen. Die Zuverlässigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema werden, wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte, in beiden Länderparlamenten an der Fünfprozenthürde zu scheitern.

Während Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memorandums herunterzuspielen suchte – es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium, der am Kabinettstisch zu diskutieren sei, nicht um ein FDP-Positionspapier –, ließ Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Grafen analysieren. Das Papier spiegele »die klassische bürgerliche Nationalökonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegien«, fasste Lahnstein zwei Tage später zusammen. »Das Wort Solidarität kommt nicht ein einziges Mal vor.«7

Schmidt war nicht gewillt, sich mit dem widerspenstigen Minister auf ein Klein-Klein einzulassen. Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte, durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keinesfalls die Chance einräumen zu behaupten, die Gegensätze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungspolitik seien unüberwindlich geworden. Schmidt stand das Schicksal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik, Hermann Müller, vor Augen, der im März 1930 zurückgetreten war, weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte. Das Scheitern der Regierung Müller, der letzten demokratisch legitimierten Regierung des Deutschen Reiches, wurde seither der SPD angelastet, der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam. Tatsächlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet, die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen, und es verstanden, ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben.

Am 9. September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklärung zur Lage der Nation ab. Die Debatte zog sich bis in den späten Nachmittag; anschließend fuhr Schmidt in die Parlamentarische Gesellschaft, um ein Buch vorzustellen, an dessen Entstehung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte: Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der großen Koalition im März 1930. Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet, und so übernahm Schmidt gern die Präsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation. Einige Gäste an diesem Abend seien sicherlich gekommen, sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede, »um aus meinen Ausführungen Fingerzeige für die nächsten Tage, Wochen, Monate oder Jahre zu erhalten«. Er müsse diese Gäste enttäuschen: Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht. Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage, die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe: wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise meistern ließen.8

Im Anschluss an die Veranstaltung saß Schmidt mit Helga Timm, dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen. Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl über die Parallelen zum Jahr 1930, und Schmidt machte klar, dass er alles unternehmen werde, damit den Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld für den Bruch einer Koalition zugewiesen werde.9 Auch im »Kleeblatt« – der Runde seiner engsten Berater, bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow, Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski und Regierungssprecher Klaus Bölling – kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Müllers zu sprechen. Rücktritt eines sozialdemokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass: Das dürfe sich auf keinen Fall wiederholen.10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog, machte deutlich, wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen Sozialdemokratie stand. In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die Auflösung der Weimarer Republik – das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterließ – war die eigentliche Ursache für das Ende der Regierung Müller nachzulesen. Sie stürzte, heißt es dort, wegen »des problematischen Funktionsverhältnisses zwischen … Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen, der Regierungspolitik auf der anderen Seite«.11 Das Gleiche drohte jetzt wieder: dass durch das Lavieren der »Wackelpartei« (Schmidt) die Regierungsarbeit gänzlich zum Erliegen gebracht wurde. Das Ende von Weimar beschäftigte Schmidt bis ins hohe Alter; die Regierung Müller, bilanzierte er 2010 im Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern, habe sich »in die Büsche geschlagen. Ich würde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen, sondern als Tragödie.«12

Sich in die Büsche zu schlagen kam gar nicht infrage. Schmidt musste einen Weg finden, um Lambsdorffs Versuche, ihn über Haushaltsdetails stolpern zu lassen, zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben. Die Lösung war ein Angebot auf Neuwahlen. Damit würde der schwelende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaßen auf eine höhere Ebene gehoben, die des Wählers als Souverän. Am Wochenende vom 4./5. September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9. September überarbeitet und dabei im letzten Drittel einen längeren Passus eingefügt, in dem er den Oppositionsführer zu einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit anschließenden Neuwahlen aufforderte.

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfälischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren taktischen Fehler begangen. Die CDU sei bereit, hatte Kohl gesagt, eine geschäftsführende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren, falls es zu einer verbindlichen Absprache über vorgezogene Wahlen käme. Möglicherweise war es die Ungeduld, die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Äußerung verleitete, möglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauß. Neuwahlen, so hatte ihm dieser am 31. August in den Bergen über Kufstein erklärt, müssten so schnell wie möglich abgehalten werden. Die Union werde umso besser abschneiden, je lebendiger dem Wähler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe. Die Freien Demokraten hoffte Strauß bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden, waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich für seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980, als sie ja nicht nur für Schmidt, sondern auch gegen Strauß angetreten waren. Für Genscher wurde es jetzt eng.

Wie stark Schmidt die Reihen von CDU/CSU und Wende-Liberalen mit seinem Vorstoß für Neuwahlen durcheinanderbrachte, lässt sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9. September nachlesen. Nachdem er bereits länger als eine Stunde gesprochen hatte, ging Schmidt die Opposition direkt an: »Auf der einen Seite ist es Ihre Taktik, überall zu vermeiden, zu sagen, was Sie wirklich wollen; auf der anderen Seite – – (Zuruf von der CDU/CSU: Neuwahlen!) – Ja, Sie wollen ran, das habe ich verstanden. Aber was Sie dann machen wollen, wissen Sie nicht! (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP – Dr. Kohl [CDU/CSU]: Sie wollen doch Neuwahlen!).«13 In den Reihen der Opposition herrschte offensichtlich vollkommene Verwirrung darüber, ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte.

»Der Bundeskanzler weiß, dass man reisende Leute nicht aufhalten soll«, beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede, unmissverständlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet. Aber, so der Kanzler am Ende feierlich und fest, »wenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll, dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen, die das wollen, mit einer Begründung, die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat, und nicht mit nebensächlichen, kunstvollen Argumenten.«14 Während die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten, ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regierungsbank, um Schmidt die Hand zu drücken. Dem Kanzler, das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spüren, war ein Befreiungsschlag gelungen. Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manövriert, er hatte auch genau den Ton getroffen, den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Lähmung dringend benötigte.

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsführer Kohl gerichtet – der darauf erwartungsgemäß nicht einging –, in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler. Aber Genscher war noch nicht so weit. Linksliberale um Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Günter Verheugen, aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Hildegard Hamm-Brücher, Ingrid Matthäus-Maier und Liselotte Funcke, die mangelnden Anstand beklagten, stellten sich quer und machten gehörig Druck. Das Risiko, dass zu viele Abgeordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wendemanöver verweigern würden, war für Genscher nach wie vor unkalkulierbar groß.

Am 17. September, acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation, ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive. Er wolle »nicht länger zusehen, wie die Handlungsfähigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschädigt werden«; es werde ihm wohl »niemand verdenken, dass ich auch mich selbst nicht demontieren lassen möchte«. Er erinnerte Helmut Kohl an sein Interview und machte daran anknüpfend einen neuen Vorschlag zur unverzüglichen Herbeiführung von Neuwahlen. Neuwahlen ließen sich nach der Verfassung nicht nur über den Artikel 67, das konstruktive Misstrauensvotum, sondern auch über Artikel 68, die Vertrauensfrage, in die Wege leiten. Das allerdings war kompliziert, setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen voraus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten. Die Vertrauensfrage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen, bedeute »die völlige Verkehrung des Art. 68 GG«, mahnte der spätere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde den Kanzler. »Greift dies Platz, so erhält der Art. 68 GG – verfassungswidrig – die Funktion, der jeweils regierenden Koalition bzw. Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermöglichen.«15

Schmidt verwies darauf, dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewählt hatte, »um den Wähler als den eigentlichen Souverän entscheiden zu lassen«.16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bundestag. Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt hervorgehoben: Ein Neuanfang bedürfe nicht nur der Legalität des Grundgesetzes, sondern mehr noch der »geschichtlichen Legitimität«, die nur durch Neuwahlen hergestellt werden könne. Die SPD, so führte er am 17. September aus, befinde sich zwar »gegenwärtig in einem handfesten politischen Tief« und werde bei Wahlen »wahrscheinlich Federn lassen müssen«. Aber »uns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vorteile zugunsten der eigenen Partei«. Verlässlichkeit, auch »Verlässlichkeit für unsere Partner im Bündnis und unsere Nachbarn in West und Ost … hängt in erster Linie von der Glaubwürdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ab«.

Die Zustimmung, die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und über alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug, war überwältigend. Rainer Barzel, der zwei Wochen später im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauensvotum begründen musste, beglückwünschte ihn noch an der Regierungsbank, wenig später telefonisch auch Bundespräsident Carstens, der sich allerdings skeptisch zeigte, dass Schmidt mit seinem Appell für Neuwahlen durchdringen werde.17 »Ein großer Tag fürs Parlament«, gratulierte Marion Dönhoff: »Kein wehmütiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs, sondern die Demonstration eines Führungsstils, den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werden.«18 Rudolf Augstein, der im Spiegel vom 6. September die Parole ausgegeben hatte: »Kanzler, halte durch!«, munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede telefonisch: »Sie machen absolut einen Fehler, wenn Sie den Grafen tun lassen, was er will«.19 Selbst einige derjenigen, die in der Antiatomkraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kämpften, bekundeten ihm ihre Anerkennung: »Dank für und Glückwunsch zu Ihrer Rede. Annemarie und Heinrich Böll.«20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine große Gelassenheit aus. Selbst Helmut Kohl, den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte, räumte ein, dass Schmidt »unerwartet freundlich« gewesen sei, »aufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvor«.21 Was Schmidt mit diesem etwa einstündigen Gespräch bezweckte, lässt sich nur anhand dessen rekonstruieren, was Kohl am nächsten Tag vor der CDU/CSU-Fraktion darüber berichtet hat. Nachdem noch einmal die beiden möglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien, habe der Kanzler ein düsteres Krisenszenario entwickelt. Man befinde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage, die möglicherweise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe; umso dringender benötige das Land eine entschlossene, handlungsfähige Regierung. Schmidt wollte seinem präsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaß der Verantwortung vor Augen führen, das auf ihn zukäme, ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einflößen, vielleicht auch ein bisschen Angst einjagen. Den selbstbewussten Pfälzer konnte das nicht anfechten. Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen, so interpretierte er das Gespräch in seinen Erinnerungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit, dass es an der Zeit sei, »bewährten Kräften die Bewältigung der großen Probleme zu überlassen«.22

Nachdem er Kohl verabschiedet hatte, setzte sich Schmidt gegen 20.30 Uhr mit Konow, Wischnewski und Bölling zusammen, um letzte Hand an die Rede zu legen. Als der Text kurz vor 3.00 Uhr am Morgen endlich stand, sagte Schmidt: »Jetzt bin ich richtig lustig.«23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck, meinte Bölling und hatte natürlich recht. Wenn der Chef Gefühle ausdrücken wollte, griff er bisweilen zu recht merkwürdigen Wendungen. Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment, in dem eine solche Last von ihm abfiel, seine Stimmung als lustig bezeichnete, unterstrich, dass er endgültig abgeschlossen hatte.

Einen gelösten, geradezu heiteren und ungewöhnlich liebenswürdigen Kanzler erlebte am nächsten Morgen auch Graf Lambsdorff. Der Termin um 9.15 Uhr im Kanzleramt, der bereits seit längerem vereinbart war, passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept. Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespräches »die persönliche Wertschätzung zum Ausdruck … die er immer gegenüber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habe«. In seiner für 11.30 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen, aber insbesondere deren Vorsitzenden heftig angehen. Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor. »Nachdem die Würfel gefallen seien«, meinte der Minister, habe es wohl »keinen Zweck, darüber lange zu streiten.« Das Gespräch, das in angenehmer Atmosphäre stattfand, dauerte etwa 45 Minuten.24 »Ich bin noch Minister«, beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut, als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verließ.25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus, wo für 10.15 Uhr eine Sondersitzung der Fraktion einberufen war. Für 10.30 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbüro bestellt, um sie darüber zu informieren, dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe. Er überreichte Genscher den Redetext. Der schaute gar nicht erst hinein, sondern erklärte dem Bundeskanzler den sofortigen Rücktritt der FDP-Minister, um so ihrem Rauswurf aus dem Kabinett zuvorzukommen. Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten. Für Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen, den FDP-Vorsitzenden vorab zu unterrichten, jetzt fühlte er sich ein weiteres Mal von ihm düpiert, und noch Jahrzehnte später ärgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin, dass Genscher nach der Verfassung, wenn überhaupt, nur seinen eigenen Rücktritt hätte erklären können). Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst, mit der Rücktrittserklärung das selbständige Handeln der FDP zu demonstrieren. Allerdings übersah er dabei einen für die FDP höchst unschönen Nebeneffekt. Denn die Tatsache, dass der Außenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Rücktritt erklärten – und sie eben nicht entlassen worden waren –, gab der These vom Verrat der FDP gewaltigen Schub. Betrachtet man das Drehbuch der nächsten Wochen, hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen.26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag, Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen. Aber weil Kohl mit Rücksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging, setzte sich in der Bevölkerung immer stärker der Verdacht durch, dass tatsächlich, wie die SPD nicht müde wurde zu betonen, ein »kalter Machtwechsel« (Willy Brandt) vollzogen werden sollte.

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche. Wenige Tage nach den für die FDP katastrophalen Bürgerschaftswahlen in Hamburg am 6. Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU für Wiesbaden getroffen. Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkommen zwischen SPD und FDP geschlossen worden, weil beide verhindern wollten, dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit über die Bonner Koalition wurde. Daran fühlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden, im Gegenteil, die Sozialdemokraten taten alles, um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung über »ihren« Kanzler umzufunktionieren.

Schmidt selbst rührte kräftig mit. Die Hessen müssten den »Schwarzen« und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen, »was ’ne Harke ist«, rief er auf der Abschlusskundgebung auf dem Frankfurter Römerberg am 24. September. »Am Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln: Das ist die Genscher-FDP, wie sie leibt und lebt.«27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit. Wenn die Führung der FDP den Wechsel wollte, sollte sie auch den Preis dafür zahlen. Einer wie er räumte das Feld nicht kampflos. Das schuldete er sich selbst, aber auch seiner Partei. Und es zahlte sich aus. Am 26. September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin größte Niederlage ihrer Geschichte: Mit 3,1 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert.

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Grünen, die mit 8 Prozent – wie zuvor schon in Hamburg – jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen, ließ Willy Brandt am Wahlabend in der »Bonner Runde« seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit »diesseits der Union«, was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete, Brandt wolle »eine andere Republik«. Über das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie über den Sieg Holger Börners keiner in der SPD mehr Illusionen. Es ging nur noch um die Modalitäten.

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt über Hans-Jürgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauß hergestellt, schien ihm doch »der Gedanke nicht ohne Reiz zu sein, gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu nötigen«.28 Nach dem für die CDU enttäuschenden Ergebnis in Hessen – Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert – begrub Strauß jedoch endgültig alle Hoffnungen, Neuwahlen vor Jahresende würden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern – und ihm selbst den Posten des Außenministers und Vizekanzlers. Parteifreunden, die nach der Hessen-Wahl darauf setzten, dass er doch noch einmal die Initiative für eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde, erteilte Schmidt eine klare Absage. Der Zug war abgefahren, und er selbst wollte »nicht als Geschaftlhuber von der Bühne gehen«.29

*

Am späten Nachmittag des 30. September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps. Anschließend fuhr er zum Münsterplatz, wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete, hinterher saß er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen. Am nächsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 9/2004, das von CDU/CSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum, auf der Tagesordnung. Schmidt hatte sich entschieden, vorher eine Erklärung abzugeben. Die sozialliberale Koalition habe durch die Wählerinnen und Wähler im Oktober 1980 »einen Auftrag für vier weitere Jahre bekommen«, so eröffnete er seine Rede. Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP »von der gemeinsamen Verantwortung ›für Freiheit und sozialen Fortschritt‹ … zielstrebig und schrittweise« abgerückt; eine Erklärung sei er bis zum heutigen Tage schuldig geblieben. Am letzten Sonntag hätten die hessischen Wähler hierzu ihre Meinung kundgetan, und jedermann wisse: »Die katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Antwort der Wähler auf das Verhalten der FDP-Führung hier in Bonn.«

Von einer überwältigenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger werde die Art, wie hier heute der Wechsel herbeigeführt werden solle, als »Vertrauensbruch« empfunden. Und dann, in Richtung Helmut Kohl: »Ihre Handlungsweise ist zwar legal, aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung.« Es sei von Neuwahlen im nächsten März die Rede, fuhr Schmidt fort; in den Koalitionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden können, er setze daher »Zweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankündigung«. Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf, »heute Morgen für die CDU/CSU dem Bundestag gegenüber und damit dem ganzen Volk gegenüber ohne Wenn und Aber« zu erklären, dass am 6. März gewählt werde. Dann zog er in zwölf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstätigkeit.

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das »Lebensinteresse« der Deutschen, sprach von der Europäischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Bündnis als den tragenden Pfeilern deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, mahnte an, dass die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostverträge »nicht nur eingehalten, sondern … auch praktisch angewendet werden« müssten, und bezeichnete »die Erhaltung der Einheit der Nation« als den innersten Kern seiner Deutschlandpolitik. Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualität der Streitkräfte zu sprechen und leitete von dort über zu den Genfer Abrüstungsverhandlungen, an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein »vitales Interesse« habe.

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Seine Regierung habe »zwischen zwei extremen ökonomischen Theorien … einen mittleren Kurs gewählt. Wir haben weder eine inflationistische Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betrieben.« Damit seien die Deutschen gut gefahren, sehr viel besser als viele der europäischen Nachbarn. Schmidt vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei, »einen vertretbaren Ausgleich zwischen ökonomischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringen«. Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit – »Wir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach oben!« – und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft, die sich ihrer Feinde nur erwehren könne, wenn sie an den Grundwerten der Freiheit und Würde unbeirrbar festhalte.

Der Zwölf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament. Schmidt versuchte die eigene Partei über das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen, die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren. Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Flügel jetzt nicht anfingen, das Rad neu zu erfinden, hatte die Partei eine reelle Chance, die nächsten Wahlen – wann auch immer sie stattfinden würden – einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Die Rede diente mithin auch der Einstimmung auf den Wahlkampf, und die Schlüsselworte lauteten Kontinuität und Berechenbarkeit. »Jedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnen«, lautete der letzte Satz, und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen Leute. »Langanhaltender lebhafter Beifall bei der SPD«, notiert das Bundestagsprotokoll. »Die Abgeordneten der SPD erheben sich – Beifall bei Abgeordneten der FDP.«30

Nach der Begründung des Misstrauensantrags durch den Abgeordneten Barzel, der dem Kanzler vorhielt, was alles er in seiner Rede verschwiegen habe, und Reden von Wehner, Geißler, Mischnick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Brücher persönliche Erklärungen ab, in denen sie sich von ihrer Parteiführung distanzierten. »Ich finde, dass beide dies nicht verdient haben, Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Sie, Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen«, sagte Frau Hamm-Brücher. Ein solches Vorgehen beschädige »die moralisch-sittliche Integrität von Machtwechseln«.31 Wie sie dazu komme, den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren, empörte sich CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und nannte Hamm-Brüchers Einlassung »einen Anschlag auf unsere Verfassung«.32 Da war sie plötzlich wieder, jene unheilvolle, von gegenseitigen Verdächtigungen vergiftete Luft, die schon einmal, zehn Jahre zuvor, beim gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte.

In dem nach Geißlers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort. Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne, bekunde ein solches Maß an »Illiberalität und Intoleranz«, dass sich die FDP schon fragen müsse, ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle. Es war Helmut Kohl, der mit staatsmännischer Besonnenheit jetzt zu beschwichtigen suchte: »Lassen Sie uns doch nicht in der ganzen Leidenschaft der Stunde das zerstören, was diese Republik in dreißig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hat!«33

Der Antrag, Helmut Schmidt abzuwählen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen, war eingebracht worden, nachdem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28. September eine klare Mehrheit für die Wende-Liberalen erbracht hatte. Von den 54 Abgeordneten (einschließlich des Berliner Abgeordneten) stimmten 34 für, 18 gegen Genschers Manöver, bei zwei Enthaltungen. In der anschließend in der Unionsfraktion durchgeführten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen. Kohl blieb dennoch nervös; beim »kleinen Zählappell« am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete, und noch kurz vor Eröffnung des Plenums am Morgen des 1. Oktober mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nachzüglern machen. Um 15.12 Uhr verkündete der Bundestagspräsident das Abstimmungsergebnis: 256 Ja-Stimmen, 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen. Mit sieben Stimmen mehr als für die absolute Mehrheit erforderlich, war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanzler gewählt.

Während die Abgeordneten der Union sich erheben und langanhaltenden Beifall spenden – das Protokoll verzeichnet auch Beifall bei der FDP –, geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition, um Kohl zu gratulieren. Wer genau hinschaut, traut seinen Augen nicht: Kohl macht reflexartig, ein wenig unkontrolliert, kurz einen Diener. Eine späte, überfällige Bezeugung des Respekts vor dem Älteren? Wer über die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhängen denkt, sieht, dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufgeschlagen wird.

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz, begibt sich dann kurz in die Fraktion, wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauß roter Rosen überreicht, und erhält kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde. Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespräsidialamt bitte nicht vergessen, hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen, »dass auch der Dank des Vaterlandes draufsteht«.34 Protokollarisches war ihm immer wichtig.

Nach einer kurzen Ansprache vor der Führung der Bundeswehr – die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen – fährt Schmidt zurück ins Kanzleramt. Sein Arbeitszimmer ist bereits leer geräumt. Für 18.00 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender. Um 21.00 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zurückfliegen. Da ist reichlich Zeit für Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis. »Alles in allem haben wir es nicht so schlecht gemacht.«35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend fällt gewohnt nüchtern aus, unpathetisch.

War das zu wenig? Er hatte seine Pflicht getan nach Maßgabe dessen, was ihm zu tun möglich war. Wie man seine Amtszeit einordne und bewerte, so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach, das würden später einmal die Historiker klären. Und er selbst, so muss man hinzufügen, würde 33 Jahre lang tatkräftig an der Auslegung mitwirken. Vielleicht hätte er auf die politischen Verschiebungen, die sich spätestens im Frühjahr 1982 erkennbar abzeichneten und schließlich seinen Sturz herbeiführten, früher reagieren und die Machtfrage stellen müssen, statt dem Koalitionspartner hinterherzulaufen und ständig Disziplin anzumahnen. Erst als ihm Mitte September klar wurde, dass die Führung der FDP gezielt darauf hinarbeitete, ihn zu demontieren, um so ihre Ambitionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren, handelte er. Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte, spottete Kohl damals. War das so falsch? Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen.

Das letzte Foto des Kanzlers, das sich mit seinem Abgang verbindet, zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt. An diesem 4. Oktober, nach der Übergabe der Geschäfte an seinen Nachfolger, hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts verabschiedet, der Personalrat hatte ihm einen großen Blumenstrauß in Klarsichtfolie überreicht, was Kohl sichtlich missfiel. Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow, in dem er bis Dezember wohnen blieb. Auf dem Foto, das ihn von hinten zeigt, wirkt er noch ein wenig kleiner, als er war, die rechte Schulter hängend, ein bisschen gebeugt. Der Eindruck eines müden, völlig abgearbeiteten Mannes wird verstärkt durch den Hünen, der links neben ihm geht, Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer. Er trägt in seiner Rechten, lässig nach unten, den Blumenstrauß. Die Körpersprache von Schmidts langjährigem Leibwächter an die Fotografen, die hinter der großen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schießen, ist auch von hinten eindeutig: Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe.

Mit seiner Rede am 17. September hatte sich Schmidt die Deutungshoheit über das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft. Sein Sturz am 1. Oktober wurde so, moralisch gesehen, zu einem persönlichen Triumph. Weil ihm zugleich die Tragödie der Sozialdemokratischen Partei im Frühjahr 1930 vor Augen stand, hatte er dafür gesorgt, dass die SPD den Wendemanövern des Koalitionspartners diesmal standhielt. So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Bühne verlassen als Partei des Staates, die vergeblich versucht hatte, den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schützen. Aber wie lange würde diese Schlussszene Bestand haben? In den nächsten Wochen und Monaten würde die neue Regierung alles tun, um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen, die da lautete: Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert, die ihm die Gefolgschaft verweigerte. Um sein Erbe zu sichern, musste Schmidt jetzt vor allem verhindern, dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben. Da kam einiges auf ihn zu.

2Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern, bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaßen ausgesöhnt war. Denn natürlich – das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben – hatten ihm die Genossen vom linken Flügel immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen. Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft, als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand, nahm der innerparteiliche Lärmpegel deutlich ab. Umso heftiger entlud sich der Streit über den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel. Jetzt, wo die SPD nach dreizehn Jahren wieder auf den Oppositionsbänken saß und nicht mehr den Zumutungen des Machbaren ausgesetzt war, ließ sich endlich auch wieder über Programmatisches reden. Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung, als dass sie »Verletzungen der eigenen hohen politischen Ansprüche« zulasse, bemerkte Egon Bahr einmal: »Das Programm gehört zur Seele der Partei.«1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen.

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt, der während der Regierung Schmidt selbst manche Kränkung erfahren hatte. Spekulationen, Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Frühjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hingearbeitet, maß Brandt selbst kein Gewicht bei, auch später nicht, als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte. Die Ambitionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht verborgen geblieben. Schon im Herbst 1965, als Brandt nach der verlorenen Bundestagswahl erklärte, nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen, hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt, wie es denn jetzt weitergehe. Einerseits störe ihn »der mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblich«, andererseits wäre es für ihn hilfreich, zu wissen, auf wen die Rolle des Kanzlerkandidaten »im Laufe der nächsten Jahre nun tatsächlich fallen wird«.2 Brandt dankte für die »freundschaftliche Gesinnung«, gab dem strebsamen Hamburger Innensenator, der mit seinem Wechsel zurück in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach außen geltend machte, aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg: »Für Dich wird es sehr darauf ankommen, dass Du Dich nicht übernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde hörst … Über die Schlachtordnung für 1969 sollten wir nicht zu früh entscheiden.«3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koalition verließ, kam dann alles ganz anders.

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Rückzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen, dass das, was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde, erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei. Anfang März 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu, als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desaströsen Ergebnis der Hamburger Bürgerschaftswahl über mangelnde Geschlossenheit klagte; die erheblichen Stimmverluste seien nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschäftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse. In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Büro konnte Schmidt wenige Tage später nachlesen, dass die Zuschauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien, der Bundesfinanzminister würde »als Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandt«. Lediglich sein Pfeifenrauchen während der Sendungen habe ihm »wieder zahlreiche massive Proteste beim Publikum eingebracht«.4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zurückscheute, sah er sich doch spätestens seit der zweiten Kabinettsbildung 1972 als derjenige, der gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzenden Wehner zuständig war für die Effizienz der Regierungsarbeit. Aus seiner Sicht ließ Brandt die Dinge allzu sehr schleifen, und darunter litt vor allem er, der Finanzminister, der die durch Brandts Ankündigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzuschmettern hatte. Sein letztes alarmierendes Papier über notwendige Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der weltweiten Währungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3. Mai 1974. Zwei Tage später traf sich in Bad Münstereifel die SPD-Führungsriege zu jener Wochenendklausur, auf der Brandt seinen Rücktritt erklärte; der Fall Guillaume war, so der Brandt-Biograph Peter Merseburger, »bestenfalls der Anlass, nicht aber die Ursache«.5

ENDE DER LESEPROBE