Hitlers "Mein Kampf" - Antoine Vitkine - E-Book

Hitlers "Mein Kampf" E-Book

Antoine Vitkine

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Beschreibung

Aktualisierte Neuausgabe - Ergänzt um die neuesten Entwicklungen seit Erscheinen 2014. "Mein Kampf" ist das schrecklichste Buch, das je auf Deutsch geschrieben wurde, für die einen ein Tabu, für andere ein Faszinosum, in Deutschland seit Kriegsende verboten, in anderen Ländern bis heute ein Bestseller. Aber was wissen wir über "Mein Kampf", seine Entstehungsgeschichte und seine Wirkung damals und heute? Wie und wo hat Hitler daran geschrieben? Wer hat den Text gelesen und wie hat man vor Hitlers Machtergreifung darüber gedacht? Wie wurde es zum Bestseller? Wie viel verdiente Hitler an dem Buch? Warum hat es eine Schlüsselrolle für seine Macht gespielt? Und wie soll man heute, wo das Nachdruckverbot endet, mit diesem Buch umgehen? Antoine Vitkine beschreibt die verstörende Karriere einer Hetzschrift, die sich nicht im Giftschrank der Geschichte einsperren lässt.

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Seitenzahl: 402

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Antoine Vitkine

Mein Kampf

Geschichte eines Buches

Aus dem Französischen von Sabine Hedinger, Sabine Schneider und Christian Stonner

Hoffmann und Campe

VorwortDer vergessene Bestseller

»Das hört nicht auf. Nie hört das auf.«

Günter Grass, Im Krebsgang

»Name: Hitler. Vorname: Adolf. Beruf: Schriftsteller.« Diesen Beruf gibt der Führer der NSDAP seit 1925 in seiner Steuererklärung an, die das zuständige Finanzamt all die Zeit über sorgfältig aufbewahrt hat. Adolf Hitler – Schriftsteller: Die Verbindung wirkt unpassend. Chef einer ultranationalistischen und rassistischen Partei mit einem Faible für Gewalt und Handstreiche, Volkstribun, gescheiterter Künstler und Schulabbrecher – nein, der zukünftige Diktator hat so gar nichts von einem Literaten an sich.

Doch als er 1923 für einen Putschversuch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, die er in der Festung Landsberg absitzt, nutzt er diese dreizehn Monate Haftzeit, um einen langen Text zu verfassen, der schon bald unter dem Titel Mein Kampf veröffentlicht werden wird. Indem er sich als »Schriftsteller« bezeichnet, verbindet er seine Geschicke mit dem kürzlich vollendeten Werk.

Mein Kampf, dieses gewaltstrotzende Plädoyer mit apokalyptischen Anklängen, das ein größenwahnsinniger Agitator an der Spitze eines Häufleins Desperados in einer schlichten Zelle niedergeschrieben hat, wird eines der meistverkauften politischen Bücher aller Zeiten werden. Schon vor 1933, vor dem Aufstieg seines Autors zur Macht, findet es Hunderttausende von Käufern. Dem Dritten Reich drückt es seinen Stempel auf. Es findet eine ungeheure Verbreitung: Man geht von zehn bis zwölf Millionen Exemplaren aus. Mein Kampf, die »Nazi-Bibel«, wird allen Brautpaaren überreicht, in den Schulunterricht aufgenommen, in Auszügen und Zusammenfassungen, auch bebildert, mit den neuesten Reklametechniken beworben, ja sogar in Blindenschrift herausgebracht.

Mein Kampf ist aber nicht nur ein deutsches Buch für deutsche Leser. Im Laufe der 1930er Jahre wird es in über 20 Sprachen übersetzt und zum globalen Bestseller. Das Buch des Führers fasziniert, verführt oder schockiert die Öffentlichkeit überall auf der Welt. In Frankreich wird Mein Kampf zum Gegenstand einer Verlegerschlacht, bei der es sogar um das Schicksal des Landes im Blick auf Hitlerdeutschland geht.

Der Untergang des Dritten Reiches und der Tod seines Führers haben nichts daran geändert: Mein Kampf ist ein Bestseller geblieben. Seit 1945 ist das Standardwerk des Nationalsozialismus millionenfach in aller Welt vertrieben worden, sicherlich weit über die Mengen zu Nazi-Zeiten hinaus. Laut der amerikanischen Zeitschrift Cabinet werden jährlich 20000 Exemplare in englischer Sprache abgesetzt. In Frankreich verkauft es ein Verleger wie zu alten Zeiten – und das ganz legal. In mehreren Ländern erscheint es auf den Listen der meistverkauften Bücher: In der Türkei fand es in einem einzigen Jahr 80000 Käufer; in Indien ist ein beispielloser Hype darum entstanden. Ob in Russland, in Indonesien, in Ägypten oder im Libanon: Sein Erfolg lässt sich nicht leugnen. Und zu Zeiten von E-Book, iPad, Kindle, Amazon verhilft das Internet dieser Brandschrift namens Mein Kampf, die auf einer altmodischen Schreibmaschine in einer alten bayerischen Festung entstand, zu einem neuen Leben und einem neuen Boom. Man mag das unerträglich finden, aber es ist die Wahrheit: Neunzig Jahre nach seiner Entstehung, siebzig Jahre, nachdem die Welt von den NS-Todeslagern erfuhr, findet Mein Kampf immer noch sein Echo.

Das Werk ist aus den Schaufenstern unserer Buchhandlungen verschwunden und bleibt dennoch präsent, wie unter Quarantäne. Rasch aus dem Kopf verbannt, eingereiht ins Regal der unheimlichen Bücher, die man zu kennen glaubt und zu öffnen sich weigert, faszinierend und abstoßend zugleich. Wie eine böse Erinnerung, die sich nicht verjagen lässt und sich uns ganz aktuell durch ein nicht unwesentliches Ereignis aufdrängt: Mit Beginn des Jahres 2016 wird Mein Kampf gemeinfrei. Wie es das Autorenschutzrecht vorsieht, könnte das Buch dann theoretisch von jedermann herausgebracht werden, genau wie die Klassiker der Literatur. Die praktischen und rechtlichen Auswirkungen dieses Ereignisses sind begrenzt, wenngleich ganz real, doch seine Symbolwirkung wird wohl niemandem entgehen.

Umso erstaunlicher, dass die Geschichte dieses so einflussreichen Werkes, ersonnen vom Urheber beispielloser Verbrechen, weitgehend unbeachtet geblieben, sein Weg durch die Zeit mit vielen Schatten gesprenkelt ist. Der Inhalt von Mein Kampf wurde natürlich schon viele Male behandelt, analysiert, entziffert. Aber seine Entstehung, die Kommentare, die seine Veröffentlichung begleitet haben, sein Einfluss auf den Aufschwung der nationalsozialistischen Bewegung und auf das Dritte Reich, seine Resonanz, seine internationale Verbreitung im Ausland, sein Weg nach dem Krieg, ja selbst die simple Frage, ob das Buch, das immerhin Millionen Deutsche besaßen, auch gelesen wurde: Das alles ist bislang kaum untersucht worden. Die meisten Historiker haben diesen Aspekt unberücksichtigt gelassen, und die Öffentlichkeit hat den Blick abgewandt.[1]

Unsere Untersuchung hat nicht den Anspruch, einen Beitrag zu den historiographischen Debatten zu leisten, die sich die Geschichte des Nationalsozialismus vorgenommen haben, sondern will eine Lücke füllen, indem sie das Schicksal dieses Buches erzählt.

Das ist eine ebenso historische wie moralische und vielleicht auch politische Herausforderung. Denn die Geschichte von Mein Kampf hält wertvolle Lehren für die heutige Zeit bereit. Sich mit diesem Buch auseinanderzusetzen heißt allerdings, sich zwei Fragen von ziemlicher Bedeutung zu stellen.

In Mein Kampf hatte Hitler einen Großteil seiner zukünftigen Verbrechen angekündigt. Mit seinen politischen Axiomen Terror, Rassismus, Totalitarismus, mit dem deutlich bekundeten Willen, die Weltherrschaft zu erringen, war dies nie ein unverständliches oder hermetisches Werk. Hätte Mein Kampf – der Öffentlichkeit vorgestellt, seit 1925 in den Buchhandlungen erhältlich – die Welt vor der Bedrohung warnen können, ja müssen, der Hitler die gesamte Menschheit aussetzte? Diese Frage quälte den deutschen Philologen Victor Klemperer, einen ohnmächtigen Zeugen der nationalsozialistischen Unterdrückung: »Es wird mir immer das größte Rätsel des ›Dritten Reiches‹ bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte.«[2]

Die zweite Frage ist ebenfalls höchst brisant: Ist die Weltanschauung von Mein Kampf immer noch virulent? Was schwelt da noch? Enthält Mein Kampf wirklich ein Gift, wie die alliierten Soldaten glaubten, die es bei der Befreiung für alle Ewigkeit verbannen wollten?

Wenn mich diese Fragen umtreiben, dann deshalb, weil alle Menschen im Westen – manche, wie ich, vielleicht stärker als andere – den Eindruck haben, dass dieser Teil der Geschichte noch unabgeschlossen ist: »Das hört nicht auf«, um Günter Grass zu zitieren. Dieses Buch ist meinen Großeltern gewidmet. Alle vier litten unter den Folgen des verbrecherischen Abenteuers, das der Verfasser von Mein Kampf befohlen hatte, alle vier mussten für das in seinem Buch beschriebene Vorhaben bluten. Der eine Großvater, Franzose und Jude, hat in der Résistance gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht gekämpft und seine Familie in den Todeslagern verloren. Der andere hat mit der britischen Armee in der libyschen Wüste und in Italien gegen die Wehrmacht gekämpft. Die eine Großmutter war, bevor sie meinen Großvater kennenlernte, mit einem jungen Piloten verheiratet, der, im Einsatz für das gaullistische Freie Frankreich, am Steuer eines Flugzeugs der Staffel Normandie-Njemen über Russland abgeschossen wurde. Und die andere ist meine Großmutter Annemarie, geboren in Fürth, in der Nähe von Nürnberg. Mit ihr spreche ich oft über diese Zeit. Und immer erzählt sie mir dann von ihrem Vater, meinem Urgroßvater Robert Löwensohn.

Alles beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, dieser Matrix für die kommende Tragödie, diesem so grausamen wie verklärten Krieg, der Hitler hervorbringen wird, Mein Kampf, das deutsche Ressentiment, die Todeslust einer Generation, die Krise der 1930er Jahre, das Dritte Reich. Diesen Krieg haben der zukünftige Führer und mein Urgroßvater verblüffend ähnlich erlebt.

»So, wie wohl für jeden Deutschen, begann nun auch für mich die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens […] Eine einzige Sorge quälte mich in dieser Zeit, mich wie so viele andere auch, ob wir nicht zu spät zur Front kommen würden« (1/1721), schrieb Hitler in Mein Kampf. Auch Robert Löwensohn erlebt beim Kriegseintritt Deutschlands patriotische Gefühlswallungen und wünschte sich sehnlich, mit dabei sein zu können. Gleich nach der Kriegserklärung bricht der damals Neunzehnjährige seinen Sprachaufenthalt in England ab und kehrt nach Deutschland zurück. Als er im Hamburger Hafen von Bord geht, treibt ihn nur eine Sorge um: dass der Krieg aus sein und er die Chance vertan haben könnte, daran teilzunehmen. Er fährt auf schnellstem Wege in seine bayerische Heimat, um sich als Freiwilliger zu melden. Am 6. August 1914 wird er in München ins 11. Bayerische Infanterie-Regiment aufgenommen. Am Vortag, dem 5. August, hat sich in derselben Stadt ein gewisser Adolf Hitler ebenfalls freiwillig zum Dienst in der Armee gemeldet.

Der junge Löwensohn kämpft in Russland, in Serbien und schließlich in Frankreich. Er wird zweimal verwundet, genau wie der Gefreite Hitler. Letzterer bekommt das Eiserne Kreuz verliehen. 1916 bietet man Robert Löwensohn, der sich im Kampf ausgezeichnet hat, die Wahl zwischen einem Eisernen Kreuz und einem Offiziersgrad an. Beides zusammen sei allerdings zu viel für ihn, gibt man ihm zu verstehen. Für ihn? Für einen Juden, versteht er ganz richtig. Aber egal, er ist gehörig stolz darauf, Offizier in Kaiser Wilhelms Heer zu werden. 1917 befinden sich mein Urgroßvater und Adolf Hitler am selben Abschnitt der Westfront, im Artois, zwischen Vimy und Arras. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sie sich dort begegnet sind, dass der Meldegänger Hitler, ständig unterwegs zwischen Regimentsstab und Bataillonsstäben, sich auch einmal beim Leutnant Löwensohn, dem Führer eines MG-Schützenkommandos, einstellte. In Mein Kampf, wo er diesen Krieg zur prägenden Zeit seiner Ideologie erklärt, schreibt er trotzdem, er sei von der Feigheit der Juden befremdet gewesen und »staunte über die Fülle von Kämpfern des auserwählten Volkes« (1/203), die er in den Schreibstuben im Hinterland vorgefunden habe: »Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen« (1/203), wo doch selbst zu seinem eigenen Regiment zahlreiche Juden gehörten, angefangen mit dem Offizier, dem er sein Eisernes Kreuz verdankte.

Beide, Hitler und mein Urgroßvater, erleben die Niederlage als schwere Kränkung, beide verurteilen die Unruhen, die sie im Land auslöst. In München beteiligt sich Leutnant Löwensohn ohne Bedenken an der bewaffneten Niederschlagung des Aufstands der Räte im April 1919. Viele Anführer dieser subversiven kommunistischen Bewegung sind Juden, was den Hass der nationalistischen Rechten schürt. Mein Urgroßvater bekämpft also den Aufruhr an der Spitze seiner Leute, während Hitler vorsichtshalber alles Weitere in seiner Kaserne abwartet. Doch kaum sind die Räte besiegt, wird er zu einem Aufklärungskursus für »staatsbürgerliches Denken« kommandiert, um antikommunistische und damit zwangsläufig antisemitische Propaganda in seinem Regiment zu betreiben. Und da entpuppt er sich als politisches Talent … Fünf Monate später tritt er in die DAP, die Deutsche Arbeiterpartei ein; vier Jahre später, in Landsberg, beginnt er mit der Abfassung von Mein Kampf. Im selben Jahr, in einer anderen bayerischen Stadt, wird Robert Löwensohn, der wieder im familieneigenen Kinderbuchverlag arbeitet, Vater einer kleinen Tochter, meiner Großmutter Annemarie.

Die politischen Ereignisse beschäftigen ihn kaum. Meine Großmutter erinnert sich, dass er nie über Politik gesprochen hat, sich aber unermüdlich über seinen Weltkrieg auslassen konnte, voller Stolz auf seinen Rang als deutscher Offizier, als der Herr Leutnant, der für sein Vaterland gekämpft hatte.

Dann kommt das Jahr 1933, und noch begreift er nicht, dass die Machtübernahme seines Kameraden vom Artois eine tödliche Bedrohung für ihn und seine Familie bedeutet. Wie viele ihrer Glaubensgenossen meinen die Löwensohns, die Nazis würden sich auf Diskriminierungen beschränken, und eines Tages werde alles zur Normalität zurückkehren. Schlägt Hitler nicht schon moderatere Töne an, seit er Reichskanzler geworden ist? So ein 20 Jahre früher geschriebener Text zeuge doch eher von der Wahnhaftigkeit seiner antisemitischen Obsession, seiner Weltanschauung, in der die Auslöschung der Juden und der Krieg eine zentrale Rolle spielten. Mein Kampf? Weder Robert Löwensohn noch irgendwer in seiner Umgebung hat das Buch gelesen. »Wir fanden es zu vulgär«, erzählt mir meine Großmutter. »Wir hielten uns nicht für betroffen, wir als deutsche Bürger und Patrioten.« Sie erinnert sich, dass nur die Dienstmädchen die Hetzreden des Führers im Radio hörten. Eine von ihnen sollte übrigens meine Großmutter, Leutnant Löwensohns Tochter, darüber aufklären, was ihr mit zehn Jahren höchstens undeutlich bewusst gewesen war: Sie ist Jüdin, ihre Familie ist jüdisch.

1938, allzu spät, macht sich Robert Löwensohn mit seinen Angehörigen schließlich auf nach Paris. Als die Deutschen in Frankreich einmarschieren, bringt er seine Tochter in Sicherheit, denkt aber nicht daran, sich selbst zu verstecken. Was hat er schon vonseiten der Deutschen zu befürchten, er, der Leutnant des Königlich Bayerischen 11. Infanterie-Regiments? Auf jeden Fall trennt er sich nicht von seinem Militärpass. 1940 wird dem Veteranen trotzdem, per Verordnung, die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Erst 1942 begreift er, in welcher Gefahr er schwebt, bereitet noch die Flucht in den Süden vor, wird aber bei einer großangelegten Razzia festgenommen. Er weist darauf hin, wer er ist, was ihm nur einen kurzen Aufschub verschafft, bevor er nach Auschwitz deportiert wird, seinen kostbaren Armeepass im Gepäck. Dort hält er noch drei Jahre durch und kommt schließlich auf den Todesmärschen im Januar 1945 um.

Zweifellos hat er bis zuletzt nicht recht verstanden, warum der Gefreite Adolf Hitler, der Meldegänger vom Artois, ihn aus Deutschland verjagt und seiner Staatsbürgerschaft beraubt hatte, um ihn schließlich zu ermorden. Er hatte Mein Kampf nicht gelesen. Und wenn er das Buch gelesen hätte, hätte er seine tiefe Bedeutung verstanden? Hätte das etwas an seinem Schicksal geändert? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, aber sie verdienen es, gestellt zu werden.

Die Zeit vor dem KriegDie »Nazi-Bibel«

IDie Entstehung eines Buches

Die Ursprünge von Mein Kampf

Münchens historische Altstadt ist im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zwar weitgehend zerstört, aber in den Folgejahren größtenteils originalgetreu wiederaufgebaut worden, so auch das Hofbräuhaus am Platzl. Die bereits im 16. Jahrhundert gegründete Brauerei, Ende des 19. Jahrhunderts zum Gasthaus umfunktioniert, beim Bombardement Münchens 1945 schwer getroffen, wurde penibel rekonstruiert. So erscheinen Name und Fassade wie in den 1920er Jahren, als zahlreiche Gruppen und Vereinigungen, von denen es in der brodelnden Weimarer Republik nur so wimmelte, dort ihre politischen Versammlungen abhielten. Die Dekoration im Saal ist typisch bayerisch. Auf beiden Seiten lange Tische, Gäste in traditionell bayerischer Tracht mit Gamsbarthüten, dazwischen Touristen. Bierkrüge balancierend, bahnen sich die Kellner ihren Weg, untermalt von lauten Stimmen und schallendem Gelächter. Kaum zu glauben, dass in dieser Bierhalle Hitler zu Hitler wurde und dass in dieser Bierhalle auch Mein Kampf seinen Ursprung hat.

Herbst 1919. Aus dem Heeresdienst entlassen, ohne Habe, ohne Familie und ohne Arbeit, schleppt der Gefreite Adolf Hitler seine Misere durch Münchens Straßen, von der Kneipe zum Bierkeller. Eigentlich sehnt er sich nach dem Krieg und den Schützengräben zurück. Dem gescheiterten Kunstmaler, dem heruntergekommenen Außenseiter, der vergebens versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben, hat der Erste Weltkrieg eine erhebende Erfahrung geboten: »[…] die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens« (1/172), wie er in Mein Kampf schreibt. Der Krieg hat den Österreicher Hitler von dem schweren, giftigen Elixier namens Nationalismus kosten lassen und so einen glühenden Verteidiger der deutschen Nation aus ihm gemacht. Um sich in diesem Sinne weiterhin betätigen zu können, bietet der ehemalige Gefreite seine Dienste der militärischen Abwehr in München an. »Er glich einem müden, streunenden Hund, der nach einem Herrn suchte«, wird Jahre später Hauptmann Karl Mayr[3] erzählen, der ihm den Auftrag erteilt, die ultranationalistische Szene zu beobachten. Die Reichswehr will wissen, was sich da zusammenbraut, auch um diese neuen Gruppierungen eventuell nutzen zu können.

Und so macht Hitler 1919 Bekanntschaft mit der DAP, der Deutschen Arbeiterpartei: eine neu gegründete rechtsradikale Gruppe, deren Ruf kaum über die Stadtgrenzen hinausreicht; eine von zahllosen Splittergruppen, die für extremen Rassismus und Nationalismus stehen. Dieser Partei tritt Hitler also wie befohlen bei, ganz im Interesse der Abwehr. Sein Mitgliedsausweis trägt die Nummer 555.[4]

Dann jedoch wird dem Spitzel Adolf Hitler schnell bewusst, dass die Ideen und Parolen der DAP das zum Ausdruck bringen, was er selbst denkt, aber bisher nie hat artikulieren können. Eines Tages, während einer Versammlung, wagt er es, von ganz hinten im Saal das Wort zu ergreifen. Und entdeckt in sich ein Talent und eine Berufung zum Redner.

24. Februar 1920. An diesem Abend hält die DAP eine »Massenversammlung« im Hofbräuhaus ab. 2000 Menschen haben sich versammelt, angelockt durch eine riesige Plakataktion. Sie entdecken einen Unbekannten: Adolf Hitler, 30 Jahre alt. Der junge Mann steht noch ganz im Schatten der Parteigründer, des ehemaligen Werkzeugschlossers Anton Drexler und des Sportjournalisten Karl Harrer, doch als er das Wort ergreift, beweist Hitler sein außerordentliches rhetorisches Talent, mit dem er die Zuhörer sofort in den Bann zieht. Dazu kommt die Heftigkeit seiner Worte, insbesondere, wenn er sie gegen die Juden richtet. »Auch hier wissen wir genau, daß die wissenschaftliche Erkenntnis bloß die Vorarbeit sein kann, daß aber hinter dieser Erkenntnis die Organisation kommen muß, die einst zur Tat übergeht und die Tat bleibt uns unverrückbar fest, sie heißt: Entfernung der Juden aus unserem Volke«, donnert er. An diesem Abend bringt Hitler laut Zeugenaussagen das Publikum auf Hochtouren. »Und wir verzagen am wenigsten, wenn wir heute noch vielleicht einsam dastehen. Wenn wir überall, wohin wir kommen, wohl Anhänger sehen, aber nirgends den Mut zu einer Organisation – das soll uns nicht irre machen, wir haben den Kampf gewagt und müssen ihn auch gewinnen«, verkündet er mit einer Überzeugungskraft, die selbst die abgebrühtesten Kampfgenossen erschüttert.

Man muss sich Adolf Hitler vorstellen, in dunklem Hemd, auf einem improvisierten Podest. Er spricht zu einem bunt zusammengewürfelten Publikum aus Veteranen und einfachen Bürgern, die schwer unter den Auswirkungen der Ereignisse der letzten Jahre leiden: der Niederlage von 1918, dem demütigenden Versailler Vertrag mit den Reparationsleistungen und Gebietsverlusten, dem Systemwechsel von autoritärer Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, der Wirtschaftskrise, der Inflation, den Kommunisten, die Unruhe verbreiten,[5] den Parteien, die sich in die Haare geraten, den dekadenten Künstlern, die provozieren; der Zeitgeist schürt ihre Entrüstung und ihren Hass. Und dann diese Juden, ehemals diskriminiert und mit einem strengen Numerus clausus belegt, der ihnen den Zugang zu vielen Berufen versperrte, die aber nun, den antisemitischen Agitatoren zufolge, überall sind, sogar in der Regierung. Aus all diesen Gründen finden die Verfechter der Reaktion, des Autoritarismus und der xenophoben Abkapselung ein wachsendes Publikum.

An diesem 24. Februar 1920 ist Hitler außerdem beauftragt, das Programm der Partei zu verlesen. In 25 Punkten fordert es ein Großdeutschland, die Beschränkung der Staatsbürgerschaft auf Menschen »deutschen Blutes«, während die Juden unter Fremdengesetzgebung gestellt werden sollen, die Aufhebung der Waffenstillstandsverträge sowie einige antikapitalistische Maßnahmen. Es ist, kurz gesagt, ein zugleich nationalistisches und sozialistisches Programm. Deshalb wird zum Abschluss der Versammlung verkündet, dass die DAP ihren Namen in NSDAP ändert, Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Hitlers Erfolg an diesem Abend im Hofbräuhaus bleibt nicht folgenlos. Im Juli 1921 wird er Chef der NSDAP, der »Führer«, während länger gediente oder höherrangige Parteisoldaten das Nachsehen haben. Ein rascher Aufstieg, wenn man bedenkt, dass dieser Mann als Spitzel im Dienst der Reichswehr zur NSDAP-DAP gekommen ist. Doch seine rednerische Begabung erlaubt es ihm, die Karten in seinem Sinn zu mischen. »Die breite Masse eines Volkes besteht weder aus Professoren noch aus Diplomaten. Das geringe abstrakte Wissen, das sie besitzt, weist ihre Empfindungen mehr in die Welt des Gefühls. Dort ruht ihre entweder positive oder negative Einstellung« (1/357), doziert er in Mein Kampf.

1923 wird ein schweres Jahr für Deutschland. Im Versailler Vertrag war das Land dazu verurteilt worden, 269 Milliarden Goldmark an die Siegermächte des Weltkriegs zu entrichten, was wegen der darniederliegenden Wirtschaft nicht gelingen konnte. Um sich die vereinbarten Sachleistungen zu sichern, besetzen im Januar französische und belgische Truppen das Ruhrbecken, das industrielle Zentrum des Landes. Das bedeutet eine unerträgliche Demütigung. Überall im Land kommt es zu Protesten, zu Streiks. Die Zahl der Entlassungen vervielfacht sich, die Preise explodieren, die Mark stürzt ab. Es herrscht größte politische Instabilität. Am 26. September ruft Reichspräsident Ebert den Notstand aus.

Hitler und seine Leute haben den Eindruck, die Weimarer Republik sei in die Knie gegangen. Hat denn nicht jetzt die Stunde des Handelns geschlagen? Hat es denn nicht im Vorjahr jenseits der Alpen ein gewisser Benito Mussolini geschafft, mit einem aufsehenerregenden Marsch auf Rom die italienische Demokratie zu stürzen? Warum sollte so etwas nicht auch in Deutschland möglich sein?

Aber Hitler ist nicht nur der fanatische Parteiredner, der weiß, wie man die Massen packt, sondern kann auch mit guten Manieren glänzen, wenn er von den reaktionären Kreisen des Münchner Bürgertums anerkannt werden will. Auch darin liegt eine seiner Stärken und einer der Gründe dieses rasanten Aufstiegs. So schafft es der junge Chef der neuen Partei, den einstigen kaiserlichen Generalmajor und nach wie vor einflussreichen General Ludendorff zu überzeugen, sich mit ihm zusammenzutun, um einen Gewaltstreich zu wagen.

Auch am 8. November 1923 wird in einer Münchner Bierhalle Geschichte gemacht, diesmal im Bürgerbräukeller. Prominente Vertreter aus Bayerns Regierung, Behörden und Wirtschaft versammeln sich hier vor 3000 Menschen, hauptsächlich aus dem Bürgertum, die beunruhigt über die Lage sind. Bayern, unzufrieden mit der Regierung in Berlin, droht ernstlich mit Abspaltung und hat seinen eigenen Notstand ausgerufen. Plötzlich stürmt ein kleiner Pulk in den Saal: Hitler, flankiert von Anhängern der NSDAP und der SA[6] in eilig zusammengestoppelten braunen Uniformen, dabei auch ein Held der Luftfahrt, Hermann Göring. Und schließlich erscheint General Ludendorff im vollen Glanz seines Ruhmes. Hitler besteigt das Podium mit gezücktem Revolver und fordert die versammelte Politprominenz auf, ihm in einen Nebenraum zu folgen.

Dort verlangt er, ihm die Macht zu überlassen.

Um die Situation zu entschärfen, geben die Herren vage Zusicherungen ab und verlassen dann eilig die Lokalität. Hitler beginnt zu begreifen, dass die erhoffte Macht nur eine Luftnummer ist. Daher beschließt er am nächsten Morgen mit seinen Getreuen, das bayerische Innenministerium einzunehmen. Ist erst einmal Bayern gewonnen, glaubt man auch die Hauptstadt Berlin erobern zu können. Die Verschwörer marschieren also zum Odeonsplatz. Der junge Mann, der die Fahne der NSDAP trägt, heißt Heinrich Himmler. Vor der Feldherrnhalle steht bereits eine Hundertschaft Polizei, ordentlich bewaffnet, die über den geplanten Putsch informiert ist. Nach verbalen Scharmützeln fallen Schüsse. Sechzehn Tote werden aufseiten der Nazis verzeichnet, vier bei den Ordnungskräften. Hitler erleidet eine leichte Verletzung an der Schulter. Später wird er Mein Kampf den sechzehn Toten der Feldherrnhalle widmen. Und in der Nazi-Propaganda wird aus diesem gescheiterten Putsch, diesem erbärmlichen Fiasko, die Eingangsszene des Hitler-Epos werden.

Doch zunächst laufen die Aufrührer auseinander, und der Führer schlüpft im noblen Landhaus seines Freundes Ernst Hanfstaengl[7] unter. Dort findet ihn die Polizei zwei Tage später, niedergeschlagen, mutlos. Überzeugt davon, dass er erledigt ist, hat er sein politisches Testament verfasst.

Aber dank des unerschütterlichen Glaubens an die günstigen Fügungen des Schicksals gewinnt Adolf Hitler seine Fassung zurück, ja schöpft vielleicht sogar wieder Hoffnung. Während der Lastwagen, der ihn ins Gefängnis bringen wird, über die kleinen bayerischen Landstraßen rattert, kann er sich gewiss sein, dass dank dem »Bürgerbräu-Putsch«, der die Schlagzeilen der Zeitungen beherrscht, von nun an ganz Deutschland seinen Namen kennt. Besiegt und berühmt im selben Moment. Aber wird dieser plötzliche Ruhm die Haft überdauern, die ihn in Landsberg erwartet? Wird seine politische Zukunft zu Ende sein, wenn sich die schwere Tür der Festung hinter ihm schließt?

Eine Zelle, eine Remington

Die Festung Landsberg mit ihrer massiven Tür aus Holz und Schmiedeeisen, dem Eingangsgebäude mit den wuchtigen Türmen, deren Zwiebelhauben an die der Kirchen in der Gegend erinnern, dem Wall, der sich bis zum Nachbarfeld erstreckt, dient als Gefängnis. Die langen Reihen vergitterter Fenster mit Blick auf den Wallgang zeigen an, dass hier die Gefangenen untergebracht sind. Und hier befindet sich auch die Zelle des Führers, im ersten Stock.

Als er im November 1923 in Landsberg ankommt, droht der Häftling Hitler, in eine schwere Depression zu verfallen. Er schreit, er heult, er wütet. Der Gefängnispsychologe, der ihn untersucht, beschreibt ihn als »Hysteriker« mit einem »Hang zu magisch-mystischer Denkweise«. Hitler erklärt: »Wenn ich einen Revolver hätte, würde ich den nehmen.« Er entschließt sich zum Hungerstreik, um Schluss zu machen.

Ein Vorsatz, der bereits am nächsten Tag vergessen ist. Denn wenn seine politische Lage ihn verzweifeln lässt, ist die persönliche dazu angetan, ihn zu beruhigen. Zunächst einmal deshalb, weil er nicht lange allein bleibt. Nach und nach treffen mehrere Vertraute ein: Rudolf Heß, Anhänger der ersten Stunde, Emil Maurice, sein Chauffeur, Hermann Kriebel, ein Funktionär der braunen Bewegung, und andere. An zweiter Stelle, weil diese Haftanstalt kaum Ähnlichkeiten mit einem klassischen Gefängnis hat: Hitler belegt eine Einzelzelle, einen ordentlichen, schlicht eingerichteten Raum, von dem aus er durch die Gitterstäbe einen schönen Blick auf die Landschaft hat. Zudem steht den Putschisten ein Tagesraum zur Verfügung, in dem sie sich jederzeit treffen können. Es ist bekannt, dass der Gefängnisdirektor Sympathien für Hitlers politische Ziele hegt und sich alle Mühe gibt, ihm die Haftzeit halbwegs angenehm zu gestalten.

Hitler und seine Gesinnungsgenossen müssen also auf nichts verzichten und können es sich gut gehen lassen. Der Führer der NSDAP hat keine Zeit, trübsinnig zu werden. Laufend bekommt er Besuch. 489 Besuche verzeichnet das Register, durchschnittlich zwei pro Hafttag. Und schon bald nimmt ihn eine weitere Aktivität in Anspruch.

In einer am 10. Dezember 1923 über seinen Anwalt in einem Lokalblatt veröffentlichten Erklärung erwähnt Hitler eine baldige »Abrechnung«[8] mit seinen Feinden, ohne genauer zu erklären, welche Form die annehmen wird. Denkt er an ein Buch? Auf jeden Fall hat er die Idee, seinen Verleumdern zu antworten, und vor allem, sich zu seinem Putschversuch zu erklären, dessen Scheitern ihn belastet. Zunächst macht er sich daran, eine Klageerwiderung für seinen bevorstehenden Prozess zu entwerfen. Zu diesem Zweck lässt ihm der Bankmanager Emil Georg von Stauß eine Schreibmaschine der Marke Remington zukommen – das Beste, was es zu der Zeit gibt. In einer Landsberger Schreibwarenhandlung besorgt ihm ein Anhänger Papier sowie einen kleinen Tisch für 7 Mark. Zu Weihnachten 1923 schickt ihm Winifred Wagner, Schwiegertochter des Komponisten und glühende Bewunderin Hitlers, auf seinen Wunsch hin weiteres Papier sowie Büromaterial, Bleistifte, Radiergummis, Kohlepapier. »Ich wußte gar nicht, daß Hitler literarischen Ehrgeiz hatte«,[9] vertraut sie einer Freundin an, ohne zu wissen, wofür das alles bestimmt ist.

Auch als die Klageerwiderung fertiggestellt ist, lässt Hitler nicht locker, sitzt stundenlang über seine Remington gebeugt. Er befasst sich noch einmal ausführlich mit dem Bürgerbräu-Putsch, um dann den Weg zu beschreiben, der ihn aus dem Nichts an die Spitze einer Partei geführt hat, vermengt also Autobiographie und politische Streitschrift.[10] Einerseits will er sich nach dem gescheiterten Putsch rechtfertigen, andererseits braucht er ein Ventil für seine leidenschaftliche Lust an der Rede: Nach Aussagen von Mithäftlingen spricht er oft stundenlang, bis zur Erschöpfung seiner Zuhörer. Die bestärken ihren Führer jedenfalls darin, seine Ziele weiterzuverfolgen.

Hitlers Betätigungen werden schließlich durch seinen Prozess unterbrochen, der Mitte Februar beginnt. Am 1. April 1924 wird er vom Volksgericht beim Landgericht München wegen Hochverrats zu fünf Jahren Haft verurteilt. Eine milde Strafe, gemessen an der Schwere der Taten, erklärlich aber durch die Sympathie, die der Führer der NSDAP bei einem Teil der Obrigkeit, innerhalb des Polizeiapparats und der bayerischen Justiz genießt. Ach, die schwache Weimarer Republik …

Nach der Verkündung des Urteils kehrt der Chef der NSDAP in seine Zelle zurück. Der Todesstrafe ist er entgangen, hat aber lange Jahre der Haft in Aussicht. Also legt er sich noch mehr ins Zeug. Es »bot sich mir nach Jahren ununterbrochener Arbeit zum ersten Male die Möglichkeit, an ein Werk heranzugehen, das von vielen gefordert und von mir selbst als zweckmäßig für die Bewegung empfunden wurde«, schreibt er im Vorwort seines Buches. Stundenlang, tags wie nachts, tippt er seinen Text selbst in die Maschine oder diktiert ihn Rudolf Heß oder Emil Maurice. Einer langlebigen Legende zufolge soll die Zusammenarbeit mit Heß weiter gegangen sein und letzterer das Werk mitverfasst haben. Wie alle Legenden, die Hitlers Rolle schmälern und ihn zu einem bloßen Bauern im Schachspiel machen wollen, scheint sie ganz falsch zu sein: Er spricht, sein Untergebener tippt. Es gibt nur einen Führer.

Morgens liest Hitler im Tagesraum die Passagen vor, die er am Vortag verfasst hat. Sie werden kommentiert, gelobt und gepriesen. Der junge Chef der NSDAP, der gescheiterte Putschist, entpuppt sich als theoretischer Kopf: Er beeindruckt seine Haftgenossen. Draußen in den NSDAP-Truppen spricht es sich herum: Hitler schreibt etwas. Man bringt ihm alle möglichen Bücher vorbei, die ihm vielleicht nützlich sein könnten. Chamberlain, Nietzsche, Marx oder auch Bismarcks Erinnerungen. Ein Freund schenkt ihm Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene von Eugen Fischer, einem berühmten Autor der Zeit.

Muss man in der Landsberger Haft die Geburt des Hitlerismus sehen? Aus genau welcher Zeit stammen eigentlich Hitlers Ideen? Den Historikern, an erster Stelle seinem Biographen Ian Kershaw[11] zufolge, hat er bereits vor seiner Haft, ja sogar vor 1914 und den Kriegserfahrungen, festgefasste Ansichten. Nach dem Krieg, im Kontakt mit der rechtsradikalen Bewegung, ihren Standardwerken, ihren Rednern und völkischen Zeitungen wie der Freiheit, reichern sich diese Ideen an, kristallisieren sich heraus. Hitlers Doktrin wird also nicht erst während der Haft geprägt: Als er nach Landsberg kommt, stehen seine prinzipiellen Überzeugungen fest und werden sich bis zu seinem Tod auch nicht fortentwickeln.[12] Aber im Gefängnis schieben sich seine Überzeugungen, seine Anstöße, seine Enttäuschungen wie auch seine kurzen politischen Erfahrungen in- und übereinander, bis sie schließlich, Seite um Seite, ein Buch bilden.

Damit stellt sich auch bald die Frage der Veröffentlichung. Mehrere Verleger haben ihm ihre Dienste angeboten. Hitler empfängt sie umso wohlwollender, als er nicht nur von politischen Motiven geleitet wird. Dem früheren Außenseiter ist klar, dass er, der weder Vermögen noch einen Beruf hat, bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis Geld brauchen wird. Dennoch vergeht der Sommer und dann der Herbst, ohne dass die Diskussionen zu einem Ergebnis führen. Die Überarbeitung des umfangreichen Manuskripts ist weit vorangeschritten, in allernächster Zeit wird es fertig sein. Kurzzeitig hofft er, es im Feuilleton einer Zeitung unterbringen zu können, wie das gerade Mode ist, aber diese Idee wird letztlich verworfen. Egal, denn der Autor hat jetzt anderes im Sinn: Er versucht, auf Bewährung freizukommen.

Anfang Oktober 1924 richtet der Gefängnisdirektor Otto Leybold einen Bericht an die zuständigen Stellen: »Hitler zeigt sich als Mann der Ordnung, der Disziplin […] Er ist genügsam, bescheiden und gefällig […] und weiß sich […] seinen Haftgenossen gegenüber eine gewisse Autorität zu sichern.« Weiter unten fügt er hinzu: »Hitler wird die nationale Bewegung in seinem Sinne neu zu entfachen suchen, aber nicht mehr wie früher mit gewalttätigen, im Notfalle gegen die Regierung gerichteten Mitteln, sondern in Fühlung mit den berufenen Regierungsstellen […] Er ist in den zehn Monaten der Untersuchungs- und Strafhaft ohne Zweifel reifer und ruhiger geworden, als er es war. Er wird nicht mit Drohung und Rachegedanken gegen die im entgegengesetzten Lager stehenden […] amtlichen Personen in die Freiheit zurücktreten […].« Kein Zweifel, dass Hitler seinen Einfluss auf Leybold geltend gemacht hat. »In Würdigung der hier gemachten Wahrnehmungen stehe ich nicht an zu sagen, daß Hitler nach seinem Gesamtverhalten im Strafvollzug sich der Bewilligung einer Bewährungsfrist würdig erwiesen hat«, schließt der Direktor. Trotz eines Berichts der Münchner Polizei, dem zufolge Hitler eine beständige Gefahr für die Sicherheit des Staates sei, kommt die bayerische Obrigkeit, die sich von Hitlers Verehrern widerstandslos vereinnahmen lässt, schließlich zu der Überzeugung, dass dieser gescheiterte Putschist und Chef einer in Auflösung begriffenen Partei zukünftig keine Gefahr mehr darstellen wird.

Am 20. Dezember 1924 überbringt der Direktor der Strafanstalt persönlich Hitler die Nachricht seiner Freilassung. Außerdem teilt er ihm mit, dass General Ludendorff, sein Mitverschwörer, angeboten hat, ihm ein Auto zur Abholung zu schicken. Hitler erwidert, er wolle sich lieber von einem Freund nach München begleiten lassen: dem Druckereiunternehmer Adolf Müller, mit dem er unverzüglich über die Veröffentlichung seines Buches sprechen möchte.

Am frühen Nachmittag, bei grauem Himmel und feuchtkaltem Wetter, verlässt Hitler seine Landsberger Zelle. Im Gepäck des entlassenen Sträflings befindet sich sein Typoskript aus maschinengeschriebenen und handschriftlich korrigierten Blättern, mit Streichungen und so manchem Satz ohne Punkt und Komma, das sehr viel mehr als eine »Abrechnung« werden wird.

Erste Veröffentlichungen

Gut ein Jahr nach seiner Verhaftung ist Hitler wieder auf freiem Fuß. Zuhause in München wird er von seinen Freunden gefeiert. Jetzt muss er nur noch einen Verleger finden. Da die Verhandlungen mit prestigeträchtigen Häusern gescheitert sind, im Allgemeinen aus finanziellen Gründen, gibt sich Hitler mit dem Kleinverlag der NSDAP zufrieden, dem Franz-Eher-Verlag. Zu Beginn des Jahrhunderts von Franz Eher gegründet, 1920 von den Nazis übernommen, publiziert er verschiedene Broschüren für ausgesuchte Kundschaft sowie die Parteizeitung Völkischer Beobachter.

Leiter des Eher-Verlags ist ein gewisser Max Amann. Der 35jährige ist alles andere als literarisch bewandert: nicht sonderlich intelligent, ein lausiger Redner und ebensolcher Schriftsteller, der dennoch eine Schlüsselfunktion im System der NSDAP innehat – in den 1920er Jahren, zu einer Zeit, als es noch kein Fernsehen gibt und das Radio ein für die Nazis unerreichbares Medium ist, sind gedruckte Produkte wie Zeitungen die wesentlichen Instrumente der Propaganda. Dieser bessere Handlanger verdankt seine Position allein der unverbrüchlichen Treue zu Hitler. Im Weltkrieg ist Amann als Vizefeldwebel zeitweilig Hitlers Vorgesetzter gewesen und begleitet seither dessen politischen Aufstieg: Gleich nachdem er sich an die Spitze der Partei gesetzt hatte, hat der Führer Amann die Leitung des Eher-Verlags anvertraut.

Als regelmäßiger Besucher in Landsberg hat der Verleger Hitler zugeredet, seine Autobiographie zu schreiben, hat ihm versichert, sie werde sich gut verkaufen und könne von seiner jüngsten Berühmtheit nur profitieren. Als Verleger, der scharf darauf ist, einen Coup zu landen, hat Amann mit Enthüllungen über die Hintergründe des Putschversuchs gerechnet. Nach eigenem Eingeständnis – in seinen nach dem Krieg erschienenen Erinnerungen – enttäuscht es ihn ein wenig, dort nichts als Wiederholungen dessen zu finden, was er schon tausendmal aus dem Mund des Führers gehört hat. Das zeigt deutlich genug, wie sehr das Manuskript zu wünschen übrig lässt.

Im Juni 1924 und den folgenden Monaten haben verschiedene Zeitungen aus dem rechtsradikalen Spektrum die unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung von Adolf Hitlers Buch angekündigt. Die aber verzögert sich notgedrungen: Mit seinen zahlreichen stilistischen Unbeholfenheiten, Wiederholungen und Ungenauigkeiten vermag das Manuskript Hitlers Vertraute nicht recht zu überzeugen. Hitler hat so geschrieben, wie er spricht, stellen sie fest, und sein Talent ist eben eher rednerischer als literarischer Natur. Mehrere Mitglieder aus Hitlers Leibgarde wechseln sich nun also ab, um den Text zu verbessern, aufzubereiten, am Stil zu feilen, Ideen und Gedankengänge deutlicher herauszuarbeiten. Rudolf Heß ist dank seiner höheren Bildung dabei, ebenso wie Ernst Hanfstaengl, der Deutsch-Amerikaner mit Harvard-Diplom, dann Amann und Müller, der Drucker der Partei. Doch hauptsächlich wird diese mühsame und wichtige Aufgabe von zwei eher ungewöhnlichen Persönlichkeiten besorgt: Joseph Stolzing-Cerny, Musikkritiker des Völkischen Beobachters, und der ehemalige Priester Bernhard Stempfle, aktuell politischer Redakteur und Herausgeber eines Provinzblattes.

Mehrere Wochen lang arbeitet die Truppe mit Feuereifer. Im Verhältnis zum ursprünglichen Text sind die Korrekturen zahlreich, sie ändern aber grundsätzlich nichts an den vom Autor vertretenen Ideen. Übrigens enthalten die späteren Ausgaben jedes Mal neue Überarbeitungen.

Im Katalog des Eher-Verlags, der die Veröffentlichung von Hitlers Buch ankündigt, ist zunächst aber nicht von Mein Kampfdie Rede, sondern von 41/2 Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit. Den Titel hat Hitler höchstpersönlich für sein Werk gewählt. Amann erklärt ihm, dass er weder besonders prägnant klingt noch verkaufsfördernd sein dürfte. Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt Max Amann auf die Idee des kurzen, knappen Titels: Mein Kampf. Man kann sich nicht des Gedankens erwehren, dass diesem Buch mit einem anderen Titel womöglich ein anderes Schicksal beschieden gewesen wäre.

Am 18. Juli 1925, sieben Monate nach Hitlers Entlassung aus der Festung Landsberg, liegt das Buch in den Buchhandlungen aus, zu 12 Mark pro Exemplar, keine ganz unbedeutende Summe Geld. Gedruckt von der Firma M. Müller & Sohn in einer Auflage von 10000 Exemplaren, die kistenweise in den Räumen des Eher-Verlags in der Thierschstraße 15 lagern, einem gutbürgerlichen Münchner Viertel. Die großformatige Ausgabe hat 400 Seiten, der Umschlag zeigt ein Schwarzweiß-Porträt von Hitler in dunklem Anzug, der die stechenden Augen direkt auf den Leser richtet. Auf einer breiten roten Banderole prangt der Titel. Unter dem Umschlag erscheint ein Einband aus dunkelroter Pappe mit einem geprägten Hakenkreuz. Der Titel in Frakturschrift, der eigentliche Text aber, um der leichteren Lesbarkeit willen, in Antiqua. Als Zugeständnis an internationale Regeln wird auf dem Deckblatt auf Englisch angegeben: Copyright by Franz Eher Nachf. Printed in Germany.

Inzwischen sitzt Hitler, der Gefallen am Schreiben gefunden hat, an der Fortsetzung von Mein Kampf; in den bayerischen Alpen hat man ihm dafür ein hübsches Landhaus zur Verfügung gestellt, Haus Wachenfeld, den späteren Berghof. Der zweite Band erscheint im Dezember 1926. Während der erste noch Autobiographie und politische Ideen vermischt, legt dieser das Hauptgewicht auf die politischen Zielsetzungen. Hitler behandelt hier das Wesen des nationalsozialistischen Staates, den er heraufbeschwört, die Ideologie der braunen Bewegung, ihre Organisation, ihre Propaganda, ihre Außenpolitik. 1930 werden die beiden Bände übrigens zu einer einbändigen Ausgabe zusammengefasst. Mit seinem Dünndruck, seinem Taschenbuchformat, seinem dunklen Einband erinnert das Buch an eine Bibel.

Die »Nazi-Bibel«, so bezeichnet man seit seiner Veröffentlichung Mein Kampf.

IIIn Adolf Hitlers Kopf

Das Buch eines Autodidakten

»Ich habe die Gabe, die Probleme auf den einfachen Kern in ihnen zurückzuführen«, hat Hitler einmal gesagt und damit den Schlüssel zu seinem Erfolg geliefert.[13]

Mein Kampf, dieses dicke, stilistisch überladene, auf 700 dicht bedruckten Seiten fixe Ideen einhämmernde Buch, liegt vom Format der »Mao-Bibel« weit entfernt. In einer Zeit des politischen Überschwangs, in der es nur so wimmelt von populistischen, rassistisch-rechtsradikalen Ideologien, stellt es einen wirkungsvollen Querschnitt her. Es macht in seiner einfachen Sprache Schriften und Theorien aller Art, die bis dahin vornehmen Kreisen vorbehalten waren, einem breiten Publikum verständlich: »Das ist insofern eine Art Zeitbild, ein Zeitbild, dass Hitler all das, was zu dieser Zeit auf dem politischen Markt der Rechten flottiert, zusammenfasst und zuspitzt. Und die Rechte [war] zu dieser Zeit ja vorwiegend noch eine Sammlung von älteren Herren, die sozusagen über die Massen regierten«, fasst der Historiker Ulrich Herbert zusammen.[14] Mit seiner Verve und seinen überspitzten Thesen kann sich Hitler von konkurrierenden Ideologen wie Arthur Moeller van den Bruck, Verfasser von Das Dritte Reich, abheben. Dieses Buch, von glühendem Nationalismus getragen, war zwar bemerkenswerter, doch auch moderater als Mein Kampf.

Hitler hingegen behauptet sich mit seiner absolut radikalen Redeweise. Er hängt mit seinen Bestrebungen und der Gewalttätigkeit seiner Ideen die Latte so hoch, dass er die erbittertsten Gegner der Weimarer Republik an sich zu ziehen weiß.

Der andere Trumpf, den Mein Kampf ausspielen kann, erschließt sich aus dem speziellen gesellschaftlichen Kontext, in dem das Buch veröffentlicht wird: Es bietet Antworten auf Fragen, die zahlreiche Deutsche umtreiben. Warum hat Deutschland den Krieg verloren? Warum ist das Land in eine politische Moderne abgeglitten, die die alte Ordnung fortgefegt und die Macht den Liberalen, Juden und Banken hingegeben, die Straße den Marxisten ausgeliefert hat?

Mit seinem Rückgriff auf die Thesen der radikalen Rechten in Deutschland öffnet sich Mein Kampf vielfältigsten Erwartungen: Antisemitismus und Antikommunismus kommen hier selbstverständlich auf ihre Kosten, der Hass auf Frankreich ist überschäumend, die Armee wird in einem fort aufrichtigst verteidigt und eine die sozialen Klassen aufhebende Form von Egalitarismus gesteht allen einen Platz in der Politik des nationalsozialistischen Vorhabens zu. Es kommt überdies all denen entgegen, die aus rassistischen und eugenischen Gründen in Besorgnis geraten könnten. Folglich richtet sich das Werk an ein breites Publikum und potenziell antagonistische Gesellschaftsschichten, an Arbeiter, Bauern und die Bürgerschicht, an Militärs, Monarchisten und die Veteranen, die sich in Hitlers Bahnen wiedererkennen, doch genauso an die Industriemagnaten, die in Hitler einen Mann der Ordnung erkennen, der sich darauf versteht, das Volk zu umgarnen. In diesem Buch findet jeder, was ihm gut und richtig erscheint.

Heutzutage kann man Mein Kampf nicht ohne die Vorstellung lesen, dass annähernd das gesamte darin enthaltene Programm ins Werk gesetzt worden ist; man muss unwillkürlich an die von seinem Autor begangenen Verbrechen denken. Ganz anders ist die Situation eines Zeitgenossen, der 1925Mein Kampf aufschlägt. Er hat ein politisches Buch, ein Zeugnis brisanter Aktualität vor Augen.

»Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!

Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einem gemeinsamen Staat zu fassen vermag. Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot.« (1/1) So lauten in Mein Kampf die ersten Worte des ersten Kapitels mit der Überschrift »Im Elternhaus«. Schon in den ersten Sätzen zeigen sich einige der wesentlichen Züge dieses Buches: der schwerfällige Stil, die übermäßigen Abschweifungen, das Fehlen einer strukturierten Argumentation, der emphatische Tonfall romantisierenden Anklangs, die Verflechtung biographischer Elemente mit politischen Aussagen, alles, was zu dieser merkwürdigen Mischform eines Plädoyers pro domo aus Prophezeiungen, Obsessionen und wissenschaftlicher Affektiertheit führt. Und immer spürt man, als leises Wehen oder ausdrücklichen Stoß, den Odem der Gewalt.

Nun ist der Autor von Mein Kampf weder ein Intellektueller noch ein schreibgewohnter oder sonst irgend diplomierter Mensch. Die Schule hat er früh und mit durchschnittlichen Noten verlassen. Intellektuelle und das in den Universitäten gelehrte Wissen verachtet er. Die Welt der Ideen ist ihm allerdings nicht fremd. Auf verschiedenen Gebieten wie Kunst und Geschichte hält sich der Autodidakt für einen ausgemachten Experten. Er hat eine Menge Bücher gelesen. Als jemand, der wenig Schlaf braucht, verschlingt er auch nachts Werke zu unterschiedlichsten Themen und speichert die Informationen dank eines außergewöhnlichen Gedächtnisses. Als Angehöriger einer vom wissenschaftlichen Positivismus geprägten Generation interessieren ihn Politik und Geschichte ebenso sehr wie die Wissenschaften. Er liest die nationalistischen deutschen Autoren, er macht sich über Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Gustave Le Bon, Georg von Schönerer, Werner Sombart oder auch Dietrich Eckart[15] her, sodass er in zahlreichen Sachbereichen, allen voran in Biologie und Medizin, die er besonders schätzt, fest gefügte Ansichten vertritt.

Jeder Schreibvorgang fügt sich aus Kenntnissen, Überlegungen und, bewusst oder unbewusst, aus psychischer Eigenart. Eine der gequältesten Psychen in dieser Hinsicht ist die des Schriftstellers Adolf Hitler. Dabei hat Hitler durchaus eine Zeit der sozialen Anerkennung und des Erfolgs erlebt, doch vor allem während der Jahre in Linz, Wien und nach dem Ersten Weltkrieg in München Frustrationen, Schwierigkeiten und das schmerzhafte Gefühl durchlitten, sein Leben zu verfehlen und aus den Misserfolgen nicht herauszukommen. Während in diesen Zeiten giftiger Hass, genährt von Verfolgungswahn, in ihm gärt, gelangt er zu der Überzeugung, dass die Misserfolge eine Ursache hätten: Die allgemeine Weltordnung, die Demokratie, der Sozialismus wie auch die Moderne mit ihrer Zerstörung der traditionellen Gleichgewichte. Und die Juden. Als er am Kriegsende in einem Lazarettbett die Nachricht von der Niederlage erfährt, kennt er, obwohl deutschjüdische Kameraden in den Schützengräben direkt neben ihm gelegen hatten, nur eine Reaktion: »Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen!« (2/344)[16] Der Antrieb für Hitlers Ziel, eine Doktrin abzufassen, heißt zweifelsohne Ressentiment in Höchstform. Ressentiment, gewalttätige Instinkte und Wut dominieren Hitlers Weltanschauung. Sie bilden das Gerüst seines Denkens.

Aus der Remington eines vierunddreißigjährigen Mannes herausgespult, auf dem Holztisch einer Gefängniszelle entworfen und von einigen Vertrauten des Führers überarbeitet, so entsteht also der Text, der sich entlang der jeweiligen Ereignisse zum einzigen ideologischen Bezugspunkt des Dritten Reiches entwickeln wird. Über das Wesen dieser Schriften – die einen halten sie für einen Ausdruck von Logorrhoe, den anderen gelten sie als Zeugnis eines präzise entwickelten nationalsozialistischen Programms[17] – ist lebhaft diskutiert worden. Doch hat sich unter Historikern mehrheitlich ein Konsens herausgebildet. Sie sehen Hitlers Buch inzwischen weniger als ein politisches Programm im traditionellen Sinn, sondern tatsächlich als ein ernst gemeintes politisches Vorhaben an: ein in seinen Absichten klares, bezüglich der Mittel seiner Umsetzung jedoch vage gehaltenes Vorhaben. Nicht mehr und nicht weniger.

Anders als man erwarten sollte, datiert diese Entdeckung aus jüngerer Zeit als sich annehmen ließe. Wie Ian Kershaw in seiner Hitler-Biographie schreibt: »Noch lange nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches glaubte man allgemein, daß die Hitlersche Botschaft aus nichts als den rohen Phrasen eines machthungrigen Demagogen bestanden hätten und daß der Mann hinter der Botschaft – ähnlich dem klassischen Tyrann früherer Zeiten – selbst keine ernsthaften Gedanken gehabt hätte. Inzwischen wird jedoch allgemein anerkannt, daß hinter dem vagen missionarischen Appell eine Reihe miteinander verbundener Ideen steckte – so widerwärtig und irrational diese auch waren –, aus denen Hitler bis Mitte der zwanziger Jahre eine zusammenhängende Ideologie entwickelt hatte«.[18]

Die »Kampf«-Doktrin

Mein Kampf nährt sich an Gefühlen, die damals die gesamte westliche Welt erregen: stürmische nationalistische Leidenschaft, Hass auf die demokratische Moderne und den Liberalismus, bei gleichzeitig aber unbedarftem Glauben an die Wissenschaften. Aus der Feder Hitlers fließen sie in die Form eines romantisch eingefärbten, auf die Vorherrschaft Deutschlands abgestellten Ultranationalismus, eines biologistischen Szientismus, der neodarwinistisch das Leben als einen Kampf begreift, in dem nur die Stärksten überleben, und schließlich der Verarbeitung von Theorien Arthur de Gobineaus, dem zufolge die Rassen nicht gleich sind und deshalb gegeneinander um die Weltherrschaft kämpfen.

»Alle großen Kulturen der Vergangenheit gingen nur zugrunde, weil die ursprünglich schöpferische Rasse an Blutvergiftung abstarb.« (1/305) »Die Blutsvermischung und das dadurch bedingte Senken des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache des Absterbens aller Kulturen« (1/313), schreibt Hitler. Seiner Ansicht nach ist die überlegene die weiße Rasse mit dem germanischen Volk an der Spitze, das von großen blonden – bei ihm »Arier« genannten – Menschen verkörpert unentwegt durch andere Rassen bedroht wird.

Hieraus leiten sich seine politischen Prinzipien ab: Der Deutsche, dies höhere Wesen, muss eines Tages der »Herr der Erde« werden. Seine Herrschaft wird sich allein durch Krieg und zu Lasten namentlich der Feinde des deutschen Volkes durchsetzen, deren für den deutschen Lebensraum benötigten Länder daher erobert werden müssen. Einem großdeutschen Reich will er Österreich ebenso wie die deutschen Minoritäten in Polen und der Tschechoslowakei eingliedern. Um diese Ziele zu erreichen, muss Deutschland sich in einen totalitären, auf dem Prinzip der Ungleichheit der Völker basierenden Staat verwandeln und über die Reinheit der arischen Rasse wachen. Hitler verherrlicht das deutsche Volk als eine rassisch homogene, ideale Gemeinschaft, die aus lauter im Verbund eines gemeinsamen Willens lebenden Individuen besteht und fortwährend von Auslöschung oder Teilung bedroht ist. Das so verherrlichte Deutschland wandelt sich auf diese Weise zum Synonym für die Menschheit. Außerhalb dieser Gemeinschaft gibt es nur Barbaren oder minderwertige Wesen. »Daß aber diese Welt dereinst noch schwersten Kämpfen um das Dasein der Menschheit ausgesetzt sein wird, kann niemand bezweifeln. Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen, wie Schnee in der Märzensonne« (1/142), bekennt er.

Seite an Seite also mit Vorstellungen, die einem fast primitiven Obskurantismus entlehnt sind, tritt die politische Moderne des Nationalsozialismus in Erscheinung. Hitler beschreibt die Organisationsprinzipien eines zukünftigen Nazi-Staates. Nichts bleibt unbedacht: Institutionen, Religion, Bildung, Armee, Diplomatie, Urbanistik, eine – eugenische – Gesundheitspolitik. »Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft […] Denn hier wird man, wenn nötig, zur unbarmherzigen Absonderung unheilbar Erkrankter schreiten müssen – eine barbarische Maßnahme für den unglücklich davon Betroffenen, aber ein Segen für die Mit- und Nachwelt« (1/270), heißt es weiter.

Wenn er Ziele schildert, spricht er zuweilen auch von seinen Methoden. So beschreibt er in aller Ausführlichkeit seine Vorstellung von Propaganda: »Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag.« (1/190) Und ähnlich weiter unten: »Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt, daß weniger nüchterne Überlegung als vielmehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt.« (1/193