Höllenviehzeug - Barbara Büchner - E-Book

Höllenviehzeug E-Book

Barbara Büchner

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Beschreibung

Rachsüchtige Katzen, Hunde als Henker, lüsterne Alien-Toyboys, bissige Meerjungfrauen und Mädchen raubende "Meermönche", ja sogar ein von bösem Willen beseeltes Tangbündel - sie alle gehören zur irdischen Fauna, auch wenn man ihnen glücklicherweise nicht jeden Tag über den Weg läuft. Bösartig werden sie zumeist erst, wenn ihnen Unrecht getan wird von Zweibeinern. die - habgierig und lüstern - in ihre Welt eindringen. Man halte sich also an den traditionellen Warnruf des Nachtwächters: "Aus dem Weg, aus dem Weg, damit niemand was gscheh!"

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Barbara Büchner

Höllenviehzeug

Silberne Katzen, Mondhunde, Nöcken und Feuerquallen

Genießen Sie dieses Buch in der herzerwärmenden Gegenwart ihres Haustiers. Aber vergessen Sie nicht, viele Tier sind Gestaltwandler! Wissen Sie wirklich, was sich da mit seelenvollem Blick und sanftem Schnurren an Ihrer Seite zusammenkuschelt – und vielleicht plötzlich seine wahre Gestalt zeigt?

Höllenviehzeug – von silbernen Katzen, Mondhunden, Nöcken und Feuerquallen

Eine Sammlung von Barbara Büchner

Aus der Reihe „Portiunculas Bibliothek“ (Band 3)

Copyright © 2025 Barbara Büchner

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Illustrationen: Barbara Büchner und „Thekla“ (GPT-5)

Erstveröffentlichung in der Portiuncula Reihe

Veröffentlicht über Tolino Media Gmbh & Co .Kg

ISBN

Das Verhängnis der Griswolds

Boston, Massachusetts, im Jahr 1890

Eddie Munkton, 26 Jahre alt, ehemaliger Gehilfe eines Bestatters und jetzt Nachtwächter auf dem altehrwürdigen Mount Auburn Friedhof in Boston, zog seinen Mantel zurecht, schulterte sein Gewehr und trat aus der Wärme des Pförtnerhäuschens hinaus in die kühle, windstille Septembernacht. Es war drei Uhr morgens, Eddies zweite Runde. Um diese Zeit kamen zuweilen die Buntmetalldiebe, die Kupfer und Bronze von den historischen Grabdenkmälern abzuräumen versuchten, denen pfefferte er einen Schuss nach, wenn sie beim Anblick seiner Laterne in Panik über die Mauer türmten. Die feuchten Nachtnebel, die wie gespenstische Trauergäste über die Pfade zwischen den Grabstellen wandelten, erfrischten ihn angenehm – in der Portierstube war es dumpf und muffig. Überhaupt ging er gerne des Nachts durch den Friedhof, dessen verträumt-idyllische Anlage viel mehr an einen herrschaftlichen Park denken ließ, mit von Rhododendren und Wasserlilien umrahmten Teichen, verspielt versteckten Gräbergruppen zwischen den mächtigen Trauerweiden und einem Krematorium, das wie das fahlweiße Gespenst einer gotischen Kapelle zwischen Eiben und Tamarisken hervorleuchtete.

Er schlenderte gemächlich einen der gepflegten Wege entlang, auf eine Gruppe von Mausoleen zu, deren üppiger metallener Schmuck es den Dieben am meisten angetan hatte: Vasen, Laternen, Türklinken, geschmiedete Fenstergitter. Seine Lampe hatte er klein gedreht. Er brauchte sie im Augenblick nicht. Der Mond leuchtete gelegentlich zwischen wandernden Wolken heraus, und außerdem kannte Eddie den Friedhof wie seine Hosentasche.

Plötzlich stutzte er. Seine scharfen Ohren hatten ein verdächtiges Geräusch aufgefangen. Schrabb, klang es durch die stille Herbstnacht, schrabb, schrabb. Der Laut kam von einer Gräberreihe her, die hügelaufwärts zwischen Bosketten verborgen lag. Dort hatte nachmittags ein Begräbnis stattgefunden. Wenn Eddie die Luft einsog, konnte er den Duft der frischen Kränze und Blumensträuße riechen. Das neu belegte Grab war ein Familiengrab mit einem spannenhohen, geschmiedeten Zaun rundherum und einem bronzenen Grabengel, für den ein Hehler schweres Geld gezahlt hätte. Aber das Geräusch kam nicht von einem Brecheisen. Es war eindeutig das Geräusch eines Spatens, der wiederholt in frisch aufgeworfelte Erde gestoßen wurde. Dann ein dumpfer Krach, als die Schneide auf Holz stieß.

Lautlos blieb der Wächter stehen, nahm das Gewehr von der Schulter und legte es an, ehe er an einem der Büsche vorbei spähte.

Der Atem blieb ihm in der Kehle stecken. Er hatte gewusst, dass solche Dinge geschahen, aber gesehen hatte er es noch nie. Ein paar Minuten lang verließ ihn vor Grauen und Ekel die Kraft. Er konnte weder aus seinem Versteck hervorspringen, noch ein Halt! Stehenbleiben! aus seiner ausgetrockneten Kehle hervorwürgen. Stumm und selbst wie zu Bronze erstarrt blickte er die im Mondlicht verschwommen sichtbare Gestalt eines Mannes an, der in das offene Grab sprang, hineintauchte wie ein vampirhafter Schatten, wobei er eine Leiter hinter sich her zerrte. Ein Ächzen und Knacken, als der Sarg aufgeschraubt und der Deckel geöffnet wurde. Und jetzt stieg der Mensch wieder die Leiter herauf – etwas Langes, Weißes, hilflos in seinem Griff Pendelndes in den Armen tragend! Lachte und weinte in grässlichen Tönen – und küsste das monströse Ding, dessen Fäulnisgestank sich wie eine Wolke verbreitete!

Eddie erwachte schlagartig wieder zum Leben. Er brüllte, und zugleich schoss er. Die schwarze und die weiße Gestalt fielen beide zugleich ins silbrig schimmernde Gras, aber nur eine davon stöhnte schmerzlich auf.

*

„Sie wollen also behaupten ...“ Commissioner Orwell Sandham ließ den Satz im Sande verlaufen, auf eine Weise, die verriet, was er eigentlich meinte: Sie wollen mir also den Bären aufbinden ...

Der junge Mann, der ihm gegenüber saß, fuhr auf. „Ich weiß genau, was Sie denken, Sir. Aber ich bleibe dabei: Dieser Teufel verfolgt uns jetzt noch, vierzig Jahre nach seinem Tod, und ich gedenke nicht so zu enden wie mein Großvater, mein Vater und mein Bruder Arthur! Wenn Sie sich weigern, den Fall zu untersuchen, beschwere ich mich über Sie. Wissen Sie, was Ihre Vorgesetzten dann sagen werden?“

„Und ob ich das weiß. Nämlich, dass die Polizei von Boston Besseres zu tun hat, als Gespenster zu jagen.“

Doktor Francis Balthazar grub die Nägel in die Handflächen. Er war ein schlanker, hochgewachsener junger Mann mit scharfen Zügen, einer großen Nase, einem sinnlichen Mund und ebenso intelligenten wie bezaubernden schwarzbraunen Mandelaugen. Sein dichtes, ebenfalls schwarzbraunes Haar widersetzte sich jeder Frisur, was ihm einen reizvoll bohémienhaften Anstrich gab. Seine normalerweise angenehm dunkle Stimme war rau vor Zorn, als er hervorstieß: „Wenn Sie diese Teufelskatze gesehen hätten ...“

„Doktor Balthazar, ich kann keine Katze verhaften, weil sie Ihnen im Keller auf den Kopf gesprungen ist!“ Sandham hob beschwichtigend beide Hände. „Bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen. Ich weiß, dass es zwischen Mister Edgar Allan Poe und dem Literaturkritiker Rufus Wilmot Griswold zu einem bösen Zerwürfnis kam, jeder, der nur einen Hauch Ahnung von amerikanischer Literaturgeschichte hat, weiß das. Aber der Schriftsteller starb 1849, acht Jahre vor Mister Griswold, und hatte, wie Sie selbst sagten, keine Nachkommen, es kann also auch niemand aus seiner Familie in seinem Sinne Rache an allen Griswolds üben. Selbst wenn er Freunde hatte, die ihn rächen wollten, so sind vierzig Jahre eine lange Zeit, um die Flamme der Rache am Leben zu halten. Es ist ein absurder Gedanke, dass irgendjemand versucht -“

„Was heißt versucht?“, schrie Francis so laut, dass die Vorübergehenden am trüb erleuchteten Gang der Polizeidirektion stehenblieben und erstaunt durch die Glasscheiben in Sandhams Büro blickten. „Er hat es nicht versucht! Es ist ihm gelungen!“

Commissioner Sandham bedeutete ihm mit heftigen Handbewegungen, sich zu mäßigen. „Lassen Sie uns Ihr Problem doch einmal rational betrachten. Die merkwürdigen Ereignisse aus dem Leben Ihres Vaters und Ihres Bruders, die außergewöhnliche Art, wie sie zu Tode kamen, und die Bedrohung, der Sie selber sich ausgesetzt finden, das alles mag durchaus auch andere Gründe haben – Gründe, die in Ihrem persönlichen Leben liegen und gar nichts zu tun hatten mit dem bösen Blut zwischen Edgar Allan Poe und Rufus Wilmot Griswold.“

Balthazar schüttelte ganz entschieden den Kopf. „Wenn es hier nur um unser persönliches Unglück ginge, warum trägt es dann Poes Handschrift? Es begann damit, dass mein Großvater unmittelbar nach dessen Tod von geheimnisvollen Schrecken verfolgt wurde – ein Feuer brach in seiner Wohnung aus, bei dem er beinahe ums Leben kam, Haare und Augenbrauen und mehrere Fingernägel verlor – dann wurde sein bester Freund als unheilbar Wahnsinniger in eine Irrenanstalt gesperrt – dem folgte das entsetzliche Eisenbahnunglück, bei dem seine Tochter Emmy mitsamt den Todesopfern beinahe lebendig begraben worden wäre, hätte nicht ein Arzt im letzten Augenblick bemerkt, dass sie noch zu retten war! Erkennen Sie denn hier nicht eindeutig Poes Modus Operandi? Seine Lieblingsmotive! Feuersbrunst! Wahnsinn! Lebendig begraben! Er hält uns ja förmlich seine Visitenkarte unter die Nase!“

„Emmy war Ihre Mutter?“, fragte Sandham, um den immer hysterischer werden Ausbruch zu stoppen.

„Nein. Mein Großvater war drei Mal verheiratet und hatte zahlreiche Affären – man nannte ihn seiner Vielweiberei wegen spöttisch den ´Sultan´. Mein Vater war ein unehelicher Sohn. Was aber Mister Poe, diesen Satan in Menschengestalt, nicht gehindert hat, auch meinen Vater, der doch nur ein halber Griswold war, zu verfolgen, ebenso meinen armen Bruder ... und jetzt mich! Und wenn Sie weiterhin so gelangweilt herumlümmeln wie jetzt, wird er mich auch tatsächlich erwischen!“ Schweißtropfen sickerten über seine hohe, edel geformte Stirn, und er fingerte nach seinem Taschentuch, um sie abzutrocknen. „Wenn Sie diese entsetzliche, einäugige schwarze Katze gesehen hätten -“

Sandham war es gewohnt, inmitten heftiger Turbulenzen die Ruhe zu bewahren. „Außer dem alten Herrn Rufus und Ihrer unmittelbaren Familie wurden andere Nachkommen auch belästigt?“

Francis zuckte mürrisch die Achseln. „Das weiß ich nicht. Rufus war, wie gesagt, drei Mal verheiratet, die Ehen gingen auf eine ziemlich ... unerfreuliche Weise auseinander, und mit den Mätressen verkehrte man natürlich überhaupt nicht, sodass die einzelnen Teile seines Harems keinen Kontakt miteinander pflegen. Sie sind inzwischen über ganz Amerika verstreut. Aber ich bin überzeugt, wenn Sie nachforschen ...“

Sandham nickte begütigend, denn inzwischen war er auf einen Ausweg verfallen. „Die Kriminalpolizei ist nicht zuständig für Ihr Problem, Doktor Balthazar, jedenfalls nicht, solange wir nicht auf die Spur eines eindeutig von Menschen verübten Anschlages stoßen. Aber ich weiß jemand, der Ihnen weiterhelfen kann. Hier ist seine Adresse, berufen Sie sich auf mich.“

Der Jüngling drehte die Visitenkarte zwischen den Fingern hin und her. „Ein Journalist?“, fragte er zweifelnd. „Der macht doch nur irgendein Histörchen draus über einen Verrückten, der sich von Poes Geist verfolgt fühlt!“

„Keine Rede davon!“, beteuerte der Commissioner. „Rendell ist okay. Sie werden sehen, er ist genau der Mann, den Sie brauchen. Er weiß eine Menge über Poe, und, wie ich annehme, auch über Ihren Großvater.“ Und da er sah, dass Balthazar den Köder nur widerwillig schluckte, legte er noch einen Happen nach. „Vielleicht findet er ja heraus, wer hinter diesen Angriffen steckt. Falls es ein normaler Sterblicher ist, dann, das verspreche ich Ihnen, hetze ich die gesamte Meute der Polizisten von Boston auf die Spur Ihres Feindes. – Wenn ich Sie jetzt bitten darf? Ich habe noch viel zu tun.“

*

Francis fluchte murmelnd in sich hinein, als er die Polizeidirektion verließ und sich auf den vorgeschlagenen Weg zur Redaktion des Boston Clarion machte. Er hatte nicht die geringste Lust, sich ausgerechnet einem Journalisten anzuvertrauen, aber inzwischen war er so weit, dass er sich an jeden Strohhalm klammerte. Sein Vater war tot, sein Bruder Arthur ebenfalls, und jetzt streckte das Unheil seine langen, kalten Finger nach ihm selbst aus! Er konnte nicht untätig abwarten, bis es ihn genauso in die Tiefe hinabriss wie seine unglücklichen Verwandten. Welche Teufelei! Was hatten sein Vater, sein Bruder und er selbst denn jemals mit Mister Edgar Allan Poe zu tun gehabt, dass er sie unerbittlich mit seiner Rache verfolgte – seine nekrophilen, opiumgetränkten Träume noch aus dem Hades aussandte, damit sie ihre schwarzen Fledermausschwingen über Unschuldige ausbreiteten?

Allein diese Katze! Und dabei hatte er, Francis Balthazar, nie im Leben einer Katze etwas zuleide getan. Aber wie das Vieh ihn aus seinem einzigen glühenden Auge heraus angestarrt hatte! Wie es in dem dunklen Kellergewölbe versteckt auf ihn gewartet hatte, nach dem Moder der Verwesung stinkend, so grässlich anzusehen, als wäre es diesen Augenblick erst aus dem geheimen Grab in der Mauer herausgesprungen! Oben in Mannshöhe hatte es in einer Nische verborgen gelauert, als er in aller Unschuld in den Keller gegangen war, um Apfelwein zu holen, und dort oben, unsichtbar mit seinem schwarzen Pelz, hatte es urplötzlich einen furchtbar kreischenden Schrei ausgestoßen. Erst hatte dieser Schrei so dumpf geklungen, als käme er unmittelbar aus der Ziegelmauer, aber beim zweiten Mal war er hell und grell gewesen, und zugleich war das Ungeheuer ihm aus der Schwärze des Gewölbes heraus auf den Kopf gesprungen, wo es sich in seinen Haaren festkrallte.

Francis schämte sich nicht, zu gestehen, dass er ein paar Minuten lang vor Schrecken ohnmächtig geworden war. Und dann dieses Erwachen ... dieses erste, desorientierte Blinzeln, das ihm inmitten des halbdunklen Kellergewölbes ein einzelnes, feuriges Auge mit schwefelgelber Pupille zeigte! Aber was hatte dieser schwerfällige Dummkopf von einem Commissioner dazu gesagt? Die Polizei sei nicht zuständig, wenn ein nervöser junger Mann sich über eine schwarze Katze im Keller erschreckte! Wahrscheinlich dachte der Mensch, er, Francis, sei genauso verrückt wie der arme Arthur, der seinen letzten Seufzer auf dem mondbeschienenen Rasen des Mount Auburn Cemetery getan hatte.

Gewiss, Arthur war wahnsinnig gewesen – zum Wahnsinn getrieben von einem menschlich nur zu verständlichen, überwältigenden Leid. Er hatte das Schicksal ihres Vaters vor Augen gehabt, der gerettet hätte werden können, hätte nur irgendjemand seine schwachen Hilferufe aus den eisigen Tiefen des Leichenkellers gehört; er hatte guten Grund gehabt zu fürchten, Beatrice sei auch dieses Mal nur wieder in ihr katatonisches Koma gefallen ... Welche Schuld hatte er denn auf sich geladen gehabt? Hätte der Friedhofswächter ihn nicht einfach der Polizei übergeben können, wenn er ihn schon für einen Verbrecher hielt? Nein, dieser rabiate Schwachkopf hatte augenblicklich geschossen, und die Kugel hatte, Beatrices zerfallende irdische Hülle durchschlagend, Arthur genau ins Herz getroffen.

Freilich, ganz unverständlich war der unersättliche Rachedurst des toten Schriftstellers nicht, das musste auch Francis zugeben. Rufus Wilmot Griswold war mehr und Schlimmeres gewesen als nur ein außergewöhnlich scharfzüngiger und deshalb unbeliebter Literaturkritiker. Poe war nicht der einzige mehr oder minder begabte Schreiberling gewesen, den er mit seiner spitzen Feder aufgespießt hatte. Was ihn wirklich mit Schuld beladen hatte, war die Art gewesen, wie er den Verstorbenen in einem von Bosheit triefenden Nachruf vor der gesamten literarischen Welt demütigte und lächerlich machte, während er sich gleichzeitig in einem hinterlistigen Coup die Rechte an dessen Werken verschaffte. Werken, von denen er genau wusste, welchen Rang sie schon bald in der amerikanischen Literatur einnehmen würden. Auf die Naivität von Poes Schwiegermutter bauend, hatte er sich der Frau als von dem Verstorbenen selbst autorisierter Testamentsvollstrecker vorgestellt, die kostbaren Urheberrechte eingesackt und ihr später keinen Cent von den Tantiemen abgegeben. Acht Jahre lang, bis zu seinem eigenen Tod, hatte er gleichzeitig von Poes Genius profitiert und eine Meuchelkampagne gegen ihn geführt, in der er den ohnehin nicht blütenweißen Charakter des Schriftstellers mit allen nur erdenklichen zusätzlichen Lastern ausstaffiert hatte. Er war nicht einmal davor zurückgeschreckt, Briefe zu fälschen, in denen angeblich Poe sich selbst als trunksüchtigen, lasterhaften, von Drogen besessenen Wahnsinnigen porträtierte. Was hatte ihn dazu getrieben? War es der Umstand, dass beide Männer sich um dieselbe Frau, die schöne Künstlerin Frances Osgood, bemüht hatten? Oder ein Fall wie Mozart versus Salieri, in dem ein selber nur durchschnittlich Begabter den anderen wegen seines Genies hasste?

Wie auch immer, es war kein Wunder, dass Poe ihn verfolgt und ihn so böse zugerichtet hatte, dass Griswold nur ein Jahr nach seinem hinterhältigen Coup in sein Tagebuch schreiben musste: „Ich bin in einem schrecklichen Zustand, körperlich wie geistig. Ich weiß nicht, wie das alles enden soll. Ich bin völlig erschöpft – ich schwebe zwischen Leben und Tod – und Himmel und Hölle.“

Wenn sich der Schriftsteller nur damit begnügt hätte, den einen wirklich Schuldigen zu quälen! Konnte er nicht mit den anderen, die nur durch ihr Blut mit Griswold verbunden waren, Erbarmen haben?

„Sprach der Rabe: Nimmermehr.“

*

So in Gedanken versunken, war der junge Arzt durch regenfeuchte Straßen und Gassen gewandert, bis er vor dem rotbraunen Backsteinkoloss innehielt, in dem sich die Redaktion des Clarion befand. Ein sehr passendes Gebäude für seine Queste! Fabriksgotik übelster Sorte, mit Türmchen an jeder Ecke, hohen, schmalen Fenstern und einem eisenbeschlagenen Eingangstor. Wenn die Furien des toten Schriftstellers ihn erneut heimsuchen wollten, dann war hier genau der richtige Platz dafür! Vielleicht lauerte ja ein Orang-Utan mit einem Rasiermesser in der Hand unter der von trüben Kandelabern erleuchteten Treppe, um ihn erst einzuseifen und ihm dann den Hals abzuschneiden ...

Ein hysterisches Kichern stieg in seiner Kehle auf. Was für eine bizarre Mischung aus dem Komischen, dem Lächerlichen und dem Entsetzlichen hatte Poe da zu Papier gebracht, den grausamen Tod einer alten Dame und einer unschuldigen Jungfer, ausgeführt auf eine Weise, dass man nicht anders konnte als in Gelächter auszubrechen! Aber das war ja seine Spezialität gewesen, das Absurde mit dem Grauenhaften zu vermengen, wie man Opium mit Branntwein vermengt, um das tödliche Laudanum herzustellen.

Francis kam jedoch, vom Portier eingewiesen, unbeschadet in das chaotische Arbeitszimmer des Journalisten, dessen Karte Sandham ihm gegeben hatte.

Es war ziemlich dunkel darin, denn bis zu halber Höhe der gotischen Fenster stapelten sich Papiere, und die einzige Lampe befand sich unmittelbar über der Schreibmaschine. Der Boston Clarion war eine viel gelesene, allerdings etwas dubiose Zeitung, die sich nicht scheute, mit vollen Händen in den Dreck zu greifen. Dementsprechend wurde Jon Rendell, ihr Chefredakteur, gleichzeitig gefürchtet, verachtet und gehasst. Er sah auch nicht eben vertrauenerweckend aus, dachte Balthazar. Ein schlanker, mittelgroßer Mann in den späten Dreißigern, der elegant gewirkt hätte, wäre er nicht so offenkundig desinteressiert an seinem Äußeren gewesen. Weder hübsch noch hässlich, mit scharfen, kalten blaugrünen Augen hinter einer drahtgerahmten Brille und einem geradezu weibisch üppigen braunen Haarschopf. Zudem hatte er eine unangenehme Art, beim Sprechen plötzlich den Kopf vorzustoßen, als schnappte er mit den Zähnen nach seinem Gegenüber. Ein Mann, dem man ansah, wie listig, verschlagen und skrupellos er war; ein wertvoller Helfer und ein gefährlicher Feind.

Immerhin hörte er sich die Geschichte, die der Commissioner nicht hatte hören wollen, in aller Ausführlichkeit an. Er ging sogar zur Türe und hängte ein Pappschild „Interview – nicht stören“ an die äußere Klinke. Schließlich stellte er Fragen. Seine Stimme war ruhig und weich und hörte sich an, als raschelte eine Schlange durchs Gras.

„Haben Sie Ihren Großvater gekannt, Herr Balthazar?“

„Nicht persönlich. Meine Großmutter verweigerte jeden Umgang mit ihrem früheren Liebhaber, und er hatte kein Interesse daran sein Kind zu sehen. Sie konnte es sich leisten, meinen Vater allein aufzuziehen, sie war eine hochbezahlte Opernsängerin und gab – exzentrische Diva, die sie war – keinen Pfifferling auf das Gerede der Leute. Allerdings überließ sie die Fürsorge für meinen Vater zumeist verschiedenen Kindermädchen, und die schilderten ihm seinen Erzeuger in so grässlichen Farben, dass der Unglückliche das Gefühl gehabt haben muss, direkt vom Teufel abzustammen. Natürlich vermied er jeden Kontakt mit ihm. In meiner Kindheit war der Großvater ein dunkler, bedrohlicher Fleck im Hintergrund, eine nur halb erkennbare Fratze, die sich als Nachtmahr in meine Träume schlich und mich untertags aus jeder dunklen Ecke anstierte ... Verzeihen Sie, dass ich so dramatisch werde.“

Der Journalist grinste, wobei er auffallend gleichmäßige, milchweiße, sichtlich falsche Zähne zeigte. „Oh, wir vom Clarion haben kein Problem mit dramatischen Ausbrüchen. Aber ich denke, die Kindermädchen Ihrer Großmutter haben nicht übertrieben, als sie ihn den bösen Feind in Person nannten. Rufus Wilmot Griswold war ein abscheulicher Mensch, dieser Meinung waren nicht nur die unglücklichen Literaten, die er in seinen Kritiken zerfleischte, sondern so ziemlich alle seine Zeitgenossen. Sie kennen den Satz, den ein anonymer Autor – vielleicht war es ja sogar Edgar Allan Poe persönlich – in der Zeitschrift ´Philadelphia Saturday Museum´ über ihn schrieb?“ Die Hände im Nacken verschränkt, den Blick zur Decke gewandt, zitierte er, während sein schlanker Körper sich auf eine merkwürdige, fast obszöne Weise räkelte: „Wie wird Griswolds Schicksal aussehen? Vergessen wird er sein, weiterleben nur in der Erinnerung derjenigen, die er verletzt und beleidigt hatte; er wird im Nichts versinken, und keine Spur wird bleiben, dass er jemals existiert hat; oder man wird wohl in Zukunft noch seinen Namen nennen, aber nur als den eines ungetreuen Dieners, der das in ihn gesetzte Vertrauen missbrauchte. Aber“ – dabei rutschte er in eine gewöhnliche Sitzhaltung zurück und stützte das Kinn auf die verschränkten Hände – „Mister Poe ist tot, daran besteht kein Zweifel, auch wenn bis heute niemand weiß, ob er nun am Suff oder am Opium oder an Syphilis starb – oder einfach von Räubern zusammengeschlagen wurde wie andere betrunkene Nachtschwärmer auch. Tatsache ist, er ruht unter seinem Grabstein in Baltimore. Dennoch sehen Sie in erster Linie ihn als den Verursacher Ihrer Schwierigkeiten. Warum?“

Francis erklärte es ihm. „Die grauenhaften Abnormitäten, die er – mit Genuss, möchte ich sagen – in seinen Erzählungen schildert, wiederholten sich in meiner Familie. Mein Vater fiel einer Grippeepidemie zum Opfer, er wurde im Spital für tot erklärt, man brachte ihn in die Leichenhalle, wo er in Kälte und Dunkelheit wieder erwachte, zu fliehen versuchte und auf den eisigen Fliesen zusammenbrechend ein elendes Ende nahm. Mein Bruder verfiel nach dem plötzlichen Tod seiner jungen Frau in Wahnsinn. Ich selbst wäre um ein Haar auf dieselbe Weise zugrunde gegangen wie der Gefangene der Inquisition in die Grube und das Pendel – ich wurde als sechsjähriger Knabe bei einer leichtsinnigen Expedition in einen Kirchturm von einem Zahnrad erfasst und in das riesige Uhrwerk der Kirchturmuhr hineingezogen; der Küster konnte mich gerade noch herausreißen, bevor ich zerquetscht worden wäre!“

Rendell unterbrach ihn. „Betrafen diese Unglücksfälle nur die Männer Ihrer Familie oder auch die Frauen?“

„Nur die Männer, so wie auch in Poes Erzählungen immer nur Männer im Mittelpunkt stehen. Aber die Frauen spielten nicht minder schreckliche Rollen, selbst wenn sie daran gar keine Schuld trugen. Meine Schwägerin konnte nichts dafür, dass sie bald nach der Hochzeit, als die Liebe des jungen Paares am heißesten war, ganz plötzlich starb – dass sie in ein tiefes Koma versank, aus dem sie kurz vor dem Tode noch einmal erwachte und kurzfristig zu genesen schien, nur um dann endgültig der Auflösung zum Opfer zu fallen. Wir alle waren erschrocken, mein Bruder jedoch war wie rasend, er bildete sich ein, sie könnte noch einmal erwachen – im geschlossenen Sarg ... Er bestand darauf, sie auf ihrem geschmückten Totenbett liegen zu lassen, bis die untrüglichen Zeichen des Todes auftraten. Ich beschwor ihn, es gäbe keine Macht der Welt mehr, die sie jetzt noch aufwecken könnte, und ich weiß, dass ich mich nicht irrte. Ich bin Arzt.“

Rendell machte sich auf einem dicken, schmuddeligen Abreißblock, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, Notizen. „Dann also Doktor Francis Balthazar?“

„Ja.“

„Und diese untrüglichen Zeichen des Todes waren ...?“, fragte der Journalist, als bezweifelte er die diagnostischen Fähigkeiten seines Gegenübers.

Der zuckte ungeduldig die Achseln. „Wenn Sie alle Einzelheiten hören wollen, bitte. Die Leichenstarre hatte eingesetzt und sich nach den üblichen 24 Stunden wieder gelöst. Jeder Versuch, aus den Adern Blut abzuzapfen, misslang. Ihr Bauch war aufgedunsen, aus ihren Körperöffnungen, auch aus dem Mund, sickerten seröse Flüssigkeiten, ihr Körper war fleckig verfärbt und verbreitete einen penetrant üblen Geruch.“

Rendell nickte. „Ja, das ist wohl eindeutig. Aber ihr Bruder wollte es nicht glauben?“

Der Besucher nickte, aber er wandte den Kopf ab dabei und schlug den Blick zu Boden. Sofort folgte auf der anderen Seite des Schreibtischs eine dieser schlangenartig zustoßenden Bewegungen, und Rendells Gesichtsausdruck veränderte sich. Seine Stimme raschelte jetzt nicht mehr, sie zischte. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, fragte er: „Sprechen wir von jener weiblichen Person, Name in den Zeitungen ungenannt, bürgerlich Beatrice Balthazar, deren Leiche in der Nacht des zwölften September auf dem Mount Auburn Friedhof gefunden wurde, und von Herrn N.N., mit vollem Namen Arthur Balthazar, den ein übereifriger Wachmann erschoss, in der Meinung, er habe es mit einem Grabräuber zu tun?“

Francis musste zustimmen, aber er empfand plötzlichen Widerwillen gegen diese eigentümlich raubtierhafte Kreatur mit den lauernden Augen und den bedrohlich abrupten Bewegungen. Sein Abscheu ließ seine Stimme frostig klingen, als er sagte: „Ich war sehr dankbar, dass die Zeitungen, sogar der sonst nicht eben zartfühlende Clarion, darauf verzichteten, unseren Namen durch den Schmutz zu schleifen.“

Wenn Rendell sich beleidigt fühlte, ließ er es sich nicht anmerken. Gleichmütig antwortete er: „Wir hätten mehr Ärger als Profit gehabt, wenn wir damit herausgerückt wären, meinen Sie nicht? – Außerdem hatte ich einen persönlichen Grund, Schweigen zu bewahren. Ihre Geschichte interessiert mich sehr, Doktor Balthazar.“

„Dann glauben Sie mir?“

Der Mann verzog sein glattrasiertes, merkwürdig jugendliches Gesicht zu einer Grimasse, die sein Gegenüber nicht deuten konnte. Er antwortete mit einer Gegenfrage. „Sie wissen, warum der Commissioner Sie zu mir geschickt hat? Nein? Nun, wir sind alte Freunde – oder Feinde – und kennen einander gut. Er weiß, was sonst nicht viele Leute wissen. Ihr Vater, Doktor Balthazar, war nicht der einzige uneheliche Sohn des ´Sultans´.“

Francis starrte ihn an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff. „Sie sind – Sie sind -“

„Ja. Ich bin ein Enkel von Rufus Wilmot Griswold. Und ich lebe unter dem selben Fluch wie Sie auch.“ Er schob sein dichtes Haar an der linken Stirnseite zurück und enthüllte knapp hinter der Augenhöhle eine hässliche Narbe. „Das hat ein Rabe getan.“

*

Francis verließ die Redaktion des Clarion in einem Zustand halber Betäubung. Er merkte kaum, wie der leichte Nieselregen über die Krempe seines Zylinders troff und seine Schuhe in Pfützen tappten. Seine Hoffnung, durch das Gespräch erst mit dem Commissioner und dann mit dem Journalisten ein Licht anzuzünden in dem Nebel, der seine Familie umgab, hatte sich erfüllt – aber auf welche unerwartete Weise! Wäre er nicht so sicher gewesen, dass der Polizeibeamte in jeder Hinsicht vertrauenswürdig war, er hätte vielleicht sogar an einen groben, gemeinen Scherz gedacht. Jon Rendell – du meine Güte, er, Doktor Francis Balthazar, war mit diesem Menschen verwandt, wenn auch glücklicherweise nur sehr, sehr entfernt! Und mehr als das, sie teilten das gleiche Schicksal.

Rendell war sehr zurückhaltend gewesen, als er seine eigenen Erfahrungen schilderte; im Grunde hatte er nur Andeutungen gemacht, aber die genügten Francis, um in allem Unglück der Familie Rendell die unverkennbare Handschrift wiederzufinden. Ausführlicher hatte der Journalist nur darüber gesprochen, dass er als Junge beinahe sein Augenlicht verloren hätte, als ein aggressiver Rabe ihn wochenlang verfolgt hatte. Das Tier hatte ihm richtiggehend aufgelauert. Erst war es nur laut schreiend über seinen Kopf hinweggerauscht und ihm mit den Krallen durchs Haar gefahren, dann hatte es sich nachts auf dem Fensterbrett seines Zimmers blicken lassen, und als er sich daraufhin unter den Betttüchern versteckte, war es sichtlich zornig geworden und hatte mit dem Schnabel gegen die Scheibe geklopft. Sein Vater hatte behauptet, es sei einfach ein halbzahmer Rabe, den irgendjemand daran gewöhnt hätte, mit Leckerbissen gefüttert zu werden, und der jetzt seinen Tribut forderte. Aber dann war der Raubvogel dem Jungen auf offener Straße ins Gesicht geflogen und hatte gezielt nach seinen Augen gepickt.

„Ich hatte Glück“, hatte Rendell gesagt, „dass ich damals schon eine Brille trug, das Glas lenkte den Schnabelhieb ab, und er erwischte mich nur an der Schläfe. Mein Vater wollte mir einreden, solche Dinge passierten anderen Leuten auch, aber ich merkte ihm an, dass er selber Angst hatte. Und die Art, wie er selbst schließlich starb ...“

Danach hatte er sich jedoch keine weiteren Einzelheiten mehr entlocken lassen und nur gesagt, seiner Meinung nach könnte es gar keinen Zweifel daran geben, dass ein Fluch alle Männer verfolgte, in deren Adern auch nur ein Tropfen von Rufus Wilmot Griswolds Blut floss. Er hatte Material darüber gesammelt, und das wollte er Francis am nächsten Tag zeigen – „sofern Sie oder ich bis dahin nicht lebendig begraben oder von Mordmaschinen zerfleischt wurden.“

Francis schauderte. Er war sehr erleichtert gewesen, dass er jemand fand, der seine Ängste ernst nahm, aber er wünschte, dieser Jemand wäre nicht gerade Jon Rendell gewesen. Es schien ihm, dass zumindest ein Teil der unerfreulichen Charakterzüge des alten Griswold in dem Journalisten wiedererstanden war. Dann kam ihm der Gedanke, ob Rendell etwa dasselbe von ihm dachte. Ganz der Großvater, dieser arrogante junge Doktor ...

*

“Die Zähne der Berenice“

Die beiden Männer trafen sich, wie ausgemacht, am nächsten Nachmittag in Doktor Balthazars Wohnung, denn beiden war viel daran gelegen, das Thema ihrer Unterredung geheim zu halten.

Rendell hatte eine Holzschachtel mitgebracht, die die Früchte seiner jahrelangen Nachforschungen enthielt: Polizeifotos, Zeitungsartikel, Zeugenaussagen. „Trinken Sie lieber einen scharfen Schluck Brandy, bevor Sie sich die Sachen ansehen“, riet er. „Ich habe mich daran gewöhnt, weil ich sie immer nur ein Fetzchen da, ein Fetzchen dort in die Hände bekam, aber alles auf einmal verdauen müssen, das ist hart.“

Francis folgte dem guten Rat, und er stellte fest, dass sein Besucher recht gehabt hatte. Er brauchte den Brandy.

Rendell sprach aus, was er dachte. „Es ist unmöglich, dass alle diese Ereignisse Zufälle waren. Bedenken Sie, Griswold hat eine große, weitverzweigte Familie hinterlassen, darunter viele, die nicht seinen Namen tragen; ich konnte also nur einen winzigen Bruchteil der Fälle ausfindig machen. Es müssen weit mehr sein. Es sind immer nur Männer betroffen, aber die Frauen spielten auch eine Rolle – unschuldig, wie Ihre Schwägerin, oder in vollem Bewusstsein ...“

Plötzlich griff er sich mit zwei Fingern in den Mund, nahm eine Oberkieferprothese heraus und legte sie auf die Serviette. „Sie verzeihen“, nuschelte er. „Aber als Arzt sind Sie wohl nicht so empfindlich. Nun, bei mir war es eine Frau, die ich in einer Bar kennenlernte. Von meiner Seite war es eine Zufallsbekanntschaft, aber natürlich hatte sie mir aufgelauert. Muss ein Sukkubus oder sowas in Poes Diensten gewesen sein. Ich bin kein Mann, auf den die Frauen fliegen, also überrumpelte es mich völlig, wie sie sich an mich ranschmiss. Es kam mir ja komisch vor, dass sie andauernd über meine Zähne redete – aber ich hatte nun einmal von Natur aus sehr hübsche, regelmäßige Zähne, und sie sagte, sie hätte da einen kleinen Tick. Na gut. Sie schleppte mich ab, wohin, weiß ich nicht. Klar wurde mir die Sache erst am nächsten Morgen, als ich auf einer Parkbank aufwachte, mit rasenden Kopfschmerzen und einem zahnlosen, bluttriefenden Oberkiefer.“ Er schob sein falsches Gebiss wieder an seinen Ort. „Wenigstens war sie so anständig gewesen, mir eine ordentliche Portion Chloroform zu verpassen, bevor sie meinen Mund ausräumte. Übrigens hieß sie – oder nannte sich – Berenice.“

Francis lief es angesichts dieser grotesken Verstümmelung eiskalt über den Rücken. Wenn ihm selber nun eine Frau begegnen sollte, die Ligeia hieß, oder Morella, oder Annabel Lee, oder – am schlimmsten – Tripetta, mit einem missgebildeten Sidekick namens Hoppelfrosch?

„Aber was können wir tun?“, rief er händeringend aus. „Sie sind ein kluger Mann, Rendell – Sie haben sich doch ganz gewiss schon Gedanken gemacht, wie man diesen Rachefeldzug stoppen könnte?“

„Natürlich habe ich das“, antwortete der Journalist. „Aber allein traue ich mich nicht.“

Francis setzte sich mit einem Ruck aufrecht hin. „Das heißt, Sie kennen eine Lösung?“

„Kennen ist zu viel gesagt. Ich ahne eine Möglichkeit. Aber sie bedeutet die Wahl zwischen Pest und Cholera, oder sagen wir in unserem Fall, zwischen Grube und Pendel. Sie verstehen ... Mister Poe ist zweifellos großes Unrecht geschehen, aber er war selbst auch kein ... kein besonders umgänglicher Typ. Aus dem Nichts heraus kommen einem ja nicht so entsetzliche Ideen wie das Fass Amontillado oder die Maske des roten Todes. Und meine Lösung hieße: Wir müssten direkten Kontakt zu Poe aufnehmen.“

„Direkten Kontakt? Eine Séance, meinen Sie? Dabei geraten wir garantiert an irgendeine fette Schlampe, die mit verstellter Stimme wie Poe zu klingen versucht.“

Rendell schüttelte ganz entschieden den Kopf. „Halten Sie mich nicht für blöde, Doktor Balthazar. Auf sowas falle ich nicht rein. Die Séance machen wir beide allein.“

Francis gab nicht gleich Antwort. Die Vorstellung, wie er, mit Jon Rendell Händchen haltend, im Finstern saß und auf eine Antwort aus der Geisterwelt wartete, missfiel ihm aufs Äußerste. Andererseits hatte ihm schon die schwarze Katze gereicht, und die war noch der harmloseste aller Schrecken, welche die Zauberkiste des Schriftstellers für ihn bereithalten mochte. Er selber war nur furchtbar erschrocken, aber sein Vater, sein Bruder waren gestorben, Rendell waren die Zähne ausgebrochen worden, und um ein Haar hätte der teuflische Rabe ihn geblendet. Wer sagte, dass ihm, Francis, nicht dasselbe widerfahren konnte? Es stand ja nirgends geschrieben, dass Poe seine Teufeleien jeweils nur einmal anwenden konnte. Vielleicht hing schon ein halbes Dutzend von Rufus Wilmot Griswolds Nachkommen angekettet in einem Mauerloch oder kratzte an einem Sargdeckel unter der Erde.

„Wir beiden sind keine Medien“, wandte der Doktor ein. „Wer sagt, dass er überhaupt kommt?“

„Oh, dass er kommt, da habe ich keine Sorge“, entgegnete Rendell mit einem hinterhältigen Grinsen. „Ich habe da ein unfehlbares Mittel.“ Er beugte sich weit vor und flüsterte Francis ins Ohr.

Der saß stocksteif da. „Sie raffiniertes Aas!“, platzte er heraus. „Sowas konnte auch nur dem Clarion einfallen!“

*

Zwei Tage später erschien in der Feuilletonbeilage des Clarion ein langer Artikel aus der Feder des Chefredakteurs. Er zitierte ausführlich Griswolds bösartigen Nekrolog, er widmete sich dem üblen Ruf, den der Mensch Edgar Allan – im Gegensatz zum genialen Schriftsteller – in aller Welt hatte und der ihm ewig anhängen würde, weil er als Toter ja zum Schweigen verurteilt war. Der Artikel endete mit den Worten: „Könnte Edgar Allan Poe heute sprechen – ja, könnte er aus dem Geisterreich eine unbezweifelbare Botschaft senden – wir vom Clarion würden ihm gerne ein Interview gewähren, damit er sich mit seinen eigenen Worten von alle der Sudelei des literarischen Meuchelmörders Griswold reinwaschen könnte! Aber ach – nie wieder wird der zu Unrecht Geschmähte sich zu Wort melden, versiegelt sind seine Lippen, sein Mund für immer stumm, und die Lüge wird über die Wahrheit triumphieren!“

Es war ein gewagter Plan, aber er hatte Erfolg. Rendell rief Doktor Balthazar an, um ihm mitzuteilen, dass mehrmals am Tage ein ungewöhnlich großer, pechschwarzer Rabe auf sein Fensterbrett geflogen sei und mit dem Schnabel gegen die Scheiben gepickt hätte.

„Die Frage ist nur, wo wir ihn treffen sollen“, fügte er hinzu.

Aber darauf hatte Francis eine Antwort. „Schon erledigt. Ich habe einen Ort gefunden, dem er sicher nicht widerstehen kann. Und nein, ich sage Ihnen nicht, wo es ist. Wir treffen uns um 11 Uhr nachts vor dem Mount Auburn Hospital.“

Rendell war anzuhören, dass er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, als er zustimmte. Francis verübelte es ihm nicht. Ob einer nun ein abgebrühter Journalist war oder ein erfahrener Arzt, der nächtliche Treffpunkt war schauerlich – schon bei Tage und erst recht in der Nacht.

*

„Und wohin wollen Sie jetzt mit mir?“, fragte Jon Rendell. Er fröstelte in der kalten Herbstnacht. „In die Leichenkammer, nehme ich an?“

Francis schüttelte den Kopf. „Viel besser. Vor allem weniger ungemütlich. Kommen Sie.“

Er fasste den Mann am Ellbogen und zog ihn mit sich um den plumpen Ziegelbau herum zu einem tief in der Mauer verborgenen Seiteneingang, den er mit einem Schlüssel öffnete. „Wie Sie wissen, ist das Mount Auburn ein Lehr-Krankenhaus, und ich halte einige Kurse, daher habe ich Schlüssel. Aber pst jetzt, wir wollen nicht die Aufmerksamkeit des Nachtwächters erwecken.“

Hinter der Türe lag ein Flur, der sich zu beiden Seiten in tiefem, gespenstischem Dunkel verlor. Francis glitt ihn entlang wie eine Fledermaus, während der Journalist ihm folgte, so gut er konnte. Wieder knirschte ein Schlüssel, öffnete sich eine Tür. Raumhohe Glasschränke, einzeln stehende Vitrinen, ein -

Nur aus langjähriger beruflicher Übung gelang es Rendell, einen Entsetzensschrei hinunterzuwürgen.

Doktor Balthazar hatte, nachdem er die Türe hinter ihnen geschlossen und versperrt hatte, eine Diebslaterne geöffnet, und durch den schmalen Schlitz im Gehäuse fiel ein Lichtstrahl, wies wie ein starrer, knochiger Finger auf das Prunkbett mitten im Raum. Eine nackte junge Frau von großer Schönheit lag darauf, eine Perlenkette um den Hals, das üppige blonde Haar nach allen Seiten gebreitet, die blauen Augen starr ins Leere gerichtet – und mit offenem Leib! Von der Halsgrube bis zum Schambein klaffte ihr elfenbeinfarbener Körper in einer riesigen, schwarzbraunen Wunde, in deren Tiefe alle ihre Gedärme sichtbar wurden, Herz, Leber, Milz, Darmschlingen, Gebärmutter ...

Rendell starrte seinen Begleiter an. „Sie Teufel!“, zischte er. „Sind Sie wahnsinnig geworden? Sie haben eine wunderschöne, blühend gesunde Frau abgeschlachtet, nur um ...“ Er wandte sich in Panik zur Seite, wollte an Balthazar vorbeischlüpfen, der Türe zu, aber der packte ihn fest am Arm.

„Nur die Ruhe!“, flüsterte der Arzt. „Sehen Sie genauer hin.“ Er öffnete die Laterne.

Der Journalist erstickte einen weiteren Schrei hinter der vorgehaltenen Hand, denn der vergrößerte Lichtkegel zeigte ihm ein Stück entfernt von der weiblichen Leiche die lebensgroße Gestalt eines Mannes in der Haltung eines griechischen Athleten – ein perfekter Körper, aber blutrot, denn die Haut fehlte und die Muskelstränge lagen bloß. Ein Stück weiter ruhte ein Skelett auf einer mit purpurfarbenem Samt dekorierten Chaiselongue. In einer Vitrine stand, wie die Dame ohne Unterleib im Panoptikum, ein hübsches Mädchen mit adretter Frisur, aber ihr Rücken war aufgeklappt wie ein Schrank, sodass die hinteren Rippen hervorguckten. Die hohen Glasschränke ringsum waren gefüllt mit menschlichen Bestandteilen, Händen, Armen, in vertikalen Hälften klaffenden Schädeln, Genitalien auf rosa Samtkissen.

„Anatomische Wachsfiguren“, flüsterte der Arzt. „Unsere Lehrmittelsammlung.“

„Hätten Sie mir das nicht im Vorhinein sagen können?“, stotterte Rendell, während er aus der Innentasche seines Mantels einen Flachmann herausholte und einen Schluck tat wie ein Seemann. „Ich dachte einen Moment lang, Sie hätten ... ach, was weiß ich.“ Er nahm Francis die Laterne ab und wanderte zwischen den Figuren hin und her, da und dort ein neues Schrecknis beleuchtend. Plötzlich schrie er gedämpft auf. „Das ist sie! Das ist das Teufelsweib!“

„Das ist wer?“ Francis eilte an seine Seite. In einer Vitrine, ähnlich der der Dame ohne Unterleib, stand ein weiteres Wachsmädchen, züchtig gekleidet und hübsch frisiert. Es fehlte jedoch an der linken Seite ihres Gesichts die komplette Haut samt der Muskelschicht, sodass ihre Zähne in einem unveränderlichen Leichengrinsen entblößt waren, während das nackte Auge aus seiner Höhle hervorstarrte wie eine verlorene Glasmurmel.

„Die Zahnfetischistin! Berenice!“, stammelte Rendell heiser. „Kein Zweifel, das ist sie! Du Bestie, ich werde dich -“ Er hätte in seinem Zorn und Schmerz auf die Figur eingeschlagen, hätte Francis nicht blitzschnell seinen Arm festgehalten.

„Lassen Sie das! Was immer sie war, als Sie Ihnen Ihre Zähne raubte, jetzt ist sie nur eine Wachsfigur. Wir setzen uns jetzt hierher -“, dabei wies er auf eine altmodische gepolsterte Sitzgruppe mit einem Mahagonitischchen davor - „und warten, bis Mister Poe erscheint. Nehmen Sie schon einmal Ihr Schreibzeug hervor. Unsere Mäntel können wir ausziehen, es ist hier ...“ Er zögerte plötzlich und sah sich nach allen Seiten um. „Es ist warm hier. Wärmer, als ich erwartete. Ich hoffe nur ... Oh nein, nicht das! Alles, nur nicht das!“

Rendell folgte seinen Blicken, und dann erbleichte auch er. Es war wirklich warm geworden im Raum, ja heiß, als stünden sie im Inneren eines riesigen Ofens. Während die Glasschränke in eine Wand dunklen Nebels zurückwichen, zeigten sich auf eben dieser Nebelwand die Silhouetten tanzender und springender Gestalten. Ihre Augen glühten, ihre Finger waren zu Klauen gekrümmt. Fledermausohren, Affenschwänze und Widderhörner erschienen, während aus den Schattenrissen mit beklemmender Geschwindigkeit ganz real aussehende Wesen wurden – Wesen, wie sie der kranken Phantasie eines mittelalterlichen Inquisitors entsprangen! In dem eben noch finsteren Raum wurde es heller, aber die Helligkeit war ein trübes, rötliches Licht, wie Platten von rotglühendem Metall es ausströmen. Und rückten die Wände nicht zollweise näher an sie heran?

Beide Männer wandten zugleich den Kopf und blickten in die Mitte des Raumes. Da war es, ein schwarzes Loch, groß genug, um sie beide zugleich zu verschlingen. Und hätten sie noch irgendwelche Zweifel gehabt, so wurden die zerstreut, als zwei ausgesucht garstige, struppige Ratten ihre Schnauzen über den Rand der Grube streckten und sie aus gierig funkelnden Knopfaugen anstarrten.

Rendell wurden die Knie weich, er ließ sich mehr in die Sitzgarnitur fallen, als er sich setzte.

„Das ist eine Phantasmagorie, nichts weiter“, stieß er hervor, während er sich aus seinem Mantel wickelte und den Flachmann darin in die Rocktasche transferierte, um ihn griffbereit zu haben.

Francis tat einen Schritt auf das Loch zu, dann wich er zurück und setzte sich in den zweiten Polstersessel. „Ich glaube“, sagte er mit krampfhaft gefasster Stimme, „es erübrigt sich, dass wir in die Grube hineinschauen. Lassen wir uns auf keinen Fall irremachen. Das ist alles nicht wirklich. Wir befinden uns in der Lehrmittelsammlung des Mount Auburn Hospital und ...“ Er ließ den Satz fallen, um mit einer blitzschnellen Bewegung sein Halstuch vor die Nase zu drücken. In der Hitze verbreitete sich urplötzlich ein Gestank, als würde faulendes Fleisch auf einem glühenden Rost gebraten. Er stieg jedoch nicht aus der Grube empor, sondern wehte von der Gestalt auf dem Prunkbett herüber. Sie war durch das Loch von ihnen getrennt, aber deutlich sichtbar, und so waren auch die grauenvollen Veränderungen deutlich sichtbar, die mit dem schönen, eben noch wächsernen Leib vor sich gingen.

Beide Männer hatten schon Leichen im Zustand fortgeschrittener Fäulnis gesehen, beide waren abgehärtet gegen den Anblick, aber hier vollzog sich die Dekomposition mit derselben Geschwindigkeit wie in Die Wahrheit über den Fall Valdemar. Innerhalb von Minuten hatte die Figur sich in einen infernalisch stinkenden Haufen von schwarzgrünem Fleisch und Fett inmitten ölig schillernder Lachen von Körperflüssigkeit verwandelt. Eine Masse, die zuckte und bibberte und blasig aufwallte, nur um nach jedem Aufwallen in eine noch tiefere Auflösung zu versinken.

Rendell und Doktor Balthazar warfen ihre Jacken und Halstücher ab und öffneten die Hemden über der Brust, so unerträglich war die Hitze im Raum. Dann fuhren sie beide zugleich hoch. Ein Geräusch war hörbar geworden, ein Ächzen und Knarren, als bewegte sich hinter ihren Rücken und über ihrem Kopf eine zwar gut geölte, aber dennoch schwerfällige Maschinerie. Nun wurde sie auch teilweise sichtbar, als die Platten mit den glühenden Teufelsgestalten auseinanderwichen und in den Spalten eine Masse von Zahnrädern auftauchte, kleine und große, Räder mit eisernen Zacken, so lang wie der Zeigefinger eines Mannes.

Rendell starrte nur, aber Francis gab einen gellenden Aufschrei von sich und versuchte sich, aufspringend und über die Sessellehne taumelnd, hinter dem Möbelstück zu verstecken. Grell und klar stand der Tag vor ihm, an dem er, der Sechsjährige, den Küster zum Putzen der großen Turmuhr begleitet hatte. Er fühlte wieder, wie damals, dass etwas erst zart nach seinem Ärmel griff, daran zupfte – dann plötzlich mit einem stählernen Griff zupackte und ihn Zentimeter für Zentimeter in die Tiefen des knarzenden, glänzenden, unerbittlichen Uhrwerks hineinzog! Er hörte den panischen Aufschrei des Küsters, spürte, wie dessen knotige Hände ihn packten und aus der heimtückischen Umklammerung loszureißen versuchten, die mit jeder ächzenden Drehung der Zahnräder enger wurde – wie er dann auf dem Boden der Uhrenstube lag mit zerrissenen Kleidern und einem blutenden Arm und das immer noch laufende Mahlwerk sich in eine Unzahl metallener, mit Raubtierzähnen grinsender Gesichter verwandelte!

Dann hielt die Maschine an – mit einem letzten, lauten, heiseren Ächzen, wie es Francis erschien. Tatsächlich jedoch kam das Krächzen aus dem Schnabel eines unnatürlich großen und haarsträubend hässlichen Raben, der jenseits der gähnenden Grube auf der Vitrine mit der wächsernen Berenice hockte. Es klang wie Gelächter – das diabolische Gelächter des Grafen Montresor, als er den letzten Stein in Fortunatos Grab mauerte.

Jetzt, wo er als Journalist gefordert war, zeigte Jon Rendell bewundernswürdige Kaltschnäuzigkeit. „Mister Edgar Allan Poe?“, fragte er, wobei seine Stimme nur ganz wenig zitterte. „Ich bin Jon Rendell vom Clarion. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, sich uns für ein Interview zur Verfügung stellen. Wir sehen es als unsere Pflicht, die Öffentlichkeit über das Ihnen von Mister Griswold zugefügte Unrecht ...“

Der Rest des Satzes ging unter in einem Strom von Unflätigkeiten aus dem Schnabel des Scheusals, die sich allesamt über Griswold ergossen.

Rendell schrieb nicht mit, sondern wartete, den Füllfederhalter in der erhobenen Hand.

„Das wird zensiert, was?“, fragte der Rabe misslaunig.

„Nein. Nichts wird zensiert. Nur brauche ich Ihre Flüche nicht mitschreiben, die kann ich nachher aus dem Gedächtnis einfügen. Füllhalter sind nicht unerschöpflich, und nun stellen Sie sich vor, mir würde die Tinte ausgehen, wenn Sie gerade etwas wirklich Wichtiges zu sagen haben. Also ... wir sprechen jetzt mit dem Schriftsteller Edgar Allan Poe, verstorben 1849, der kurzfristig aus der ... aus ... von seinem jetzigen Aufenthaltsort zurückgekehrt ist, um sich gegen die Verleumdungen von Seiten von Mister Griswold ...“

Der Rabe setzte zu einer neuen Schimpftirade an, stockte aber, als Rendell einfach über sein Gezeter hinweg redete. „Sagen Sie, könnten Sie hier vielleicht ein bisschen mehr Licht machen? Ich sehe kaum, was ich schreibe.“

Francis fürchtete schon, der Rabe würde daraufhin aus den rotglühenden Eisenplatten weißglühende machen, aber der Raum veränderte sich auf ganz andere Weise vor seinen Augen. Er zog sich in die Länge, bis er die Größe eines Ballsaales erreicht hatte. Die Grube schloss sich. Aus den verblassenden Teufelsfratzen wurden exquisite, vergoldete Wanddekorationen. Die Wände überzogen sich, als wucherte ein Pelz auf ihnen, mit schwarzem Samt. Es gab keine Lampen, aber hinter einem Glasfenster zum Flur brannte in einem gusseisernen Korb ein Feuer. Der Raum war leer, es befanden sich keine Menschen vor Ort, obwohl aus einiger Entfernung Tanzmusik und die Geräusche einer vergnügten Menschenmenge herüber schwebten, und er enthielt nur ein einziges Möbelstück, wenn man es so nennen konnte. Das war eine kolossale, vom Boden bis zur Decke reichende Standuhr aus Ebenholz, deren mannslanges Pendel gemessen hin und her schwang.

„Besser so?“, fragte der Rabe.

„Danke.“ Der Journalist schob seine drahtgerahmte Brille vor und zurück und stellte mit Befriedigung fest, dass er in dem flackernden Feuerschein genügend sah. „Nun, zur Sache. Sie wurden am 3. Oktober 1849 vor dem Gasthaus Fells Point in Baltimore in einem erbärmlichen körperlichen Zustand aufgefunden, in Kleidern, die offensichtlich nicht Ihre eigenen waren. Können Sie uns das...“

„Ver ... verschetzt“, erwiderte der Rabe mit einer leichten Unebenheit in der Stimme. „Verzeihung, ich meinte versetzt. Pfandhaus. Geld ausgegangen. Bestohlen worden. Gute Kleider ins Pfandhaus, paar billige Lumpen beim Trödler gekauft.“

„Sie seien sturzbetrunken gewesen, behauptete Griswold.“

„Unsinn. Ein leichtes Unwohlsein. Hatte sicher nicht mehr als ein kleines Schnäpsch ... Schnäpp ... Schnäpschen getrunken, nur für den Magen. Schreiben Sie das.“

Rendell gehorchte und fuhr fort. „Mister Griswold behauptet ferner, Sie seien unter dem Einfluss von Opium gestanden.“

„Woher will der Hundesohn das wissen?“, knarzte der Rabe. „Außerdem ist das völliger Unsinn. Habe niemals Drogen angerührt. Auch keinen Alkohol. Lieber junger Mann, ich war Mitglied der Vereinigung Söhne der Enthaltsamkeit, fanatische Abstinenzler! Deswegen hat mich ja das kleine Gläschen so umgeworfen. Meinen Sie, wenn ich ein chronischer Säufer gewesen wäre, hätte es irgendeine Wirkung auf mich gehabt?“

„...Wirkung auf Mister Poe gehabt“, wiederholte Rendell, während er mit erstaunlicher Geschwindigkeit schrieb.

Der Rabe flatterte näher herbei und setzte sich auf die geschwungene Lehne des Sessels, so dass er dem Mann beim Schreiben über die Schulter schauen konnte. Dem war das alles andere als angenehm, nicht zuletzt, weil er sich an das letzte Mal erinnerte, wo der scharfe Schnabel seiner Schläfe so nahe gewesen war, aber er hielt sich tapfer. Konzentrierte sich völlig auf seinen Artikel. Francis hatte das Gefühl, dass ihn nicht einmal das Erscheinen der Maske der Roten Todes aus seinem Arbeitseifer aufgeschreckt hätte.

„Sie haben sicher nichts gegen ein paar intimere Fragen, Mister Poe. Sprechen wir einmal über Ihre Beziehung zu der Künstlerin Frances Osgood, der Frau, in die auch Rufus Wilmot Griswold leidenschaftlich verliebt war ....“

Die beiden waren so in ihre gemeinsame Arbeit versunken, dass der Arzt sich als fünftes Rad am Wagen fühlte. Er drehte den Kopf dahin und dorthin und spähte in alle Ecken, ob er hinter all dem Blendwerk irgendwo ein Stückchen des ursprünglichen Lehrmittelzimmers erhaschen konnte. Es musste da sein – er spürte in seiner Hosentasche den Schlüssel, den er nach dem Absperren eingesteckt hatte. Was ihn umgab, war nur eine Phantasmagorie. Oder doch nicht? Als er den Fuß ausstreckte, quietschte etwas erschrocken auf und zwickte ihn mit scharfen Zähnen durch den Stiefel hindurch in die Zehen – eine Ratte, die aus Grube und Pendel versehentlich übriggeblieben war. Das Zwicken rief ihm in Erinnerung, dass das über Griswolds Nachkommen schwebende Verhängnis von durchaus realer Art war. Die Kirchturmuhr, die den sechsjährigen Francis um ein Haar in ihr rhythmisch kauendes Gebiss hineingezogen und zermalmt hätte, war ebenso real gewesen wie die Kugel, die seinen Bruder ins Herz getroffen hatte. Jon Rendell hatte wirklich ein Loch in der Schläfe und keine Zähne mehr im Oberkiefer.

Vorsichtig stand er auf und entfernte sich unbemerkte in Richtung des nächsten Ausgangs. Er hatte Die Maske des Roten Todes gelesen und wusste, wie die Zimmerflucht im Palast des Prinzen Prospero angelegt war, nämlich so, dass jeder Raum sich in einem scharfen Winkel vom anderen abwandte und es deshalb unmöglich war, von einem in den anderen zu schauen. Er wusste zugleich auch, dass der mit schwarzem Samt ausgeschlagene Raum mit der Standuhr der schlimmste von allen war, dass es also nur besser werden konnte, wenn er der Zimmerflucht in umgekehrter Richtung folgte. Wenn er sich recht erinnerte, kam als nächstes ein violetter Raum, dann ein oranger, ein grüner.

Er folgte dem fernen, fröhlichen Stimmengewirr, und tatsächlich! Der Ausgang führte in ebenso prächtig geschmückte, aber nun weitaus harmloser wirkende Räume. Und da war auch schon die possierlich in altväterischen Tänzen hüpfende Gesellschaft, alle maskiert, alle laut und vergnügt. Francis hielt eilig Umschau, ob er irgendwo eine hohe Gestalt in blutbefleckten Leichenlaken entdeckte, aber er sah nichts dergleichen. Die Masken waren sämtlich zwar extravagant, aber harmlos; er fand sich inmitten eines tanzenden Wirbels von Pierrots, Schäferinnen, Prinzessinnen, Musketieren, Pulcinellas und Piraten, und da reichte ihm auch schon eine niedliche Kolombine die Hand zum Tanz, wobei sie unter ihrer Halbmaske auffordernd lächelte.

Francis konnte nicht anders, er fasste die zierliche Hand, Kolombine knickste und setzte zum ersten Tanzschritt an – da ertönte hinter den Türen ein fürchterliches Geheul und Gebrüll, begleitet von Schreckensschreien! Die zweiflügelige Türe sprang auf, und herein rollten mehr, als sie sprangen, acht aneinandergekettete Orang-Utans, deren Erscheinen ein entsetzliches Tohuwabohu auslöste. Kreischende Frauen, erschrockene Männer wichen nach allen Richtungen zurück, als die zottigen Untiere, johlend vor Lachen – was sich aber wie ein unheimliches Dschungel-Gebrüll anhörte – dahin und dorthin kugelten. Und jetzt – jetzt sprang eine kleine, krüppelhafte Gestalt im Narrengewand auf sie zu, eine lodernde Fackel in der Hand, und kreischte mit durchdringender Stimme: „Lasst mich durch! Ich will sehen, wer das ist!“

Francis floh, aber nicht rasch genug. Hinter sich hörte er einen vielfachen Schrei, als der Lusterhaken fasste und die Kette mitsamt den falschen Affen in die Höhe rasselte, und während der Schrei sich in ein wildes Geheul von Schmerz und Schrecken wandelte, loderte es in seinem Rücken glutrot auf – eine Fahne würgenden Gestanks verfolgte ihn, gemischt aus brennendem Flachs, blubberndem Teer und verkohlendem Menschenfleisch ...

Atemlos stürzte er zurück in den Raum mit der Standuhr, gerade rechtzeitig, um den Zeitungsmann sagen zu hören: „Sie autorisieren mich also, dieses Interview als Ihre Meinung zu veröffentlichen?“

„Gewiss“, antwortete der Rabe. „Sie sind der erste anständige Journalist, der mir unter die Augen kommt, und Sie wissen, ich war selbst in diesem Beruf tätig. Endlich einmal einer, der die Wahrheit und die reine Wahrheit über mich schreibt. – Tut mir übrigens leid, das mit dem Schnabelhieb an der Schläfe und den Zähnen. Wenn ich gewusst hätte, was für ein feiner Kerl Sie sind, hätte ich mich zurückgehalten. Ihre Zeitung hat eine hohe Auflage, sagten Sie? Wird in ganz Boston gelesen?“

„In ganz Amerika!“, erwiderte Rendell, was sich weit von der Wahrheit entfernte.

„Gut. Dann will ich mal nicht so sein. Sie können schreiben, dass der Fluch über die unschuldigen Nachkommen von Rufus Wilmot Griswold aufgehoben wird. Aber ihn selber“ – rief er laut krächzend aus, „ihn lasse ich niemals in Ruhe, ihn verfolge ich bis in alle Ewigkeit!“ Vertraulich fügte er hinzu: „Wir sind nämlich beide am selben Ort, das heißt, ich kann ihn am Schlafittchen packen, sooft es mich danach gelüstet.“

Er wollte noch Weiteres sagen, aber da rückten beide Zeiger der riesigen Uhr auf die Zwölf, und aus den Tiefen des eisernen Mechanismus erklang ein heiseres Rasseln und Schnarren, das zuletzt in einen gewaltig dröhnenden Stundenschlag überging. Francis empfand diesen Stundenschlag wie eine ungeheure Ohrfeige, er sackte betäubt in sich zusammen, fiel aus dem Sessel und landete hart auf dem Parkettboden des Lehrmittelzimmers. Neben ihm kniete Rendell und sammelte hektisch die Blätter seines Interviews ein, die der fürchterliche Donner der Standuhr vom Tisch geweht hatte. Die offene Laterne warf ihren Schein auf steife Wachsfiguren und glitzerndes Glas.

*

Beide Männer fühlten, wie ihnen ein Stein vom Herzen fiel, als sie, nun wieder in ihre Mäntel gehüllt, aus dem Hospital flüchteten und in der kalten, sternenklaren Nacht tief Atem holten.

„Was haben Sie geschrieben?“, fragte Francis. „Ich bekam das alles nur so teilweise mit.“

„Na, was wohl?“, erwiderte Rendell, wobei er in einem zynischen Grinsen sein falsches Gebiss entblößte. „Wir haben Rufus Wilmot Griswold Punkt für Punkt widerlegt. Es gab in Poes Leben kein Opium, keine Weibergeschichten, keine Skandale, keinen Alkohol -“

„Was heißt keinen Alkohol?“, protestierte Francis. „Er war voll bis zum Schnabel! Er musste ein paar Mal rasch die Flügel ausbreiten, um nicht von der Sessellehne zu fallen! Wie können Sie da schreiben, er sei ein Urbild aller Tugend gewesen?“

Rendell zuckte mit einer unverschämten Bewegung die Achseln. „Wir nehmen es mit der Wahrheit beim Clarion auch sonst nicht so genau, Doktor Balthazar. Mir kommt es auf einen gekauften Artikel mehr oder weniger nicht an, wenn ich dafür sicher sein kann, nicht auch noch die Zähne im Unterkiefer zu verlieren. Außerdem tue ich damit eine gute Tat an allen, in deren Adern das Blut der Griswolds fließt – das heißt, auch an Ihnen. Oder wollen Sie Ihr Leben lang davor zittern, dass er Sie am Ende noch in den Strudel des Maelstroms schickt?“

Das sah Francis Balthazar ein, und deshalb erhob er auch keine weiteren Einwände mehr. Er schob seinen Arm unter den seines Begleiters. „Kommen Sie“, sagte er. „Verschwinden wir von hier und gönnen wir uns ein irisches Frühstück, damit wir die Sache aus dem Kopf kriegen.“

„Was ist ein irisches Frühstück?“, fragte Jon Rendell.

Francis erklärte es ihm. „Eine Flasche Whisky, ein rohes Steak und ein Hund.“

„Wozu der Hund?“

„Dem gibt man das Steak zu fressen. Den Whisky trinkt man selber.“

„Einverstanden“, stimmte Jon Rendell zu, und Arm in Arm verließen die beiden Männer den Bannkreis des Mount Auburn Hospital.

***

Anmerkung

Der Zwist zwischen Edgar Allan Poe und Rufus Wilmot Griswold ist historisch. Näheres dazu, auch den kompletten Text des gehässigen Nachrufs, finden Interessierte in Wikipedia. Von dort stammen auch die beiden historischen Zitate.

Die „Lehrmittelsammlung“ mit den schaurig-schönen Wachsfiguren existiert ebenfalls, befindet sich jedoch nicht im Mount Auburn Hospital in Boston, sondern im sogenannten Josephinum, heute Institut für Geschichte der Medizin, in Wien.

Der Kastellan von Huttenbrunn

„Ich wünschte, es hätte endlich ein Ende mit alle den wohlmeinenden Idioten, die uns unbrauchbare Liegenschaften hinterlassen. Sieh dir den Kasten nur an!“ Dr. Jenny Gröning vom Krankenanstalten-Verband kurbelte wild am Lenkrad, um ihren Wagen auf der lebensgefährlich dahinschlängelnden Bergstraße vor dem Abstürzen zu bewahren. „Eine Hammerfilm-Kulisse ist eine Kitschpostkarte dagegen!“

Sie deutete anklagend auf das Schloss, dessen verschwommene Silhouette aus dem Gipfel des Huttensteins emporwuchs. Inmitten der allgemein öden und düsteren Landschaft des Schwarzwalds erhob sich eine wunderlich gestaltete Zitadelle: Eine Kopie von Neuschwanstein, nur beträchtlich kleiner, ragte sie aus den tintenschwarzen Schatten von Fels und Fichten, ein graues Zuckerwerk-Türmchen neben dem anderen, aneinander klebend wie eine Kolonie geisterhafter Pilze, zwischen denen der Nebel seine Schwaden und Fäden spann. Vielleicht sah es bei Sonnenschein anziehender aus, aber jetzt herrschte nun einmal das kränkliche Zwielicht eines kalten Vorfrühlingstages, der obendrein schon recht weit fortgeschritten war. Die Sonne – soweit sie sich überhaupt hatte blicken lassen – schlüpfte gerade unter den Horizont. Ein abwegiges Farbenspiel malte sich im Westen: Der Himmel dort war braun und rot-orange verfärbt, mit Bahnen von eisigem Türkis und dunkel glühendem Gold darin. Wie ein Gemälde breiteten die brennenden Wolken sich aus, denn kein Lichtstrahl fiel aus ihrer Glut auf die Erde. Auf der Straße zwischen Felswand und Abgrund herrschte bereits eine so tiefe Dämmerung, dass nur das starke Licht der Scheinwerfer den Weg wies. Wären da nicht die Lampen der Ortschaft Huttenbrunn gewesen, die bei jeder Linkskurve tief im Tal unten aufleuchteten, man hätte glauben können sich im finstersten Märchenwald zu befinden, in Gesellschaft von Trollen, Feen und Werwölfen.

Merten Schell, Jennys Kollege, bemühte sich sie zu beschwichtigen. „Es soll durchaus bewohnbar sein.“

„Ja, wenn man kein Problem mit Mäusen, Schimmelpilzen und vergilbten Tapeten hat. Merten, ich bitte dich! Dieser Steinhaufen wurde seit zehn Jahren nur von drei Personen bewohnt, was meinst du wohl, wieviel da geheizt wurde? Ich bin überzeugt, es ist alles morsch und schimmlig. Wir müssten Millionen hineinstecken, damit man es überhaupt ohne Lebensgefahr betreten kann, gar nicht zu reden davon, dass es als Rekonvaleszenten-Heim vollkommen brauchbar wäre! In diesem muffigen Kasten bekommen die Patienten eher noch Tuberkulose dazu, als dass sie gesund werden!“

Merten zuckte die Achseln. Weitaus schwerblütiger als Jenny, sah er nicht ein, warum er sich über eine Sache aufregen sollte, die ihn im Grunde gar nichts anging. Er hatte Huttenbrunn nicht geerbt, er musste hier nicht wohnen. Seine Aufgabe als Immobilienverwalter des KAV war nur, zu überprüfen, ob es sich lohnte, die Erbschaft anzunehmen. Wenn er Nein sagte, fiel die Liegenschaft an den nächsten in Frage kommenden Erben, der in diesem Fall wohl das Land Baden-Württemberg war, denn leibliche Erben hatte der selige Othmar von Huttenbrunn keine gehabt.

„Solche alten Gebäude sind oft sehr stabil, mit etwas Glück bringen wir es rasch wieder auf die Beine. Und wenn nicht, können wir die Erbschaft immer noch ausschlagen.“

Der letzte Satz kam gut an bei Jenny. Sie atmete auf, als ihr wieder einfiel, dass sie ja niemand zwingen konnte die Hinterlassenschaft des letzten Besitzers von Huttenbrunn anzunehmen. Wenn das Schloss in einem allzu kläglichen Zustand war brauchten sie nur dem Testamentsvollstrecker mitzuteilen, dass sie es nicht haben wollten; dann konnte sich jemand anderer damit herumärgern. Die Leute dachten immer, sie täten gute Taten, wenn sie dem Krankenanstalten-Verband Immobilien hinterließen; die meisten dieser edlen Spender hatten keine Ahnung, wie oft eines ihrer Geschenke den Wert eines weißen Elefanten hatte: Grundstücke in entlegenen Gegenden, ohne Wasser und Elektrizität; Häuser, die zu modernisieren mehr kostete, als sie jemals wert gewesen waren. Auf Schloss Huttenbrunn traf vermutlich alles gleichzeitig zu. Jenny hatte keine Strom- und Telefonleitungen auf dem Weg gesehen, und das Wasser holte man wohl aus einem Brunnen im innersten Schlosshof. Wenigstens wohnten die beiden Bediensteten, die den letzten Schlossherrn versorgt bis zu seinem Unfall versorgt hatten, noch in dem Gebäude; da konnten die Abgesandten des KAV immerhin mit einem geheizten Zimmer und einem Abendessen rechnen. Sie hatten länger gebraucht, als sie gerechnet hatten, vor allem, weil die Straße keineswegs „ganz in Ordnung“ war, wie die Anwaltskanzlei des Verstorbenen behauptet hatte, sondern ein besserer Ziegenpfad mit bröckelnden Rändern und unvermutet von oben herabrieselnden kleinen Steinschlägen. Für Autofahrer aus der Stadt war der Weg eine einzige Geisterbahn. Wäre die Straße nicht so lang und so steil gewesen, Jenny hätte ihr Auto in der Ortschaft stehen lassen und wäre zu Fuß hinaufgeklettert.

Sie atmeten beide auf, als die letzte halsbrecherische Kurve hinter ihnen lag und die Straße in die dunkle Wölbung eines Torbogens führte. Eine aus massiven Steinen gemauerte Galerie folgte, die linker Hand immer wieder den Blick ins Tal mit seiner Ortschaft freigab, dann ein offener Platz, teilweise in den steilen Felsen gehauen, auf dem bereits zwei Autos standen. Zwei arge Schrottmühlen, aber immerhin Autos, die die Anwesenheit des 21. Jahrhunderts in Huttenbrunn dokumentierten. Jenny war nahe daran gewesen zu glauben dass die Leute hier Kutschen mit kopflosen Schimmeln als Fuhrwerk benutzten.

Sie parkte neben den Schrottmühlen ein und ließ aufseufzend das Lenkrad los. Ihre Hände waren steif und verkrampft, so oft hatte sie in Panik das Lenkrad umklammert, wenn Steinchen aufs Dach des Audi prasselten oder die Hinterräder gefährlich ausscherten. Merten stieg ebenfalls aus. Er war es wohl seinem Mannesstolz schuldig, keine Bemerkung zu machen, aber sie sah ihm an, wie erleichtert er war, dass sie ihr Ziel wohlbehalten erreicht hatten.

„Sehen wir einmal nach, ob es hier eine Klingel gibt“, sagte er.

„Klingel? Du machst Witze. Einen bronzenen Klopfer mit dumpf widerhallendem – oh, die haben gesehen, dass wir kommen.“ Wo die Zufahrt an einem gewaltigen hölzernen Tor endete, hatte sich nämlich eine Luke geöffnet, ein Lichtstrahl fiel heraus, und gleich darauf wurde eine Pforte in dem hölzernen Bollwerk geöffnet. Die Angeln kreischten. Jenny kam der Gedanke, dass jetzt eigentlich eine finstere, missgestaltete Kreatur aus der Pforte kriechen und sie argwöhnisch anschielen müsste, während eine knochige Hand die flackernde Laterne hielt. Aber erstens flackerte die Laterne nicht, weil es eine batterie-betriebene elektrische Lampe war, und zweitens fiel ihr Schein auf einen so hinreißend schönen jungen Mann, dass es Jenny den Atem verschlug.