Honor Harrington: Wie Phoenix aus der Asche - David Weber - E-Book

Honor Harrington: Wie Phoenix aus der Asche E-Book

David Weber

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Beschreibung

Honor ist gerade rechtzeitig ‘von den Toten auferstanden’, denn der Krieg zwischen Manticore und Haven spitzt sich zu. Wieder steht sie, vom Feind respektvoll ‘Salamander’ genannt, im Brennpunkt des Geschehens. Doch diesmal könnte das Pflaster selbst für einen Salamander zu heiß werden ...

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Seitenzahl: 1150

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Wie Phoenixaus der Asche

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Ashes of Victory

Copyright © 2000 by David M. Weber

Für die deutschsprachige Ausgabe

Copyright © 2002/2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Published by arrangement with

BAEN PUBLISHING ENTERPRISE

This book was negotiated through Literary Agency

Thomas Schlück GmbH; 30827 Garbsen

Lektorat: Ruggero Leò / Stefan Bauer

Titelillustration: David Mattingly / Agentur Schlück

Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-0965-9

Sie finden uns im Internet unterwww.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

1

Admiral Lady Dame Honor Harrington stellte sich dem stummen emotionalen Wirbelsturm auf der Hangargalerie von ENS Farnese und kämpfte gegen ein starkes Schwindelgefühl an.

Durch das Armoplastfenster im Galerieschott blickte sie in den strahlend hell erleuchteten, makellosen Hangar und versuchte, dessen ungerührte Sterilität als geistigen Schild gegen den Gefühlsorkan zu wenden, ohne dass ihr dieser Kniff sonderlich viel nutzte. Wie tröstlich: Sie brauchte sich dem Gefühlschaos wenigstens nicht allein zu stellen; als sich der Baumkater im Traggestell auf ihrem Rücken rührte, verzog sie unwillkürlich die bewegliche Hälfte ihres Mundes zu einem schiefen Grinsen. Nimitz hatte die Ohren halb an den Kopf gelegt, denn auf ihn drangen die gleichen emotionalen Böen ein. Wie alle Angehörigen seiner empathisch begabten Spezies war er für die Gefühle anderer Wesen jedoch weit empfänglicher als Honor, und er wusste scheinbar nicht so recht, ob er der schieren Intensität des Augenblicks panikartig entfliehen oder das euphorische Hochgefühl genießen sollte, das ihm durch den Endorphin-Überschuss seiner Umgebung erwuchs.

Honor sagte sich, dass sie und ihr ’Kater Situationen wie diese immerhin gewöhnt seien. Schon über drei Standardwochen lag der umwerfende Moment zurück, in dem ihre Leute begriffen hatten, dass ihre zusammengeschusterte und improvisierte Kampfgruppe – von ihnen selbst halb-spöttisch ›Elysäische Navy‹ genannt – tatsächlich einen kompletten havenitischen Kampfverband vernichten und genügend Schiffsraum kapern konnte, um jeden Häftling in die Freiheit zu transportieren, der den Gefängnisplaneten Hades verlassen wollte. Damals hatte Honor geglaubt, nichts könne dem Triumphsturm gleichkommen, der in diesem Augenblick des Begreifens durch ihr ehemals havenitisches Flaggschiff donnerte – nur für sie und Nimitz hörbar. Doch in mancher Hinsicht erschien ihr das Frohlocken, das nun auf sie einströmte, noch stärker. Während der Reise von der Gefängniswelt, welche die Volksrepublik Haven für die ausbruchsicherste Strafanstalt aller Zeiten gehalten hatte, war die Vorfreude der ehemaligen Gefangenen auf ein Leben in Freiheit zu einem regelrechten Siegestaumel angewachsen. Einige Entkommene, wie etwa Captain Harriet Benson, die Kommandantin von ENS Kutuzov, hatten seit über sechzig T-Jahren nicht mehr die Luft eines freien Planeten geatmet. Diesen Menschen blieb kein Rückweg in das Leben, aus dem sie gerissen worden waren, doch brannte in ihnen heiß das Bedürfnis, ein neues zu beginnen. In ihrer Ungeduld waren sie nicht allein. Kriegsgefangene, die nur wenig Zeit im Gewahrsam des havenitischen Amts für Systemsicherheit verbracht hatten, wollten ihre Lieben wiedersehen; und im Gegensatz zu den ehemaligen Häftlingen, die Jahrzehnte auf dem Planeten verbracht hatten, den alle Hell, Hölle, nannten, konnten sie das Leben wieder aufnehmen, mit dessen Ende sie sich bereits abgefunden hatten.

Diesem Verlangen nach einem Neubeginn stand ein ebenso starkes Gefühl im Wege, das man mit gewissem Recht Bedauern nennen durfte: das Bewusstsein, an einer Geschichte teilgenommen zu haben, die andere immer wieder erzählen und ausschmücken würden, bis sie größer geworden war als die Wirklichkeit – und die bittere Erkenntnis, dass alle Geschichten einmal enden.

Honors Leute waren sich bewusst, dass sie einen unbezwingbar anmutenden Widerstand überwunden hatten und nun deshalb diesen Augenblick erleben durften: in diesem Sonnensystem auf dieser Hangargalerie zu stehen. Angesichts dieser Leistung konnten alle Ausschmückungen nur unnötig erscheinen, welche die Geschichte – gewiss von allein – im Laufe der Jahre erführe. Sie wären nichts als oberflächlicher, belangloser Zierrat.

Hier aber lag das Bedauern begründet: Sobald Honors Leute die Farnese verließen, ließen sie auch die Gefährten zurück, mit denen sie diese wahre Geschichte geschaffen hatten. Unausgesprochen wussten sie alle, dass es Menschen nicht vergönnt ist, Augenblicke wie diese zu bewahren – solche Momente berühren sich mit dem Leben nur flüchtig. Nie würden sie vergessen, was sie erlitten und was sie unternommen hatten, aber ihnen gehörte nur die Erinnerung, die Wirklichkeit entzog sich ihrem Besitz. Und je mehr die beklemmende Furcht und das Entsetzen nachließ, die sie in ihrem Herzen auch nach der Flucht noch immer empfanden, desto kostbarer und unerreichbarer würde ihnen die Wirklichkeit sein.

Die Gefühle, die Honor umbrandeten, erfuhren erst durch diesen Zwiespalt ihre wahre Stärke – und diese Stärke konzentrierte sich auf Honor, die Anführerin, das Symbol des Triumphs und Verlustes zugleich.

Ihr war es entsetzlich peinlich, vor allem, weil ihre Leute nicht ahnten, dass Honor deren Gefühle spürte. Sie kam sich vor, als würde sie bei Menschen, die ihr vertrauten, draußen unter dem offenen Schlafzimmerfenster hocken und geflüsterte Gespräche belauschen, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Dass sie keine Wahl hatte – dass sie die Gefühle der Menschen in ihrer Nähe nicht mehr auszusperren vermochte –, flößte ihr nur ein umso grimmigeres Schuldgefühl ein.

Am meisten aber bedrückte Honor, dass sie ihren Leuten niemals vergelten könnte, was sie ihr gegeben hatten. Die ›Elysäer‹ glaubten zwar, Honor habe das meiste geleistet, doch da irrten sie sich. Die Flucht war allein deshalb gelungen, weil ihre Leute nicht nur alles getan hatten, was Honor von ihnen verlangte, sondern sogar mehr. Die Elysäer stammten aus den Streitkräften Dutzender Sternennationen und hatten ihren Peinigern die schwerste Niederlage zugefügt, die diese bisher hinnehmen mussten: Sie hatte sich vereinigt und erhoben, obwohl die Haveniten glaubten, sie bereits auf die Mülldeponie der Geschichte verfrachtet zu haben. Die Niederlage Havens bedeutete nicht etwa solch einen schweren Schlag, weil Millionen Tonnen von Schiffsraum vernichtet worden waren, und die Aufständischen hatten auch kein einziges Sonnensystem erobert – nein, die Niederlage hatte etwas erschüttert, das man in der Volksrepublik von jeher für unantastbar gehalten hatte. Die Erhebung auf Hell hatte dem wichtigsten Terrorinstrument im Arsenal der Unterdrückung den Garaus gemacht: dem Mythos von der Allmacht des Amts für Systemsicherheit.

Getan aber hatten die Elysäer es für Honor. Als sie versuchte, ihnen nur einen winzigen Bruchteil ihrer Dankbarkeit zu zeigen, war sie gescheitert. Anderen Menschen fehlte der zusätzliche, empathische Sinn, den Honor entwickelt hatte: die Fähigkeit, gefühlsmäßig zu erkennen, was mit dem behäbigen Verständigungsmittel der menschlichen Sprache kaum auszudrücken war. So sehr Honor sich bemüht hatte, sie konnte nicht einmal eine Kerbe in die Ergebenheit schlagen, die diese Menschen für sie empfanden.

Wenn, ja wenn …

Ein klares, melodisches Glockensignal – nicht laut, aber eindringlich – unterbrach ihre Gedanken. Die erste Pinasse steuerte den Hangar an, und Honor atmete tief durch. Dem führenden Raumfahrzeug folgten weitere Beiboote, darunter Dutzende Pinassen der drei Schlachtgeschwader, von denen die Farnese abgefangen worden war, und über ein Dutzend Schwerlast-Personenshuttles vom Planeten San Martin. Hinter der Führungspinasse bildeten sie eine Warteschlange und hielten Position, bis sie an die Reihe kamen. Als Honor klar wurde, was die Ankunft der Personenshuttles bedeutete, verbarg sie auf der Stelle ihre Erleichterung. Sie und Warner Caslet, der Erste Offizier der Farnese, hatten den Schlachtkreuzer wie die anderen Schiffe der Elysäischen Navy bis zum Bersten voll stopfen müssen, um alle Flüchtigen unterzubringen. Da bei den Lebenserhaltungssystemen von Kampfschiffen grundsätzlich gewaltige Sicherheitsreserven eingeplant wurden, hatten sie die Überlast (gerade eben) verkraftet, doch war der Platz in den Schiffen äußerst knapp gewesen. Nachdem die Lebenserhaltungssysteme so viele Tage lang derart übermäßig beansprucht worden waren, mussten sie unbedingt gewartet werden. Die Personenfähren, die nun vor dem Hangar ausharrten, waren nur die erste Welle der Beiboote, die Honors Leute aus der sardinenbüchsenhaften Enge des Schlachtkreuzers befreien und nach San Martin bringen sollten. Durch seine hohe Schwerkraft eignete sich der gebirgige Planet nicht gerade als Erholungsort, aber wenigstens gab es dort sehr viel Platz. Nach vierundzwanzig T-Tagen in den überfüllten Mannschaftsräumen der Farnese ließ es jeden ziemlich kalt, ob er oder sie plötzlich doppelt so viel wog wie sonst – Hauptsache, man durfte dafür den unfassbaren Luxus genießen, sich behaglich ausstrecken zu können, ohne dabei jemand anderem mit dem Daumen ein Auge auszustechen.

Honor spürte, wie sehr sich ihre Leute das Ende der Beengung herbeisehnten, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Führungspinasse. Sie wusste, welcher Offizier in dem Beiboot saß. Mehr als zwei T-Jahre waren vergangen, seit sie ihm begegnet war, und sie hatte geglaubt, die zwiespältigen Gefühle, die sie für ihn empfand, mittlerweile überwunden zu haben. Nun aber musste sie erkennen, dass sie sich getäuscht hatte, denn mit weit verworreneren und aufgewühlteren Gefühlen als alle Flüchtigen ringsum sah sie dem Moment entgegen, in dem sie ihn begrüßen müsste.

Der Admiral der Grünen Flagge Hamish Alexander, Earl von White Haven und Kommandeur der Achten Flotte, konzentrierte sich ganz darauf, eine völlig reglose Miene zu bewahren, während die Pinasse das Rendezvous mit dem Schlachtkreuzer ausführte, dem sein Flaggschiff, GNS Benjamin the Great, entgegengekommen war. Dieser Schlachtkreuzer, ENS Farnese, war ein Schiff der havenitischen Warlord-Klasse. Was zum Teufel soll das sein, ein ›ENS‹?, überlegte White Haven. Hätte ich doch gleich danach gefragt.

Der Schlachtkreuzer schwebte weit systemauswärts vor den stecknadelspitzengroßen Sternen, wo keines Menschen Auge ihn zufällig erblicken und seine havenitische Herkunft entdecken konnte. Noch ist es nicht so weit, dachte White Haven, während er durch das Sichtfenster das Schiff betrachtete, das sich jeder logischen Überlegung zufolge dort nicht hätte befinden dürfen. Noch können wir nicht bekannt geben, dass eine ENS Farnese existiert.

Die Farnese zeigte die typische grazile Arroganz eines Schlachtkreuzers, obwohl sie sogar noch größer war als ein Schiff der manticoranischen Reliant-Klasse. Verglichen mit White Havens Flaggschiff, einem Superdreadnought, erschien sie natürlich winzig, aber objektiv war sie ein großes und sehr kampfstarkes Schiff. Der Admiral kannte die Warlords; er hatte die Analysen des ONI und die Bewertungen dieser Schlachtkreuzer-Klasse gelesen. Er war auch Zeuge gewesen, wie Schiffe unter seinem Befehl Warlords vernichtet hatten. Zum ersten Mal aber näherte er sich einem solchen Schiff dicht genug, um es mit bloßen Augen sehen zu können. Nie im Leben hätte White Haven erwartet, einen Warlord aus der Nähe zu erblicken, es sei denn in der fernen Zukunft, wenn in diesem Teil der Milchstraße wieder Frieden herrschte.

Und das wird so bald nicht der Fall sein, sagte er sich grimmig hinter der Bastion seines ungerührten Gesichts. Wenn ich mir dahingehend irgendwelche träumerischen Illusionen gemacht hätte, dann sollte mich allein der Anblick dieser Farnese schleunigst davon kuriert haben.

Er biss die Zähne zusammen, während der Pilot befehlsgemäß der Steuerbordseite des Schlachtkreuzers folgte. Eingehend musterte White Haven die Gefechtsschäden der Farnese. Die schwere, mehrschichtige Panzerung hatte sich tatsächlich gewellt. Die oberen Lagen aus projektilbremsendem Panzermaterial wirkten verschlackt und zerflossen; die dazwischen liegenden ablativen Schichten, die unter Hitze verdampften und dadurch die Energie forttrugen und zerstreuten, hatten Blasen geworfen und waren teilweise verkohlt; ausgeweidet waren die Sensoren und Lasercluster der Nahbereichsabwehr, die einst die Flanke des Schlachtkreuzers bedeckt hatten. Es hätte White Haven überrascht, wenn auch nur die halbe Breitseitenbewaffnung noch gefechtsklar gewesen wäre; keinesfalls konnten die Steuerbord-Seitenschildgeneratoren noch wirksam vor feindlichem Beschuss schützen.

Das sieht ihr ähnlich, dachte er missgestimmt, fast ärgerlich. Warum in Gottes Namen kann diese Frau kein einziges Schiff intakt zurückbringen? Was zum Teufel treibt sie …?

Er brach den Gedanken ab und verzog widerwillig belustigt den Mund. Ein solcher Gedanke steht einem Offizier meines Rangs in einem Augenblick wie diesem nicht an, ermahnte er sich. Bis vor – er warf einen Blick auf das Chronometer – sieben Stunden und dreiundzwanzig Minuten hatte er wie die gesamte Manticoranische Allianz Honor Harrington für tot gehalten. Er kannte den garstigen HoloDrama-Bericht über ihre Hinrichtung; noch jetzt schauderte ihm, wenn er an den schrecklichen Augenblick dachte, in dem sich die Falltür des Schafotts öffnete und sie …

Er verdrängte das Bild und schloss die Augen. Seine Nasenflügel bebten, als er sich ein anderes Bild in Erinnerung rief, ein Bild, das er weniger als acht Stunden zuvor auf seinem Comdisplay erblickt hatte: ein starkes, grazil gemeißeltes, halbseitig gelähmtes Gesicht, das von einem kurzen Schopf halb zerzauster Locken eingerahmt wurde. Ein Gesicht, von dem er bis dahin geglaubt hatte, es niemals wiederzusehen.

White Haven blinzelte und atmete nicht zum ersten Mal tief durch. Myriaden Fragen schossen ihm durch den Kopf, sämtlich aufgeworfen durch die bloße Möglichkeit, Honor Harrington könne doch überlebt haben. Ganz gewiss war er damit nicht allein. Wenn es sich erst herumsprach, stürzte sich jeder einzelne Journalist in der Allianz - und ohne Zweifel die Hälfte aller solarischen Reporter, dachte er – auf Honor und jeden, der sie begleitet hatte. Jedes Versteck würden sie ausfindig und unsicher machen. In ihren Anstrengungen, noch die allerkleinste Einzelheit der unglaublichen Geschichte zu erfahren, würden sie ihre Opfer bitten, anflehen, bedrängen, bestechen und möglicherweise sogar zu Drohungen Zuflucht nehmen. Obwohl die Fragen, die diese Reporter stellen würden, auch White Haven keine Ruhe ließen, verblassten sie vor der Tatsache, dass Honor Harrington überlebt hatte.

Harrington gehörte zu den besten Raumoffizieren ihrer Zeit. Nun war das unschätzbare militärische Potenzial, das sie darstellte, der Allianz sozusagen aus dem Reich der Toten wiedergegeben worden. White Haven musste jedoch gestehen, wenn auch nur sich selbst, dass er ihrer Wiederkehr nicht nur aus militärischen Gründen solche Bedeutung zumaß.

Seine Pinasse folgte einer bogenförmigen Bahn unter der gewölbten Flanke der Farnese und steuerte den Hangar an. Hamish Alexander spürte einen sanften Stoß, als die Traktorstrahler das kleine Beiboot ergriffen, und riss sich zusammen. Er hatte bereits einmal einen Kardinalfehler begangen und versehentlich – irgendwie – bekundet, dass er in der Frau, die über zehn Jahre lang sein Protegé gewesen war, plötzlich mehr sah als eine brillante Untergebene und ein wertvolles Instrument für die Royal Manticoran Navy. Noch immer konnte er sich nicht erklären, wie er sich damals verraten hatte, er wusste nur, dass es geschehen war. Er hatte gespürt, welche Gezwungenheit plötzlich zwischen ihnen herrschte, und nie hatte er vergessen können, dass Honor Harrington früher als nötig in den aktiven Flottendienst zurückgekehrt war, um eben dieser Gezwungenheit zu entgehen. Zwei Jahre lang musste White Haven mit dem Wissen leben, dass sie nur aufgrund ihrer vorzeitigen Rückkehr den Einsatz zugeteilt bekam, bei dem sie in einen havenitischen Hinterhalt geriet und gefangen genommen wurde – sodass die Haveniten an ihr ein Exempel statuieren konnten.

Wie Säure nagte dieses Wissen an ihm, und immer wieder bestrafte er sich, indem er den HD-Bericht von Honor Harringtons Hinrichtung ansah. Durch einen eigenartigen Mechanismus hatte ihr Tod es ihm erspart, sich mit den Gefühlen auseinander zu setzen, die er ihr entgegenbrachte – und dieses Versäumnis wog nun umso schlimmer, da er wusste, dass sie nicht tot war. Wieso musste er sich auch ausgerechnet in eine Frau verlieben, die halb so alt war wie er und nie auch nur das leiseste romantische Interesse an ihm gezeigt hatte! Er war mit einer anderen Frau verheiratet, die er tief und leidenschaftlich liebte, obwohl ihre Verletzungen sie seit fast fünfzig T-Jahren an einen Lebenserhaltungssessel fesselten. Kein Mann von Ehre hätte es so weit kommen lassen, er jedoch schon, und er war sich selbst gegenüber zu aufrichtig, als dass er sein Fehlverhalten verleugnet hätte, nachdem es ihm erst zur Gänze bewusst geworden war.

Oder gefalle ich mir nur zu sehr in der Rolle des ach so Sebstkritischen, als dass ich mir etwas vormachen würde?, überlegte er sarkastisch, während die Traktorstrahler seine Pinasse aus der tiefen Schwärze des Alls in die hell erleuchtete Hangaröffnung zogen. Natürlich musste ich erst warten, bis sie tot war, bevor ich diesen plötzlichen Ausbruch von Aufrichtigkeit mir selbst gegenüber wecken konnte. Wenigstens bin ich am Ende so weit gekommen … ach, verdammt noch mal!

Mit Hilfe ihrer Schubdüsen und Kreisel rollte die Pinasse und setzte sich auf die Pralldämpfer. White Haven gab sich im Stillen ein Versprechen. Was für ein Mann er auch sein mochte, Honor Harrington war jedenfalls eine Frau von Ehre. Seiner eigenen Gefühle konnte er sich vielleicht nicht erwehren, aber er konnte sehr wohl verhindern, dass sie jemals etwas von ihnen bemerkte, und das nahm er sich fest vor. So viel konnte er noch immer tun.

Die Pinasse kam zur Ruhe, Dockarme schlossen sich, Nabelschnüre schlängelten sich herbei. Hamish Alexander stand von seinem gepolsterten Sitz auf. Lächelnd blickte er die Reflexion auf dem Armoplast des Sichtfensters an und musterte dabei sein Gesicht. Erstaunlich, wie natürlich ich aussehe, dachte er und nickte seinem Spiegelbild zu. Dann straffte er die Schultern und wandte sich zur Luke.

Über der Personenröhre zeigte ein grünes Licht dichten Verschluss und Luftdruck an. Honor legte die Hand auf den Rücken, als die galeriewärtige Luke zur Seite glitt. Noch immer erstaunte es sie, wie unbeholfen sie sich mit nur einer Hand vorkam. Sie schüttelte den Gedanken ab und nickte Major Chezno zu, dem Befehlshaber des Marineinfanteriedetachments der Farnese. Chezno erwiderte das Nicken, machte auf dem Absatz kehrt und wandte sich der Ehrenwache zu, die hinter den angetretenen Navyleuten stand.

»Ehrenwache,Aach-tunk!«, bellte er, und Hände klatschten auf die Kolben von ehemals havenitischen Pulsergewehren. Parademäßig nahmen die ehemaligen Gefangenen Haltung an. Honor beobachtete sie mit gewissem Besitzerstolz und war nicht einmal versucht zu lächeln. Gewiss, mancher hätte es absurd gefunden, dass Männer und Frauen, die so eng in ihr Schiff gepackt worden waren wie eiserne Rationen in die Büchsen, ihre Zeit mit Exerzieren verschwendeten; noch absurder erschien es, dass sie dabei auch noch so etwas wie Perfektion anstrebten – zumal sie wussten, dass ihre Einheit aufgelöst wurde, sobald sie ihr Ziel erreicht hätte. Die Besatzung der Farnese hingegen hielt es keineswegs für absurd – und Honor Harrington ebenfalls nicht.

Wahrscheinlich bekunden wir auf diese Weise, wer und was wir sind. Wir sind keine gewöhnlichen Kriegsgefangenen oder politischen Häftlinge, die sich zum Trost wie die Schafe aneinander drängen, während sie vor den Wölfen fliehen. Hier sind wir die ›Wölfe‹, und bei Gott, wir wollen, dass jeder es weiß! Honor schnaubte amüsiert. Nicht, dass sie sich über die Marines und ihren Drill belustigt hätte, nein, sie amüsierte sich über sich selbst. Honor schüttelte den Kopf. Was diese Leute angeht, machen wir uns wahrscheinlich doch ein wenig zu sehr der Hybris schuldig.

Kaum schwebte der erste Pinassenpassagier durch die Röhre, als die Navyleute ebenfalls Haltung annahmen. Honor atmete noch einmal tief durch und wappnete sich für das Kommende. In der Royal Manticoran Navy war es Tradition, dass der ranghöchste Offizier als letzter Passagier an Bord eines Beiboots ging und es als Erster wieder verließ. Schon lange bevor der hoch gewachsene, breitschultrige Mann im makellosen Schwarz und Gold eines RMN-Admirals die Haltestange ergriff und sich aus der Schwerelosigkeit der Röhre ins künstliche Gravitationsfeld des Schiffes schwang, wusste sie, wer vor sie treten würde.

Bootsmannspfeifen schrillten – die altmodische, mit Lungenkraft betriebene Variante, eine Konzession an die Traditionalisten innerhalb der Elysäischen Navy –, und der Admiral nahm Haltung an. Er salutierte vor dem Ersten Offizier der Farnese, der die Seite kommandierte. Trotz seiner sechzigjährigen Erfahrung im Flottendienst zeigte sich der Admiral erstaunt, und Honor konnte es ihm nicht verdenken. Sie spürte, dass ein breites – wenngleich halbseitiges – Grinsen durch die Fassade der Disziplin auf ihrem Gesicht zu brechen drohte. Während der Comgespräche mit den Verteidigungskräften von Trevors Stern, in denen sie die Vertrauenswürdigkeit ihres Schiffes beweisen musste, hatte sie es mit Absicht unterlassen, die Identität ihres I.O.s preiszugeben. Der Earl von White Haven verdiente durchaus die eine oder andere Überraschung, und er hätte wohl als Letztes erwartet, an Bord dieses Schiffes von einer Seitenmannschaft begrüßt zu werden, die ein Mann in der Paradeuniform der Volksflotte von Haven kommandierte.

Der Befehlshaber der Seitenmannschaft erwiderte die Ehrenbezeugung des Admirals, und Hamish Alexander bemühte sich um Fassung. Ein Havie? Hier? Trotz aller Anstrengung zeigte sich sein Erstaunen, aber White Haven glaubte kaum, dass irgendjemand es ihm übel nahm. Nicht unter diesen Umständen.

Er ließ den Blick über das kunterbunte Durcheinander hinter dem Haveniten schweifen, während die Bootsmannspfeifen weiter schrillten. Erneut überkam ihn Erstaunen. Dieses visuelle Chaos gehorchte keiner durchdachten Farbkomposition, und einen kurzen Moment lang wusste er nicht einzuordnen, was er dort eigentlich sah. Im nächsten Augenblick aber begriff er und empfand Anerkennung. Woran auch immer es den Gefangenen auf Hades gemangelt hatte, auf dem Planeten gab es offensichtlich Gewebeextruder und Nähautomaten, und unter den Gefangenen war jemand, der sie zu bedienen wusste. Die Leute auf der Galerie trugen die Uniformen derjenigen Streitkräfte, in denen sie gedient hatten, bevor die Volksrepublik sie auf dem ›ausbruchsicheren‹ Gefängnisplaneten abgesetzt hatte, und wenn die kunterbunte Zusammenstellung von Farben, Litzen und Kopfbedeckungen auch verwirrender war, als es dem auf Sauberkeit und Ordnung bedachten militärischen Verstand zusagte – wen scherte es? Viele der Raum- und Bodenstreitkräfte, zu denen diese Uniformen gehörten, existierten seit mehr als einem halben T-Jahrhundert nicht mehr. Sie waren von dem Moloch Volksrepublik Haven unterworfen worden; oft hatten sie mit Zähnen und Klauen bis zum Ende gekämpft, doch unweigerlich bestand dieses Ende in einer bitteren Niederlage – aber wiederum: Wen scherte es? Diese Menschen hatten sich das Recht erworben, ihre Uniformen zu neuem Leben zu erwecken, und Hamish Alexander ereilte der deutliche Verdacht, dass es recht … unklug gewesen wäre, ihre Garderobe zu kritisieren.

Endlich verstummten die Pfeifen, und White Haven ließ die Hand vom Rand seines Baretts herabsinken.

»Bitte um Erlaubnis, an Bord zu kommen, Sir«, sagte er förmlich.

Der Havenit nickte. »Erlaubnis erteilt, Admiral White Haven«, antwortete er und trat mit einer höflich-einladenden Geste zurück.

»Vielen Dank, Commander.« White Haven stand seinem Gegenüber an Höflichkeit in nichts nach, und ein Zuschauer, der nicht bemerkte, wie geistesabwesend seine Freundlichkeit war, hätte ihm gewiss kein Versäumnis nachgetragen.

Andererseits konnte niemand ahnen, welche Gefühle hinter White Havens kühlen, eisblauen Augen loderten, als er den Blick von dem Haveniten abwandte und die große, einarmige Frau ansah, die gleich hinter der Seitenmannschaft wartete.

Sie hafteten an ihr, diese Augen, doch auch hier gab es nichts zu verargen. Zweifellos war auch Lazarus von den Menschen angestarrt worden.

Sie wirkt, als hätte sie die Hölle hinter sich – und sie sieht wunderbar aus, dachte er und bemerkte, dass sie die blaue Uniform der Grayson Space Navy trug, und nicht die weltraumschwarz-goldene der RMN. Dass er sich darüber freute, hatte nur einen Grund, der überdies ausschließlich persönlicher Natur war. In der Navy von Grayson hatte Honor Harrington einen höheren Rang inne als er in der RMN. Sie war zweithöchster Offizier dieser explosionsartig wachsenden Raumstreitkraft, und diese Tatsache erleichterte White Haven sehr, denn somit konnte er die überragende Autorität beiseite lassen, die ein manticoranischer Admiral gegenüber einem Commodore besaß. Die Uniform stand ihr gut, wie er fand, und er gab ihrem unbekannten Schneider eine gute Note.

So gut sie aussah, er konnte den Blick nicht von dem leeren linken Ärmel ihrer Uniform lösen oder von ihrer gelähmten linken Gesichtshälfte. Auch ihr künstliches Auge war völlig leblos. Neue Wut stieg mit der Hitze flüssiger Lava in ihm auf. Die Havies mochten sie nicht hingerichtet haben … aber anscheinend hatte nicht viel gefehlt.

Mal wieder.

Sie muss damit aufhören, dachte er, und seine innere Stimme klang geradezu beiläufig. Bei allem gibt es eine Grenze – man kann nicht ewig auf der Schneide einer Rasierklinge tanzen und heil davonkommen.

Nicht dass Honor Harrington ihm zuhören würde, wenn er sie darauf anspräche. Bei vertauschten Rollen hätte White Haven sie genauso wenig beachtet. Doch musste der Earl zugeben, dass es nicht das Gleiche war. In einer fast ununterbrochenen Reihe von Siegen hatte er Geschwader, Kampfverbände und Flotten ins Gefecht geführt. Er hatte Schiffe explodieren sehen und gespürt, wie sein Flaggschiff erbebte und sich schüttelte, wenn feindlicher Beschuss durch die eigenen Abwehrsysteme brach. Wenigstens zweimal war er dem Tod nur knapp entkommen. Trotzdem war er während der ganzen Zeit niemals im Gefecht verwundet worden, und kein einziges Mal hatte er einem Feind Auge in Auge gegenübergestanden. Er war in keine Handgemenge verstrickt worden, sondern hatte über Lichtsekundenentfernungen hinweg gekämpft, mit kohärenten Licht-, Röntgen- und Gammastrahlen und mit Nuklearsprengköpfen. Nach allem, was er wusste, achteten seine Untergebenen ihn, machten ihn aber zu keiner Heldengestalt.

Nicht wie die Menschen aus Honor Harrington eine Heroine machten, ein Idol. Einmal hatten die Reporter doch etwas Richtiges gesagt: Sie hatten Honor Harrington den ›Salamander‹ getauft, weil sie immer dort war, wo das Feuer am heißesten brannte. Für jemanden, der wie sie noch relativ jung war, hatte sie White Havens Art von Gefecht schon allzu oft geführt. Sie besaß jene Ausstrahlung, jene persönliche Zauberkraft, die Crews dazu bringt, ohne mit der Wimper zu zucken neben ihr in den Feuerofen zu marschieren. Im Gegensatz zu White Haven hatte sie jedoch schon Menschen, die sie zu töten versuchten, so nah gegenübergestanden, dass sie ihnen in die Augen sehen und ihren Schweiß riechen konnte. Gott allein wusste, wie sie ihren Arm verloren hatte. Gewiss würde White Haven es bald erfahren, und genauso gewiss würde er sich daraufhin noch häufiger um sie sorgen und sich fragen, ob sie sich in nächster Zukunft wieder in solch unmittelbare Todesgefahr bringen wollte. Und das war unvernünftig von ihm. Schließlich ging sie nicht hin und suchte nach Gelegenheiten, sich umbringen zu lassen, auch wenn es einem Zuschauer manchmal so erscheinen musste. Es war nur …

White Haven begriff, dass er einen Augenblick zu lang vor ihr gestanden hatte wie eine Salzsäule. Er spürte die Neugierde der zahllosen Leute, die ihn beobachteten. Er zwang sich zu lächeln. Eins durfte er keinesfalls zulassen: dass irgendjemand erriet, was ihm durch den Kopf gegangen war. Er streckte Honor Harrington die Hand hin.

»Willkommen daheim, Lady Harrington«, sagte er, und sie schloss ihre langen, schlanken Finger um seine Rechte – mit der bedachtsam gebändigten Kraft, die typisch war für Menschen, welche auf einer Welt mit hoher Schwerkraft geboren worden waren.

»Willkommen daheim, Lady Harrington.«

Die Worte hörte Honor wohl, doch schienen sie zu leise zu sein und aus weiter Entfernung zu kommen – wie vom anderen Ende einer schlechten Comverbindung. Sie ergriff die Hand, die White Haven ihr entgegenstreckte. Seine tiefe, sonore Stimme klang genauso, wie Honor sie in Erinnerung hatte. Sie erinnerte sich sogar genauer an sie, als ihr lieb war –, und doch erschien ihr die Stimme so neu, als hätte sie ihn noch nie zuvor sprechen hören. Honor vernahm den Admiral auf mehreren Ebenen zugleich. Schon seit geraumer Zeit vermutete sie, dass sich ihre Empfänglichkeit für anderer Leute Emotionen weiter verstärkt hatte; nun wusste sie es definitiv. Es sei denn, überlegte sie, ich bin für White Havens Emotionen besonders empfänglich – doch fand sie diese Möglichkeit noch bestürzender als die andere. Was auch immer hier geschah, sie hörte nicht nur seine Worte und verstand nicht nur die Botschaften, die ihr seine lachenden blauen Augen verrieten. Nein, sie hörte auch, was er unausgesprochen ließ. Honor spürte, wogegen er so tapfer ankämpfte und welch bewundernswerte Selbstbeherrschung er aufbrachte, um auf keinen Fall auch nur anzudeuten, was er ihr vielleicht gern gesagt hätte.

All das hätte er ihr genauso gut aus vollem Hals zubrüllen können und ahnte doch nicht im Mindesten, wie sehr er sich ihr offenbarte.

Einen flüchtigen Augenblick lang ergab sich Honor der Maßlosigkeit und ließ die Gefühle, die White Haven hinter seiner Miene verbarg, als berauschenden Wirbel auf sich einströmen. Sie konnte gar nicht anders, denn sie spürte … nein, sie schmeckte, wie sehr es ihn freute, dass sie überlebt hatte. Auf dem Fuße folgten Verwunderung, Wiedersehensfreude – und das Verlangen, sie eng in die Arme zu schließen. Nicht die Spur davon äußerte sich in seinem Gesicht oder seinem Gebaren, und doch vermochte er sie in keiner Weise vor ihr zu verbergen. In der intensiven Anspannung des Augenblicks schlugen diese Empfindungen blitzartig ihr über zu, wie die Druckwelle einer Explosion.

Dann überkam White Haven das Bewusstsein, dass keiner seiner Wünsche sich je erfüllen würde.

Das war noch schlimmer, als Honor befürchtet hatte. Der Gedanke durchbrauste sie und deprimierte sie nach dem eben erst ausgekosteten Moment des Entzückens umso mehr. Sie hatte gewusst, dass er ihr nicht aus dem Kopf und aus dem Herzen gegangen war. Nun aber begriff sie, dass er sie ebenfalls nicht vergessen hatte, es ihr gegenüber aber niemals zugäbe.

Alles hatte seinen Preis – und je größer die Gabe, desto höher fiel dieser Preis aus. Davon war Honor Harrington seit jeher überzeugt gewesen, tief in ihrem Innersten, in den Regionen, in die sich die Logik nur selten verirrt. Im Laufe der letzten beiden Jahre hatte sie erkannt, welchen Preis sie für den Bund mit Nimitz zahlen musste. Keine andere Bindung zwischen Mensch und ’Katz war je so eng gewesen und hatte einen echten Austausch von Gefühlseindrücken gestattet. Die Tiefe des Bands zu ihrem Gefährten war ihr jeden Preis wert.

Auch diesen, versicherte sie sich; auch zu wissen, dass Hamish Alexander sie liebte … und zu ahnen, was hätte sein können, wenn das Universum anders beschaffen gewesen wäre. Doch wie er ihr niemals eingestehen würde, dass er sie liebte, würde sie umgekehrt ebenso ewig schweigen. Ist es für mich nun ein Segen oder ein Fluch, dass ich im Gegensatz zu ihm stets weiß, was er verschweigt?

»Vielen Dank, Mylord«, antwortete Lady Dame Honor Harrington mit ihrer Sopranstimme, die kühl und klar war wie Quellwasser; nur das leichte Nuscheln, das sie der halbseitigen Lähmung ihres Mundes zu verdanken hatte, trübte den Eindruck ein wenig. »Es ist gut, wieder zu Hause zu sein.«

2

White Havens Pinasse legte im Gegensatz zu den anderen Beibooten, die ihr in den Hangar gefolgt waren, fast leer von der Farnese ab. Er und Honor saßen, wie es ihrem hohen Rang anstand, auf den beiden Sitzen gleich an der Luke. Diese Sitze bildeten eine Insel inmitten der Leere, die ihre Untergebenen schufen, indem sie Abstand hielten. Nur Andrew LaFollet, Honors persönlicher Waffenträger, saß direkt hinter ihnen, und Lieutenant Robards, White Havens Flaggleutnant, hatte wiederum zwei Reihen hinter dem Major Platz genommen. Warner Caslet, Carson Clinkscales, Solomon Marchant, Jasper Mayhew, Scotty Tremaine und Senior Chief Horace Harkness saßen noch weiter hinten. Auch Alistair McKeon hätte an Bord sein sollen, doch war er mit Jesus Ramirez, Honors Stellvertreter, in der Farnese geblieben und half dabei, die Elysäer zum Boden zu verschiffen. Honor wollte eigentlich an Bord bleiben und die Organisation selbst übernehmen, doch White Haven hatte höflich aber unerbittlich darauf bestanden, dass sie ihn zu vorgesetzten Stellen begleitete und dort persönlich Bericht erstattete. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als McKeon zusammen mit den übrigen Überlebenden von der Prince Adrian, die sie seit der Gefangennahme im Adler-System begleitet hatten, an Bord der Farnese zurückzulassen. Ein letztes Mal warf sie einen Blick über die Schulter auf die Hand voll Leute, die während der nächsten Reiseetappe ihre Gefährten sein würden, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Mann neben ihr.

Es fiel ihr nun leichter. Augenblicke stürmischer Leidenschaft haben – das wusste sie inzwischen – auch etwas Gutes an sich: Sie lassen sich einfach nicht ausdehnen. Je intensiver sie sind, desto schneller scheinen die Leute von ihnen zurückweichen und innerlich Atem schöpfen zu müssen – zumindest, wenn besagte Leute ihr bisheriges Leben fortsetzen wollen. Zum Glück beabsichtigte White Haven dies ebenso sehr wie Honor. Zwar verblieb zwischen ihnen eine gewisse emotionale Unterströmung, die nur Honor spürte, doch damit kam sie zurecht. Das konnte sie ertragen, wenn nicht sogar ignorieren.

Aber sicher. Ich brauche es mir bloß ständig einzureden.

»Ich glaube bestimmt, dass einige Monate ins Land ziehen, bevor wir alle Einzelheiten verstanden haben, Mylady«, sagte der Earl, und Honor verkniff sich ein ironisches Grinsen über seine Förmlichkeit. Offensichtlich beabsichtigte er in keiner Weise, sie mit dem Vornamen anzureden – und das war wohl auch sehr klug von ihm. »Weiß Gott haben wir gerade erst die Oberfläche angekratzt! Trotzdem, einige Fragen möchte ich Ihnen vorweg stellen.«

»Zum Beispiel, Mylord?«

»Vor allem eins: Was zum Teufel heißt ›ENS‹?«

»Verzeihung?« Honor sah ihn mit geneigtem Kopf an.

»Ich verstehe, weshalb die Schiffe nicht die Designation ›HMS‹ tragen, denn Sie haben sich Ihrer graysonitischen, und nicht Ihrer manticoranischen Persönlichkeit bedient«, sagte White Haven mit einem Wink auf ihre blaue Uniform. »In Anbetracht dessen hätte ich erwartet, dass Sie Ihre Schiffe als graysonitische Einheiten designieren. Das haben Sie aber nicht getan, und außer der erewhonischen Navy fällt mir keine andere Truppe ein, zu der die Designation ENS passen würde.«

»Ach so.« Honor lächelte ihn schief an und zuckte mit den Schultern. »Das war Commodore Ramirez’ Idee.«

»Sie meinen den großen San Martino?«, fragte White Haven und runzelte die Stirn. Angestrengt versuchte er, dem Namen das zugehörige Gesicht zuzuordnen, das er nur vom Combildschirm kannte.

»Den meine ich«, antwortete Honor. »Er war der ranghöchste Offizier in Camp Inferno – ohne seine Hilfe wären wir aufgeschmissen gewesen. Er dachte, wir könnten uns die Elysäische Navy nennen, weil wir einem Planeten entkommen sind, der offiziell den Namen Hades trägt. Und so nannten wir uns dann auch.«

»Ich verstehe.« White Haven rieb sich das Kinn und grinste sie an. »Aber Sie sind sich hoffentlich bewusst, dass Sie damit eine juristisch reichlich verzwickte Situation geschaffen haben?«

»Verzeihung?«, wiederholte Honor in ganz anderem Ton. Angesichts ihrer offenkundigen Verwirrung lachte er auf.

»Nun, sie haben als Grayson agiert, Mylady – und Sie sind Gutsherrin. Wenn ich mich richtig erinnere, enthält die graysonitische Verfassung einige recht interessante Passagen, was bewaffnete Streitkräfte angeht, die dem Befehl eines Gutsherrn unterstehen.«

»Wir …« Honor verstummte und starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen; im nächsten Moment hörte sie, wie der Waffenträger hinter ihr scharf und vernehmlich Luft holte.

»Gewiss sind Sie besser informiert als ich«, sagte White Haven in die plötzliche Stille, »doch soweit ich weiß, sind einem Gutsherrn ausdrücklich maximal fünfzig Waffen tragende Gefolgsleute wie der Major gestattet.« Über die Schulter hinweg bedachte er LaFollet mit einem höflichen Nicken.

»Da haben Sie Recht, Mylord«, stimmte Honor ihm nach kurzem Nachdenken zu. Sie trug nun schon so lange den Titel der Gutsherrin von Harrington, dass es ihr nicht mehr widernatürlich erschien, zu einer Feudalmagnatin geworden zu sein. Nicht eine Sekunde lang hatte sie an die möglichen verfassungsrechtlichen Konsequenzen ihres Tuns auf Hell gedacht.

Sie hätte jedoch von selbst auf den Gedanken kommen müssen, denn in diesem Punkt war die Verfassung erbarmungslos. Jeder Waffenträger im Dienste des Guts von Harrington gehorchte Honor auf die eine oder andere Weise, die meisten aber nur indirekt über die Verwaltungsmaschinerie der Gutspolizei. Nur fünfzig Waffenträger waren ihre persönlichen Gefolgsleute und hatten einen Eid auf sie abgelegt, nicht auf das Gut. Jeder Befehl, den sie einem dieser fünfzig Männer erteilte, besaß Gesetzeskraft, solange er nicht gegen die Verfassung verstieß, und wenn doch, so beschützte die Tatsache, dass sie ihn erteilt hatte, den Befehlsempfänger vor allen rechtlichen Folgen. Dafür konnte nur sie selbst zur Verantwortung gezogen werden, die Waffenträger nicht; aber diese fünfzig Mann bildeten die einzige persönliche Streitmacht, die der Gutsherrin von Harrington gestattet war.

Gutsherren konnten innerhalb der Befehlskette von Heer oder Navy militärische Einheiten kommandieren, doch die Verfassung verlangte, dass diese Einheiten unbedingt den regulären Streitkräften angehören mussten und dass die Befehlsübernahme vom Herrscher des Planeten zu genehmigen war. Und Protector Benjamin IX. hatte sich mit keinem Wort zu einer irregulären Einheit geäußert, die ›Elysäische Navy‹ genannt wurde.

Honor drehte sich zu LaFollet um, und der Waffenträger erwiderte ihren Blick. Sein Gesicht war ruhig, nur in seinen grauen Augen regte sich Sorge. Honor zog die Braue hoch.

»Bin ich mir denn schlimm aufs Schwert getreten, Andrew?«, fragte sie ihn. Widerwillig lächelte er, denn das Wort ›Schwert‹ besaß für jeden Grayson eine sehr gewichtige Nebenbedeutung. Dann wurde er schlagartig wieder ernst.

»Ich weiß es nicht genau, Mylady. Ich nehme an, ich hätte Sie eher darauf ansprechen sollen, aber leider bin ich nie auf den Gedanken gekommen. Die Verfassung ist in dieser Hinsicht recht schonungslos, und ich glaube mich zu erinnern, dass zumindest ein Gutsherr hingerichtet wurde, weil er gegen das Verbot verstoßen hatte. Das liegt zwar dreihundert Jahre oder länger zurück, aber …«

Er hob die Schultern, und Honor musste lachen.

»Kein guter Präzedenzfall, ganz gleich, wie lange es her ist«, murmelte sie und wandte sich wieder White Haven zu. »Ich hätte die Schiffe wohl doch lieber zu Einheiten in der Navy von Grayson machen sollen, Mylord.«

»Der GSN oder der RMN«, pflichtete er ihr verständnisvoll bei. »In beiden Navys besitzen Sie regulär einen Rang, deshalb wären Sie in beiden Fällen von der Befehlskette gedeckt gewesen. Wie die Dinge nun stehen, müssen wir eine Reihe von Stolpersteinen überwinden. Nathan und ich« – er wies mit einem Nicken auf den unerschütterlichen jungen Lieutenant hinter sich – »haben auf dem Weg zur Farnese darüber gesprochen. Er ist tatsächlich so weit gegangen, die Angelegenheit in der Bibliothek der Benjamin the Great zu recherchieren. Seit der Begebenheit, die Major LaFollet erwähnte, gab es meines Wissens keinen weiteren Präzedenzfall. Aber dass Sie als Gutsherrin nicht nur das Kommando ausgeübt, sondern die irreguläre Streitkraft selbst aufgestellt haben, könnte ein echtes Problem sein. Nicht für Benjamin, meine ich.« Mit einer beiläufigen Geste schob er diese Möglichkeit beiseite, in die wohlverdiente Vergessenheit. »Auf Grayson gibt es nach wie vor starke Kräfte, die mit seinen Reformen mehr als nur ein wenig … unzufrieden sind, und Sie gelten als die Galionsfigur der Veränderung. Einige Angehörige dieser Gruppen würden sich überschlagen vor Freude, Ihnen – und ihm – etwas ans Zeug flicken zu können. Dazu wäre ihnen jedes Mittel recht. Selbst für gemeine Rechtsverdreherei wären sich diese Lumpen nicht zu schade. Zweifellos erkennen Benjamins Berater diese Möglichkeit genauso schnell wie ich, aber ich wollte Sie darauf hinweisen, damit Sie sich schon im Vorfeld Gedanken darüber machen können.«

»Na, da danke ich Ihnen doch schön, Mylord«, entgegnete Honor, und beide lachten sie. Dieser ungezwungene Moment ging rasch vorüber, aber er fühlte sich gut an. Wenigstens können wir uns in Gegenwart des anderen noch unbefangen benehmen. Und wer weiß? Wenn wir es nur lang genug spielen, sind wir es eines Tages vielleicht wirklich wieder. Das wäre schön. Glaube ich wenigstens.

Sie schüttelte den Gedanken ab, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Nimitz bliekte in gespieltem Protest, als sich ihr Schoß unter ihm bewegte, aber sie beachtete ihn gar nicht.

»Ich hoffe, Sie haben nicht noch mehr interessante Ideen, Mylord?«, fragte sie White Haven höflich, worauf der Earl sie anlächelte.

»Nein, habe ich nicht«, beruhigte er sie und verdarb seine Versicherung gleich, indem er hinzufügte: »Andererseits sind Sie über zwo T-Jahre lang fort gewesen, Mylady, und jeder hat Sie für tot gehalten. Dass sich inzwischen einige Komplikationen ergeben haben, die Sie beseitigen müssen, dürfte Ihnen doch wohl klar sein?«

»Ja, da haben Sie Recht.« Sie seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch das kurzgeschnittene Haar. Manchmal vermisste sie die längere, üppigere Frisur, die sie vor ihrer Gefangennahme getragen hatte, doch die SyS-Schergen im Zellentrakt der VFS Tepes hatten ihr den Schädel kahl geschoren, und der Verlust ihres Arms machte längeres, pflegebedürftiges Haar für sie unpraktisch.

»Ich bin mir sicher, dass es solche Komplikationen gibt, Mylady«, sagte White Haven und zuckte die Achseln, als sie ihn wieder ansah. »Worin genau diese Komplikationen bestehen, weiß ich nicht. Nun, das eine oder andere kann ich mir denken, aber ich halte es für ratsam, wenn Protector Benjamin mit Ihnen darüber spricht.«

Er bewahrte eine bemerkenswert gelassene Miene, und doch spürte Honor plötzlich einen prickelnden Verdacht. Jawohl, White Haven wusste etwas, aber was es auch war: Er bezweifelte, dass es ernsthafte unangenehme Auswirkungen hätte. Dazu empfand er einfach zu wenig Sorge. Allerdings schmeckte Honor eine starke Dosis schadenfroher Durchtriebenheit, eine Vorfreude, die zwar (noch) kein Ergötzen war, aber sehr an einen ungezogenen kleinen Jungen denken ließ, der unablässig sein ›Ich weiß etwas, was du nicht weißt!‹ skandiert.

Honor beäugte White Haven misstrauisch, und er grinste glückselig. Wie das gemeinsame Lachen von vorhin erleichterte auch seine Amüsiertheit Honor sehr, und darüber war sie froh. Jedoch fühlte sie sich dadurch kein bisschen besser und sorgte sich nach wie vor, welche Art von Tretminen in ihrem Weg ihn wohl zu dieser entzückten Vorfreude anstacheln mochten.

»Zu Hause im Sternenkönigreich hat es jedenfalls einige Probleme gegeben, von denen ich weiß«, sagte er nach einem Augenblick. »Zunächst einmal ist Ihr Titel an Ihren Cousin Devon übergegangen, nachdem Sie offiziell für tot erklärt worden waren.«

»An Devon?« Honor rieb sich die Nasenspitze. »Ich wollte sowieso nie eine Gräfin sein«, entgegnete sie achselzuckend. »Ihre Majestät bestand darauf – im Gegensatz zu mir! –, also kann ich mich kaum beschweren, wenn jetzt jemand anderes den Titel trägt. Ja, Devon ist wohl mein gesetzmäßiger Erbe. Darum habe ich mir nie groß Gedanken gemacht.« Sie grinste schief. »Wahrscheinlich hätte ich es schon längst tun sollen, aber ich bin noch immer nicht daran gewöhnt, dynastisch zu denken.« Sie lachte verschmitzt auf. »Devon aber auch nicht! Wissen Sie zufällig, wie er seine plötzliche Erhebung aufgenommen hat?«

»Nach allem, was ich hörte, soll er recht grantig gewesen sein.« White Haven schüttelte den Kopf. »Sagte, dieser alberne Unsinn komme ihm sehr ungelegen, weil er gerade an seiner neuesten Monografie arbeite.«

»Das klingt ganz nach Devon«, entgegnete Honor amüsiert. »Einen besseren Historiker als ihn kenne ich nicht, und es war schon immer so gut wie unmöglich, ihn dazu zu bewegen, die Nase aus der Geschichte zu ziehen!«

»So berichtete man mir jedenfalls. Andererseits bestand Ihre Majestät darauf, dass auch in Zukunft jemand den Titel der Harringtons trägt. Darin ließ sie sich nicht beirren, sagt mein Herr Bruder.« White Haven verstummte, und Honor nickte, um anzuzeigen, dass sie verstanden habe. White Havens Bruder Lord William Alexander war der Lordschatzkanzler, das zweithöchste Kabinettsmitglied der Regierung Cromarty. Wenn jemand Einblick in das Denken von Königin Elisabeth besaß, dann er. »Wie ich hörte, hat Ihre Majestät Ihren Cousin zu einem persönlichen Gespräch gebeten, um die Erbfolge zu diskutieren«, fügte der Earl hinzu.

»Ach du jemine!« Honor schüttelte den Kopf, doch ihr gutes Auge funkelte entzückt. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie nachdrücklich Elisabeth III. von Manticore wurde, wenn sie auf einem Ansinnen bestand, und der Gedanke daran, wie der liebe, steife, belesene Devon schutzlos vor ihr saß, weckte in ihr eine unheilige Schadenfreude.

»Ihre Majestät entschied sogar huldvoll, ihm nicht nur den Titel, sondern auch einige Ländereien zu geben«, fuhr White Haven fort. »Daher verfügt der neue Earl Harrington immerhin über ein Einkommen, das seinen neuen Würden angemessen ist.«

»Das hat sie getan?«, fragte Honor erstaunt, und White Haven nickte. »Was für Ländereien?«

»Einen ganz hübschen Brocken aus den Krongütern im Einhorn-Gürtel, glaube ich.«

Honor stutzte. Der Begriff ›Ländereien‹ stand im Sternenkönigreich für jeden Besitz, der zusammen mit dem Adelsbrief verliehen wurde und ein Einkommen abwarf. Im Grunde war die Bezeichnung ungenau, doch hatten sowohl die ursprüngliche Kolonialsatzung als auch die Verfassung in vielen Punkten zur Unklarheit geneigt. Schon seit Gründung der Manticore-Kolonie hatte man jede Einkommensquelle ›Ländereien‹ genannt, ob es sich nun tatsächlich um Landbesitz handelte oder um Erzvorkommen, Erschließungs- und Fischereirechte, einen Lizenzanteil an den zur Verfügung stehenden HD-Kanälen oder um ein anderes der unzähligen Rechte, welche die Kolonisten im Verhältnis ihres jeweiligen finanziellen Beitrags zu den Expeditionskosten unter sich aufgeteilt hatten. Im Sternenkönigreich hielten vermutlich über dreißig Prozent der erblichen Peers keinen Landbesitz, der eine direkte Folge ihres Adelstitels gewesen wäre. Andererseits verfügten so gut wie alle Erbmitglieder des Oberhauses zumindest über einen vornehmen Familiensitz, der ihre aristokratische Würde unterstrich, doch das Einkommen, das die Gunst der Krone ihnen zugestand, entstammte oft genug völlig anderen Quellen.

Allzu häufig kam es nicht mehr vor, dass die Krone die Krongüter angriff, um einem Adligen eine solche Einkommensquelle zu bieten, und sei es nur aus dem Grund, dass die Güter in den Jahren seit Gründung des Sternenkönigreichs zusammengeschmolzen waren. Üblicherweise bat die Krone das Unterhaus, die benötigten ›Ländereien‹ aus öffentlichen Mitteln zu schaffen, anstatt sie von dem persönlichen Besitz von Elisabeth III. abzutreten – denn die Krongüter waren nichts anderes als der persönliche Besitz des Königshauses. Öffentliche Mittel wurden besonders gern für eine erbliche Peerswürde mobilisiert, denn im Gegensatz zu einem Adelstitel auf Lebenszeit, bei dem die Ländereien nach dem Tod des Empfängers an die Krone oder das Sternenkönigreich zurückfielen, musste der Besitz für einen erblichen Titel dauerhaft abgetreten werden. Verschenkte Elisabeth III. nun einen Teil des sagenhaft wertvollen Einhorn-Gürtels aus dem Kronbesitz unwiderruflich an Devon, so musste es ihr wirklich ernst sein mit dem Bestreben, die Peerswürde der Harringtons angemessen zu unterstützen.

Plötzlich kam Honor ein Gedanke, und sie erstarrte. »Verzeihen Sie, Mylord, aber Sie sagten doch, Devon habe meinen manticoranischen Titel geerbt?«

White Haven nickte.

»Wissen Sie zufällig auch, was Grayson wegen meines Gutsherrentitels unternommen hat? Ist er ebenfalls auf Devon übergegangen?«

»Ich glaube, das wurde erwogen«, antwortete White Haven nach kurzem Zögern. Honor kniff die Augen zusammen, als das Gefühl der Belustigung, das sie bereits gespürt hatte, plötzlich auf einen Spitzenwert anschwoll. »Am Ende hat man sich jedoch anders entschieden.«

»Das heißt?«

»Ich glaube wirklich nicht, dass es mir zusteht, näher darauf einzugehen, Mylady«, beschied er ihr mit einem lobenswert offenen Gesichtsausdruck. »Die Situation ist bereits recht verworren, und Ihre plötzliche Rückkehr von den Toten wird sie nur noch weiter komplizieren. Da es sich um ein rein graysonitisches Problem handelt, schickt es sich für mich vermutlich nicht, auch nur meine Meinung dazu zu äußern.«

»Verstehe.« Honor blickte ihm einen Moment lang direkt ins Gesicht, dann deutete sie ein Lächeln an. »Ich verstehe wirklich, Mylord, und vielleicht ergibt sich eines Tages für mich die Gelegenheit, Ihnen Ihre bewundernswerte Selbstbeherrschung in gleicher Münze zu vergelten.«

»Hoffen wir das Beste, Mylady«, pflichtete er ihr bei. »Ich muss allerdings sagen, ich halte es für außerordentlich unwahrscheinlich, dass ich jemals auf solch dramatische Weise von den Toten zurückkehre, nachdem man mich sehr öffentlich hingerichtet hat.«

»Wenn ich geahnt hätte, dass mich etwas erwartet, worüber Sie mir nur dunkle Andeutungen zu machen wagen, hätte ich mir die Sache mit meiner Rückkehr vielleicht anders überlegt«, erwiderte Honor mit Schärfe, und er lachte leise. Dann aber wurden Gesicht und Emotionen White Havens wieder nüchtern.

»Spaß beiseite und ganz aufrichtig, Mylady: Der Bericht über Ihren Tod hat auf Grayson erheblich mehr Unordnung angerichtet als im Sternenkönigreich. Wir haben Earls und Gräfinnen en gros – auf Grayson gibt es keine neunzig Gutsherren. Im Jelzin-System hat die Nachricht an so vielen Stellen Wirkung gezeigt, dass ich gemeinsam mit Admiral Kuzak und Gouverneur Kershaw beschlossen habe, Ihnen zunächst zur unmittelbaren Rückkehr nach Grayson zu raten.«

Honor nickte noch einmal. Obwohl die 8. Flotte unter White Havens Befehl im Trevor-System stationiert war und sich auf einen neuen Einsatz vorbereitete, hatte Theodosia Kuzak den Befehl über das System von Trevors Stern. Im Rang stand sie unter White Haven, aber ihre 3. Flotte bildete nach wie vor die Hauptverteidigungseinheit des Sonnensystems – und des lebenswichtigen Wurmlochknoten-Terminus.

Ihr ziviles Gegenstück war Gouverneur Winston Kershaw: der von der Manticoranischen Allianz offiziell bestellte Verwaltungschef und Vorsitzende der Kommission, die noch die Regierung des befreiten Planeten San Martin beaufsichtigte. Außerdem war er ein jüngerer Bruder von Jonathan Kershaw, dem Gutsherrn von Denby, einem der größten Befürworter Benjamins IX. Der Gouverneur hatte eine sehr … bestimmte Position vertreten, was die politischen Aspekte von Honors Rückkehr anging. Besonders unnachgiebig zeigte er sich in einem Punkt: Niemand durfte von ihrem Überleben erfahren, bevor Protector Benjamin persönlich mit ihr gesprochen hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Herrn Gouverneur uneingeschränkt zustimmen kann«, sagte Honor nach kurzem Nachdenken, doch White Haven schüttelte den Kopf.

»Ich finde, er hat absolut Recht«, widersprach er ihr. »Die politischen und diplomatischen Konsequenzen Ihrer Flucht sind in ihrem Ausmaß noch nicht völlig absehbar, und Grayson muss die Einzelheiten als Erster erfahren. Wir werden Kurierboote nach Jelzins Stern und nach Manticore senden, aber die Depeschen erhalten die höchste Geheimhaltungsstufe. Nicht einmal die Bootsbesatzungen werden ihren Inhalt kennen, und über das Trevor-System verhängen wir eine absolute Nachrichtensperre. Ich kann zwar nicht dafür garantieren, aber Ihre Majestät wird vermutlich nicht gestatten, dass gegenüber manticoranischen Nachrichtenagenturen auch nur das Geringste angedeutet wird, bevor die Regierung des Protectors mit Ihnen unter vier Augen gesprochen und beschlossen hat, wie mit Ihrer Rückkehr zu verfahren ist.«

»Sind Sie sich da ganz sicher, Mylord?«, fragte Honor ihn. »Ich will Ihre Überlegung keineswegs infrage stellen, aber warum schicken Sie anstelle eines Kurierboots nicht mich persönlich? Warum die Verzögerung in Kauf nehmen, mich erst nach Grayson zu schaffen und dann erst nach Manticore? Bis ins Jelzin-System benötige ich über drei Wochen, ins Manticore-System komme ich durchs Wurmloch viel schneller. Ich bezweifle, dass man die Ankunft so vieler Menschen auf San Martin so lange geheim halten kann!«

»Die Geheimhaltung halten wir nicht für sonderlich problematisch. Hier im Trevor-System wird sich die Neuigkeit natürlich eher früher als später verbreiten. Die Geschichte ist einfach zu spannend, als dass man sie unter Verschluss halten könnte. Sie muss durchsickern, aber wir kontrollieren schließlich beide Termini des Wurmlochs. Deshalb erfährt niemand außerhalb dieses Sonnensystems die Neuigkeit, bis wir sie von Manticore aus offiziell bekannt geben oder bis sie von einem Schiff auf konventioneller Hyperreise irgendwohin getragen worden ist. In jedem Fall erfährt man außerhalb von Trevors Stern erst in einigen Wochen von Ihrem Überleben, vielleicht auch erheblich später, denn wir haben den hiesigen Schiffsverkehr schon vor geraumer Zeit strengen Beschränkungen unterworfen. Das erwies sich auch als dringend nötig, nachdem McQueen mit ihren verdammten Offensiven begonnen hat.« Er runzelte die Stirn. »Wenn wir daraus eins gelernt haben, dann dass wir bei unseren Sicherheitsmaßnahmen zu nachlässig gewesen sind. Bei den meisten Operationen stand den Havies höllisch gutes Geheimdienstmaterial zur Verfügung, und irgendwoher müssen sie es schließlich haben. ›Neutraler Schiffsverkehr über den Wurmlochknoten ist eine gute Erklärung dafür, wenigstens im Falle von Basilisk und Trevors Stern. Mit der guten alten optischen Beobachtung kann man manches ausspionieren. Wir würden zivilen Schiffen die Einreise verweigern, aber ausgerechnet jetzt hat die Regierung beschlossen, dass wir den Wurmlochverkehr nicht noch stärker einschränken können. Aus diesem Grund begrenzen wir militärische Wurmlochtransits auf ein Minimum, besonders Transits von Neukonstruktionen, von denen die Havies nichts erfahren dürfen.«

Er zuckte die Schultern und gab ihr so zu verstehen, dass er die Anordnungen seiner zivilen Vorgesetzten auch dann beachte, auch wenn er ihren Überlegungen nicht in allen Punkten zustimmte.

»Jedenfalls bin ich zuversichtlich, dass wir die Tatsache Ihres Überlebens geheim halten können, bis Grayson entschieden hat, wie man innenpolitisch damit umgehen will. Dass wir Sie auf die lange Reise schicken, liegt an dem Schiff, das wir benutzen, denn es gehört zu den Neukonstruktionen, die nicht jeder sehen soll. Gouverneur Kershaw hat diese Entscheidung getroffen, und wiewohl ich gut verstehe, dass Sie eine kürzere Reisezeit vorgezogen hätten, ist es gewiss angemessen, Sie mit dem ranghöchsten verfügbaren graysonitischen Schiff ins Jelzin-System zu bringen. Und selbst wenn es anders wäre, ich bin nicht so dumm, mich mit einem Haufen Graysons auf eine Diskussion darüber einzulassen!«

Angesichts von Honors Miene musste er grinsen, dann wurde er ernst.

»Darüber hinaus schenkt Ihre Reise sowohl Ihrer Majestät als auch dem Protector etwas Zeit, um sich zu überlegen, in welcher Form Ihre Wiederkehr öffentlich bekannt gegeben werden soll. Diese Angelegenheit sollte man lieber nicht aus der kalten Lamäng entscheiden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht einmal ansatzweise ausmalen, was auf diplomatischer Ebene vorgehen wird. Sind Sie sich eigentlich im Klaren, was für ein monumental dickes blaues Auge Sie den Havies im Allgemeinen und der SyS und dem Amt für Öffentliche Information im Besonderen verpasst haben?«

»Während der Reise hierher habe ich mir die eine oder andere Stunde damit vertrieben, darüber nachzudenken«, gestand Honor ein, und White Haven musste über das verschmitzte Funkeln in ihrem gesunden Auge lächeln. »Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich mich dann und wann sogar in ziemlich großer Schadenfreude gesonnt«, fügte sie hinzu. »Besonders, wo es um meine Hinrichtung geht.« Schlagartig wurde sie ernst, und ein harter, bedrohlicher Schimmer trat in das Auge; wäre es auf ihn gerichtet gewesen, hätte White Haven gewiss Unbehagen verspürt. »Ich habe das HD selbst gesehen, wissen Sie. Es war in der Datenbank der Farnese gespeichert.« Unwillkürlich schauderte ihr, als sie an ihre brutale ›Exekution‹ dachte, doch das Funkeln wurde nicht schwächer. »Ich glaube, ich weiß genau, wie meine Eltern darauf reagiert haben. Oder Mac und Miranda.« Sie biss die Zähne zusammen. »Wer immer diese ekelhafte, sadistische Szene ersonnen hat, wird mir einige Fragen zu beantworten haben, wenn ich ihn in die Finger bekomme. Mein einziger Trost in den letzten Wochen war der Gedanke, dass Pierre und Saint-Just sich schon bald auf die Suche nach einem geeigneten Sündenbock machen müssen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte White Haven. »Nach Ihren vorläufigen Bericht zu urteilen, werden die Folgen ziemlich hohe Wellen schlagen. Ist Ihnen klar, dass Sie den größten Massenausbruch der Menschheitsgeschichte geplant und ausgeführt haben? Wie viele haben Sie gleich befreit? Vierhunderttausend Menschen?«

»Annähernd so viele, sobald Cynthia Gonsalves hier eintrifft«, antwortete Honor, und White Haven nickte. Die Transportschiffe unter dem Kommando Captain Cynthia Gonsalves’ von der nicht mehr bestehenden Alto-Verde-Navy hatten das Cerberus-System früher verlassen als Honor, aber weil sie weit langsamer reisten als die Kampfschiffe und Sturmtransporter, die Honor später erbeuten konnte, war der Konvoi noch immer unterwegs. Bis das Gros der Flüchtigen tatsächlich einträfe, würden noch Wochen vergehen.

»Jedenfalls sind noch nie so viele Kriegsgefangene auf einen Streich entkommen«, sagte White Haven. »Doch der bloße Umfang des Ausbruchs verblasst eingedenk der Tatsache, aus welchem Gefängnis Sie ausgebrochen sind. Dem Ruf der Systemsicherheit haben Sie einen Schlag versetzt, von dem sie sich niemals erholen wird. Und wenn man sich erst überlegt, was geschieht, wenn Männer wie Amos Parnell den Reportern berichten, wer das Harris-Attentat wirklich ausgeführt hat …!«

Schulterzuckend verstummte der Earl, und Honor nickte. Zweifellos würde das Amt für Öffentliche Information alles Erdenkliche unternehmen, um den ehemaligen Chef des havenitischen Admiralstabs zu diskreditieren. Aber nicht einmal die ÖfInf konnte ihn mit einem Achselzucken abtun, zumal Honors Leute in den Überwaschungsdatenbanken Camp Charons sehr interessante Dokumente entdeckt und kopiert hatten. Das Amt für Öffentliche Information würde sich schon einiges einfallen lassen müssen, um zu erklären, wie der Kommandant des wichtigsten SyS-Gefängnisses dazu kam, legislaturistische Häftlinge mit der Wahrheit hinter dem Massaker zu verhöhnen, das als das ›Harris-Attentat‹ in die Geschichte eingegangen war. Sobald weithin bekannt wäre, dass dem Komitee für Öffentliche Sicherheit (das man ins Leben gerufen hatte, um den angeblichen Staatsstreich verräterischer Raumoffiziere zu verhindern) ausgerechnet der Mann vorsaß, der den Umsturz geplant hatte, mussten die Auswirkungen auf die interstellare Diplomatie unfasslich sein.

»Eins muss ich noch sagen«, fuhr White Haven erheblich ruhiger fort und unterbrach Honors Gedankengang. »Ich freue mich dienstlich wie persönlich sehr, Sie wiederzuhaben« – seine Gefühle scheuten vor dem Wort ›persönlich‹ zurück, doch weil er insgesamt aufrichtig war, konnte er es aussprechen –, »aber die Wirkung auf die Kampfmoral der Allianz ist weit wichtiger. Offen gesagt, Mylady, wir brauchen wirklich dringend Nachrichten, die zur Abwechslung einmal gut sind. Esther McQueen ist es gelungen, uns zum ersten Mal seit Jelzin Drei in die Defensive zu drängen, und das hat besonders bei der Zivilbevölkerung die Kampfmoral ernstlich erschüttert. Sämtliche alliierten Regierungen werden sich außerordentlich freuen, Sie wiederzusehen.«

Honor schauderte es. Obwohl sie ihm Recht geben musste, graute ihr bereits vor dem Medienspektakel, das ihre Rückkehr wecken würde. Wann immer sie daran dachte, wollte sie nur noch weit, weit fort davonlaufen und sich verstecken, doch das war natürlich unmöglich. Sie konnte ihrer Pflicht nicht ausweichen - und das, dachte sie, obwohl er mir nicht verraten will, was mich auf Grayson erwartet! Selbst ohne dieses Pflichtgefühl hätte sie den propagandistischen Wert ihrer Rückkehr dennoch erkannt. Sie verabscheute die Idee, dass man sie zu einem überlebensgroßen Idol aufbauen wollte. Davon hatte sie schon mehr zu schmecken bekommen, als ihr lieb war, und das Ausmaß, in dem die Medien in ihr Leben eindrangen, übertraf alles, was ein einzelner Mensch über sich ergehen lassen sollte. Nun aber würde es noch schlimmer werden.

Doch außer ihr persönlich interessierten ihre Vorbehalte vermutlich niemanden.

»Ich verstehe, Mylord«, sagte sie. »Mir passt es nicht, und ich würde alles tun, um der Sensationslust der Medien zu entgehen, aber ich verstehe.«

»Ich habe nichts anderes von ihnen erwartet, Mylady.« Wahrscheinlich hätten ihr nur wenige Menschen geglaubt, dass sie den Gedanken an die bevorstehende Vergötterung ihrer Person ehrlich verabscheute. Hamish Alexander gehörte zu diesen Menschen, und Honor lächelte dankbar.

Er wollte noch etwas sagen, verstummte aber, als ein leises Glockensignal ertönte. Er beugte sich vor, blickte an ihr vorbei aus dem Seitenfenster und nickte zufrieden.

»Und da sehen Sie das Schiff, das Sie nach Grayson bringt, Mylady«, verkündete der Earl. Honor musterte ihn skeptisch und wandte sich um, um selbst einen Blick auf das Schiff zu werfen. Nimitz richtete sich auf ihrem Schoß auf, drückte die Nase gegen den Armoplast und zuckte mit den Schnurrhaaren, als auch er das weiße Gebirge aus Panzerstahl erblickte, das in der Leere schwebte und. Wie Juwelen schimmerten auf dem Rumpf die grünen und weißen Lichter, die verkündeten, dass das Sternenschiff ›geankert‹ hatte.

Der Superdreadnought war eins der größten Schiffe, die Honor je erblickt hatte. Vermutlich das größte Kampfschiff überhaupt, überlegte sie und schätzte mit erfahrenem Auge seine Tonnage aus der relativen Größe der Waffenluken und Impelleremitter. Aber ich habe schon größere Handelsschiffe gesehen, war ihr erster Gedanke, doch dann bemerkte sie das eigenartige, auffällige Profil des achteren Hammerkopfs und kniff in plötzlichem Wiedererkennen das Auge zusammen.

»Das ist eine Medusa!«, stieß sie hervor.

»Im Grunde ja«, gab White Haven ihr Recht. »Tatsächlich aber haben die Graysons sie gebaut, nicht wir. Anscheinend bekamen sie die Pläne für die neue Klasse zur gleichen Zeit in die Finger wie unser BuShips – aber sie müssen sich mit viel weniger bürokratischem Ballast herumschlagen und nicht gegen so viele konservative Schlafmützen durchsetzen.«

Die Anfügung setzte er in staubtrockenem Ton hinzu, und Honor wandte sich rasch wieder dem Fenster zu, um das unkontrollierbare Zucken ihres Mundes zu verbergen. Der umwälzende Abend in ihrer Bibliothek stand ihr aus persönlichen Gründen deutlicher vor Augen, als ihr recht war; an jenem Abend hatte sich ein gewisser Hamish Alexander als konservative Schlafmütze erwiesen, der sich dem Konzept eines hohlkernigen Lenkwaffen-Superdreadnoughts mit Raketenbehälter-Abwurf in den Weg stellte. Zugleich hatte Honors letzte Amtshandlung als Angehörige des Amts für Waffenentwicklung in der Empfehlung bestanden, einen Prototyp ebendieser Schiffsklasse in Bau zu geben.

»Sind die Schiffe mittlerweile gefechtserprobt, Mylord?«, erkundigte sie sich, kaum dass sie sich ihrer Stimme wieder sicher war.

»In begrenztem Umfang«, antwortete er sehr ernst, »und sie erzielen tatsächlich die Leistungen, die Sie ihnen zugebilligt hatten, Mylady. Wir haben noch längst nicht genug von ihnen, aber richtig eingesetzt erweisen sie sich als absolut vernichtend. Gleiches gilt für …« – er blickte über die Schulter auf die anderen, niederrangigen Offiziere hinter ihnen, von denen keiner das Recht besaß, Informationen zu erhalten, die er nicht unbedingt benötigte – »für andere Elemente der neuen Flottenzusammensetzung, die Sie mir an jenem gewissen Abend unterbreitet haben.«

»Tatsächlich?« Honor wandte sich ihm zu, und er nickte.

»Tatsächlich. Wir haben sie allerdings noch nicht en masse einsetzen können … und die neuen Superdreadnoughts ebenfalls nicht. Im Augenblick bauen wir die neuen Klassen und Waffensysteme so schnell es geht, denn wir würden sie gern in sinnvollen Stückzahlen einsetzen und nicht vereinzelt. Damit würden wir dem Feind nur zu früh verraten, was ihm blüht, wenn wir genügend

Lenkwaffen-Superdreadnoughts und dergleichen beisammen haben. Zudem ließe das dem Gegner Zeit für die Entwicklung von Abwehrtaktiken und Gegenmaßnahmen. Momentan hoffen und glauben wir, dass sich die havenitischen Experten noch kein klares Bild von unseren neuen Schiffen machen können, denn wir haben sie nur begrenzt eingesetzt und nur dann, wenn uns keine andere Wahl blieb. Deshalb schicken wir einen der neuen Schiffstypen nur in Notfällen durch das Wurmloch; wir wollen unbedingt vermeiden, dass ein Spion der Systemsicherheit einen ungehinderten Blick darauf werfen kann. Nur noch wenige Monate, dann erleben Bürgerin Minister McQueen und das Komitee für Öffentliche Sicherheit eine sehr unangenehme Überraschung.«

Honor nickte verstehend, ohne den Blick von dem Schiff zu nehmen, das auf sie wartete. Zwischen dem fertig gestellten Superdreadnought und den Konstruktionsentwürfen, die sie gesehen hatte, bestanden nicht viele Unterschiede. Sie empfand einen eigenartigen Schöpferstolz, als sie das Konzept in die Tat umgesetzt vor sich sah, über das sie und ihre Kameraden beim WDB so heiß debattiert hatten.

»Nur noch eins«, fuhr White Haven so leise fort, dass selbst LaFollet und Robards ihn nicht hören konnten, und Honor wandte sich ihm zu. »Dieser Superdreadnought und seine Schwesterschiffe in graysonitischen Diensten sind ausnahmslos in der von Ihnen finanzierten Blackbird-Werft gefertigt worden, Mylady. In sehr reellem Sinn sind Sie also Kielplatteneignerin von all diesen Schiffen. Auch aus diesem Grund fanden wir es passend, dass gerade dieses Schiff Sie nach Hause zurückbringt.«