Hymnen an die germanischen Götter - Harry Eilenstein - E-Book

Hymnen an die germanischen Götter E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Die Reihe Die achtzigbändige Reihe "Die Götter der Germanen" stellt die Gottheiten und jeden Aspekt der Religion der Germanen anhand der schriftlichen Überlieferung und der archäologischen Funde detailliert dar. Dabei werden zu jeder Gottheit und zu jedem Thema außer den germanischen Quellen auch die Zusammenhänge zu den anderen indogermanischen Religionen dargestellt und, wenn möglich, deren Wurzeln in der Jungsteinzeit und Altsteinzeit. Daneben werden auch jeweils Möglichkeiten gezeigt, was eine solche alte Religion für die heutige Zeit bedeuten kann - schließlich ist eine Religion zu einem großen Teil stets der Versuch, die Welt und die Möglichkeiten der Menschen in ihr zu beschreiben. Das Buch In diesem Buch sind die 200 Neu-Dichtungen zusammengefaßt worden, die sich in den anderen Bänden dieser Reihe unter dem Kapitel "Hymnen an die Götter" finden. Diese Dichtungen sind neugeschaffene Anrufungen, Hymnen, Dialoge zwischen Göttern, kleine Vers-Epen, lyrische Zusammenfassungen, Zaubersprüche u.ä., die im Stil der germanischen Skalden das darstellen, was über eine bestimmte Mythe oder Gottheit, über einen magischen Gegenstand o.ä. bekannt ist. In diesen Dichtungen werden des öfteren auch heutige spirituell-magische Erfahrungen mit den Berichten und Mythen der Germanen kombiniert - diese Erlebnisse sind heute im Wesentlichen noch immer dieselben wie damals ... Diese Texte können für Meditationen, Traumreisen und Anrufungen oder auch für einen ersten Überblick über die germanische Mythologie benutzt werden.

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Bücher von Harry Eilenstein

Astrologie

Astrologie (496 S.)Photo-Astrologie (428 S.)Horoskop und Seele (120 S.)

Magie

Handbuch für Zauberlehrlinge (408 S.)Tarot (104 S.)Physik und Magie (184 S.)Die Magie-Formel (156 S.)Krafttiere – Tiergöttinnen – Tiertänze (112 S.)Schwitzhütten (524 S.)

Meditation

Der Lebenskraftkörper (230 S.)Die Chakren (100 S.)Das Chakren-System mit den Nebenchakren (296 S.)Meditation (140 S.)Drachenfeuer (124 S.)Reinkarnation (156 S.)

Kabbala

Kursus der praktischen Kabbala (150 S.)Eltern der Erde (450 S.)Blüten des Lebensbaumes:
Die Struktur des kabbalistischen Lebensbaumes (370 S.)Der kabbalistische Lebensbaum als Forschungshilfsmittel (580 S.)Der kabbalistische Lebensbaum als spirituelle Landkarte (520 S.)

Religion allgemein

Muttergöttin und Schamanen (168 S.)Göbekli Tepe (472 S.)Totempfähle (440 S.)Christus (60 S.)Dakini (80 S.)Vajra (76 S.)

Ägypten

Hathor und Re 1: Götter und Mythen im Alten Ägypten (432 S.)Hathor und Re 2: Die altägyptische Religion – Ursprünge, Kult und Magie (396 S.)Isis (508 S.)

Indogermanen

Die Entwicklung der indogermanischen Religionen (700 S.)Wurzeln und Zweige der indogermanischen Religion (224 S.)

Germanen

Die Götter der Germanen (Band 1 – 80)Odin (300 S.)

Kelten

Cernunnos (690 S.)Der Kessel von Gundestrup (220 S.)Der Chiemsee-Kessel (76)

Psychologie

Über die Freude (100 S.)Das Geheimnis des inneren Friedens (252 S.)Das Beziehungsmandala (52 S.)Gefühle und ihre Verwandlungen (404 S.)einsgerichtet (140 S.)Liebe und Eigenständigkeit (216 S.)Von innerer Fülle zu äußerem Gedeihen (52 S.)Die Symbolik der Krankheiten (76 S.)

Kunst

Herz des Tanzes – Tanz des Herzens (160 S.)

Drama

König Athelstan (104 S.)

Die Themen der einzelnen Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“

Die Entwicklung der germanischen ReligionLexikon der germanischen ReligionDer ursprüngliche Göttervater TyrTyr in der Unterwelt: der Schmied WielandTyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 1Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 2Tyr in der Unterwelt: der ZwergenkönigDer Himmelswächter HeimdallDer Sommergott BaldurDer Meeresgott: Ägir, Hler und NjördDer Eibengott UllrDie Zwillingsgötter AlcisDer neue Göttervater Odin Teil 1Der neue Göttervater Odin Teil 2Der Fruchtbarkeitsgott FreyrDer Chaos-Gott LokiDer Donnergott ThorDer Priestergott HönirDie GöttersöhneDie unbekannteren GötterDie Göttermutter FriggDie Liebesgöttin: Freya und MenglödDie ErdgöttinnenDie Korngöttin SifDie Apfel-Göttin IdunDie Hügelgrab-Jenseitsgöttin HelDie Meeres-Jenseitsgöttin RanDie unbekannteren JenseitsgöttinnenDie unbekannteren GöttinnenDie NornenDie WalkürenDie ZwergeDer Urriese YmirDie RiesenDie RiesinnenMythologische WesenMythologische Priester und PriesterinnenSigurd/SiegfriedHelden und GöttersöhneDie Symbolik der Vögel und InsektenDie Symbolik der Schlangen, Drachen und UngeheuerDie Symbolik der HerdentiereDie Symbolik der RaubtiereDie Symbolik der Wassertiere und sonstigen TiereDie Symbolik der PflanzenDie Symbolik der FarbenDie Symbolik der ZahlenDie Symbolik von Sonne, Mond und SternenDas JenseitsSeelenvogel, Utiseta und EinweihungWiederzeugung und WiedergeburtElemente der KosmologieDer WeltenbaumDie Symbolik der Himmelsrichtungen und der JahreszeitenMythologische MotiveDer TempelDie Einrichtung des TempelsPriesterin – Seherin – Zauberin – HexePriester – Seher – ZaubererRituelle Kleidung und SchmuckSkalden und Skaldinnen62 Kriegerinnen und Ekstase-KriegerDie Symbolik der KörperteileMagie und RitualGestaltwandlungenMagische WaffenMagische Werkzeuge und GegenständeZaubersprücheGöttermetZaubertränkeTräume, Omen und OrakelRunenSozial-religiöse RitualeWeisheiten und SprichworteKenningarRätselDie vollständige Edda des Snorri SturlusonFrühe SkaldenliederMythologische SagasHymnen an die germanischen Götter

Inhaltsverzeichnis

Ägir

Ran und Ägir

Alcis

An die beiden Alcis

Morgendliche Anrufung der beiden Alcis

Altar

Der Altar

Amboß

Der Amboß

Atli

Hymne an Atli

Audhumbla

An Audhumbla

Aurvandil

Aurvandil

Baldur

An Baldur

Baldurs Schicksal

Baldurs Reise

Baldur und Ullr

Bertha

An Bertha

Beyla

Hymne an Beyla

Bil

An Bil

Biört

An Biört

Blid(ur)

An Blid(ur)

Bohrer

Der Bohrer

Bragi

An Bragi

Byggwir

Hymne an Byggvir

Drachen

Drachen-Schutzzauber für ein Hügelgrab

Odin und der Drache auf dem Weg in die Unterwelt

Drachenblut

Drachenblut

Drachenschiff

Zauberlied für ein Drachenschiff

Drachenschwert

Zauberlied für ein Drachenschwert

Eir

Anrufung der Eir

Eldir

Hymne an Eldir

Erdgöttin

An die Erdgöttin

Lied des Heilers

Erdzauber

Eschenholz-Kiste

Die Eschenholz-Kiste

Fessel

Lokis Fesseln

Tyrs Fesseln

Fimafeng

Hymne an Fimafeng

Fiölnir

Fiölnir

Flugschuhe

Die Flugschuhe

Forseti

An Forseti

Franmar

Hymne an Franmar

Freya

An Freya

Freya-Anrufung

Hymne an die neun Dienerinnen der Freya-Menglöd

Freyr

Im Tempel des Freyr

Frid(ur)

An Frid(ur)

Frigg

Anrufung der Göttin Frigg

Die Reise zur Quelle

Fulla

An Fulla

Gerdr

An Gerdr

Gna

Hymne an Gna

Göttermet

Reise in die Vergangenheit

Grid

An Grid

Groa

An Groa

Gullveig

An Gullveig

Gunnlöd

An Gunnlöd

Gürtel

Der Gürtel

Hammer

Der Hammer

Thors Hammer

Harfe

Die Harfe

Heid

An Heid

Heimdall

Ein Haus-Segen

Der Kampf der beiden Robben

Heimdalar-Galdr

Hel

Reise zur Hel

Helm

Das Zauber-Lied des Helm-Schmiedes

Hermodr

Hymne an Hermod

Hermodr und Thökk

Himmelsrichtungen

Anrufung des Ostens

Anrufung des Südens

Anrufung des Westens

Anrufung des Nordens

Hleidr

Anrufung der Hleidr

Hlif(thursa)

An Hlif(thursa)

Hlin

An Hlin

Hljot

An Ljod

Hnoss und Görsemi

An Hnoss und Görsemi

Hochsitz

Der Hochsitz

Hödur

Der blinde Gott

Ein endloser Kampf

An Hödur

Hönir

Bitte um Heilung

Hymne an Hönir

Bitte, ein Priester werden zu dürfen

Odin, Hönir und Loki

Priester-Streit

Hörn

An Hörn

Hrungnir

An Hrungnir

Hrungnir-Herz

Das Hrungnir-Herz

Huldar

Anrufung der Huldar

An Huldar Sonnenmutter

Huldar die Spinnerin

Huldar im Holunder

Idun

An Idun

Gebet an Idun

Idun und Bragi

Anrufung der Idun

Ingibjörg

An Ingibjörg

Irmin

Irmin

Iwidie

An Iwidie

Jarnsaxa

An Jarnsaxa

Jörmungandr

An die Midgardschlange

Jorunn

An Jorunn

Kessel

Der Kessel

Keule

Die Keule des Thor

Knochen

Der Knochen

Krönung

Die Krönung des Fürsten

Kvasir

Kvasir

Leimrute

Die Leimrute

Lofn

An Lofn

Loki

Bitte an Loki

An Loki

Sänger-Wettstreit

Mahlstein

Der Mahlstein

Mannus

Mannus

Marnar

An Marnar

Messer

Das Messer

Modgud

An Modgudr

Nanna

An Nanna

Nehalennia

An Nehalennia

Netz

An das Netz

Niörd

An den Meeresgott

Bitten an Niörd

Njörun

An Njörun

Nornen

Die Nornen

Odin

An Odin

Odr

Odr

Ottar

Hymne an Ottar

Pfeil und Bogen

Pfeil-Zauber

Pflug

Der Pflug

Ran

Bitte um einen Segen für eine Seereise

Ran und Hel

Ring

Der Ring

Die Weihung des Ringes

Röskwa

Hymne an Röskwa

Saga

An Saga

Schädelschale

Die Schädelschale

Schild

Die Suche nach dem Sonnen-Schild

Schwert

Das Schwert des Tyr

Seelenweg-Säulen

Die Seelenweg-Säulen

Sense

Die Sense

Siegstein

Der Siegstein

Sif

Sif die Getreidegöttin

Sif die Geliebte

Beschützerin-Zauberspruch

Ernte-Zauberspruch

Bitte um Hilfe an Sif

Sigyn

An Sigyn

Sinmara

An Sinmara

Sinthgunt

An Sinthgunt

Sjöfn

An Sjöfn

Skirnir

Hymne an Skirnir

Skjalf

An Skjalf

Snotra

Anrufung der Snotra

Sonnenkugel

Die Goldkugel

Sonnenrad

Das Sonnenrad

Speer

Die Speer-Vision

Stab

Der Stab

Statuen

Die Steinmetz-Prüfung

Streitwagen

Der Streitwagen

Svipdag

Svipdag

Syn

An Syn

Syr

An Syr

Tafl

Tafl

Tamfana

An Tamfana

Tarnkappe

Die Tarnkappe

Thialfi

Hymne an Thialfi

Thor

Bitte an Thor

An Thor

Anrufung des Thor

Thor und Jörmungandr

Thor und Thrivaldi

Thorgerdr und Irpa

Anrufung der Thorgerdr

Thröng/Thrungva

An Thröng/Thrungva

Thrudr

Anrufung der Thrudr

Trinkhorn

Das Trinkhorn

An das Met-Horn

Tuisto

An Tuisto

Tyr

An Tyr

Anrufung des Tyr

Tyrs Hymne an sich selber

Ullr

Verse an den Schneeschuh-Asen

Bitte um Hilfe an den Schildgott

Die rituelle Hirschjagd

Baldur und Ullr

Julnacht in Ydalir

Utiseta

Der Diar lehrt das Utiseta

Wali

Das Lied des Wali

Var

Anrufung der Var

Vör

Anrufung der Vör

Walküren

Walküren-Verse

Wetzstein

An den Wetzstein

Der Wetzstein

Widar

An Widar

Wieland

An Wieland

Wodan, Wili und We

Wodan, Wili und We

Yggdrasil

Hymne an den Weltenbaum

Ymir

An Ymir

Ymir der Urriese

An Ymir

Gebet an Ymir

Die fünf Gesichter des Ymir

Zahlen-Symbolik

Das Lied der Zahlen

Zwergenkönig

Das Lied des Zwergenkönigs

Themenverzeichnis

Die Texte in diesem Buch sind keine Überlieferung der Germanen, sondern die Neudichtungen aus den übrigen Bänden dieser Reihe.

Sie enthalten Anrufungen, Vers-Mythen, lyrische Zusammenfassungen zu einem Thema u.ä.

In den Anmerkungen zu den lyrischen Texten in disem Buch stehen viele Erläuterungen der Mythen und der Kenningar.

Die ausführlichen Betrachtungen finden sich in den Kapiteln über die jeweilige Gottheit, den magischen Gegenstand usw. in den übrigen Bänden dieser Reihe.

Am Ende des Buches ist eine Übersicht mit allen Themen mit dem Hinweis auf den Band der Reihe „Die Götter der Germanen“, in dem sie besprochen werden, angefügt.

1. Ägir

1. a) Ran und Ägir

Das Folgende fand nach den Ereignissen in dem Lied „Lokasenna“, das auch „Ägirs Trinkgelage“ genannt wird, in der Halle der Ran statt.

„Nun liegt Loki gefangen,

Loptr1 ist in Hel2 gebunden3;

Frieden ist heimgekehrt nach Fensalir4.

Und fortan bist Du hier König, Ägir5.“

„Das bin ich für drei Monde,

Für die Dauer einer Sommerzeit.

Und König? Das klingt nicht richtig, Ran6,

Kommen denn die alten Zeiten zurück?“

„Wer sollte Dich denn weisen können,

Wogen-Gold7, Weisheits-Hüter,

Hier in der Meeres-Halle,

in dem hohen Saal der Ran?“

„Bin ich noch Herr von Asgard, das ich erbaute?8

Am Baum9 stand ich, blickte über die Welt;

Lang ist das her, längst vergangene Zeiten …

Liebe Meeres-Herrin, mache Dir nichts vor!“

„Willst Du das nicht wieder haben?

Warum holst Du es Dir denn nicht jetzt zurück?

Was hindert Dich, Deine Würde zu wahren,

Wieder König auf dem Idafeld10 zu werden?“

„Thor hat mich besiegt, Odin mir den Thron genommen,

Töricht wäre es, erneut zu kämpfen und zu streiten.

'Rache ist des Kriegers Pflicht' – ich hör' schon Deinen Rat –

Rasch käme ich dann nach Walhall – und dann?“

„Wo ist Deine Ehre? Wohin ist denn Dein Ruhm?

Wer bist Du noch – ein Schatten Deiner selbst!

Hol' Dir zurück, was Du verlorst, die Himmels-Halle,

Die Hohe, die Weite, die Gold'ne, die Uralte!11“

„Es herrschte Krieg, es herrschte Kampf,

Es herrschte Aufruhr allenthalben,

Als die Menschen den einäugigen Asen12 wählten,

und Asgard dem Herrn des Donners13 gaben.“

„Was hat das zu tun mit Deiner Ehre, Deinem Weg?

Wo ist Deine Wut? Wo ist Deine Stärke?

Müde ist Dein Bein! Mager ist Dein Arm!

Und nur mäßig munter ist Dein Freudenstab14!“

„Schweig jetzt, Ran, Du schwingst zu lose Reden!

Schwer ist auch mir selbst mein Schicksal!

Doch es war gut für das dicht bewohnte Midgard,

daß Odin, daß Thor an meine Stelle trat.“

„Willst Du sagen, daß Du vor Feinden weichst?

Wirklich – Du warst mal der Herr der Götter?

Du bist eine Schande für diese Halle!

Derlei Dinge wurden hier noch nie gesagt!“

„Denke, schaue, prüfe, bevor Du derart redest!

Denn Midgards Männer brauchten einen Halt:

Ich sterbe und werde geboren und sterbe erneut,

Ich bin stark, doch ich bin der Wandel und kein Fels.“15

„Das ist das Leben, so ist der Lauf der Dinge,

Längst haben die drei Nornen dies beschlossen.

Was sollte daran falsch und unwahr sein,

Wenn doch jeder Narr dies leicht erkennen kann?“

„Die Hunnen kamen16, die Heime aller waren in Gefahr,

Hoch im Norden, tief im Süden: Krieg und Kampf!

Sie brauchten einen König, der stets siegt,

Sie sehnten sich nach einem Allmacht-Asen!“

„Und wer soll das anders sein als Du, die Sonne?

Sahst Du jemals einen heller strahlen?

Midgard17, Utgard18 bergen nirgendwo ein mächtigeres Licht!

Vermag denn irgendeiner in Asgard19 mehr zu finden?“

„Höre, Ran, sie brauchten Halt und nicht den Wandel:

Sie holten sich den Gungnir-König20 hoch nach Asgard.

Sie fürchteten den Tod, sie flohen vor dem Grab,

Doch war das feige? Ihre Welt war ganz in Aufruhr!“

„Dann hätten sie kämpfen sollen – und siegen!

Selbst Du wärst doch nicht vor vielen Feinden gewichen!

Und sie verlassen ihren Führer in der Schlacht

und fliehen zu dem Raben-Vater21!“

„Siehst Du nicht, was sie da suchten?

In stürmischer See den Fels!

Einen mächtigen König, der alles vermag,

der Midgard und alle Dinge lenkt!“

„Und bist Du das nicht? Bist Du bar aller Kraft?

Bis die Hunnen kamen, bist Du doch der Herrscher gewesen!

Und alles war gut, die Asen gediehen,

die alte Sonne ging unter, die junge Sonne ging auf.“

„Das ist es: Ich bin der Wechsel, der Wandel!

Sie wähnten mich deshalb schwach

Und suchten das Unwandelbare

und fanden Thor und fanden Odin.“

„Du sagst, sie suchten die Herrschaft des Einen?

Sehnten sich nah dem König, der alles lenkt?

Gaben ihren Willen auf? Vergaßen ihre Macht?

Und lebten als Sklaven unter einem großen König?“

„Sie lebten weiter – und sie lernten etwas Neues:

Lange kannten sie schon meinem Wandel:

Nun sahen sie die Mitte, strahlend und unwandelbar,

ihre Seele, ja, ihr Ich – das hat Odin ihnen da gezeigt!“

„Was sagst Du da? Erst Odin zeigte ihnen ihre Seele?

Du, der Sonnengott, sagt dies? Ist das wirklich wahr?

Was ist das Bild der Seele, wenn nicht die Sonne?

Was scheint in jedem Herzen? Das goldene Licht!“

„Ja, ich war das Bild der Seelen bis Raben-Widrir22 kam,

Er hat ihnen gewiesen, die Sonne in sich selbst zu finden.

Und nicht nur den Königen wie ich,

nein, er hat sie jedem Mann gezeigt!“

„Und Du meinst wirklich, deshalb habe Munins Herr23 gesiegt?

Weil er der Menschen Augen weit geöffnet hat?

Für die Seele im Saal des eigenen Herzens,

für den goldenen Schein in der Halle der Brust24?“

„Vor langer Zeit haben viele Weise verkündet,

Wenige wußten es nur zuvor und jetzt ein jeder:

Erkenne Dich selbst und sei Dein eigener König!

Deine Seele leuchtet in Dir und sie ist Dein Weg!“

„Und das hat Midvitnis25 den Menschen gezeigt?

Vermochte er das zu bewirken in Midgard?

Reichte er den Seinen einen polierten Schild,

Einen Spiegel, in dem sie sich dann selber sahen?“

„Er wies ihnen den Weg zu sich selber.

Das war es, was er ihnen brachte.

Deshalb verließen sie unsere Tempel-Säle

und schauten auf den Einaugen-Ase26.“

„Und wir? Nur zwei Riesen im wogenden Wasser …

in den Weiten des Meeres – machtlos und klein …

Das willst Du dulden? Das willst Du ertragen?

Damit willst Du Dich bescheiden und in Frieden sein?“

„Bin ich nicht der Ase des Wechsels und Wandels?

Das Leben geht nicht die Wege, die ich wähle …

Aber es wird auch nicht bleiben, wie es jetzt grad' ist,

denn ein neuer Wandel wird noch kommen – bald.“

„Was meinst Du? Was siehst Du? Was weißt Du?

Ich wähnte, ich sei sei die Seherinnen-Asin,

Doch ich weiß nicht, was da kommen mag …

Wovon sprichst Du, Ägir, was siehst Du da kommen?“

„Es werden mächtige Männer27 kommen von ferne,

Hier nach Midgard, zu der Insel im Meer:

Mit Worten und Wundern als ihren Waffen

Werden sie einen neuen Gott verkünden.“

„Und Du wirst dann der Dritte in dieser Folge werden?

Dann wird jeglicher Ruhm vergehen und verblassen!

Was wirst Du dann noch sein, O Ägir, Du Großer?

Ein dunkler Schatten im Meer, den niemand mehr sieht!“

„Nein, ich werde hier im Norden

mit dem Neuen verschmelzen,

und es wird noch immer die Sonne sein,

deren Schein in den Herzen leuchtet.“28

„Dem soll ich trauen? Und danach sollen wir trachten?

Unser Tod wird das sein – unser Ende!

Wer wird unsere Namen noch wissen?

Wo werden wir dann noch genannt und geehrt?“

„Ich brauche nicht meinen Namen in aller Munde,

Nur mein Licht soll in allen dann leuchten.

Und Odin ist auch garnichts andres …

Es ist das Licht, das in allen Herzen erwacht.“

„Du sprichst wie Bragi29 nach zu vielen Bechern mit Met!

Bist Du das wirklich? Einst warst Du der König des Himmels!

Nun löst Du Dich auf – wie ein Horn Met in der See!

Dann werde ich Dich hier wohl bald nicht mehr seh'n?“

„Es wird eine Zeit kommen, in der wir alle leuchten werden,

Die Wanen, die Asen, die Götter der vieler Länder,

In der sie den Krieg beenden, in einem Kreise beisammenstehn,

Eine neue Kunst: die Vielfalt in Gemeinschaft gefaßt.“

„Tochter, eil' in den Keller, prüfe die Kufen30, die Fässer:

Ist dort kein Met mehr, hat Ägir den Wein ganz geleert?

Dein Vater spricht irre, den Verstand hat er verloren,

Die Vernunft hat er verlegt, sein Wissen vergessen!“

„Du brauchst nicht zu prüfen, Ran, meine Braut!

Besser ist's, wenn wir nun das sehen, dem folgen,

Was die Nornen uns senden, der Weisheit zum Nutzen,

Was nährt unser Wachstum – im Hier und im Jetzt.“

„Was macht Dich auf einmal nüchtern, mein Mann?

Mächtig schien mir das Traumbild in Dir zu sein!

Komm' jetzt auf mein Lager, laß uns jetzt kosen,

Kostbar ist die Zeit, die die Nornen uns geben!“

„Wir werden sehen, ob ich die Wahrheit schaute,

Ich wünschte, es werde so kommen:

Eine bunte Gemeinschaft, und Vielfalt … ein Bund …31

Oh – bar der Kleidung bist Du schon – ich komme!“

3 Der Wintergott Loki liegt während des Sommers gefesselt in der Hel – der Sommergott Tyr (Fenrir) liegt während des Winters gefesselt in der Hel.

8 Tyr ist der Riesenbaumeister, der die Mauer um Asgard erbaut hat.

11 Hier ist Tyrs Halle Gimle gemeint.

15 Der Sonnengott-Göttervater Tyr ist jeden Abend bzw. Herbst gestorben und jeden Morgen bzw. Frühling wiedergeboren worden – der Schamenengott-Kriegsgott-Götervater Odin ist hingegen immer siegreich.

28 Die Germanen haben den christlichen Gott Vater dem alten Tyr (Abendsonne) und Christus dem jungen, wiedergeborenen Tyr (Morgensonne) gleichgesetzt.

31 die Vision einer gelungen Globalisierung, einer gelungen Gemeinschaft auf der Erde

2. Alcis

2. a) An die beiden Alcis

1. Die Zwillinge

Fili und Kili32, ihr flammenden Fohlen,

frohgemut jagt ihr die Winde!

Eilender stürmt ihr als Adler:

Erster seid ihr stets am Ziel!

Weißfellig, wutstürmend, lauft ihr zu Wäldern,

weit in die Heide und weit in die Steppe!

Goldmähnig, Gelbleuchtend, edelste Rosse:

Gellend klingt das Wiehern durch das Tal!

Hornbori, Haugspori, Hirsche der Wälder,

Herrliche Kronen auf stolzesten Häuptern;

Dröhnende Stimmen in dunkelsten Forsten:

Da seid ihr führwahr nicht weit!

Hüter der Herden und Herren der Haine;

Heimat sind Bäume und Auen für alle –

Horntragende33 Hirsche und Ricken und Kitze:

Hier in aller Früh' kommt ihr aus dem Wald.

Weißfell und Wutbringer, wandernde Wölfe,

Weithin ertönt euer schauriges Heulen;

Klingt durch die Weiten und jegliche Klüfte:

Kaum einer weiß nicht, wer da singt!

Renner im Rudel und rasende Jäger,

Rastlos verfolgt ihr die Rehe und Schweine!

Graufellig, gelbäugig, grimmige Läufer:

Wehe dem, den ihr verfolgt!

Regin und Rögnir, ihr schwarzdunklen Raben,

Rasch mit den Flügeln und stark mit dem Schnabel;

Müh'los im Sturm und auch mutig im Donner:

Manchesmal schon habt ihr meinen Weg gekreuzt.

Kämpferisch seid ihr und kühn und auch kräftig,

Kaum einer wagt es noch, mit euch zu kämpfen;

Jegliche Vögel ahnen das Jenseits, das ihr jedem bietet:

Jeder weiß, daß ihr die Todesboten seid!

2. Der Streitwagen

Arwakr und Alswid, ihr allsehende Rosse,

Allezeit lauft ihr vorm Streitwagen des Tyr;

Kämpfer und Krieger, schneeweiße Pferde:

Kennt hier jemand diese beiden nicht?

Schneefell und Scheinflanke, schimmerndes Glänzen

Scheint immer rings um sie mit hellem Leuchten;

Jünglinge sind sie noch, Jäger der Wolken,

Jeder von uns freut sich sie zu seh'n!

Dwalin und Durin, ihr Delling34-Gesellen,

Dag35 hat euch wieder vor Goldrad36 gerufen!

Priesterin, ruf' jetzt den Horizont-Pförtner

Pfosten, Balken leuchten golden hell!

Bifur und Bafur, hört, öffnet die Berge,

Brecht nun die Tore am östlichen Himmel!

Sonnenrad, Streitwagen, goldener Schild:

Scheine wieder, singe nun des Lichtes Lied!

Nyi und Nidi, des Nachtwagens Mähren,

Nifelheim kennt ihr von allen am besten;

Kohlschwarze Rosse in eiskalten Wäldern:

Kommt ihr wieder? Kennt ihr den Weg?

Nari und Nain, die niemals ermüden,

niemals verlassen der Unterwelt Pfade;

Wanderer, die sich am Morgen verwandeln:

Werdet ihr auch heute wieder weiß und hell?

Alfar, Alfarin und Alfen und Asen,

Abends und morgens uns're Beschützer!

Hüter der Sippe, Wächter der Horde:

Haus und Hof und Hügel37 sind geschützt durch euch!

Gullinhof38, Gullintann39, goldene Rosse,

Gaben und Hilfreiches spendet ihr allen,

wenn sie euch bitten und euch wieder opfern:

Wasser, Speisen, Freunde, Heim und Glück!

3. Die Helfer

Galar und Fialar, ihr Geber des Guten,

Goldleuchtend schimmert der Honig,

Eilt zu uns, ihr Gabenfrohen:

Euren Trank40, den brauchen wir!

Hört uns, ihr Herren des Hymir-Gebräues41,

Hörner mit Göttermet helfen den Menschen;

Wenn wir aus dem Widrir-Kessel42 trinken:

Weicht der Tod aus uns'rem Leib!

Sindri und Brokk, ihr seid Schmiede des Schwertes,

Schafft auch mir die Waffen, die helfen!

Worte und Weisheit und Stärke:

Wie soll jemand ohne diese finden, was er sucht?

Helft mir, mein Heim jetzt im Herzen zu haben,

Hier und Jetzt zu leben,

Jederzeit das zu tun, was ich bejahe:

Jahraus, jahrein mir treu zu sein!

Gulltop, Gullfaxi, ihr Rosse des Gold'nen,

Gerade Wege, schmale Grate, viele Steine –

So ist oft mein Pfad, So ist oft mein Steg:

Schwere Schritte – helft mit nun!

Streitwagen, Schimmernder, Scheinender -

Sturm kommt, Wind weht, Regen naht mir,

Wagenlenker – Wo bist Du? Hilf mir hier:

Wie soll ich Dich den Weg alleine seh'n?

Moinn, Goinn, graue Graback-Söhne43,

Gebt mir Stärke, gebt mir Fülle;

Öffnet meine Augen, öffnet meine Wege:

Ohne euch ist auch am Tage Nacht.

Dori, Ori, Dunkelalfen44, Dains Erben45,

Das Leben wird leicht, wenn Freunde nahen;

Bringt mir, was ich dringend brauche:

Bald kommt Freude – ich vertraue euch!

2. b) Morgendliche Anrufung der beiden Alcis

Die folgende Anrufung enthält Elemente aus verschiedenen indogermanischen Überlieferungen.

Ich stehe am sternklaren Morgen

schweigend auf dem Hügel des Svadi46;

Dunkel umhüllt mich, Dämm'rung umgibt mich,

die Schatten verbergen noch Dellings Tor47.

Ich bin Volkrast48, der Erwecker der vielen!

Ich bin Aurgelmir49, der Vater des Lichtes!

Ich bin Thrudgelmir50, der Rufer der Stärke des Tyr!

Ich bin Bergelmir51, der Freund des Tages-Glanzes!

Den mild-süßen Trank der Weisheit habe ich euch geseiht,

Den mild-süßen Trank der Dichter – ihn hab' ich für euch besungen,

Den mild-süßen Trank der Unsterblichen misch' ich für euch:

Milch und Honig und mächtige Kräuter.

Erfreut euch an unseren Lobliedern,

Erquickt euch an den Kraftversen,

Gesängen unserer Sippe aus alter Zeit,

die von Weisen und Seherinnen stammen.

Die Herzen der Dichter hüten die alten Weisen,

Um euch den heiligen Tanz der Worte zu bringen;

Die Lippen der Sänger singen die alten Lieder,

Um euch die Geschenke der Skalden zu Füßen zu legen.

Das Himmelsrand-Feuer lodert hoch empor,

Hymirs Hitze52 färbt die Wolken der Nott53;

Rot glimmt der Rand des Tores zwischen den Welten,

rasch breitet sich die Glut an Ymirs Schädel54 aus.

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten55! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe56! Kommt!

Freya, Dein Schoß ist der Quell alles sich-Regenden,

Frigg, Deine Brüste sind der Quell aller Speisen;

Gefion57, Dein Leib ist der Quell allen Lebens,

Gyma58, Deine Augen sind der Quell aller Liebe.

Du bist die Mutter des Sonnengottes und seine Geliebte,

Du bist die, die alles gibt und alles nimmt:

Einen Fuß auf der Erde, einen Fuß im Meer,

Halb im Dunkel der Nacht, halb im Licht des Tages.

Hel, hast Du die Funken schon in die Höhe geblasen?

Hyndla59, ist die Glut in Deiner Höhle schon entfacht?

Hyrrokkin60, hat das schlafende Feuer schon Deine Hilfe erhalten?

Huldar61, hast Du die Flammen schon heißer gemacht?

Rindr62, Herrin der rabenschwarzen Kammer,

rasch – öffne das Hügelgrab des Rögnir63!

Gefion, Göttin der finsteren Grotte64,

greife den Stein, schiebe das Grabtor beiseite!

Gerdr, gehe zum Himmelstor,

Goldlockige Asin, öffne die Pforte!

Laß Deine Gaben leuchten,

Licht scheinen, die Glut aufflammen!

Singe den Schicksalsgesang der Nornen,

über den endlosem Wechsel von Tag und Nacht!

Öffne weit das Seelenweg-Tor

am Fuße des Weltenbaumes!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Hört mich, ihr beiden Hirsche!

Helden des Himmels!

Seid mir wohlgesonnen!

Schnellfüßige Hornträger!

Alcis, ich rufe euch! Ashvins, ich rufe euch!

Arwak, ich rufe Dich! Alswid, ich rufe Dich!

Dwalin, komm zu uns! Durin, komm zu uns!

Dwalin, komm zu uns! Dulin, komm zu uns!

Fliegt wie zwei schneeweiße Schwäne

schwingenschlagend empor!

Tretet wie zwei horntragende Stiere

stampfend aus den Wäldern hervor!

Windschnell wie zwei weißflankige Rosse,

Mutig wie zwei graufellige Wölfe,

Rasch wie zwei rotbraune Hirsche,

Das seid ihr, ihr zwei Regin-Söhne65!

Ihr längmähnigen Rosse, ihr Regentrinker!

Ihr goldmähnigen Rögnir-Söhne66, ihr Lichtrufer!

Ihr goldschweifigen Brüder, ihr Sturmbringer!

Ihr goldhufigen Beli-Söhne67, ihr Brandhüter68!

Ich singe euch den Lobgesang,

Ich seihe euch den Opfermet;

Alle Gaben gebe ich euch,

mit Galdr69 und Seidr70 rufe ich euch!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Himmelsgöttin, sende uns auch heute die Sonne,

den strahlenden Asen, den die Amseln begrüßen;

Erdgöttin, gib der Sonne auch heute Geburt,

dem goldenen Regin, für den die Priester singen.

Audhumbla, Du Mutter des hellsten der Asen,

auch die Alcis hast Du geboren,

Du hast die drei Götter gestillt

und sie als Kinder geschützt und gehalten.

Große Göttin, Dein bloßer Leib ist schön wie der Himmel,

grün und fruchtbar wie die pflanzentragende Erde;

Wenn Du Deinen goldenen Sohn gebierst und die beiden Rosse

dann gibst Du ihnen eine Fülle an Kraft und Weisheit.

Tyr hat sich mit Thröng vereint

in den Tälern der Nacht;

der Schwarze lag bei der Schönen:

So erschaffen sie das Leben.

Mimir trinkt Deine Milch, Freya,

wie ein mächtiger Stier an einem Teich,

doch Deine Fülle ist ohne Ende, Frigg:

alle Tage wächst der Ase heran.

Große, Du bist der Halt der Menschen und Götter,

Deine Gaben ernähren alle;

Weite, auf Dir leben alle athmenden Wesen,

Du erfüllst ihre Wünsche.

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Überquert die Furt am Rand der Rindr,

durch die Flut, die Midgard rings umgibt!

Legt ab von der Erde in eurer luftigen Barke

mit dem leuchtenden, goldenen Sonnensegel!

Ihr Söhne der Sonne, ihr schimmernden Schlangen,

schließt die Horizont-Tore auf!

Ihr weißen Fohlen, ihr feuerschnaubenden Flügelrosse,

führt den Gold'nen am Himmel empor!

Ihr breitbrustigen Hengste in der Himmels-Brandung,

Ihr goldzahnigen Brüder – kommt zu uns!

Ihr Gedanken-angeschirrte Rosse der Rindr,

Ihr schlankhalsigen Renner – kommt zu uns!

Ihr Reim-geleiteten Pferde im Leuchten des Morgens,

Ihr leichtfüßigen Läufer, – kommt zu uns!

Ihr Freude-gelenkten Schimmel im hellen Schein,

Ihr starkgliedrigen Traber, – kommt zu uns!

Kommt in meinen Worten gefahren – in Kühnheit!

Kommt in meinen Versen gesegelt – in Klugheit!

Kommt in meinen Strophen geritten – in Kraft!

Kommt in meinen Liedern gelaufen – in Klarheit!

Kinder des Glanzes, Künder der Wärme,

kommt, ihr Heiler, ihr Helfer!

Begleiter des Drachen, Banner des Morgens,

bewegt euch am Himmel hinauf!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Tyr, Adler auf der Esche!

Ich rufe Dich mit alten Liedern – komm herab!

Alcis, Raben auf der Eiche!

Ich locke euch mit edlen Versen – kommt herbei!

Eilt herab von den Zweigen – zögert nicht, kommt näher!

Eilt hervor aus der Nacht – zieht von Niflheim herauf!

Eilt heraus aus dem Hügel – den gewohnten Weg:

Ewig währt der Wechsel von Tag und Nacht …

Lauft wie mit Flügeln durch die Lüfte!

Zerstiebt die Wolken mit lautem Schnauben!

Weckt den Regenbogen mit eurem Wiehern!

Zieht den Sonnenwagen im Wind!

Golden ist der Wagen, golden sind die Waffen,

Golden ist die Brustwehr, golden ist die Achse;

Golden sind die Speichen, golden sind die Sitze,

Golden ist die starke Deichsel, golden sind die Räder.

Weithinblickender Bogenschütze

mit brennenden Sonnenpfeilen,

Goldgelockter Lichtgebieter

mit grellhellem Sonnenschild!

Windumbrauster Himmelswanderer

mit weisheitspendendem Met!

Wärmeschenkender Weltbewahrer

mit wohlstandmehrenden Händen!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Bringt uns Speise und Trank von Bifröst her,

Bringt uns Schutz für Haus und Herden;

Gebt uns Kinder und Freunde und Gimles71 Fülle,

Gebt uns Geborgenheit im Kreis der Sippe!

Bringt uns Gutes, ihr beiden, und

Gießt Gaben aus wie die Quelle einen Fluß;

Euer Wagen ist mit allen guten Dingen gefüllt:

Laßt uns unser Leben genießen!

Helft den Männern, helft den Frauen und den Kindern

helft den Alten und den Weisen, den Ammen!

Stärkt die Krieger, stärkt die Heiler und die Fürsten

stärkt uns, gebt uns Mut und Weisheit!

Ihr bringt uns die Fruchtbarkeit des Bauches,

Ihr bringt uns die Stärke der Lenden,

Ihr gewährt uns die Lust der Leiber,

die das Leben erschafft.

Laßt uns're Seele wie die Sonne im Herzen leuchten!

Laßt uns aufsteigen aus dem Meer der Gefühle!

Helft uns, uns von der Steppe der Gedanken zu erheben!

Helft uns, uns aus dem Wald der Erinnerungen emporzuschwingen!

Wind weht von dem Bug des Wagens – Gedeihen für Midgard,

Tau tropft von den Speichen – Leben für Asen und Wanen;

Licht leuchtet von dem Sonnenschild – Freude für Götter und Menschen,

Wärme strahlt von dem Drachenschiff – Sonnensegen für alle Lebenden.

33 Die Germanen und auch die Indogermanen unterschieden nicht zwischen „Horn“ und „Geweih“ – der keltische Hirschgott hieß „Cernunos“, d h. der „Gehörnte“.

3. Der Altar

3. a) Der Altar

Diar72, weihe den Tisch der Disen73

und des Delling74 für das Opfer:

Gib die Gaben den Göttern,

Gefiun75 und Gudmund76 und allen Asen.

Diar, weihe den Tisch der Disen

und des Delling für das Orakel:

Tyr und Loki77 kämpfen auf dem Tafl78

und zeigen die Taten der Zukunft.

Diar, weihe den Tisch der Disen

und des Delling für den Eid:

Der rotgoldene Sonnen-Ring des Tyr

bindet der Regin79 Macht an unsere Worte.

Diar, weihe den Tisch der Disen

und des Delling für die Jenseitsreise:

Der Tau-kühle Met im Trinkhorn

gibt dem Erben Thron und Leben.80

77 Tyr und Loki sind einst der Sommergott und der Wintergott gewesen.

4. Der Amboß

4. a) Der Amboß

Was wäre Wieland ohne Amboß?

Wie würde Mimir81 Schwerter schmieden?

Die Asen hoben den Hammer hoch,

Schlugen ihn auf den Eisenblock nieder.

Regin legte Gram82 in die Glut,

grimmig schlug er die Kante der Klinge,

Sigmunds schneidende Flamme lag im Feuer,

schwingend erhob sie Sigurd über Fafnir.

Sindri und Brokk83 schmiedeten Tyrfing84,

schufen Surturs85 strahlendes Schwert;

auf ihrem Amboß, in ihrer Esse

erhob sich Draupnir86, entstand Gullinborsti87.

80 Bei der Kröung reiste der Erbe in das Jenseits zu dem Göttervater (einst Tyr, später dann Odin) und erhielt bei seiner Rückkehr den Met-Trank, der ursprünglich symbolisch die Unsterblichkeit verlieh.

5. Atli

5. a) Hymne an Atli

Atli88 errichtet den Adler-Tempel89 mit acht90 Altären

im Glanzwald91, durch den der Schrei des Hrungnir-Vogels92 schallt.

Er behütet goldgehörnte Rinder für Baugi93 im Feld,

Er bringt Thiazi94 Opfer, er singt Mimir95 Lieder.

Idmunds Sohn96 holt die Idun der Hahnen-Felsen97,

in der dunklen Kammer des Jammers98 kennt er sich aus.

Das Schlangen-Lager99 aus Ringen100 wird zu Dellings Tor101:

das Licht102 kommt mit Adler-Schwingen103, die Priester singen104.

Atli, gib mir Rat, wie ich Arngrims105 Priester werde!

Atli, hilf mit Tat, daß ich Alsvartrs106 Freundschaft finde!

6. Audhumbla

6. a) An Audhumbla

Meine milchreiche Mutter

im Norden des nebligen Niflheim107

fülle ein Horn voll des feinen weißen Tranks

voll des milden Mets für mich

gib mir wogendes, wallendes Leben

gib mir der Gaben Beste: meine Geburt

und meiner Seele strahlenden Segen

Funken flogen aus von Muspells Flammen

verliehen Leben dem leblosen Eis

furchten Ymir, formten die Kuh

da faßte der Riese den fülligen Euter

und labte sich an dem weißen Lebenstrank108

Dunkel war es unter dem Dach der Welt

nur der Brunnen in des Berglands Mitte brodelt

zwölf Flüsse fließen und frieren zu Eis

bedecken dick das dunkle Land.

Da reckte sich riesig der erste Baum

von dem Brunnen hoch und breit empor;109

der Feuerdrache wohnt in den Wassern;110

Urd111 waltet im Brunnen unter den Wurzeln

und Mimir112 hütet hier so manches Wissen

Audhumbla, gewähr mir Deine Gabe:

geborgen, geführt, erfüllt durch Deine Milch

Wissen, Verstehen durch das Wasser der Urd113

Erinn'rungs-Ernte durch das Mimir-Getränk114

Kraft und Können durch Drachenfeuer115

strahlende Seele durch Göttermet

im Brodeln des Kessels116 werden alle Gaben geboren

denn Du bist die Göttin in der Gestalt einer Kuh

108 Aus dem heißen Muspelheim im Süden flogen Funken in das eisige Niflheim im Norden und schmolzen den Urriesen Ymir aus dem Eis, der dann von der Urkuh (Muttergöttin) ernährt wurde.

109 In der Mitte der Welt (Nordpol) steht der Weltenbaum, zwischen dessen Wurzeln eine heiße Quelle entspringt, deren Wasser in zwölf Flüssen fortfließt. Aus diesem Wasser bilden sich die Gletscher im Norden.

7. Aurvandil

7. a) Aurvandil

Weißstern117, hellster der Himmel-Lichter,

Du erscheinst am Morgen an Ymirs Haupt118,

als Baldurs Bote119 an Rindrs Rand120,

um vom baldigen Nahen der Sonne zu künden.

Morgenstern, glänzender Gatte der Groa121,

geleite den Goldenen122 durch Gerdrs Tor123;

hellster der Sterne in der Höhe,

Du bist Hrungnirs Gefährte124.

Lichtwanderer, rascher Läufer

im Freude-losen Eliwagar125 –

ich singe Dir Deine Lieder,

daß Du uns allezeit die Sonne bringst.

8. Baldur

8. a) An Baldur

Baldur, Bringer der Blüten,

Odins Sohn und Gott des Sommers.

Schnee fällt, Sturm tobt,

doch Loki liegt schon in Leid126,

gefangen ist der Gast Ägirs127,

der Meister des Mistelpfeils128.

Hermod holte Draupnir her129

als Pfand dem Pferdegott130.

Baldur, laß das Licht nun wieder leuchten

am Himmel und auch in den Herzen.

Alle Asen warten in Asgard auf Dich,

nur Loki ließ Dich im Dunkeln leiden131.

Baldur, öffne Hel und uns're Häuser;

Sommerase, laß die Sonne wieder scheinen;

kehr' zurück, komme zu uns,

laß in Midgard milde Winde weh'n,

Gerste zu Garben gedeihen,

Rapunzel reichlich wachsen am Rain,

Mangold in Mengen sprießen für Männer und Frau'n.

Baldur, laß die Bäume erblüh'n

und Iduns Äpfel wieder grünen

und laß' fließen in Mengen den Met der Götter.

8. b) Baldurs Schicksal

Sonnen-Ase, Odin-Sohn;

Dein Haar ist hell und licht Dein Auge,

Dein Leib: er leuchtet mild und sanft,

Dein Antlitz: ruhig und rein, voll Freude.

Sohn der Frigg, der Friedens-Ase;

Um Breidablick132 blüht Baldurs Braue133,

der Halle Dach strahlt golden-hell,

Gesang hör' ich und Harfenklang.

Hermodr-Bruder, Hringhorn-Fahrer134;

Die Eichen hinter Deiner Halle

tragen Misteln, milchig-weiß

zwischen schattig-grünen Zweigen.

Gott der Tränen, Draupnir-Träger;

Dein Licht gibt Bragi135 lebende Verse,

Dein Leuchten leitet Forsetis136 Wort,

und fördert Frieden am Tage des Things.

Hödur-Bruder, Breidablick-Ase137;

Tyr ist der Richter, der Erhalter des Rechts,

Forseti befriedet der Feinde Worte

durch Baldur, den guten Geist des Gerichts.

Forseti-Vater, Sonnengleicher;

Dein Lied stets lindert den Streit der Asen,

den Kampf der Riesen, den Krieg der Menschen,

Du bist der Segen des Vaters Tyr.

Baldur, Betrachter der goldenen Tafeln138;

Du erkennst die Wurzeln der Worte,

und wägst die Wege, die wir wagen wollen,

Du weist das uns stets, was richtig ist.

Reiner Ase, Ullr-Freund139;

Du kennst und kannst die Sprache des Mondes:

Du liest und Du deutest die Träume und Bilder

und Zeichen und Omen und alle Orakel.

Dem Segen der Asen, der Speise des Feuers140,

Dem Baldur drohten schwere Träume,

die Frigg141 bedrängten düst're Bilder,

Sorgen säumten der Idun142 Sinnen.

Was drohte dem weißen Asen,

dem Gatten Nannas, dem Schönen Gott?

Frigg ließ alle Eide leisten,

kein Harm zu bringen Hödurs Bruder.

Doch Loki lauerte mit argen Listen

dem Frohsinn-Spender, dem Friedens-Ase;

er wußte, daß Frigg die Mistel vergaß –

Baldurs Bruder gab er den Pfeil.

Der blinde Ase brachte Baldur

Was er ihm wohl nie wünschte:

Das Licht der Asen ganz verlosch,

den Himmel deckten dunkle Wolken.

Die wilde Reiterin des schwarzen Wolfes143,

die Schlangenschwester144 sah'n sie nun,

sie stieß das Schiff von Odin Sproß145,

das Opfer der Mistel146, ins Meer.

Auf Hringhorn fuhr er in die Ferne,

Baldur trat da durch die Flamme,

Lokis Opfer sank in tiefe Wasser

Odin flüsterte in Baldurs Ohr.

Der lichte Ase ging nun fort:

den Schlangenweg, den Drachenpfad,

die hohe Regenbogenbrücke147,

Baldur wanderte den Weg der Nacht.

Der Adler-Ase148 flog mit ihm,

zeigte seinem Sohn die Schritte

zur Gjallar-Brücke149 über der Gischt,

wo Raben und Wölfe und Schlangen wohnen.

Vor der Höhle der Hel hielt er,

laut erklang die kalte Brücke,

unter des Baldurs schwankenden Schritten –

der Hüter Walhallas150 kehrt nun heim.

Hermodr eilt, den Harfner zu holen,

Asgards Freude, den Schützling der Frigg

Leben und Licht zurückzubringen,

doch Loki verwehrte dem Weißen den Weg.

Da kam Windzeit, Wolfszeit, Dunkelheit,

des Lichtgotts tiefer Traum und Schlaf,

Pflanzen starben, Blätter sanken,

Schnee fiel, Eis wuchs, Sturm blies, Finsternis.

Da reichte Hel dem Hellen den Met151,

Idun gab dem Asen den Apfel152;

Hrungnirs Herz153: es regte sich wieder

in des Baldurs beklommener Brust.

Nanna154 umarmte155 der Toten Nachbar156,

Baldurs Geliebte gab ihm Leben,

den Bleichen gebar die Blühende wieder157:

der schöne Ase erwachte vom Schlaf158.

Die Nacht ging zur Neige, der Tag trat nun an,

Sommer und Winter wechselten wieder,

dem hehren Hüter von Odins Gold

reicht Hödur huldvoll die Hand zum Gruß.

Der schöne Ase, der Segen des Things,

kehrt heim von Utgard, von Hel,

aus Ydalirs Halle159, von Ullrs Mahl,

von seiner Zuflucht in schwerer Zeit.

Der hürnene Ase160, der Speere Spott161

steht sonnengleich scheinend an seinem Ort,

Draupnir162 leuchtet als Sonnenscheibe:

ein feuriges, flammendes, fliegendes Rad.

Lieder-Finder, Skalden-Freund,

Schwanen-Ase163, Schwingen-Träger:

Dein Singen läßt das Sonnenrad scheinen,

das mit goldenen Gaben Gedeihen gibt.

Baldur, Gott des Rades und der Harfe;

Wecke der wankenden Menschen Mitte,

laß sie die weisen Worte lauschen

und die Feuer in ihren Herzen164 finden.

Baldur, Bote des Baumes des Lebens165;

hilf uns in Stille166 uns selber zu sehen,

am Tag mit Taten uns selbst zu erschaffen,

in Wahrheit und Weisheit zu wandern.

8. c) Baldurs Reise

Diese Strophen sind aus der Sicht des Baldur geschrieben. Sie stellen seinen Weg ins Jenseits und wieder zurück dar.

Die Mistel traf in meine Mitte,

der Feder-Pfeil flog in mein Herz,

Lokis Lachen, Hödurs Leid …

Schmerz und Wärme, Schwindel und Schwinden …

Ein Schwan, ein Adler, ein Seelenvogel –

schwerelos schwebe ich über mir selber167;

tot, ich blicke auf Baldurs Bahre hinab,

ich selber auf mich selbst.

Das Weinen der Asen, die Tränen der Wanen,

klingen von fern her zum Sohn der Frigg.

Ich rufe und rufe, doch keiner hört,

Ich greife, nichts faßt – alles ist Nebel.168

Ich liege reglos auf Hringhorns169 Rumpf,

sehe mich selber dort seelenlos liegen,

Mein Vater Odin flüstert, spricht mit mir,

weist mir den Weg, winkt mir zu folgen.170

Das Feuer brennt und Flammen fliegen

von den Fackeln – gefräßige Glut171:

ich spüre nicht, wie sie mich verschlingt;

Hyrrokkin172 stößt Hringhorn in die hohe See.

Odin flüstert, ich folge dem Weisen,

wie ein Vogel173 dem Raben-Asen174,

er führt mich durch Wege fern von der Welt,

er flüstert, ich folge … bin nur noch ein Vogel.

Garm grollt, Fenrir geifert175,

Zunge leckt und Zähne zerren –

lassen, nichts mehr fassen:

die Asen alle, das Alte und Liebe geht.

Widar geht und Ullr weicht,

Odin winkt, Forseti: fort,

Hödur176 fern, Frigg177 nur Nebel,

Nanna178? weit entfernt, nicht hier …

Ein letzter liebender Gruß,

Augen wenden sich fort von der Welt,

der Blick wird gebannt auf das Innen,

still wird es, stetig und stumm.179

Die Brücke über den Gjallar180 bannt

meinen Blick auf den Boden in mir:

Gedanken gehen, Gewohnheit auch,

Wünsche weichen, Sehnen verlischt.

Hels Finger fassen tastend

meine Formen, meine Bilder,

zerbröckeln das, was war,

und lösen auf, was ich einst lebte.

Hels Atem haucht in meine Hülle,

Bilder werden Licht und Wärme,

Der große Baum wird wieder Keim,

Der Himmel-Streber181 schrumpft zum Samen.182

Die Schnecke senkt den Fühler ein,

der starke Bär zieht sich zurück,

der Adler kehrt heim in den Horst,

das Außen sinkt nun sachte in das Innen.

Sonnenglut183 in meiner Seele,

Draupnir184 dringt in meinen Geist,

Sonnenrad185 in meinem Herzen,

Rückkehr, Heimkehr: ich komme nun zu mir.

Das Feuer der Hel186: nun fließt es in mir

als Schlange, als Drache, als drängendes Leben;

Hel naht, sie wird zu Nanna,

ich bin vereint187 mit der Mutter-Geliebten.

Milder Met mundet mir gut188,

fließt funkelnd und frisch nun in mir,

ich wachse erwachend, verwundert,

Nebel-Licht189 hilft mir, hüllt mich.

Wille erwacht und drängt nach der Welt,

Wünsche keimen, Sehnen kommt,

Baldur wird neu, die Glieder wachsen,

Die Nacht naht nun bald ihrem Ende.

Die Äpfel der Idun190 eß' ich in der Höhle,

Im Dunkel der Nanna191, im Dunkel der Hel,

im Leib der Frigg, im Leib der Freya,

Des Forseti-Vaters Frühling192 ist nah.

Die Sonne erwacht, scheint schimmernd am Himmel,

Die Pforte der Göttin193 ist offen und groß,

Volkrast194 der Zwerg singt vor den Toren des Tages,

der Nanna zur Stärkung, dem Baldur zum Gruß.195

8. d) Baldur und Ullr

Schnee fällt, Wasser friert, Eis funkelt,

Weiß bedeckt die weiten Wälder.

Ullr jagt braune Bären in den Bergen,

Rauch ringelt sich empor im Eibental196.

Der Bogen-Ase197 trägt das Wildbret heim,

über ihm leuchtet das Licht des Nordens;

der Schneeschuh-Ase198 kommt zurück nach Ydalir199,

zur Halle im Hag der hohen Eiben.

Im Spätherbst, in der Hödur-Zeit200,

friert in den Ebenen das erstes Eis;

Die Gänse suchen südwärts Sonne –

Ein Wand'rer nimmt den Weg nach Norden.

Das Eibental betrat Hermodrs Bruder201,

Nach Ydalir führt Wegtams Sohn202 der Weg,

Es pocht im Schneegestöber an die Pforte,

Es tritt zum Tor der Eibental-Ase203.

Da sieht Sifs Sohn204 den Sonnen-Haar205,

er umarmt den Freund mit Freude;

Da stehen Hand in Hand die Hohen:

der Gott des Schweigens206 und der Wahrheits-Ase207.

Baldur sitzt beim Feuer, blickt in die Glut:

der Sommer ist geschwunden, die Sonne ruht;

Das Reich des Ullr reicht nun bis zum Strand208,

Der Krieger-Ase209 steht in voller Kraft.

Das Licht des Sonnenhirsches schwindet rasch210

bei Odins Sohn211, bei der Sorge der Frigg212;

zugleich wächst es zu lichtem Leuchten213

beim Schneeschuh-Asen214, beim besten Schützen215.

In den Wogen des Wandels, am Weg des Wechsels

steht der stets grüne Stamm in Ydalir:

der Bruder der Mistel216 mit den milchweißen Beeren –

ein Bild des Festen im Fluß aller Dinge.

Baldur und Ullr tragen beide den Ring:

Baldur den Draupnir, des Sindri Geschmeide217;

Ullr den Eid-Ring, die Eibenwald-Gabe;

Golden sind beide und Boten des Bifröst.218

Am Ende des Winters weicht doch das Weiße,

die Gänse ziehen zu Heimat-Gestaden zurück,

und Baldur bricht auf zur Brücke im Tal,

Abschied nimmt im Frühling Freund von Freund.

Nun zieht Ullr fort in ferne Lande,

Von Ydalir219 zu Yggdrasil220,

Vom Eibental zum Eliwagar221,

von seiner Halle222 hin zum Hvergelmir223.

Weit ist des stillen Raters224 schwere Reise;

er ritzt und raunt viel Runen über einem Knochen,

zum Boot wird ihm da das Gebein,

auf diesem Stab quert er den Gjallar-Strom225226.

Dort im Norden geht das Eis gar nie zur Neige,

dort trinkt Ullr Met aus Mimirs Quelle,

dort saugt Ullr Stille aus der Nornen Born,

dort bleibt Sifs Sohn all den Sommer.

126 Loki liegt im Sommer gefesselt in der Hel

131 Loki hat Baldur durch eine List getötet und in die Hel („Dunkel“) gesandt

140 Speise des Feuers: Baldur wird mit einer Brandbestattung zur Hel gesandt.

157 Wiedergeburt des Baldur durch die Göttin Nanna

167 Wenn man beim Tod oder Nahtod seinen Körper verläßt, erlebt man sich als über dem eigenen Leib schwebend („Astralreise“).

170 Der Schamanengott Odin hilft seinem Sohn Baldur, den Weg ins Jenseits zu finden.

179 Dies ist die Geste des Bewußtseins nach dem (Nah-)Tod.

182 Während des Lebens wird sozusagen die Eichel der Seele zur Eiche der inkarnierten Menschen – nach dem Tod löst sich die „Eiche“ wieder zur „Eichel“ auf,

183 Sonnenglut: Die Erkenntnis der eigenen Seele ist mit einem Glühen im eigenen Herzchakra verbunden.

195 Dieser Vers ist an die fünfzehnte Strophe von Odins Runenlied angelehnt.

217 Der Alcis-Zwerg Sindri hat Draupnir geschmiedet.

218 Der Ring ist ein Sonnen-, Jahreszeiten- und Jenseitsreise-Symbol. Die Regenbogenbrücke Bifröst ist der Jenseitsweg, auf dem sich der Sommergott Baldur und der Wintergott Ullr dem Jahreszeiten gemäß treffen, wenn sie sich in ihrer Herrschaft in Midgard abwechseln.

9. Bertha

9. a) An Bertha 227

Bertha, Du läßt die Sonne am Abend erblinden228

und läßt sie am Morgen bald wieder sehen229;

Späne aus Gold vom Sonnenwagen

schenkst Du, Schwebende, den Hilfsbereiten.

Hertha, Du bist die Spinnerin, die Spindel-Frau,

die Norne, die Sonnenmutter in der Julnacht;

Du bist die Asin mit dem großen Fuß des Schwans,

Du bist die Hohe, die Mächtige, die Weiße Frau!

Perchta, Göttin des Pfluges, Asin der Erde,

Du ziehst umher mit Kuhglocken und Peitschen:

Vor Deinem Karren stampfen zwei Kühe,

Du ziehst mit den Kinder-Seelen durch das Land.

Erta, Dise der Erde, Zwergenkönigin,

Eiserne, Eichenfrau mit dem Zottelhaar:

Du lebst auf der lichten Jenseitsinsel,

Du liegst im Schlaf unter Deinen Haselstauden.

226 Ullr besitzt einen mit Runen beschriebenen magischen Knochen, mit dem er wie mit einem Schiff ins Jenseits und zurück reisen kann.

227 Bertha, Hertha, Perchta und Erta, die in diesen vier Strophen angerufen werden, sind dieselbe Göttin.

10. Beyla

10. d) Hymne an Beyla

Beyla230, Behüterin der emsigen Bienen,

beschütze meine Bäume und Zäune!

Segnerin der schönen Gärten an allen Orten,

schirme meine Äpfel und Birnen vor Schaden!

Foldes231 holde Helferin, Herrin der Sträucher,

Fördere die Früchte, die ich züchte!

Hüterin der Beete hinter der Halle,

hege und pflege die Heilungs-Kräuter!

Beyla, gib mir Rat für meine Früchte!

Beyla, hilf mit Tat bei meinen Kräutern!

11. Bil

11. a) An Bil

Höret! Weitwanderers232 Junge Hjuki:

hoch oben auf dem Mond geht er

bei seiner treuen Schwester Bil,

beide tragen Sä233 an Simul234.

Mani235 raubte Bil und Hjuki aus Midgard,

machte sie so zu Mondkindern;

bei Tag und Nacht gehen beide

zum Brunnen Brygir236 Wasser holen.