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Gabriele Weishäupl war von 1985 bis 2012 Tourismusdirektorin der Landeshauptstadt München und als Festleiterin verantwortlich für die Durchführung des Oktoberfestes. In diesem Buch erzählt sie lustige und bewegende Anekdoten aus dieser Zeit und berichtet, wie es war, sich als Frau in einer Männerdomäne durchzusetzen. Der Leser erfährt mehr über den Alltag der Wiesn-Chefin und über die Organisation des größten Volksfestes der Welt. Als einzige Frau, die jemals die Leitung des Oktoberfestes innehatte, gelang es ihr, Wege zu öffnen, die vorher niemand im Blick hatte. So werden auch die Neuerungen, die unter ihrer Leitung eingeführt wurden, genauer vorgestellt. Während ihrer Amtszeit wurde zum Beispiel die "Oide Wiesn" ins Leben gerufen und damit Tradition und Moderne erfolgreich miteinander verbunden. Lernen Sie das Münchner Oktoberfest von einer neuen Seite kennen und erhalten Sie dabei eine ganz andere Perspektive auf das größte Volksfest der Welt!
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Veröffentlichungsjahr: 2014
LESEPROBE zu
Vollständige E-Book-Ausgabe der im RosenheimerVerlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014
© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
Lektorat und Satz: Bernhard Edlmann Verlagsdienstleistungen, Raubling
Titelfoto: Heinz Gebhardt, München
Spielkarte:
Idee/Vertrieb: Abgekartetes Spiel GbR, München;
Design: Diverse GbR, München;
Illustration: Ralph Bittner, München
eISBN 978-3-475-54358-6 (epub)
Gabriele WeishäuplI bin der MaxDie schönsten Geschichten der Wiesn-Chefin
Gabriele Weishäupl war von 1985 bis 2012 Tourismusdirektorin der Landeshauptstadt München und als Festleiterin verantwortlich für die Durchführung des Oktoberfestes. In lustigen und bewegenden Anekdoten berichtet sie in diesem Buch von ihrem Alltag als Wiesn-Chefin. Sie ist die einzige Frau, die jemals die Leitung des Oktoberfestes innehatte. In dieser Position gelang es ihr, Wege zu öffnen, die vorher niemand im Blick hatte und damit Tradition und Moderne erfolgreich miteinander zu verbinden.
Lernen Sie das Münchner Oktoberfest von einer anderen Seite kennen, begegnen Sie ungewöhnlichen Überraschungsgästen und erhalten Sie dabei ganz neue Einblicke in das größte Volksfest der Welt!
Worum geht es im Buch?
Auf geht’s beim Schichtl!
Der rote Wecker
Lehrjahre
Das Dirndl
I bin der Max
Von grauen Mäusen, Rosinen und der Rumfordsuppe
Im Auge des Orkans
Ministerpräsident mal fünf
Im Banne des Hirschen
Der alte Behördenhof
Die städtischen Abortanlagen
Samstagnacht und Sonntagmorgen
Im Wiesnfieber
Die wundersame Dirigentenvermehrung
Künstler und Poeten
Maler und Prinzen
A real prince
Eine Kutsche für die Welt
Meine Wiesnstadträte
Vorbild für die Welt
Von Königinnen, Kardinälen und anderen
Von Damen, Löwen und Medien
Von goldenen Dosen und roten Lederhosen
Weitmannsdank
Der Zauberer
Die Gwappelten
Zeltbarone
Dichtkunst für Wiesnwirte
Umzingelt von Wirten
Sauber eingschenkt
Das Plakatmotiv
Der Bierpreis
Der Stoff und wie man ihn fließen lässt
Die lieben Gäste
Inauguration bei den Oberbayern
Invasion von jenseits der Alpen
Die Ossis kommen
Von Aussis und Kiwis
Anzapfen auf Chinesisch
Zwischen München, Denver und New York
Herzensangelegenheiten
Olga
Schwebende Jungfrau mit Krawatte
Der Pemperlprater
Spurensuche
Wiesn-Blues
Sternstunden
Boulevard der Erinnerung
An Tagen wie diesen
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Alles begann mit einem roten Wecker.
Es war ein Sommertag im Juni 1984. Im großen Rathaussaal hatten sich der Wirtschafts- und der Personalausschuss der Landeshauptstadt München versammelt, um über die Bestellung des neuen Fremdenverkehrsdirektors zu entscheiden.
Seit seiner Gründung im Jahr 1960 hatte das Städtische Fremdenverkehrsamt zwei Direktoren erlebt: Otto Hiebl war 16 Jahre lang in dieser Funktion tätig gewesen und übergab dann an seinen bisherigen Stellvertreter Heinz Strobl, der wiederum mit Beginn des Jahres 1985 in den Ruhestand gehen sollte.
Es war durchgesickert, dass sich zum ersten Mal eine Frau um den Posten des Fremdenverkehrsdirektors und damit des Wiesn-Chefs bewarb – damals gab es diese Amtsbezeichnungen nur in der männlichen Form, eine »Gleichstellungsstelle für Frauen« existierte noch nicht, geschweige denn eine Quotendiskussion.
Die Presse war in den Tagen davor voll gewesen von Schlagzeilen wie »Eine Frau als neuer Fremdenverkehrschef?« und »Wird München künftig von einer Frau verkauft?« Manche klangen ermutigend: »Kommt die Lady? Endlich eine Frau!«, oder: »Frauen erobern München«. Der Rathausreporter der Abendzeitung berichtete von dieser ersten wichtigen Personalentscheidung nach dem Amtswechsel im Rathaus als »einer wahren Marathonschlacht hinter den Kulissen«: »Sechs Wochen lang rotierten die Königsmacher, gaben sich Verhandler und Namenshändler die Klinke in die Hand wie schon lange nicht mehr.« Hinter vorgehaltener Hand, so hieß es, würden gegen die 37 Jahre alte Pressedame sogar moralische Bedenken ins Feld geführt, da sie seit Jahren liiert, aber nicht verheiratet sei. Das war damals noch ein Thema. Andere meldeten, dass die gebürtige Passauerin die besten Chancen hätte, der Posten zwar nicht hoch dotiert sei, immerhin aber recht einflussreich. Es war viel die Rede von der zarten Hand und dem weiblichen Charme.
Die Frau, die in jenen Tagen die Schlagzeilen der bayerischen Presse so beherrschte, war ich. Damals tätig als Leiterin der Stabsabteilung Öffentlichkeitsarbeit der Münchner Messe- und Ausstellungsgesellschaft, stand ich nun in einem dunkelblauen Kostüm im Rathausaal vor den Stadträten und der Stadtspitze. Sie bestand aus dem SPD-Oberbürgermeister Georg Kronawitter, SPD-Bürgermeister Klaus Hahnzog und CSU-Bürgermeister Winfried Zehetmeier, denn es war die Zeit einer Großen Koalition im Rathaus.
Natürlich hatte ich den Termin vorbereitet, hatte Kontakte geknüpft, Klinken geputzt und als ehemalige Lokalreporterin ausgiebig recherchiert. Das Übliche und Notwendige halt, denn ich war zu diesem Zeitpunkt durchaus kein heuriger Hase mehr.
Außer mir hatten sich vierzig Männer beworben, und acht von ihnen waren jetzt mit mir in der Endausscheidung und durften ihr Konzept präsentieren. Jeder von uns hatte ein Zeitlimit von zehn Minuten für seinen Vortrag. Ich habe mein Konzept von damals bis heute aufgehoben – auch das ein Zeichen, wie viel mir die Angelegenheit bedeutet hat. Entsprechend groß war meine Anspannung, getragen von der Hoffnung und der leisen Ahnung, das alles könnte mein Lebensthema werden. Ich hatte kalte Hände, und mein Herz schlug schneller.
Vor dem Oberbürgermeister stand ein großer roter Wecker. Seine Aufgabe war klar: Er sollte läuten, wenn die zehn Minuten des Aspiranten um waren. Danach war man nicht mehr geneigt, sich weitere Ausführungen zur Hebung des Fremdenverkehrs und zur Organisation der städtischen Feste anzuhören. Vielleicht sollte der Wecker auch seiner eigentlichen Funktion nachkommen, falls die Vortragenden es nicht schafften, Stadtspitze, Stadtrat und Rathauspersonal entsprechend zu fesseln.
Der Wecker war ein archaisches Modell, vielleicht aus der Prinzregentenzeit. Ich stellte mir seinen Weckruf als ein erschreckend schnarrendes und blechernes Geräusch vor. Sein Zifferblatt war von mir abgewandt, und ich musste mich an der großen Wanduhr in der hinteren Ecke des großen Rathaussaales orientieren.
Ich spürte die gespannte Aufmerksamkeit im Saal, die vorangegangenen Presseberichte schienen ihre Wirkung getan zu haben. Im Rund des Saales ein paar bekannte Gesichter, die mir aufmunternd zunickten. Also legte ich meine erste Rede vor dem Stadtrat der Landeshauptstadt hin, im dunkelblauen Trachtenkostüm mit weißer Bluse, eine Referenz an eine vermutete Erwartungshaltung des Hohen Hauses.
Nachdem ich seit zwölf Jahren in einer Führungsposition bei der international agierenden Messegesellschaft tätig war, wusste ich, wovon ich sprach. Aber, wie so oft, sprach ich voll Begeisterung und wurde zu ausführlich. Ich hatte meine Bewerbungsrede vorher mit der Stoppuhr geprobt. Aber ich war gewohnt, freizu sprechen, und hielt mich nur in den Grundzügen an mein Konzept – damit kam der vorgegebene Zeitrahmen in Gefahr.
Das war mir beim Blick auf die Rathaussaal-Uhr klar, und ich schielte beunruhigt auf das Mordstrumm Wecker. Da legte Georg Kronawitter mit einer sanften Bewegung seine Hand auf dieses bedrohliche Ungetüm und stellte das Läutwerk aus.
Das war der Augenblick, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist, denn diese Geste zeigte mir: »Es interessiert, was du sagst. Du schaffst es.«
Nach meiner Präsentation ging ich zu Fuß zurück an meinen alten Arbeitsplatz auf dem Münchner Messegelände, ein weiter Weg. Ich überquerte die Theresienwiese, die ich ab sofort als Schicksalsterrain betrachtete, und blieb vor der Bavaria stehen.
Da begann es leicht zu regnen, ein Sommerregen. Ich schaute der Bavaria in ihr erzenes Antlitz und dachte mir: »Sommerregen bringt Segen.«
In der Süddeutschen Zeitung konnte ich am nächsten Tag unter dem Titel »Über Weiber und Konkurrenten« lesen, dass die einzige weibliche Anwärterin auf den Posten des Fremdenverkehrsdirektors, die Pressesprecherin der Münchner Messegesellschaft, einen aus-gezeichneten Eindruck hinterlassen habe. Ihre Ideen und ihr Auftreten in der nicht öffentlichen Vorstellungsrunde seien von den Stadträten quer durch die Fraktionen als spitze bezeichnet worden. Jedoch sei sie allen Sitzungsteilnehmern in ihrem Bemühen, sich gegen die männliche Übermacht durchzusetzen, eine Spur zu forsch und eloquent erschienen.
Die »tz« sprach von einer »Schnupperstunde im Rathaus« und folgerte, wenn man schon keine Frau Bürgermeister in München habe, so habe man wenigstens eine Lady als Fremdenverkehrsdirektor und Wiesnchef.
Ich aber sah immer den roten Wecker vor mir, wenn die Rede auf meinen Bewerbungsauftritt kam.
Meiner offiziellen Berufung gingen noch verschiedene Streitigkeiten unter lebhafter Beteiligung der Lokalpresse voraus. In der letzten Vollversammlung des Stadtrats stimmten schließlich SPD und FDP für mich, die Parteifreie. Die CSU hatte einen eigenen Bewerber mit Parteibuch, und die Grünen – damals erstmals im Stadtrat – lehnten mich mit einer interessanten Begründung ab: »Bei ihrer Ausbildung und Berufserfahrung bringt sie noch mehr Touristen nach München. Das wollen wir nicht.«
Der rote Wecker aber blieb für mich ein Symbol der Zuversicht und des Beginns meiner langen Amtszeit für die Stadt München. Manchmal erinnerte ich mich seiner auch zähneknirschend als einem Mahnmal der Loyalität.
Den Herrn des roten Weckers durfte ich als meinen obersten Dienstherrn noch fast neun Jahre lang begleiten, vor allem auf der Wiesn und in jenen bedeutsamen Augenblicken, in dem die Welt auf das Spundloch eines 200-Liter-Fasses starrt und das Leben sich um die Frage dreht: »Wie viele Schläge braucht er?«
Einige seiner Aussprüche sind mir gut im Gedächtnis geblieben. So begrüßte er Delegationen gern mit den Worten: »Gehen Sie durch unser schönes München mit offenen Augen, mit offenem Herzen – und mit offenem Geldbeutel!« Oder: »Gehen Sie in die Fußgängerzone. Die ist mit den Herzen liebenswerter Preußen gepflastert, die sie hier verloren haben.«
Zu mir sagte er oft: »Mit Ihrem Dirndl haben Sie der Stadt München Millionen gebracht!« Welche Währung er damit meinte, war mir nicht ganz klar, aber ich war stolz.
Verabschiedet hat sich der beliebte und integere Oberbürgermeister schließlich auf dem Podium des von mir veranstalteten Stadtgründungsfests im Juni 1993. Er verteilte rote Moosröschen – genau wie bei seinen Wahlkämpfen. Aber diesmal war es der Abschied.
Und nun hieß es für mich, wie in dem berühmten Wiesn-Varietétheater: »Auf geht’s beim Schichtl!«
Das erste Interview speziell zum Thema Oktoberfest gab ich gleich am Tag nach meiner Bestellung, dem 26. Juli 1984, und zwar am Fuße der Bavaria.
Ich machte mich dafür stark, die Höflichkeit und Freundlichkeit des Sicherheits- und Bedienungspersonals auf der Wiesn zu schulen – das passte zu der von mir angestoßenen Kampagne »Freundliches München« –, und versprach Tradition und Brauchtum zu bewahren.
Eine Frage, die damals alle umtrieb, war: Darf Wiesnbier aus dem Container ausgeschenkt werden? Ich beantwortete sie mit Ja, wegen der Vorteile bei Organisation, Transport und Lagerung. Ich hatte mich dazu beim Messegastronomen kundig gemacht. Heute gibt es zwei Bier-Ringleitungen auf der Wiesn, das hätte man damals für Science-Fiction gehalten.
Ich war wild entschlossen, mich in jedes Thema in meinem neuen Aufgabenbereich einzuarbeiten.
Als Pressechefin der Münchner Messegesellschaft war ich lange Nachbarin des größten Volksfestes der Welt gewesen. Die Messeleute betrachteten die Wiesn vorrangig als Rahmenprogramm für ihre internationalen Gäste. Man sah von der Theresienhöhe und der Höhe der internationalen Betätigung ein wenig hochmütig auf das Oktoberfest zu Füßen des Messegeländes herunter. »Schließt die Tore, vor allem nachts«, hieß es.
Allerdings legten die Messeleute – und das ist bis heute so – großen Wert darauf, dass manche Veranstaltungen in der Zeit des Oktoberfests durchgeführt wurden: Die Wiesn diente als zusätzliches Lockmittel für die internationalen Fachbesucher.
Auch mein Schwerpunkt war am Anfang meiner Amtszeit das internationale Marketing für München gewesen. Die Umstellung der Stadtwerbung auf Internationalität und Kulturthemen, die Kampagne »Freundliches München«, die Schaffung einer neuen Informationsstelle, der Umzug des Amts ins Ruffinihaus und zahlreiche Presseaktivitäten in den nationalen und internationalen Medien zum Thema Tourismus hielten mich in Atem.
Derweil kümmerte sich mein Vorgänger Heinz Strobl, der ein begeisterter Wiesnchef gewesen war, um die Jubiläumswiesn 1985. Es war sein Herzenswunsch gewesen, zu diesem Anlass noch einmal dabei zu sein, und er hatte einen Werkvertrag erhalten. Schon bei seiner Verabschiedung mit drei Bürgermeistern und 400 Gästen aus dem In- und Ausland war mir klar geworden, dass nicht der Tourismus allein diesen Posten so interessant machte. Die legendäre »Steilwand-Kitty«, über Jahre eine der Sensationen auf dem Oktoberfest, fuhr mit ihrem Motorrad donnernd in das Messerestaurant ein, die Bräurosl jodelte, und Heinz Strobl selbst kam auf einem Pferd geritten! Mir wurde klar, dass weit mehr Emotionen in meinem Aufgabenrahmen steckten, als ich mir vor Kurzem, als ich noch in meinem Büro auf dem alten Messegelände saß, vorgestellt hatte.
Die Messeleitung schrieb inzwischen meinen alten Posten aus, und zwar ausdrücklich für zwei Herren als Protokoll- und als Pressechef, was Proteste in der Rathaus-SPD und in den Zeitungen provozierte. Ich aber wanderte in ein neues und fremdes Land.
Es war zu dieser Zeit ein höchst männliches Land. Meine Vorgesetzten waren Männer: Da war einmal der Oberbürgermeister und dann der Wiesnbürgermeister, also derjenige unter den beiden anderen Münchner Bürgermeistern, in dessen Zuständigkeitsbereich die Wiesn gehört. Männlich waren auch die Mitarbeiter in Festleitung und Bauhof und der Wiesnstadtrat. Ebenso waren die Einsatzteams von Polizei, Feuerwehr und Sicherheitsdienst, das Wiesnfinanzamt, die Dienststellen des Kreisverwaltungsreferats, des TÜV, der Stadtwerke und die Sanitätsstation des Bayerischen Roten Kreuzes zumindest weitestgehend Männerdomänen. Beim Roten Kreuz gab es immerhin die beherzte Schwester Erika (und später Schwester Gisela), die für jeden Wehdam ein Pflaster hatte. Außerdem waren in der Kinderfundstelle ein paar ältere Frauen tätig.
Meine wichtigsten Ansprechpartner – die Spitzenfunktionäre und Sprecher der Wirte, Schausteller, Marktkaufleute und Brauer – waren Männer, bis hin zum Kantinenwirt im Behördenhof, der wenigstens einen weiblichen Pudel besaß.
Aber auch der Wiesnbesucher war, wie ich statistisch errechnen ließ, zu meiner Anfangszeit zumeist männlich, und die Wiesnrituale waren es auch: Anzapfen, dirigieren, den Lukas hauen, schießen – alles, jedenfalls zur damaligen Zeit noch, meist dem Manne vorbehalten.
Das Land, in das ich mich begab, war also testosterongeschwängert und erforderte Wachsamkeit, teilweise Anpassung, um nicht unterzugehen, und falls möglich diskrete Einflussnahme, bei der man jedoch das männliche Selbstgefühl besser nicht verletzte.
Noch fremdelte ich mit dem großen Volksfest, das mir mit der Stadtwerbung in den Schoß gefallen war. Der Wiesnplan mit seinen Kreisen und Rechtecken war noch nicht mit Leben erfüllt, die Namen der Schausteller sagten mir nichts. Zum Wiesnstadtrat meinte ich beiläufig: »Eigentlich bin ich Kommunikationswissenschaftlerin mit Fokus auf internationales Marketing, von Festleitung verstehe ich nicht viel.«
Das stimmte auch – wenigstens vorerst noch. Aber ich hatte ein großartiges Team, bekam eine geduldige Einführung durch den damaligen Abteilungsleiter und meinen Vorgänger und wurde schnell Teil eines professionellen Netzwerkes.
Ich studierte aufmerksam den sogenannten Kriterienkatalog, der die Basis für Zulassung – oder Ablehnung – der rund 1400 Bewerber für jede Wiesn war. Ich fand ihn schlüssig, aber mit Spielräumen. Dieses Bewertungssystem erwies sich in vielen Jahren – bis auf ein einziges Mal – als gerichtsfest, wenn abgewiesene Bewerber klagten, und wurde beständig weiterentwickelt.
Über die Festleitung hinaus war ein starker Teamgeist, ein verbindender Spirit zu spüren, der alle für das Fest tätigen Kolleginnen und Kollegen verband. Kein Wunder, dachte ich, wir stehen in einer großen Tradition; seit 1819 obliegt der Stadt München die Organisation des heute größten Volksfestes der Welt. Die städtischen und staatlichen Stellen wuchsen jedes Jahr aufs Neue mit den Wirten, Schaustellern und Marktkaufleuten zur »Wiesnfamilie« zusammen.
Das ist keine Worthülse, sondern ein gelebtes Miteinander im Dienst an einer großen Sache. Auch Politik und Medien gehören dazu. Trotz gelegentlicher heftiger Kräche, eifersüchtiger Auseinandersetzungen und handfester Machtkämpfe gibt es eine große Verbundenheit und eine stolze Zusammengehörigkeit: We are family.
Bei den großen Behördenbesprechungen spürt man die Professionalität der Akteure, man kann beruhigt in die Wiesntage und -nächte gehen. Bei den täglichen Lagebesprechungen gibt es die schnelle und direkte Kommunikation. Von Anfang an erlebte ich den Wiesnbetrieb als großes Räderwerk, das reibungslos funktionierte. Ich hatte an der Front, im Scheinwerferlicht der Medien, immer das gute Gefühl, dass hinter mir eine Maschinerie von höchster Zuverlässigkeit lief, und ich war dankbar dafür.
Ich war nur ein Rädchen in diesem großen Getriebe – allerdings eines mit Verantwortung und Leitungsfunktion. Es dauerte, bis ich alle Stellschrauben gefunden hatte und bis die Spuren meiner Pumps im Staub der Wiesn erkennbar wurden. In kurzer Zeit durfte ich viel lernen, und das vor allem, weil ich von Ende August bis Mitte Oktober draußen bei meinem Team im »Behördenhof« war.
Der Polizeichef ließ mich in einem Hubschrauber über das Wiesngelände fliegen, damit ich es in seiner ganzen Ausdehnung von oben sehen konnte. Ich lernte den Umgang mit dem Megafon, dem Lautstärkenmesser und mit »Calypso 2«, unserem Funkgerät. Und ich erhielt den grünen Kontrollausweis, der mich als den Befehlsgewaltigen auf dem Gelände auswies. Darauf stand: »Seinen Anordungen ist Folge zu leisten.« Das blieb die nächsten 27 Jahre so und passte auch zum Max – auf den wir in einem späteren Kapitel noch kommen werden.
Während der Wiesnzeit hielt ich mich entgegen jeglicher arbeitsrechtlicher Vorschrift jeden Tag, auch an den drei Wochenenden, bis Mitternacht auf dem Festgelände auf. Ich lernte weiter dazu, jede Stunde, unermüdlich. Die Kreise, Rechtecke und Vierecke auf dem großen Wiesnplan bekamen nun eine Gestalt, bisher nur auf dem Papier bekannte Namen erhielten ein Gesicht, hatten ein Schicksal.
Der Aufenthalt in der Festleitung war dazumal noch sehr viel unkomfortabler als heute im modernen Servicezentrum. Um das Gelände nachts zu verlassen, musste ich über glitzernde Maßkrugscherben durch eine angeheiterte Menschenmenge fahren. Manchmal packten die Wiesngänger mein Auto und schaukelten es hin und her. Jahre später erst wurden Rettungswege geschaffen, die, geschützt von Gittern, vom Festgelände wegführten.
Mit meinem Wissen über das Fest und seine Abläufe steigerte sich auch dessen Anziehungskraft auf mich. Mit Interesse und Aufmerksamkeit verfolgte ich alles, was mein Team in der Festleitung tat.
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der Abteilungsleiter anlässlich meines Amtsantritts schon mal verkündet hatte: »Des is mir wurscht, wer unter mir Festleiter ist.« Er vermutete aber, es wäre mir bereits zu Ohren gekommen – schließlich war ich eine, die mit beiden Beinen im Mediengeschäft stand und, so nahm er an, fast alles mitbekam.
So stapfte er eines Abends – wohlgemerkt ohne Not – in mein Büro und teilte mir mit, dass ihm leidtue, was er gesagt habe.
Man stelle sich vor, jemand kommt und sagt: »Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, du bist ein blöder Hund« – und man fällt aus allen Wolken, weil man überhaupt nicht weiß, wovon er spricht. So ging es mir in diesem Augenblick. Ich horchte ihn also vorsichtig aus, was er nun eigentlich gesagt hatte – und dann schloss ich ihn unverzüglich ins Herz. Ich zapfte sein Wiesn-Wissen an – und lernte wieder eine Menge.
Unvergessen bleibt mir sein Auftritt bei meiner ersten Wiesn. Es war beim Einzug der Wiesnwirte. Ich wollte mit einem riesigen Lebkuchenherz den Oberbürgermeister und das Münchner Kindl am Haupteingang begrüßen und bat den Abteilungsleiter, mich zu begleiten. Fotografen hatte ich schon bestellt.
Es herrschte ein gigantisches Gedränge. Riesige Menschenmassen hatten sich schon stundenlang am Haupteingang postiert. Natürlich war kein Durchkommen. Ich mitten im wüstesten Getümmel, im gelben Seidendirndl mit gefährlich wackelnder Riegelhaube. Der Haupteingang auf unserer Seite mit Gittern abgesperrt. Es ging nicht vor und nicht zurück.
Der Abteilungsleiter hätte das bei seiner Erfahrung wissen müssen. Er war sehr bleich. Plötzlich brüllte er wie am Spieß: »Polizei … Polizei!«
Die Massen wichen zurück wie vom Zauberstab berührt. Sie fielen auseinander, machten Platz, bildeten eine Gasse. Wieder schrie mein bleicher Abteilungsleiter: »Polizei! Polizei!«
Die Masse mied uns, rückte ab von uns, erschrockene Gesichter. »Schaugn S’, so muaß ma des machen! Da gengans’ auf d’ Seitn«, sagte er stolz.
Wir kamen aber trotzdem zu spät. Kindl, Oberbürgermeister und Ministerpräsident waren schon beim Schottenhamel. Ich nahm das Herz, eilte zur Ratsbox und ließ mich mit Franz Josef Strauß fotografieren.
Auch aus diesem Erlebnis zog ich meine Lehren. Bei zukünftigen Anstichen begab ich mich direkt in die Anzapfbox und begrüßte dort die Honoratioren. So verblüffend die Wirkung des »Polizei! Polizei!«-Geschreis gewesen war – ich hatte keine Lust, das Ganze bei jedem Wiesneinzug zu wiederholen.
Es gibt kein Kleidungsstück, das meinen Lebensweg anhänglicher begleitet und stärker geprägt hätte als das Dirndlgewand in seinen verschiedenen Ausprägungen. Dabei trat es relativ spät in mein Leben, nämlich mit meinem Amtsantritt als Fremdenverkehrsdirektorin und Wiesnchefin.
Es gibt keine putzigen Dirndlfotos von mir als Kind. Wenn im Verlauf von »Lifestories« oder anlässlich runder Geburtstage Derartiges von mir gefordert wurde, musste ich passen. Ich konnte lediglich Schwarzweißfotos der 1950er-Jahre vorweisen, die einen kleinen Waldschrat im Bayerischen Wald zeigten, mit Teddymantel, grob gestrickten Strümpfen und Tretroller.
Dabei existierten von meinen Vorfahren des 19. Jahrhunderts prachtvolle Abbildungen in Passauer Tracht. Mit wertvollen Goldhauben, wie sie auch in Oberösterreich verbreitet waren. Zwei Goldhauben und zwei Riegelhauben sowie alten Trachtenschmuck habe ich von dieser Seite geerbt, aber erst spät im Leben genutzt – zur Wiesn eben.
Aus meiner Teenagerzeit gibt es immerhin genau ein Dirndlfoto. Es entstand, als ich auf Urlaub im Allgäu war und aus Gaudi an einem Preisplatteln teilnahm. Als Studentin der 1968er-Zeit lief ich hippiemäßig herum, mit Walleröcken, Blumenmustern und Stirnbändern. Später als Lokalreporterin bevorzugte ich Jeans-Look auf Plateausohlen.
Mein erstes offizielles Dirndl war türkisfarben, mit weißen Wollstrümpfen und wattiertem Jäckchen – ich war 1972 Olympiahostess.
Eine Spur eleganter wurde es bei der Münchner Messegesellschaft, businessmäßig im Kostüm. Ein Dirndl besaß ich damals auch, ein einziges, das ich als PR- und Protokollchefin der Messe bei den beliebten bayerischen Abenden für unsere Aussteller einsetzte.
Aber dann! Schon in der Bewerbungsphase um das von mir strategisch angepeilte Amt richtete ich mein Augenmerk auf die vermutlich erwünschte Optik.
Meine beiden Vorgänger waren häufig im Trachtenanzug unterwegs. Otto Hiebl, der erste Fremdenverkehrsdirektor, soll mit seiner Optik als Vorlage für den Herrn Hirnbeiß gedient haben, die beliebte Figur, die sich die Münchner Karikaturistin Franziska Bilek für die Abendzeitung ausgedacht hatte. Heinz Strobl, der in seiner Aufgabe als Wiesnchef richtig aufging, trug seinen feschen Trachtenanzug einmal sogar bei einem Kolloquium der Ludwig-Maximilians-Universität, das ich als Lehrbeauftragte der Kommunikationswissenschaften durchführte. In diesem Aufzug referierte er damals zum Thema: »Wirbt München nur mit Bier?«
Im Sommersemester 1983 punktete das Thema mit dem Reiz des Exotischen, und auch Trachtenanzugträger waren an der Uni eher selten. Die Studentinnen und Studenten drängten in den Hörsaal, saßen auf dem Boden und zeigten sich begeistert. Es war der erfolgreichste Vortrag in meiner praxisbezogenen Veranstaltungsreihe zum Thema PR, damals wissenschaftliches Neuland. Zum ersten Mal stellte ich angesichts des temperamentvollen Referenten Überlegungen zum Image Münchens an und fragte mich, warum sich dieser Strobl trotz des Münchner Weltruhms mit dem Luxusproblem einer Imageveränderung herumschlug und mit allen Anzeichen eines gerechten Zorns die Unterstellung einer »Bierdimpflwerbung« zurückwies.
Ich weiß es jetzt.
Damals jedoch war ich eigentlich auf einem anderen Weg. Ich hatte neben meiner Tätigkeit bei der Messe mit den damals brandneuen Themen Öffentlichkeitsarbeit und Werbung zum Doktor der Philosophie promoviert und schon ins Auge gefasst, durch eine Habilitation auf demselben Gebiet die Lehrberechtigung an Universitäten zu erwerben. Doch es kam anders.
Heinz Strobl hatte an diesem denkwürdigen Tag an der Uni von seiner bevorstehenden Pensionierung gesprochen und von der Schwierigkeit, einen geeigneten Nachfolger zu finden. Das brachte mich auf eine Idee, die mir interessanter erschien, als an einer Hochschule zu lehren. Ich verließ Uni und Messegesellschaft und warf mich sozusagen ins Dirndl.
Zu Beginn des Jahres 1985 bezog ich als Lehrling erst ein kleines Kämmerchen im damaligen Fremdenverkehrsamt und dann das Büro des Direktors. Heinz Strobl verließ das Büro und zog in das Kämmerchen, denn er hatte, wie schon gesagt, einen Jahresvertrag zur Vorbereitung der Jubiläumswiesn.
Eine Zeit fortgesetzter Fototermine, auch gemeinsam mit meinem Vorgänger, folgte, und sehr schnell merkte ich, dass wir als »Trachtenpärchen« ein gutes Motiv hergaben.
So wurde ich auf dem Umweg über die PR-Frau zur Dirndlträgerin. Und das mit durchschlagendem Erfolg. War ich etwa im Kreis meiner ausschließlich männlichen Kollegen vom damaligen Big-Eight-Werbeverbund der deutschen Großstädte unterwegs, richtete sich die Aufmerksamkeit sofort auf mich. Das lag einerseits daran, weil ich die einzige Frau war, andererseits aber ganz eindeutig auch an meinem schmucken Dirndl.
Am größten war der PR-Triumph allerdings, sobald unsere Funktionen bekanntgegeben wurden. Bei der Vorstellung des »director of the tourist office of the city of Hannover« gab es höflichen Applaus. Bei »the director of the tourist office of the city of Munich …« wurde das Klatschen deutlich lebhafter. Doch als der Sprecher noch hinzufügte »… and the President of Oktoberfest!«, brachen großes Gejohle und begeisterter Jubel aus.
So war das. Und zwar weltweit. In allen Sprachen, in Übersee, Ost und West. Auf allen Erdteilen. Man konnte am Applaus hören, was wirklich zählte.
Einmal hatte ich bei einem solchen Anlass ein normales Businesskostüm an. Eine Fotoreporterin fragte mich unverzüglich »Don’t you have your traditional costume with you?«
Der Fall war klar. Ich wurde mit München, mit dem Oktoberfest und mit Bayern identifiziert. Das war im Ausland und rund um den Globus der Fall. Und das erlegte mir Verpflichtungen auf.
In den 1980er-Jahren war es durchaus nicht üblich, dass sich der Träger einer öffentlichen Funktion in Tracht fotografieren ließ. Die Oberbürgermeister zapften meistens im Straßenanzug an, bis Christian Ude in den 1990er-Jahren die Lederhose in der Anzapfbox einführte. Allenfalls bayerische CSU-Granden zeigten sich im Trachtenanzug – so als ob sie demonstrieren wollten, dass sie das alles erfunden hätten: die Berge, die Seen, den weißblauen Himmel und eben die Tracht.
Auch die Wiesnbesucher dachten damals nicht im Traum daran, in der Tracht zu kommen. Ich selbst war als Studentin in strapazierfähigen Jeans aufs Oktoberfest gegangen, alles andere wäre gestrig und total spießig gewesen. Echte Trachten konnte man am ehesten bei den Traditionsvereinen oder beim Trachten- und Schützenzug besichtigen. Und Volksmusiksängerinnen, Jodlerinnen, Mitwirkende der Platzl-Bühne sowie anderer bayerischer Brettlbühnen zeigten sich in diesem Gewand. Berufskleidung war das Dirndl allerdings bei den maßkrugschleppenden Wiesnbedienungen.
Nachdem ich öfter im Gebrauchsdirndl mit weißer Bluse in den Medien zu sehen war, sagte der Heimatpfleger Paul Ernst Rattelmüller stirnrunzelnd zu mir: »Du schaugst aus wia a Kellnerin mit dera Blusn. Du sollst doch ein Vorbild sein.«
Eben. Der würde sich heute wundern angesichts von Tausenden von weißen Blusen und Phantasiedirndln!
Was in den 1980er-Jahren begann, entwickelte sich in den 1990ern zum Trend, nach der Jahrtausendwende zum Hype. Der Dirndlwahn ergriff in den letzten Jahren alle Volksfeste, auch außerhalb Bayerns. Es war eine Welle ungeheuren Ausmaßes und dürfte eine der größten und nachhaltigsten Bewegungen sein, die je vom Oktoberfest in München ausgingen. Wo innerhalb der immensen Bandbreite zwischen Heimat- und Brauchtumspflege einerseits und der Eventkultur unserer Fun-Gesellschaft andererseits die Gründe dafür zu suchen sind, wird sich kaum klären lassen. Ich jedenfalls war als Protagonistin berufsbedingt und auch aus strategischen Gründen früh dabei und näherte mich – misstrauisch beäugt vom gestrengen Bezirksheimatpfleger – vorsichtig und pragmatisch dem Thema Tracht.
Dabei geriet auch das traditionelle »Münchner Gwand« in mein Gesichtsfeld. Dabei handelt es sich nicht um ein Dirndl im landläufigen Sinn, sondern um so etwas wie eine Kultbekleidung der Biedermeierzeit – also der Epoche, in der auch unsere Wiesn entstand. Man sieht es auf alten Abbildungen von schönen Münchnerinnen wie der Schützenliesl oder der Helene Sedlmayr aus der Schönheitengalerie.
Ich ließ mich also vom Heimat- und Brauchtumsverein der »Lechler« beraten, die diese schöne Tracht am Leben halten und pflegen.
Herzstück des Gewandes ist das Münchner Mieder, ein flaches Gebilde, das wie ein kostbares Brett vor der Brust der Trägerin steht und alles zusammendrückt, was darunter ist. Das meist schwarze Mieder wird in stundenlanger Arbeit gefertigt und mit meterlangen Erbsketten geschmückt, die an Silberhaken befestigt werden. Innen hat es Befestigungshäkchen und -kettchen – in verschiedenen Weiten, Gott sei Dank. Der Schnitt der bunten Blusen ist charakteristisch, die Farben korrespondieren mit denen von Schürze und Schultertuch.
Ich ließ beherzt ein solches Mieder samt Zubehör von einer Könnerin der Gruppe »Schöne Münchnerin« anfertigen und brauchte beim ersten Anlegen von Mieder, Geschnür, Schmuck und Riegelhaube eine Stunde. Riegelhaube, Kropfkette und Schultertuch waren von meiner Urgroßmutter, auch wusste ich jetzt, dass der geerbte Gegenstand mit den bunten Steinen ein sogenannter Geschnürpfeil war.
Die Riegelhaube wackelte (ich hatte kein Haarteil), das Mieder schnürte mir die Luft ab, ich stolperte über den knöchellangen Rock, und eine lange Nadel mit Perle, die das Mieder innen fixierte, stach mich in die Brust.
Die Managerin in mir schäumte vor Ungeduld und Zorn, ich riss an den silbernen Ketten (sie waren fast drei Meter lang) und fühlte mich als Gefangene. Und das auch noch auf eigenen Wunsch!
Ich atmete tief durch – wobei mich Mieder und Kropfkette behinderten –, schmückte den plattgedrückten Ausschnitt – in Anlehnung an die Münchner Stadtfarben – mit gelben Rosen und ergriff das kleine Trachtenbeutelchen. Dann schritt ich von dannen; denn ich konnte in dieser Aufmachung nur schreiten und nicht in meinem üblichen Laufschritt über den Festplatz eilen.
Mir drängten sich ein paar Gedanken zum Thema Kleidung und Emanzipation auf. Trotzdem trug ich die große Münchner Bürgertracht auch später gelegentlich bei hochfestlichen Anlässen. Dabei ließ ich mir von Kolleginnen helfen und nutzte das Festleitungsbüro als Umkleide – denn als Helene Sedlmayr kann man nicht Auto fahren, nur Kutsche.
Die Frage, die mir von Vertretern der Presse – von der New York Times über die Cosmopolitan bis hin zu diversen Lokalblättern – in meinem Leben wohl am häufigsten gestellt worden ist, lautet: »Wie viele Dirndl haben Sie?« Nachdem ich sie ungefähr zum zwanzigsten Mal gehört hatte, beschloss ich, dazu nichts mehr zu sagen. Ich wollte schließlich als Managerin des großen Volksfestes wahrgenommen werden und nicht als Dirndl-Königin. Emanzipationsbewegt fragte ich mich, ob wohl auch ein Mann nach der Zahl seiner Trachtenanzüge gefragt würde.
Später kokettierte ich dann mit dem Thema und berief mich auf König Ludwig II., der bekanntlich allen anderen und sogar sich selbst »ein ewig Rätsel« bleiben wollte.
Dies hinderte mich nicht daran, das Thema optisch zu besetzen und es für die Stadt und das Fest zu nutzen. Bei meiner ersten Wiesn trug ich die Riegelhaube meiner Urgroßmutter, hatte allerdings große Schwierigkeiten, die schwere Kopfbedeckung ordentlich zu befestigen. Sie rutschte mir ins Genick, und ich wagte es fast nicht mehr, den Kopf zu bewegen. Erst von Trachtlerinnen des Vereins »Schöne Münchnerin« lernte ich im Verlauf der Jahre die ordnungsgemäße Handhabung der Kostbarkeit.
Riegelhauben in Gold und Silber sind auch bei Festlichkeiten in München üblich, jedoch trägt höchstens beim Trachten- und Schützenzug jemand eine Passauer Goldhaube – ein Kopfschmuck, der an assyrische Priesterinnen oder ägyptische Prinzessinnen erinnert. Ich ließ also die prunkvollen Erbstücke in ihren Originalschachteln. So lange, bis meine Tante Finnchen Artner, Fremdenverkehrsdirektorin von Passau und Begründerin einer Goldhaubengruppe, schwer erkrankte. Sie ließ mich wissen, dass sie mir ihre Passauer Tracht mit Goldhaube vermachen wolle und es ihr Wunsch sei, dass ich diese auf dem Oktoberfest trage.
Ich versprach das bei geeignetem Anlass zu tun, wobei die Anzapfbox für einen solchen Auftritt nicht infrage komme. Wir lachten herzlich bei der Vorstellung, dass ich im Scheinwerferlicht vor dem 200-Liter-Fass als Königin Hatschepsut auftreten würde.
Im Jahr ihres Todes erfüllte ich ihr Vermächtnis und schmückte mich mit Goldhaube, Türkentuch, fingerlosen Handschuhen und Silberschmuck. So fuhr ich mit meiner Kutsche beim Trachten- und Schützenzug mit, eine Passauer Goldhaubenfrau in München. Übrigens ist die Passauer Goldhaube inzwischen als Kulturerbe vorgeschlagen.
Gerne trug ich Dirndl in den Stadtfarben schwarzgelb und ließ mich dabei von einem Münchner Kindl in der Kutte begleiten. Dafür hatten wir hübsche Praktikantinnen im Einsatz, im Ausland rekrutierten wir die Trägerinnen vor Ort. In Atlanta agierte einmal ein hübscher kleiner farbiger Liftboy als Münchner Kindl. So wurde die Kindl-Kutte durch mich fast so etwas wie eine internationale Einrichtung.
Einem meiner schwarz-gelben Präsentationsdirndl widerfuhr eine besondere Ehre: Bei der Jubiläumsveranstaltung »Das Oktoberfest 1810 bis 2010« wurde es auf einer Kleiderpuppe im Münchner Stadtmuseum präsentiert, mit weißer Bluse und einem Charivari aus alten kupfernen Bierzeichen, den mir die Wiesnwirte geschenkt hatten. Jetzt ruht es dort im Depot.
Eines Tages kam Bräurosl-Wirt Willy Heide, seines Zeichens gleichzeitig Sprecher der Wiesnwirte, in die Festleitung und schwenkte aufgeregt ein Päckchen: »Schau, Gabi, was i da für dich hab!«
Es war das Wiesnkartenspiel.
Der Willy packte es aus: ein bayerisches Kartenspiel, geeignet für Schafkopf und Watten, das verschiedene Protagonisten des Oktoberfestes in der Darstellung durch Karikaturisten zeigte. Ich war immer eher schwach im Schafkopf, aber stark beim Watten gewesen. Sofort schaute ich nach dem Herzkönig und rief: »I bin der Max!« Beim Watten ist nämlich der Herzkönig der höchste Trumpf und wird im Kartenspielerjargon einfach »der Max« genannt.
Die Bezeichnung ist vermutlich eine Ehrerbietung der Kartenspieler an den ersten bayerischen König Max I. Josef, der im Land hoch geschätzt wurde. Zu seiner Regierungszeit – in die auch das erste Oktoberfest im Jahr 1810 fiel – war Bayern bekanntlich lange Zeit mit Frankreich verbündet. Französische Soldaten spielten mit den bayerischen gerne Watten. Das Wort kommt von va tout, dem »letzten Trumpf« – oder auf Bairisch: »Ois geht.«
Das war schön, dass mich der Willy charmanterweise zum Max gemacht hatte. Er hatte gemeinsam mit seiner Agentur das wunderbare Kartenspiel entwickelt. Wir betrachteten heiter die weiteren Personen in dem Spiel.
Da waren natürlich Ministerpräsident Edmund Stoiber als Eichelkönig und Oberbürgermeister Christian Ude als Graskönig. Schellenkönig war der Hagn-Wiggerl vom Löwenbräuzelt, den ich selbst oft »über den Schellenkönig lobte«.
Es folgten die Ober: Als Schellenober der Günther Steinberg vom Hofbräu, als Grasober der Peter Schottenhamel. Als Herzober beeindruckte Sepp Krätz, was irgendwie zu seinem Hippodrom passte.
Als Eichelober – das höchste Blatt beim Schafkopf – erschien der Willy selbst, mit einem Maßkrug in der Hand und einem Gamsbart, den er von seinem Großvater geerbt hatte, auf dem Hut.
Damit war alles gesagt: der Willy der höchste Trumpf beim Schafkopf und ich der höchste Trumpf beim Watten! Glück hatte ich nur gehabt, dass der Willy nicht auf die Idee gekommen war, mich mit einer anderen, etwas zweifelhaften Ehre zu bedenken: Das Eichelass ist ebenfalls ein hoher Trumpf, heißt aber bei den Kartenspielern »die Oide« oder die »Oachel-Sau« …
Ich selbst habe bereits in frühester Kindheit gewattet, und zwar mit meinem Vater, Landarzt im Bayerischen Wald. Wahlweise tat ich das dann auch mit seinen Patienten und später in der Schule. In der Klosterschule bei den Englischen Fräulein in Passau wurde mir einmal ein ganzes Packerl Wattkarten abgenommen, weil ich dabei ertappt worden war, wie ich im Physikunterricht mit meiner Freundin spielte. Wir machten den Verlust wett, indem wir eigene Karten »produzierten«: Wir malten sie auf Papier und schnitten sie aus. So eine Leidenschaft für das Watten hatten wir entwickelt!
Unter anhaltenden Heiterkeitsstürmen betrachteten und kommentierten Willy und ich nun die Unter: Michael Käfer mit einer Champagnerflasche in der Hand als Eichelunter. Die Wiesnwirte Manfred Vollmer, Willi Kreitmair und Toni Roiderer stolz als Unter vor ihren Zelten.
Begeistert schrie ich dem Willy ins Gesicht: »Gehst??« Das ist der Moment der Wahrheit beim Watten. Wenn man ein gutes Blatt hat und weiß, dass man gewinnt – oder, wenn man will, auch als Bluff –, kann man den oder die Gegenspieler »ausschaffen«, also fragen, ob sie aufgeben. Tun sie das nicht, kann man hernach für den Sieg einen Punkt mehr aufschreiben.
Der Willy aber gab nicht auf, sondern wies die Asse vor, die er nicht im Ärmel, aber in der Hand hielt: Nämlich das Grasass mit einem Riesenrad, das Schellenass mit dem Schichtl-Varietétheater, die »Oide« mit einem Brauereigespann und das Herzass – natürlich – mit der Bavaria.
»Aber i bin der Max!«, rief ich wieder begeistert und deutete den Max an. Den Max deutet man an, indem man die Lippen spitzt, also Bussi, Bussi!
Andeuten heißt, dass man dem Mitspieler seiner Partei unauffällig Zeichen gibt, welche Kritischen man hat. Wenn man keine Trümpfe hat, ist man »Plafond« und schaut mit beiden Augen an die Decke.
Es war eine heitere Stunde in der Festleitung, und der Willy lachte sein typisches verschmitzt-meckerndes Lachen.
Dieses Wiesnkartenspiel begleitete mich viele Jahre, sogar über meine Zeit als Leiterin des Oktoberfests hinaus. Als ich 2012 durch den Schottenhamel ging, hielt mich eine Schar ganz junger Wiesngänger auf.
»Du bist doch der Max?«, fragte mich ein Mädchen.
»Ja, i bin der Max«, sagte ich stolz.
Die Gruppe war begeistert und rief durcheinander: »Die Frau ist der Max, sie ist die von dem Kartenspiel.«
Ich war begeistert und gerührt. Sonst sind es meist ältere Leute, die mich kennen.
Für Nichtbayern: »Max« spricht man mit offenem, hellem kurzen a aus, nicht mit dem dunklen a, für das sich Hubert Aiwanger mit seinem »Apfelsaft« schon so oft hat frotzeln lassen müssen, und auch nicht wie die »Maß«. Und Watten gilt in Bayern, auch wenn man mit Geldeinsatz spielt, nicht als unlauteres Glücksspiel, sondern als Tradition.
Und so stehe ich auf dem Wiesnkartenspiel, wie mich der Willy Heide hat zeichnen lassen, vor dem Haupteingang des Oktoberfests, natürlich mit einem Riesendekollete, einer großen Brezn im Arm und mit breitem Lachen. »Max forever!«
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