Ich bin der Andere - Andreas Vitásek - E-Book

Ich bin der Andere E-Book

Andreas Vitásek

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Beschreibung

Andreas Vitásek: eine Kabarett-Legende. Sein Leben: ein abenteuerlicher Ritt, in dem der kleine Andi aus Favoriten mal in die Wiener Nachtszene der Siebzigerjahre eintaucht, mal auf Selbstfindungstrips quer durch Europa tingelt und nicht zuletzt im Paris der Künstler*innen und Bohemiens landet – genug Stoff für erste Bühnenauftritte. Doch es wäre nicht Vitásek, wenn er in seinem Buch neben den Erfolgen als Kabarettist, Schauspieler und Regisseur nicht auch die Abgründe offenlegte: persönliche Krisen und panische Angst vor Bühnenauftritten, gebrochene Herzen, Wochenend-Vatertum und der Versuch, vom alten weißen zum alten weisen Mann zu werden. Spitzfindig, tabulos und zum Weinen komisch, zugleich poetisch und nachdenklich erzählt Vitásek von sich – und von dem Anderen, der irgendwie auch in uns steckt.

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Andreas Vitásek

Ich bin der Andere

Ein Selbstporträt

Inhalt

1.Ende, ein Anfang

2.Favoriten

3.Niki und Andi

4.Komparse

5.Arena, Salzburg und zurück

6.Sanitäter

7.Europa

8.Schnupperstunde in Paris

9.Paris, Stockholm und zurück

10.Suche nicht dich selbst, du findest niemanden

11.Nackt

12.That’s entertainment

13.Frauen und Männer

14.František, František und František

15.Das zweite Jahr

16.Zurück in Wien

17.Müllers Büro

18.Der Hype

19.Friends

20.Theater, noch ist nicht alles verloren

21.Wochenendvater

22.Kärnten mon amour

23.Fernsehen

24.Das Leben ist ein ruhiger Fluss

25.La vie en rose

26.Minibar-Blues

27.Ein Hundeleben

28.Vögel

29.O.T.

30.Das Haus

31.Gestern war heute morgen

32.65+

33.Epilog

Für Milena, Coco und Stanislaus

1. Ende, ein Anfang

Es ist aus. Das war’s. Ein unauffälliges Kuvert, nicht eingeschrieben. Und drinnen … unabänderlich, schicksalhaft, eine schlichte Plastikkarte. Grüne Schrift auf hellgrauem Grund.

PENSIONISTENKARTE

Andreas Vitasek

geboren am: 01.05.1956

Ausstellungsdatum: 10.06.2021

Auf der Rückseite ein weißer Streifen für die Unterschrift und die Information, dass diese Karte nicht übertragbar ist.

Kein Strichcode, kein Chip, kein Hologramm, kein schwarzer Magnetstreifen, kein Foto.

Wie ein Grabstein. Nur ohne Sterbedatum.

Ich zeige die Karte meiner Frau: „Schau mal, was ich gerade bekommen hab’.“ Sie blickt kurz drauf und sagt nur: „Sexy.“

In einem Interview, das ich vor über 20 Jahren einem Lifestylemagazin gegeben habe, wurde mir von der Journalistin die Frage gestellt: „Wie sehen Sie sich im Alter?“

Meine Antwort war: „Unter einem Nussbaum sitzend, ein Glas weißen Spritzer in der Hand, zu meinen Füßen ein alter Hund und meine Frau in Rufweite.“

Und wie sieht sie jetzt aus, die Wirklichkeit?

Vor einem Kirschbaum sitzend, ein Glas Pastis mit Eis in der Hand, ein alter Mops unter der Bank und meine Frau im Garten.

Also nahezu eine Punktlandung. Ich habe es geschafft. Am Ziel angelangt, zwar nicht laufend, eher humpelnd, nicht mit erhobenen Händen, nicht in Jubelpose. Aber doch … zufrieden. Zufrieden?

Über das eigene Leben zu schreiben, scheint auf den ersten Blick keine schwierige Aufgabe zu sein. Man beginnt mit der eigenen Geburt, lässt ein paar biografische Details der Eltern einfließen und arbeitet sich vor über die Stationen Kindheit, Jugend, Beruf, Beziehungen bis hin zum Alter.

Aber sehr schnell stellen sich einem Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor man beginnt, munter draufloszuschreiben.

In nicht wenigen Nummern meiner Soloprogramme, speziell der späteren, habe ich mich an meiner Vergangenheit abgearbeitet. Aber während ich es auf der Bühne oft mit der Wahrheit nicht so genau nehme und für eine Pointe auch meine Großmutter zweimal sterben lasse, fühle ich mich bei einer Biografie, die in Buchform erscheint, viel mehr der Wahrheit verpflichtet. Ich möchte ja nicht, dass später jemand behauptet: Der lügt doch wie gedruckt.

Aber kann ich sicher sein, dass mich meine Erinnerungen nicht trügen? Wie oft ist es mir schon passiert, dass Freunde von gemeinsam Erlebtem erzählen und ich mir insgeheim dachte, das hat sich doch alles ganz anders zugetragen. Wer hat jetzt recht? Im Zweifelsfall der Erzähler? Ist die Wahrheit wirklich eine Tochter der Zeit, wie ein kluger Mann einmal geschrieben hat? Ich meine jetzt den lateinischen Autor Aulus Gellius aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus und nicht einen österreichischen Politiker der Gegenwart.

Eine weitere Frage, die sich mir stellt: Wie sehr soll ich die Privatsphäre jener Menschen respektieren und schützen, die mit mir verbunden sind und die meinen Lebensweg eine Strecke weit mitgegangen sind? Speziell meiner engsten Familie gestehe ich zwar das Recht auf Anonymität zu, es ist ohnehin nicht immer leicht, eine „Person des öffentlichen Lebens“ als Ehemann oder Vater zu haben, doch lässt sich meine Geschichte nicht erzählen, ohne Familie, Freunde und Verwandte zu erwähnen. Dieses Dilemma habe ich versucht zu lösen, indem ich jene meist nur beim Vornamen nenne.

Also gut, beginnen wir:

Was ist meine früheste Erinnerung? Die an meine Geburt sicher nicht. Ich hab’ zwar in meiner Selbstfindungszeit in den späten Siebzigerjahren an etlichen Workshops teilgenommen, die sich unter anderem zum Ziel gesetzt haben, mittels Urschreitherapie das Geburtserlebnis wiederholbar zu machen. Aber gebracht hat es außer einer kurzzeitigen Heiserkeit keine großen Erkenntnisse. Ich gehe davon aus, dass meine Geburt im Großen und Ganzen so verlief wie die von Abermillionen vor und nach mir auch. Ich war halt auf einmal da.

Porträts des Künstlers als sehr junger, modebewusster Mann, mit Mutter, erstem Hund, kratziger Strickweste und Christbaum

Meine erste, allerdings nur sehr verschwommene Erinnerung ist die an einen Fußball, der immer wieder gegen ein Haustor geschossen wird. Neben dem Augustinbrunnen bei der Neustiftgasse im 7. Bezirk. Ich sehe den Ball direkt vor mir, braunes abgewetztes Leder, handgenäht, nicht ganz rund, ein Eierlaberl, wie man in Wien sagt … vielmehr früher gesagt hat. Diese Lederwuchtel gehörte meinem Cousin Hansi, bei dessen Eltern, Tante Rosi, der Schwester meiner Mutter, und Onkel Hans, einem Kellner in einem Weinhaus am Praterstern, wir in Untermiete wohnten. Wir, das waren meine Mutter Mathilde Bierbaumer, mein Vater František Vitásek und ich.

Zu dem Zeitpunkt konnte ich höchstens drei Jahre alt gewesen sein, weil ich mit vier schon im 10. Bezirk in einer Gemeindewohnung in der Angeligasse 36 gegenüber vom Bezirksgericht wohnte. Zweite Stiege, zweiter Stock, Tür elf. Und hier spielt auch eine weitere frühe Erinnerung. Jemand fragt mich im düsteren Stiegenhaus, wie ich denn heiße. Da meine Eltern gerade kurz zuvor geheiratet hatten, antworte ich wahrheitsgemäß: „Andreas Vitásek, geborener Bierbaumer.“

Was ein unerwarteter Lacherfolg wurde. Ich versuchte dann bei allen möglichen Gelegenheiten, diesen Sager anzubringen. „Andreas Vitásek, geborener Bierbaumer.“ Ich wusste zwar nicht warum, aber es war meistens ein Lacher. Mein erster wiederholbarer Gag.

Um gleich eines zu klären, das Stricherl über dem a bei Vitásek ist kein háček, sonst wäre es ja ein Häkchen und der Name würde Vitaschek ausgesprochen werden, sondern eine čárka, ein Strichlein, das einen langen Vokal markiert. Da im Tschechischen grundsätzlich der erste Vokal betont wird, wird mein Name korrekt Vitaasek mit Betonung auf dem i ausgesprochen. Versuchen Sie es einmal. Klingt gleich behmisch. Seit dem Aufkommen des Internets lasse ich das Stricherl der Einfachheit halber bei der digitalen Kommunikation weg, und auch sonst bin ich in der Anwendung konsequent inkonsequent. Will heißen, es ist mir egal, ob es jemand so oder so schreibt. Und meinen Namen spreche ich mit Betonung auf i und kurzem a aus. Probieren Sie es einmal. Klingt wie der Papagei einer Möbelhauswerbung. „Wintersale!“

Ah, gerade taucht eine noch frühere Erinnerung auf. Bei der Hochzeit meiner Eltern war ich ja dabei. Ich durfte im BMW vom Onkel Franz, dem Bruder meiner Mutter, zum ersten Mal vorne sitzen. Mein Onkel konnte perfekt Hans Moser imitieren – „mei Feierzeig, des is a Patent“ – und er nannte seinen BMW Fanny. Immer wenn er bergauf fuhr, rief er: „Hüho Fanny, hüho!“, und tat pantomimisch so, als würde er das Auto wie einen alten Gaul peitschen.

Die Hochzeit meiner Eltern fand am Standesamt vom 10. Bezirk statt. Meine junge Mutter strahlte und hatte einen seltsamen Hut auf, irgendwie geflochten und schwarz. Mein Vater schwitzte, wie immer, wenn er nervös war. Danach gab’s eine feuchtfröhliche Hochzeitsfeier im Wohnzimmer unserer 45-Quadratmeter-Wohnung. Mein Vater schickte mich sehr früh ins Bett, ich machte im Abgang eine freche Bemerkung, die Gäste lachten und meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich hatte ihn mit einem Witz besiegt.

Das Standesamt war im selben Magistratsgebäude am Keplerplatz untergebracht, wo ich Jahrzehnte später das Begräbnis meines Vaters in die Wege leitete.

Ich weiß noch, wie sehr ich von der Professionalität des Bestattungsbeamten beeindruckt war. Mitfühlend, aber nicht einschleimend. Eine echte Gratwanderung. Er zeigte mir einen neutralen schwarzen Ordner mit verschiedenen Fotos, die in einfachen Klarsichthüllen steckten. Auf den Fotos konnte man verschiedene Aufbahrungsvarianten sehen.

Der Beamte fragte mich mit gedämpfter Stimme:

„Wollen Sie ein Begräbnis der Kategorie A, B oder C?“

„Wo ist der Unterschied?“

„Wie Sie sehen können, werden bei der Kategorie B im Vergleich zur Kategorie A in der letzten Reihe keine Kränze abgelegt und die zwei Kerzenständer auf jeder Seite sind weg.“

Die Trauung von Mathilde Bierbaumer und František Vitásek am Favoritener Standesamt, 1962

„Aha.“

Ich sah überhaupt keinen Unterschied.

„Und wie ist Kategorie C?“

„Sie werden doch nicht Kategorie C …“

„Nein, nein, eh nicht, also gut, dann Kategorie B.“

„Kirchliche Rede oder weltliche Rede?“

„Wie bitte? Sie meinen, da redet jemand über meinen Vater, der ihn gar nicht kennt?“

„Sie geben ihm natürlich die notwendigen Informationen über Ihren Vater, die wichtigsten Eckdaten, vielleicht ein paar lustige Anekdoten, das lockert immer etwas auf …“

„Nein, keine Rede.“

„Na gut. Musik?“

„Was gibt’s denn da?“

„Wir hätten zur Auswahl einen Chor mit Sängern der Volksoper oder …“

„Nein.“

„Keine Musik?“

„Bitte nicht.“

„Es gäbe auch noch die kostengünstigere Möglichkeit, über ein Kassettengerät klassische Trauermusik abzuspielen. Wir haben da drei Vorschläge. Auf der ersten Kassette wäre Der Tod und das Mädchen …“

„Das nehm’ ich.“

Ich hatte kurz zuvor den Schubertfilm Mit meinen heißen Tränen von Fritz Lehner gesehen und war begeistert.

Als während der Begräbnisfeier am Zentralfriedhof die Musikkassette abgespielt wurde, verhedderte sich das Tonband im Abspielgerät und es ertönte eine Art sehr schnell gespielter Mickymaus-Musik. Wir haben alle kurz, aber herzhaft gelacht. Von da an war das Begräbnis eine entspannte Angelegenheit.

Wieder einige Jahrzehnte später ging ich abermals aufs selbe Magistrat, um das Begräbnis meiner Mutter in die Wege zu leiten. Da war ich schon routinierter. Den Beamten von damals gab es nicht mehr, auch keine schwarze Fotomappe, genauso wenig wie das Kassettenabspielgerät, stattdessen spielte beim Begräbnis ein einwandfrei funktionierender CD-Player Max Richters On the Nature of Daylight. Ganz ohne Panne. Eigentlich schade. Ein kleiner Lacher schadet keinem Begräbnis.

Eine weitere Kindheitserinnerung ploppt auf: An meinem vierten Geburtstag am 1. Mai in der Früh hörte ich von draußen auf der Straße laute Musik und Sprechchöre. Ich schaute aus dem Fenster und sah Menschen mit Spruchbändern und geschmückten Fahrrädern, hupend, trommelnd, Trompeten spielend, Parolen skandierend und rote Fahnen schwingend die Laxenburgerstraße hinunter in Richtung Innere Stadt marschieren.

Ich fragte meine Eltern, was denn der Anlass für dieses Spektakel sei, und sie antworteten ganz ernst und ohne mit den Mundwinkeln zu zucken: „Das ist dir zu Ehren, weil du heute Geburtstag hast.“

Ich fand das völlig in Ordnung und fragte nicht weiter nach. Offenbar bin ich etwas Besonderes, dachte ich mir. Ein Prinz oder so was. Als ich später entdeckte, dass sie mich angeschwindelt hatten, war ich so enttäuscht, dass ich mir schwor, niemals in meinem Leben an einem Maiaufmarsch teilzunehmen.

2. Favoriten

Mein Aufwachsen in Favoriten war geprägt vom tagtäglichen Kicken im Käfig des Suchenwirtparks, von ganzen Sommern im Laaerbergerbad, im „Laatschi“, nervenaufreibenden U-Hakerlschlachten gegen den Erzfeind Arthaberpark und gegen den Trostbau – einem Gemeindebaukomplex in der Troststraße –, „Motocross“-Fahrrad fahren mit hochgezogenem Lenker am Wienerberger Ziegelteich hinter dem Coca-Cola-Gebäude, Zigaretten rauchen auf der Gstettn jenseits der Grenzackerstraße – von den Eltern gefladerte filterlose Donau mit Schädelwehgarantie oder offene Smart Export um 50 Groschen das Stück, im Stanitzl verkauft vom Muskovitch, dem Wirten am Eck –, sehr viel Eis beim Tichy, immer mit Haselnuss, das beste der Welt, gebackener Scholle mit Mayonnaisesalat aus dem Papierl am Viktor-Adler-Markt, der, wie ich bei einem Besuch im Bezirksmuseum lernte, während der Nazizeit Horst-Wessel-Platz hieß. Kein Wunder, dass rechte Parteien ihren Wahlkampfabschluss mit Vorliebe noch immer dort zelebrieren.

Kindergarten war in der Gudrunstraße, Volksschule in der Leibnizgasse, Schwimmen lernen war im Amalienbad. Das erste Mal vom Trampolin bis zur Kette, die den Nichtschwimmer- vom Schwimmerbereich trennte, durchtauchen, ohne Luft zu holen. Erstkommunion in der St. Antonskirche, davor meine erste Beichte, in der ich verschwieg, dass ich gegen das sechste Gebot verstoßen habe. Ich hab’ nämlich im Gebüsch des Suchenwirtparks mit der Monika, der Tochter vom Gefängnisdirektor … egal.

Dafür erfand ich zum Ausgleich eine Sünde, weil irgendwas hab’ ich ja beichten müssen. Ich behauptete, ich hätte den Radiergummi eines Mitschülers gestohlen. Das heißt, ich habe gelogen, um zu beichten. Ich musste daraufhin zur Buße zwei Vaterunser und zwei Heilige-Maria-Mutter-Gottes beten, das hab’ ich aber nicht gemacht, weil ich den Text nicht auswendig konnte. Wenn ich etwas nicht versteh’ – gebenedeit, Schuldigern und so komische Ausdrücke –, dann merk’ ich es mir auch nicht. Das ist im Theater genauso. Es muss für mich einen Sinn ergeben. Ich kannte ein Mädchen, das sehr gerne in die Kirche ging, weil es dort immer von allen freundlich begrüßt wurde: „Hallo Julia, hallo Julia!“ Und bei „Domino, wo bist du?“ hat sie sich hingekniet und den Dominostein am Kirchenboden gesucht.

Nach der Beichte sind meine Mitschüler vor der St. Antonskirche herumgesprungen und haben geschrien: „Ich fühl’ mich so leicht, ich kann fliegen!“ Klarer Fall von Massenhysterie. Und ich mit ihnen, „ich bin auch leicht, ich kann auch fliegen“. Hab’ aber nichts gespürt, vielleicht hätte ich doch das mit dem Gebüsch und der Monika erzählen sollen.

František Vitásek begrüßt seine neue Heimat (links); bei der Ausübung seines Berufs als Zuschneider (rechts unten); sein Personalausweis für Ausländer und Staatenlose

Am ersten Tag meiner Volljährigkeit bin ich aus der Kirche ausgetreten. Also eigentlich am zweiten, weil am 1. Mai hat das Magistrat in Favoriten so was von zu, zuer noch als an anderen Feiertagen. Übrigens jenes Magistrat, in dem … wie sich Lebenslinien immer wieder verknoten und dann wieder auseinanderführen. Das macht es auch so schwierig, linear die Geschichte eines Lebens, meines Lebens zu erzählen. Denn neben der wirklichen Lebenslinie läuft ja noch die mögliche Lebenslinie, all das, was hätte sein können. Oft frage ich mich, was geschehen wäre, wenn ich zu diesem oder jenem Zeitpunkt eine andere Entscheidung getroffen hätte. Würde ich heute an genau demselben Punkt stehen oder wäre alles ganz anders geworden? Wäre ich der gleiche oder wäre ich jemand ganz anderer? Und wie wäre dann dieser andere? Selbst als ich schon als Kabarettist in Österreich einigermaßen erfolgreich war und bereits ganz gut von meinen Auftritten leben konnte, pflegte mich meine Mutter regelmäßig zu fragen: „Andi, glaubst du nicht, wenn du gleich nach der Schule in eine Bank gegangen wärst, dass du heute schon eine schöne Position hättest?“

František Vitásek vor dem Rathaus (man beachte die Werbung für Mietwäsche auf der Tramway); das fesche Paar František und Mathilde, wahrscheinlich bei der Wiener Messe

Und ich antwortete jedes Mal darauf: „Mama, wenn ich ein Kabarettprogramm spiele, das gut läuft, verdiene ich doch mehr als ein Angestellter in einer Bank.“

Und drauf sie: „Ja, aber das wäre halt was Sicheres.“

Nach der Finanzkrise 2008 hat sie nie mehr wieder davon gesprochen. Wahrscheinlich hätte sie in der Coronakrise wieder damit angefangen.

Meine Mutter Mathilde, für die meisten war sie die Hilde und irgendwann einmal die Mati, eine Verknüpfung von Mutti, Mama und Mathilde, die Mati also wurde am 14. Februar 1933 in Kematen an der Ybbs geboren. Am Valentinstag, ein Datum, das man sich sogar als vergesslicher Rabensohn leicht merken kann. Über ihre Kindheit in den Kriegsjahren hat sie mir so gut wie nichts erzählt, ich hab’ aber auch nicht wirklich nachgefragt. Das war ein Fehler. Kinder, löchert eure Eltern mit Fragen, solange sie sich noch halbwegs erinnern können. Sie werden euch vielleicht mehr erzählen, als euch lieb ist.

Ich nehme an, dass meine Mutter die Kriegszeit im Mostviertel verhältnismäßig unbeschadet überstanden hat. Nach dem Kriegsende zog sie nach Wien und schloss sich der Heilsarmee an. Sie lernte meinen um 22 Jahre älteren Vater kennen. Wie und wo, weiß ich leider nicht. Aber ich nehme an, eher in einem Nachtlokal als im Lesesaal der Nationalbibliothek. Mein Vater war ein tschechischer Zuschneider, der vor den Kommunisten nach Österreich geflüchtet war, schon zwei gescheiterte Ehen hinter sich hatte und den man wahrscheinlich zutreffend als Lebemann bezeichnen konnte. Nach den Fotos aus jener Zeit zu schließen, dürften die beiden ein recht flottes Leben miteinander geführt und gemeinsam diverse Wiener Nachtlokale wie den Mondscheinkeller oder die Casanovabar unsicher gemacht haben. Bis ich kam. Wie ich später erfuhr, hat sie meinem Vater verschwiegen, dass sie schwanger war, da sie schon zuvor einen damals noch illegalen Schwangerschaftsabbruch hatte durchführen lassen und mich auf jeden Fall bekommen wollte. Ich bilde mir ein, dass ich deshalb immer eine unerklärbare Sehnsucht nach einer älteren Schwester hatte. Aber das ist natürlich völliger esoterischer Quatsch.

Als meine Mutter einmal meinen Vater erwischte, wie er gerade mit einer anderen Frau aus dem Stundenhotel Orient kam, schnappte sie mich und fuhr zurück nach Kematen zu ihren Eltern, um dort zu bleiben und mich dort auch großzuziehen.

Ich kann mich nur sehr dunkel an meine Großeltern erinnern, an die Oma Leopoldine eigentlich nur über den Geruchssinn. Majoran, sie hat alles mit einer Überdosis Majoran gewürzt. Den Opa Franz Xaver hab’ ich hauptsächlich mit Inhalationsapparat in Erinnerung. Er war Arbeiter in der Papierfabrik in Kematen und litt wegen der Feinstaubbelastung bei der Zellstofferzeugung an schwerem Asthma. Wenn er sein Inhalationsgerät abgesetzt hat, kam ein Hitlerbärtchen zum Vorschein. Aber damals haben alle Männer seiner Generation in der Gegend ein Hitlerbärtchen getragen bzw. hat der Hitler eine Rotzbremse wie alle Männer seiner Generation gehabt. Hitler war ja zumindest bartmäßig kein verhaltensauffälliger Exzentriker.

Mein Opa hat mir einmal eine fünfbändige Brockhaus-Ausgabe geschenkt, auch die kleine Schwester des Brockhaus genannt, warum Schwester, weiß ich nicht, steht so in Wikipedia. Wikipedia ist übrigens laut Wikipedia „ein Projekt zur Erstellung eines freien Onlinelexikons in zahlreichen Sprachen“. Quasi der Killer des Brockhaus.

Diese Brockhaus-Ausgabe wurde meinem Großvater von einem Keiler an der Tür aufgeschwatzt. Der Brockhaus wurde ja hauptsächlich an der Tür verkauft, so wie der Wachtturm von den Zeugen Jehovas.

Der Vertreter hat aus meinem Opa irgendwie rausgequetscht, dass er ein Enkerl hat, das gerade in die Volksschule gekommen ist, und so meinen Opa an seiner schwachen Stelle erwischt.

„Ihr Enkerl soll es doch einmal besser haben als Sie“, und schon hat Franz Xaver unterschrieben und sich so zu überteuerten Ratenzahlungen bis an sein Lebensende verpflichtet.

Ferner kann ich mich noch an die Hasenställe bei der Ybbsbrücke erinnern, unter der das Wasser damals so schön gelb geschäumt hat, wie in einem Schaumbad in der Badewanne. Der Schaum kam natürlich von den Schadstoffen, die bei der Papiererzeugung entstehen.

Hätte sich damals meine Mutter nicht doch noch von meinem Vater zur Rückkehr nach Wien und zur anschließenden Heirat überreden lassen, wäre ich wohl in Kematen an der Ybbs aufgewachsen und würde heute Andreas Bierbaumer heißen. Kein schlechter Name für einen Kabarettisten.

Einmal bin ich im Zuge einer Tournee – ich hatte einen Auftritt in Waidhofen an der Ybbs – durch Kematen gefahren.

Das Geburtshaus meiner Mutter wurde abgerissen, das Wasser unter der Ybbsbrücke ist sauber und klar und die Hasenställe sind Laufhäusern gewichen. So gut ist der Name Bierbaumer auch wieder nicht fürs Kabarett.

Die Brockhaus-Ausgabe aus dem Jahre 1961 habe ich noch immer, und ich hab’ sie als Kind intensiv genutzt. Oft hab’ ich vor dem Einschlafen darin gesurft, ohne etwas Bestimmtes zu suchen.

Eines Abends, ich war schon im Bett, hörte ich, wie meine Eltern laut lachten, sie sahen sich irgendetwas im Fernsehen an. Ich stand auf, schlich zur Tür und sah im Fernseher, mit dem Piratenschiff und der Libelle oben drauf, schwarz-weiß, unscharf, zwei Männer als Frauen verkleidet. Sie scherzten miteinander, und meine Eltern schmissen sich weg vor Lachen. Das war die Bilanz der Saison mit Farkas und Waldbrunn. Ich verstand nicht viel, nur dass der Dicke immer den Kopf auf die Schulter des kleinen Hageren gelegt und wiederholt „gelungen“ gesagt hat. Dann hab’ ich wieder zurück ins Bett müssen. Ich hab’ den Brockhaus genommen, zufällig bei USA aufgeschlagen und hab’ alle 50 Bundesstaaten auswendig gelernt. Dann bin ich aufgestanden, bin ins Wohnzimmer, Fernseher war schon aus, es war nach der Bundeshymne und der Fahne, meine Eltern haben mich fragend angesehen und ich hab’ alle Bundesstaaten von Amerika alphabetisch aufgesagt, hab’ mich umgedreht und bin schlafen gegangen.

Am nächsten Tag hatte ich alle Namen wieder vergessen.

Für meine Mutter war es immer wichtig, berufstätig zu sein, auf eigenen Füßen zu stehen, und das hat sie auch vehement durchgesetzt. Gar nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass Frauen in Österreich bis 1975 nur mit Zustimmung des Mannes arbeiten gehen durften.

Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich im Magazin eines Lebensmittelladens in der Laxenburgerstraße mit meiner Mutter gestanden bin, Kaffee gemahlen und Kristallzucker in Papiertüten gefüllt habe.

Davor war sie Putzfrau bei der Familie des bekannten Bauunternehmers Maculan. Eine Erinnerung blitzt auf. Ich spiele im Jugendzimmer des ungefähr 15 Jahre älteren Alexander Maculan mit seinen Modellautos.

Meine Mutter hatte bedingt durch die Kriegszeit nur eine sehr einfache Schulbildung erhalten, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war sie stets bemüht, mich so gut es ging zu fördern. So hat sie mich in einer privaten Musikschule in Favoriten angemeldet, wo ich Geige lernen sollte. Und ich lernte sehr schnell, nämlich dieses Instrument abgrundtief zu hassen. Es tat weh, die Geige drückte aufs Schlüsselbein, die Fingerkuppen schmerzten von den harten Saiten und das Kolophoniumharz pickte zwischen den Fingern. In dieser Schule gab es regelmäßig musikalische Diktate, bei denen sich schnell herausstellte, dass ich nicht wirklich über das absolute musikalische Gehör verfügte. Beim ersten öffentlichen Vorspielen im Rahmen eines Schülerkonzerts musste ich zweimal von vorne beginnen und hörte schließlich entnervt auf, weil ich vor lauter Tränen die Noten nicht mehr lesen konnte.

Ein braver Bub mit seinen Eltern bei einem Ausflug, ca. 1966

Ebenso wie mein Freund aus der Volksschule, Jürgen Stepizl, der auch in jener Privatschule Geige lernte, bestand ich die Aufnahmsprüfung ins Gymnasium in der Waltergasse im 4. Bezirk. Unser Klassenvorstand Professor Flieder, dessen Kinder später das international bekannte Fliedertrio bilden sollten, lud alle neuen Schüler, die ein Instrument spielten, ein, für das Schulorchester vorzuspielen. Als ich im Musikzimmer mit meiner Geige vor dem Klavier stand, um vor versammelter Klasse das breite Spektrum meines Könnens unter Beweis zu stellen, beugte sich Professor Flieder über das Klavier, rückte seine Brille zurecht und meinte: „Dein Freund und du, ihr seid ja unzertrennlich, ich kenn’ euch gar nicht auseinander. Bist du jetzt der Stepizl oder bist du der Vitásek?“ Und ich antwortete nervös: „Ich bin der andere!“

Viele Jahre später während eines Prominententurniers, in dem Hans Krankl der Coach meiner Mannschaft war, fragte er mich in der Kabine, welche Nummer ich tragen wolle. Und ich, mich wie so oft selbst überschätzend: „I nimm den Zehner.“

Darauf Hans Krankl trocken: „Du? Du hast den Zwara eintätowiert.“

Woher wusste er das bloß? Später sagte er in einem Interview für ein Wochenmagazin zum Thema Kunst und Sport: „Es gibt auch Künstler, die gute Sportler sind. Der Vitásek zum Beispiel kann ganz gut Fußball spielen.“ Den Zeitungsartikel hab’ ich mir ausgeschnitten.

Fußball spielen war für mich eine wunderbare Möglichkeit, alles um mich herum zu vergessen, obwohl ich rückblickend eingestehen muss, dass ich dafür nur eine begrenzte ballestrische Begabung mitbrachte. Immerhin schaffte ich es bis zum Kapitän in der Jugend, heute 14+, rückte als Libero in die Mitte, ja, da gab es auch noch Ausputzer, Vorstopper sowie Rechts- und Linksverbinder. Wenn damals jemand von einer Dreierkette gesprochen hätte, wäre er vom Zeugwart mit einem nassen Handtuch vom Platz gejagt worden. In der Junioren 16+ hörte ich dann auf zu spielen, da ich auf Mittelstürmer umgeschult werden sollte und keinen blassen Schimmer hatte, wie man sich als Goalgetter zu verhalten hat. Es ging mir im gegnerischen Strafraum alles viel zu schnell. Ich brauchte Gegner, die von Weitem auf mich zustürmten, keine lästigen Verteidiger, die mir dauernd auf den Zehen standen und an meinem Leiberl zupften. Außerdem waren von nun an die Wochenenden für Diskobesuche reserviert und nicht, um mit der Bim nach Floridsdorf oder Kaiserebersdorf zu fahren und sich dort von den gegnerischen Fans aufs Ordinärste beschimpfen zu lassen.

Viel später kickte ich noch manchmal in diversen Hobbymannschaften und bei Juxpartien mit, da verstand ich das Spiel schon besser, aber mein Körper, speziell mein rechtes Knie, wollte nicht mehr so richtig mitmachen. Mit 45 absolvierte ich meine letzte Partie am LAC-Platz gegen eine übergewichtige Wirtshausmannschaft. Ich verschoss den entscheidenden Elfmeter. Im Anlaufen bekam ich einen Krampf in beiden Waden und schoss so schwach, dass sich der Tormann nach vorne werfen musste, um den Ball zu halten. Die Siegesprämie, ein Fass Bier, zahlte ich freiwillig aus meiner eigenen Tasche. Mit einer Niederlage aufzuhören ist bitter, aber damit stehe ich nicht alleine da. Zumindest das hab’ ich mit Zinédine Zidane gemeinsam.

Aber jetzt wieder 30 Jahre zurück.