Ich bin NICHT zerbrochen - Müge Tekin - E-Book

Ich bin NICHT zerbrochen E-Book

Müge Tekin

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Beschreibung

Ich bin NICHT zerbrochen“ ist die Autobiografie der Autorin Müge Tekin, die im Jahre 1967 in der Türkei geboren wurde. Müge Tekin erfuhr in ihrem Leben so viel Leid, dass sie fast daran zerbrochen wäre. Als Kind war sie der Willkür der strengen Eltern ausgesetzt, die ihre Tochter schließlich in eine Ehe zwangen. In ihrer Ehe erlebte sie seelische und körperliche Gewalt. Dennoch schaffte sie es, alles zu überwinden und den Weg zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. Die Autorin erzählt von ihrem Dasein als beste Freundin, als Tochter, als Mutter, als Alleinerziehende, als seelisch und körperlich Misshandelte und Missbrauchte und nicht zuletzt als eine nach Sinn und Wahrheit Suchende. Ihre Lebensgeschichte erzählt sie voller Leidenschaft, Ehrlichkeit und Offenheit. Sie richtet sich an alle besten Freundinnen, Töchter, Mütter, Alleinerziehende, seelisch und körperlich Misshandelte und Missbrauchte sowie alle nach Sinn und Wahrheit Suchenden. In ihrer Autobiografie durchläuft sie verschiedene Lebensabschnitte, die sie letzten Endes zu Buddha und seiner Lehre führen. Diese wahre Geschichte soll den Lesern Hoffnung geben – für ein besseres Leben in Frieden, Glück und Freiheit.

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Müge Tekin

Ich bin NICHT zerbrochen

Autobiografie nach wahren Begebenheiten

In niemals endender Liebegewidmet anmeine beiden Söhneundall die Menschen, die mich liebe- und verständnisvoll durch Dick und Dünn begleitet haben.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

KAPITEL 1: Jüngste Kindheit

KAPITEL 2: Neuanfang in Deutschland

KAPITEL 3: Kindergarten- und Grundschulzeit

KAPITEL 4: Urlaube in der Türkei

KAPITEL 5: Auf dem Gymnasium

KAPITEL 6: Unvergessliche Sommer

KAPITEL 7: In Amerika

KAPITEL 8: Oberstufe

KAPITEL 9: Volljährigkeit

KAPITEL 10: Heirat

KAPITEL 11: In Aachen

KAPITEL 12: Schwangerschaft und Geburt

KAPITEL 13: Trennung

KAPITEL 14: Scheidung

KAPITEL 15: Die Zeit danach

KAPITEL 16: Rückblick

KAPITEL 17: Einsicht und Erkenntnis

Nachwort / Danksagung

Impressum

VORWORT

Deine Seele findet ihren Pfad in ein helleres Licht durch deine ruhige Geisteshaltung. Was schwer fassbar und trügerisch ist, löst sich selber in kristallklares Nichts auf. Unser Leben ist nichts anderes als eine lange und beschwerliche Suche nach der Wahrheit. (Buddhistische Weisheit)

Warum habe ich mich dazu entschlossen, diese Worte niederzuschreiben? Nachdem ich vor Jahren wieder einmal vor der Frage stand, was für einen Sinn mein Leben eigentlich hat und warum ausgerechnet mich so viel Leid trifft, fing ich an, meine Gedanken erstmals niederzuschreiben. Es war anfänglich ein Wiedergeben der Vergangenheit und der Versuch, das erlebte Leid zu verarbeiten, das mir auch zu jenem Zeitpunkt noch so unsagbaren Schmerz bereitete. Mit der Zeit verfestigte sich der Gedanke, meine Kinder würden mich besser verstehen, wenn sie alles von mir und meinem Leben wüssten. So hatten sie doch berechtigte Fragen, die ich in kurzen Worten nicht zu beantworten vermochte, zumal ich über Jahre hinweg versucht hatte, meine Sorgen von ihnen fernzuhalten. Dabei ergab ich mich meinem seelischen Schmerz, nahm ihn an und entwickelte die Fähigkeit, aus ihm zu lernen. Diese geistige Haltung eröffnete mir einen Zugang zu einer universellen Wahrheit. Ich erlangte tiefgreifende Erkenntnisse, die mich seither mit nie gekannter Liebe, Glückseligkeit, Zufriedenheit, Ruhe, Frieden und Freiheit erfüllen.

Nichts ist befreiender, als zu erkennen, dass das Leben „dukkha“ ist und dies auf jedes fühlende Lebewesen zutrifft. „Dukkha“ ist ein Schlüsselwort im Buddhismus und wird meist mit „Leiden“ übersetzt. „Leiden“ bzw. „dem Leid unterworfen sein“ gibt jedoch nicht die wahre Bedeutung wieder. Deshalb benutzt man gerne „dukkha“ in seiner ursprünglichen Form. Dabei ist das aus dem Pali stammende Wort der zentrale Begriff zum Verständnis der Lehre des Buddhas Siddhartha Gautama. Es ist ein Sammelbegriff für alle negativen Aspekte, die sich durch die Tatsache der Vergänglichkeit ergeben. Unser Leben ist der Vergänglichkeit unterworfen, das aus Geburt, Krankheit und Tod besteht. Wenn man sich jeden Tag diese Tatsachen vor Augen führt, erlernt man die Fähigkeit, Liebe und Mitgefühl für sich und alle Lebewesen aufzubringen. Dies kann zur Erleuchtung und Freiheit führen.

Ich bin nicht der Ansicht, ein besonderer Mensch zu sein oder eine besondere Lebensgeschichte zu haben. Jedoch bewirkte mein Leidensweg meine Suche nach Sinn, Wahrheit und Weisheit. Wie Buddha in weiser Einsicht erklärte, hat jedes Leben sein Maß an Leid, das manchmal unser Erwachen bewirkt. Gerne möchte ich meine Erkenntnisse mit allen Menschen teilen, die - wie ich - auf der Suche nach dem eigentlichen Sinn des menschlichen Daseins und somit der universellen Wahrheit sind.

KAPITEL 1: Jüngste Kindheit

Wach und erfinderisch lebt ein Kind. Es hat weder Vergangenheit, Verhaltensmuster, noch Werturteile. Es spielt und äußert sich in Freiheit. (Buddhistische Weisheit)

An einem sonnigen Mittwochvormittag im Mai des Jahres 1967 wurde ich in Antalya, einer türkischen Küstenstadt am Mittelmeer, geboren. Mein Vater war schon zur Arbeit gegangen, als die Wehen meiner Mutter einsetzten. Hausgeburten waren zu jener Zeit die Regel, sodass mich meine Mutter mit der Hilfe einer ansässigen Hebamme zur Welt brachte. Mein Großvater verständigte sofort meinen Vater. Zwischen dem Einsetzen der Wehen und der Entbindung verging eine sehr kurze Zeit. Gleich nach seiner Ankunft konnte mein Vater seine neugeborene Tochter in seine Arme schließen.

Meine Eltern lebten damals zusammen mit meinen Großeltern väterlicherseits in einem Haus, das sich direkt im damaligen Hafen von Antalya befand. Da mein Großvater Quarantäne-Beamter der Regierung war, hatte er dieses Haus zur Verfügung gestellt bekommen, um dort zu arbeiten und mit seiner Familie zu leben. Zu diesem Zeitpunkt waren vier Generationen unter einem Dach vereint, nämlich meine Urgroßmutter, meine Großeltern, meine Eltern und mein Bruder.

Der damalige Hafen von Antalya wird heute nur noch als Yachthafen genutzt. Die großen Schiffe legen zwischenzeitlich am Großhafen an, der sich außerhalb der Stadt befindet. Früher gab es jedoch nur diesen kleinen Hafen. Die Schiffe gingen weit draußen auf Anker. Nach deren Ankunft begab sich mein Großvater auf das jeweilige Schiff und untersuchte die Besatzung. Nur wenn die Mannschaft frei von ansteckenden Krankheiten war, gab er ihr die Erlaubnis, an Land zu kommen. Deshalb war er in Antalya ein sehr angesehener Mann. Er wurde in Malatya geboren, lebte lange Zeit in Ankara und zuletzt in Antalya, wo er im Alter von 77 Jahren starb, zwei Jahre nach dem Tod seiner geliebten Ehefrau.

Mein Geburtshaus befand sich zentral in einer natürlichen Bucht, die vor Jahrhunderten zum Hafen ausgebaut worden war. Das Haus war ein quadratisches, zweistöckiges, weißes Gebäude und befand sich nur ein paar Meter vom Wasser entfernt. Umgeben war es von Schatten spendenden Bäumen. Leider wurde dieses Haus vor ein paar Jahren bei der Modernisierung des ursprünglichen Hafens zu einem auch für Touristen attraktiven Yachthafen abgerissen. Dabei wurden die wunderschönen Bäume gefällt. Heute klafft dort nur noch eine leere Betonfläche.

Ob Sommer oder Winter, ob ruhige oder stürmische See, es war immer schön, dem Meer zu lauschen und es zu riechen. In meinen ersten vier Lebensjahren schlief ich mit dem Rauschen des Meeres ein und erwachte damit wieder. Noch viele Jahre, nachdem wir nach Deutschland gekommen waren, sehnte ich mich nach dem Rauschen der Wellen und dem Geruch des Salzes in der Luft und auf der Haut. Dies ist für mich heute eine in mir ruhende, fast vergessene Erinnerung. Das Meer mit seinem leisen Plätschern gab mir das Gefühl von Frieden und Geborgenheit. Tobte es jedoch mit lautem Getöse, verspürte ich die unbändig große Macht der Natur.

Mein Vater arbeitete in Antalya im Elektrizitätswerk. Von Beruf war er Elektriker. Er genoss ein hohes Ansehen und große Beliebtheit. Seine Art und seine Ausstrahlung brachten ihm stets Sympathien ein. Meine Mutter war Hausfrau. Zwei Jahre vor meiner Geburt gebar sie einen Sohn, meinen Bruder. Sie war vor ihrer Heirat mit meinem Vater schon einmal verheiratet, was ich erst vor ein paar Jahren erfuhr. Ihren Erzählungen zufolge heiratete sie mit 17 Jahren einen Hubschrauberpiloten, der beim Militär beschäftigt war. Annähernd zwei Wochen nach ihrer Heirat stürzte ihr Mann bei einem Einsatz ab und verunglückte dabei tödlich. Nach seinem Tod kehrte sie zu ihrer Familie zurück. Sie lebte weiter mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester. Ihre ältere Schwester war bereits verheiratet und lebte nicht mehr bei der Familie. Sie war mit einem Berufssoldaten verheiratet, wodurch auch die erste Ehe meiner Mutter zustande gekommen war. Nach den Erzählungen meiner Mutter war es für sie nicht einfach, wieder in ihr Elternhaus zurückzukehren. Sie wollte gerne studieren, aber ihre Mutter überredete sie zu einer hauswirtschaftlichen Ausbildung. Im Jahre 1964 heiratete sie meinen Vater. Zu der Zeit war sie 20 Jahre alt.

Meine Mutter war nach ihren eigenen Worten ein schwieriges Kind. Zum Unbehagen ihrer Mutter verhielt sie sich wie ein lausbübischer Junge und stellte viel an. Sie lieh die Fahrräder der Arbeiter ihres Vaters aus, fuhr damit herum, kletterte auf Bäume und machte allerlei, das seinerzeit nicht üblich für ein Mädchen war. Sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater. Mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern verstand sie sich nicht so gut. Ihr Vater war ein sehr angesehener Kriegsveteran, der mit vielen Orden geehrt worden war. Er stammte ursprünglich aus Isparta. Dort besaß er große Ländereien, die er bis zu seinem Tod bewirtschaftete. Er war ein großer, kräftiger Mann, hatte viele Bedienstete und genoss ein hohes Ansehen. Während meine Mutter mit meinem Bruder im siebenten Monat schwanger war, starb ihr Vater. Ihre tiefe Trauer über den Tod ihres geliebten Vaters führte zu einer Frühgeburt. Trotz anfänglicher Sorgen entwickelte sich mein Bruder aber gut. Eines seiner Augen schielte bereits bei der Geburt und besitzt auch heute nicht die volle Sehkraft.

Die ältere Schwester meiner Mutter stammte aus der ersten Ehe ihrer Mutter. Außer ihren beiden Schwestern hatte meine Mutter auch einen Bruder, von dem ich erst sehr spät erfuhr. Er war aus der Familie ausgestoßen worden, weil er ein Alkoholiker und stadtbekannter Landstreicher in Antalya war. Irgendwann hörte ich meine Eltern über seinen Tod sprechen. Da erst erzählten sie uns von ihm. Ich erinnerte mich daran, diesen Mann als kleines Kind oft auf den Straßen von Antalya gesehen zu haben. Es kam mir damals so vor, als ob er uns beobachtete und irgendwie überall auftauchte. Auf mich machte er einerseits einen beängstigenden Eindruck, andererseits hatte er etwas Sanftes an sich, das innere Trauer ausstrahlte. Er war wie sein Vater ein äußerst großer, kräftig gebauter Mann. Seine Haare und sein Bart waren dunkelbraun und gelockt. Sie verdeckten sein rundlich fülliges Gesicht. Er sah zerzaust und ungepflegt aus, woraus man schließen konnte, dass er auf der Straße lebte und sich seit langer Zeit nicht mehr gewaschen hatte. Seine abgenutzten Bekleidungsstücke und abgelaufenen Schuhe waren verschmutzt und fleckig. Sein gelöcherter, alter Mantel ging hinunter bis zu seinen Waden. Immer wenn wir in Antalya diesem Mann begegneten, verschwand mein Vater kurz und war hinterher plötzlich wieder da. Nach der Nachricht über den Tod meines Onkels wurde mir bewusst, dass mein Vater ihm bei ihren Begegnungen aus Mitgefühl Geld gab. Meine Mutter erzählte, ihr Bruder sei immer sehr jähzornig gewesen, habe seinen Verstand verloren und sei dann als Landstreicher auf den Straßen von Antalya gestorben. Die gesamte Familie schämte sich für ihn und verleugnete ihn deshalb. Ich hätte ihn gerne kennengelernt. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, was ich sehr bedauerlich finde.

Mein Vater hatte zwei Brüder. Sein älterer Bruder stammte aus der ersten Ehe seiner Mutter. Er war Anwalt und arbeitete für die Regierung. Er starb im Jahre 2003 im Alter von 74 Jahren nach einer langjährigen Parkinson Erkrankung. Der jüngere Bruder meines Vaters arbeitete beim türkischen Geheimdienst und lebte mit seiner Familie in Ankara. Was kann ich noch von unseren Ursprüngen erzählen? Nicht wirklich viel. Meine Großeltern sowie einige meiner Onkel und Tanten sind zwischenzeitlich verstorben. Zu meinen Cousins, Cousinen und meinen noch lebenden Verwandten habe ich keinen Kontakt mehr.

Trotz unseres nicht schlechten Lebens in der Türkei war meine Mutter unzufrieden. Sie wollte zur besseren Gesellschaft gehören und sah in der Türkei nicht die Möglichkeit, ihre Ziele und Träume zu verwirklichen. Ursprünglich war es ihr Wunsch, nach Amerika auszuwandern. Das war meinem Vater aber zu weit weg von der Heimat. Auch wenn er lieber weiterhin in Antalya gelebt hätte, gab er dem Drängen meiner Mutter nach und erklärte sich bereit, sich von einer Firma in Deutschland als Elektriker anwerben zu lassen. Zu jener Zeit suchte man in Deutschland händeringend nach gut ausgebildeten Facharbeitern mit Berufserfahrung. So nahm mein Vater im Jahre 1971 seine Beschäftigung als Gastarbeiter in Stuttgart auf.

Als kleines Kind hing ich sehr an meinem Vater. Da er plötzlich weg war, trauerte ich sehr und aß tagelang nichts. Weil alle sehr beunruhigt waren, bekam ich eine Halskette mit einem Anhänger in Herzform. Darin war ein Foto von meinem Vater, das ich mir immer anschauen konnte, wenn die Sehnsucht zu groß wurde. Danach begann ich, wieder zu essen. Ein paar Monate nach seiner Abreise flogen meine Mutter, mein Bruder und ich ebenfalls nach Stuttgart. Der Familie in der Türkei erzählte meine Mutter, wir würden nach Deutschland gehen, weil es dort bessere Ärzte gebe. Diese würden gewiss den Sehfehler meines Bruders beheben. Im Laufe der Jahre brachte meine Mutter meinen Bruder zu diversen Ärzten in Deutschland, jedoch erlangte er nie die volle Sehkraft.

Meine erste bewusste Erinnerung an meine Kindheit ist unser Flug nach Stuttgart. Im Flugzeug verspürte ich starke Übelkeit und musste mich wiederholt übergeben. Ich saß neben meiner Mutter in einem engen Sitz und konnte weder nach vorne noch nach hinten sehen. Ich sah nur große Sitze und die Stewardessen, die äußerst bemüht um mich waren. Ihren Blicken konnte ich deutlich ihr Mitgefühl für mich entnehmen. Zu der Zeit war ich vier Jahre alt.

KAPITEL 2: Neuanfang in Deutschland

Es gibt eine Vollkommenheit, tief inmitten alles Unzulänglichen. Es gibt eine Stille, tief inmitten aller Ratlosigkeit. Es gibt ein Ziel, tief inmitten aller weltlichen Sorgen und Nöte. (Buddhistische Weisheit)

Hier in Deutschland angekommen, hatte ich das Gefühl, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Es dauerte Jahre, bis ich begriff, wie sehr mir das Meer fehlte. Ob rauschend, plätschernd oder tosend, begleitete es mich meine ersten vier Lebensjahre. Nun aber umgab mich nur noch eine merkwürdig leere Stille. Auch an die Temperaturen musste ich mich erst gewöhnen, so empfand ich es hier als kalt, düster und dunkel. Ich verstand die Sprache nicht, somit verstand ich die Menschen nicht. Ich fühlte mich fremd und aus der Geborgenheit der Großfamilie gerissen. Als ich meinen Fuß auf den Boden in Deutschland setzte, begann mein bewusstes Erleben des Leidens. Ich fühlte mich unwohl. Mir fehlten meine Großeltern, mein gewohntes Umfeld und im Besonderen das Meer. Noch jahrelang wohnte das Gefühl der Sehnsucht tief in meinem Herzen. Das Meer war immer das Schönste gewesen, auch wenn ich es zum Zeitpunkt meiner jüngsten Kindheit nur unbewusst erlebt hatte.

Meine Mutter und wir Kinder waren mit einem Besuchervisum in Deutschland eingereist. Beabsichtigt war es, hier zu bleiben, jedoch konnten wir kein anderes Visum für unsere Einreise bekommen. Deshalb wandten sich meine Eltern an verschiedene Institutionen und fanden zuletzt eine Beratungsstelle für türkische Mitbürger. Dort unterstützte man uns und bewirkte einen legalen Aufenthaltsstatus für meine Mutter und uns Kinder. Auch vermittelten sie uns eine Wohnung im Westen von Stuttgart und eine Arbeit für meine Mutter.

Man begleitete uns viele Jahre lang und stand uns stets mit Rat und Tat zur Seite. Bei den Vermietern der vermittelten Wohnung handelte es sich um ein älteres, kinderloses Ehepaar. Die Frau betrieb eine eigene Schneiderei. Ihre Wohnung, unsere Wohnung und die Schneiderei befanden sich in demselben Haus, was für alle sehr praktisch war, da meine Mutter gleich nach unserem Einzug ihre Arbeit in der Schneiderei aufnehmen konnte. Weil mein Bruder bereits sieben Jahre alt war, wurde er eingeschult. Kurze Zeit später kam ich im Alter von fünf Jahren in den Kindergarten.

An meinen ersten Tag im Kindergarten erinnere ich mich noch wie heute. Mein Vater war bereits zur Arbeit gegangen. Meine Mutter und ihre Chefin waren in der Schneiderei. Nun sollte ich in den Kindergarten gebracht werden, aber die Vermieterin meinte, das könne meine Mutter nicht machen, weil sehr viel Arbeit auf sie warte. Deshalb brachte mich der Vermieter, ein netter, alter Mann, an jenem Tag in den Kindergarten. Aber ich wollte von meiner Mutter begleitet werden, weil mir der Vermieter fremd war. Alles machte mir Angst. Mir standen die Tränen in den Augen. Als meine Mutter meine feuchten Augen bemerkte, sagte sie, ich solle mich beherrschen und bloß nicht weinen. Dabei schaute sie mich so streng an, dass ich erstarrt meine Tränen unterdrückte. Im Kindergarten angekommen, sah ich überall das Licht brennen, wodurch die Räume in einem für mich unnatürlichen Weiß strahlten. Zudem war für mich der Anblick von so vielen blonden Kindern ungewohnt. Ich verstand kein Wort, ich fühlte mich unbeschreiblich traurig und alleine. Um aber meiner Mutter gerecht zu werden, beherrschte ich mich und weinte nicht, aber innerlich fühlte ich großen Schmerz. Meine Mutter erzog uns sehr streng. Sie bestimmte über uns und wollte stets die Kontrolle behalten. Wenn sie mich mit ihrem strengen Blick ansah, dann bebte ich vor Angst und konnten nicht anders, als ihr zu folgen. Aus den Anfängen meines Lebens in Deutschland kann ich mich an genau diese Momente sehr gut erinnern, da sie schmerzvoll und prägend für mich waren.

KAPITEL 3: Kindergarten- und Grundschulzeit

Solange du dem Anderen sein Anderssein nicht verzeihen kannst, bist du noch weit ab vom Wege zur Weisheit. (Buddhistische Weisheit)

Im Kindergarten lernte ich Sabine kennen. Sie war ein schlankes Mädchen mit kurzen, blonden Haaren und blauen Augen. Sehr bald freundeten wir uns an. Wir wohnten beide in der Nähe des Kindergartens und trafen uns auch immer wieder in unserer Freizeit. Da meine Eltern beide arbeiteten, war ich oft bei ihr. Sabine wurde von ihrer Großmutter liebevoll und geduldig betreut. An ihre Eltern kann ich mich nicht mehr erinnern, ich sah sie kaum. Nach dem Kindergarten gingen wir anfangs in dieselbe Grundschule. Zur zweiten Klasse wechselte Sabine in eine andere Grundschule. Danach brach unser Kontakt ab.

Während meiner Kindergarten- und Grundschulzeit nähte mir meine Mutter oft Bekleidungsstücke, die ich dann auch anziehen musste. Ich fühlte mich damit unwohl, da sie so auffällig waren und sich die anderen Kinder über mich lustig machten. Ich hätte lieber wie sie einfach eine Jeanshose und einen Pullover getragen, aber ich hatte kein Mitspracherecht. Aufgrund meiner Herkunft war ich sowieso schon eine Außenseiterin. Dieser Umstand wurde durch meine Bekleidung noch verstärkt.

Bis zur Einschulung hatte ich wenigstens einigermaßen Deutsch gelernt. Die Grundschule besuchte ich im Westen von Stuttgart. Dort hatte ich vier lange Jahre dieselbe Klassenlehrerin, die mir das Gefühl gab, unerwünscht zu sein. Darüber war ich oft traurig, aber jeder Tag lehrte mich, besser damit umzugehen.

In der Zwischenzeit waren wir in eine andere Straße im Westen von Stuttgart umgezogen. Aus der alten Wohnung mussten wir ausziehen, da meine Mutter nicht mehr in der Schneiderei arbeiten wollte. Die neue, aus drei Zimmern bestehende Wohnung war größer und befand sich im vierten Stockwerk eines Wohngebäudes. Die Hausbesitzerin, eine ältere, unverheiratete Dame, wohnte in demselben Haus. Sie war freundlich und mochte uns Kinder sehr. Selber hatte sie keine Kinder. Mein Bruder und ich teilten uns ein Zimmer, das auch gleichzeitig das Esszimmer war. Für Besucher und gemeinsame Abende nutzten wir das Wohnzimmer. Meine Eltern hatten ein eigenes Schlafzimmer, das wir nicht ohne ihre Erlaubnis betreten durften.

Nachdem meine Freundin Sabine weggegangen war, freundete ich mich mit einer Mitschülerin namens Andrea an. Sie war ein wenig mollig und hatte sehr schöne Gesichtszüge. Ihr schulterlanges, glattes, blondes Haar und ihre leuchtend blauen Augen machten sie zum Blickfang. Meist war sie ernst, ruhig und in sich gekehrt. Sie wohnte nur ein paar Häuser weiter. Wir hatten denselben Schulweg und trafen uns auch oft nach der Schule.

In der zweiten Klasse bekam ich einen Teddybären von meinen Eltern geschenkt. Er war ungefähr einen halben Meter groß, hatte ein braunes, flauschiges Fell und ein freundliches Lächeln im Gesicht. Sie hatten ihn in einem Kaffeeladen gekauft. Deshalb duftete er lange Zeit herrlich nach Kaffee. Auch Andrea hatte genau denselben Teddy, was uns noch mehr verband. Ich hatte außerdem eine große Puppe und eine kleine Barbie Puppe. Andere Spielsachen besaß ich nicht. Mit einer Vielzahl von Malstiften, Papier, wie auch Büchern vertrieb ich mir oft die freie Zeit. Meinen Teddy hatte ich besonders lieb. Er lag stets in meinem Bett und war mir ein Trost, wenn ich trauerte. Nachts konnte ich nicht mehr ohne ihn einschlafen. In der vierten Klasse sah er aber schon ziemlich abgenutzt aus. Meine Mutter sagte mir eines Tages, ich solle ihn doch endlich wegwerfen, er sei nicht mehr schön und ihm fehle schon an vielen Stellen der Pelz. Damit war ich natürlich nicht einverstanden, er war doch mein ein und alles. Eines Morgens musste ich nach dem Aufwachen das Fehlen meines Bären feststellen. Ich fragte meine Eltern nach meinem liebsten Begleiter und Trostspender, aber sie behaupteten, keine Ahnung zu haben. Mein Herz war erfüllt von Trauer. Viele Tage lang weinte ich aufgrund meines großen Verlustes. Ein paar Wochen später war ich mit meinen Eltern in der Stadt. Da sah ich in demselben Kaffeeladen wieder den gleichen Teddy und konnte meinen Vater dazu überreden, ihn mir zu kaufen. Ich war so unendlich glücklich, wieder meinen Teddy zu haben, aber das sollte nicht von Dauer sein. Ein paar Tage später wollten meine Eltern Freunde besuchen und brauchten ein Geschenk für deren Kind. Meine Eltern nahmen meinen Teddy und meinten, ich sei doch schon zu alt für so etwas. Diesmal tröstete ich mich mit dem Gedanken, dieser Bär hätte nie ein Ersatz für meinen Teddy sein können. Etliche Jahre später, nachdem ich selber Mutter geworden war, sagte mein Vater, es tue ihm noch heute leid, mir meinen heiß geliebten Teddy damals weggenommen zu haben. Nachdem mein Bär weg war, umarmte ich jede Nacht mein Kissen und stellte mir dabei meinen Teddy vor. Denn ich wusste, ein Kissen würde man mir nicht wegnehmen.

Meine Grundschullehrerin war eine sehr große Frau mit schulterlangen, braunen, glatten Haaren. Sie trug immer Kleider in Brauntönen, oft kariert oder gemustert. Darunter hatte sie ob Sommer oder Winter beigefarbene Strumpfhosen und braune, flache Schuhe an. Ihr Kleiderstil ließ sie älter aussehen, als sie tatsächlich war. Ihr kantiges Gesicht verstärkte ihre männliche Ausstrahlung. Da sie nie lächelte, wirkte sie stets ernst. Bereits von Beginn an vermittelte sie mir das Gefühl, meine Leistungen seien unzureichend. Deshalb lernte ich viel mehr für die Schule als die meisten meiner Mitschüler. Ich war als Nicht-Deutsche recht gut in meinen Leistungen. In Mathematik hatte ich sogar eine Zwei. In der vierten Klasse sprachen wir darüber, welcher Schüler welche weiterführende Schule besuchen möchte. Voller Stolz und Zuversicht äußerte ich meinen Wunsch, auf das Gymnasium zu gehen, um danach an der Universität studieren zu können. Andrea hingegen war nicht so ehrgeizig wie ich und wollte lieber auf die Realschule gehen. Sie hatte auch nicht besonders gute Noten, jedoch nicht, weil sie weniger intelligent war, sondern weil sie nicht gerne in ihrer Freizeit lernte. Ihr schien oft der Antrieb zu fehlen. Die Klassenlehrerin sagte daraufhin vor der gesamten Klasse, Andrea gehöre auf das Gymnasium und ich auf die Hauptschule, ich würde das Gymnasium doch sowieso nicht schaffen. Diese Aussage spornte mich jedoch an, noch fleißiger für meine Ziele zu arbeiten. Aber meine Bemühungen wurden durch meine Klassenlehrerin sabotiert. Nach meiner Äußerung, auf das Gymnasium gehen zu wollen, gab sie mir nur noch schlechte Noten.

Ein weiteres Erlebnis bekräftigte mich in meinem Gefühl, von meiner Grundschullehrerin nicht gleichwertig behandelt zu werden. In den Pausen tollten wir gerne auf dem Schulhof herum, ob Mädchen oder Jungen. Eines Tages fiel Andrea auf dem Schulhof hin und verletzte sich dabei. Sie war gestolpert und hatte sich ihr Kinn aufgeschlagen. Gleich brachte ich sie zu unserer Klassenlehrerin, die sich sehr liebevoll um sie kümmerte. Es handelte sich um eine oberflächliche Schürfwunde, die desinfiziert und mit einem Pflaster versehen wurde. Danach durfte Andrea früher nach Hause gehen, und zwar mit der Anweisung, mit ihrer Mutter zum Arzt zu gehen. Nach ein paar Wochen fiel auch ich auf dem Schulhof hin. Beim Sturz bohrten sich meine Schneidezähne zwischen Unterlippe und Kinn. Dort klaffte ein großes Loch. Diesmal brachte Andrea mich zu unserer Lehrerin. Obwohl ich stark blutete, mehr als Andrea vor ein paar Wochen, wischte sie mir das Blut unsensibel mit einem Papiertuch aus dem Gesicht und klebte mir ein Pflaster darüber, ohne die Wunde zu desinfizieren. Ich fragte, ob ich nach Hause gehen dürfe, weil ich sehr starke Schmerzen hatte, aber sie erlaubte es mir nicht. So musste ich mich zusammenreißen, um nicht zu weinen. In der letzten Schulstunde hatten wir Deutsch. Trotz meiner starken Schmerzen und der inzwischen sehr stark angeschwollenen Unterlippe, forderte mich die Klassenlehrerin auf, etwas vorzulesen, was mir natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht gut gelingen konnte. Deshalb bekam ich an diesem Tag eine schlechte Note in Deutsch. Genau diese schlechte Note wurde später von meiner Lehrerin als Indiz für meine sogenannte Untauglichkeit für das Gymnasium herangezogen. Daheim angekommen, brachte mich meine Mutter zum Arzt, der die Wunde desinfizierte und eine Naht mit mehreren Stichen setzte. Er schüttelte aus Unverständnis den Kopf und sagte, ich hätte sofort zu ihm kommen müssen. Viele Tage konnte ich nichts essen und auch die Schule nicht besuchen. Die Fäden wurden erst Tage später gezogen. Es blieb eine Narbe zurück, die an diesen Vorfall erinnert. Leider war ich zu der Zeit nicht in der Lage, mich gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren. Unsere Erziehung forderte nun einmal bedingungslosen Gehorsam gegenüber Erwachsenen und Autoritätspersonen.

Noch heute erinnere ich mich gerne an meine Zeit mit Andrea, wir verstanden uns sehr gut. Beide waren wir irgendwie Außenseiter und hatten uns gefunden. So begleiteten wir uns gegenseitig durch die Grundschulzeit. Ihr Vater hatte einen eigenen Betrieb. Was er genau machte, weiß ich nicht mehr. Ihre Mutter war Hausfrau. Sie musste nicht arbeiten, weil ihr Mann sehr gut verdiente. Sie besaßen eine schöne Wohnung mit Terrasse und Garten. Andrea hatte eine Schildkröte, die ich immer wieder voller Bewunderung mit Löwenzahnblättern fütterte. Oft bettelte mich Andrea an, ihre Mutter zu belügen. Ich musste ihr meine guten Schulnoten verschweigen und behaupten, eine schlechtere Note als sie bekommen zu haben. Immer wenn das der Fall war, bekam sie fünf Deutsche Mark von ihrer Mutter, und zwar vor meinen Augen. Ihre Mutter vermittelte mir das Gefühl, mich nicht besonders zu mögen. Sie duldete mich, solange meine Schulleistungen schlechter als die ihrer eigenen Tochter waren. Andrea war ein wohlbehütetes Einzelkind ohne jegliche unerfüllten Wünsche. Da sie immer wegen ihren Noten Ärger bekam, war es mir lieber, für sie zu lügen, sonst hätte ihre Mutter uns die Freundschaft bereits in der Grundschule verboten. Nach der Grundschule ging ich auf das Gymnasium und Andrea auf die Realschule, was ihre Mutter zum Anlass nahm, weiteren Kontakt zwischen uns zu untersagen. Weder Andrea noch ich fanden den Mut, uns gegen ihre Mutter durchzusetzen. Vielmehr sagte mir Andrea nach der Zeugnisübergabe, sie wolle mich nicht mehr sehen. Das erfüllte mein Herz mit tiefer Trauer. Deshalb ging ich nach den Schulferien nicht mehr zu meiner Grundschule, um dort die Fotos abzuholen, die gemeinsam von uns zum Grundschulabschluss von einem Fotografen angefertigt worden waren. So sehr war ich enttäuscht und konnte mir nicht vorstellen, diese Fotos jemals sehen zu wollen.

In Deutschland wuchs ich sehr isoliert auf. Natürlich waren wir in unseren Kindertagen oft draußen und spielten mit anderen Kindern. Trotzdem ließ man mich meine ausländische Herkunft fühlen, ich gehörte nicht wirklich dazu. Irgendwann entdeckte ich die Welt der Bücher. Von diesem Zeitpunkt an lebte ich in meiner Traumwelt und verließ bei jeder Gelegenheit die Realität. Denn mit dem Leben, das meine Mutter für uns ausgesucht hatte, konnte ich mich nie anfreunden. So las ich Buch um Buch. Zuerst freuten sich meine Eltern über mein Interesse. Nachdem ich aber anfing, immer mehr Bücher zu verschlingen, sagten sie, sie hätten nicht das Geld, um mir ständig neue Bücher zu kaufen. Deshalb ging ich viele Jahre in die Stadtbibliothek und lieh mir dort eine Vielzahl von Büchern aus. Oft las ich bis spät in die Nacht, obwohl mir das meine Eltern untersagt hatten. Damit sie es nicht merkten, schmuggelte ich eine Taschenlampe in mein Bett und las unter der Decke, bis mir die Augen zufielen.

In der vierten Klasse meldeten uns unsere Eltern zum Türkischunterricht an, damit wir unsere Muttersprache und Kultur nicht vergaßen. Dieser Unterricht wurde vom türkischen Konsulat für türkische Kinder zweimal in der Woche angeboten und fand für den jeweiligen Stadtbezirk in einer bestimmten Schule statt. Die Lehrer kamen aus der Türkei, waren sehr streng und unterrichteten nach den türkischen Standards. Es nahmen Kinder unterschiedlichen Alters an demselben Unterricht teil. Unsere Türkischlehrerin war sehr autoritär. Sie gab uns immer viele Hausaufgaben auf. An einem Tag waren es so viele, die ich sowohl für die deutsche, als auch für die türkische Schule zu bewältigen hatte, dass ich das nicht schaffen konnte. Verzweifelt fragte ich meine Eltern, was ich tun solle. Meine Mutter meinte, die deutsche Schule gehe vor, ich solle mich darauf konzentrieren und die Hausaufgaben für die türkische Schule diesmal auslassen. Auch meine türkische Freundin namens Hatice, die in der Nähe von uns wohnte, nahm an diesem Unterricht teil. Mein Bruder, Hatice und ich gingen immer gemeinsam zum nachmittäglichen Türkischunterricht und kamen auch wieder gemeinsam zurück. An diesem Nachmittag sprachen Hatice und ich auf dem Weg zum Türkischunterricht über die Hausaufgaben. Beide hatten wir sie nicht gemacht und hatten deshalb ein schlechtes Gewissen, aber wir konnten auf dem Weg zur Schule nicht ahnen, was uns erwartete. Im Unterricht fragte die Lehrerin zuerst die Hausaufgaben ab. Keiner von uns Schülern hatte die Aufgaben gemacht, außer meinem Bruder. Die Lehrerin wurde wütend und schrie, wir sollen alle aufstehen und uns nebeneinander vor ihr aufstellen. Mit gesenkten Köpfen taten wir das. Keiner wagte es, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Dann ging sie schimpfend vor uns auf und ab. Plötzlich erhob sie ihre Hand und fing an, jedem Kind beim Vorbeigehen eine kräftige Ohrfeige zu geben. Sie hielt vor jedem kurz an, holte schwungvoll aus und knallte dem betreffenden Kind mit ihrer offenen Handfläche kraftvoll ins Gesicht. Das wiederholte sie bei jedem Schüler mehrere Male. Das Knallen ihrer Hand auf der nackten Haut war meterweit zu hören. Dabei machte sie den Eindruck, Spaß an dieser Bestrafung zu haben. Mein Bruder stand hinter der Lehrerin, zeigte mit dem Finger auf uns und zog belustigte Grimassen. Alle Mädchen weinten, teilweise auch die Jungen. Meine Wangen schmerzten noch lange, nachdem ich wieder daheim angekommen war. Hatice und ich weinten den ganzen Heimweg, mein Bruder amüsierte sich weiter über uns. Diesen Lehrstil war ich hier in Deutschland nicht gewohnt. Ich erzählte meinen Eltern von dem Vorfall und sagte, ich würde da nicht noch einmal hingehen. Nachdem sie mich angehört und meine noch immer hochroten Backen begutachtet hatten, vertraten auch sie die Ansicht, die Bestrafung war zu hart, zumal es sich um einen freiwilligen Unterricht handelte. Meine Eltern zwangen mich nicht, weiter dorthin zu gehen, was mich mit Dankbarkeit und Erleichterung erfüllte.

Egal wohin ich kam, ich war kleiner gewachsen als alle anderen Kinder in meinem Alter. Noch während ich die Grundschule besuchte, kam meine Mutter auf die Idee, es könne sich vielleicht um eine Erkrankung handeln. Deshalb ging sie mit mir zu verschiedenen Ärzten. Jedoch meinten alle, ich sei gesund, es liege an den Genen. Meine Eltern waren beide auch nicht sehr groß. Meine Mutter hatte irgendwo einmal gehört, man könne kleine Kinder auch strecken lassen. Der Arzt, dem sie das vorschlug, riet ihr davon ab und erklärte, das sei sehr schmerzhaft. Diese Schmerzen müsse man einem Kind wegen ein paar Zentimetern nicht antun. Außerdem gebe es kleine und große Menschen, ich sei eben ein kleiner Mensch, der sich aber ganz normal entwickle. Das war eine der vielen Situationen, in der mir meine Mutter das Gefühl gab, mich nicht so annehmen und lieben zu können, wie ich eben war. Je älter ich wurde, umso mehr hatte sie etwas an mir auszusetzen. Ich war ihr zu klein, zu dünn, hatte die falsche Augenfarbe, meine Haare waren zu kurz oder zu lang oder hatten die falsche Farbe. Dieses Gefühl der Ablehnung von Seiten meiner Mutter zog sich durch mein Leben, bis sie starb.

Vom Wesen her war ich ein fröhliches, freundliches und neugieriges Kind. Da unsere Eltern meist arbeiten waren, versorgten wir uns schon sehr früh selber. Nach den Hausaufgaben blieb uns jedoch noch viel Zeit, um auf Entdeckungsreise zu gehen. So stellten mein Bruder und ich auch einiges an, wie viele andere Kinder in unserem Alter gewiss auch. Erinnern kann ich mich lebhaft daran, wie wir an einem Nachmittag so lange auf dem Sofa im Wohnzimmer herumhüpften, bis der Stoff riss und die Federn herausschauten. Darüber waren unsere Eltern sehr verärgert. Mir entlockt diese Erinnerung ein kleines Schmunzeln.

Ein anderes Mal durchsuchten mein Bruder und ich die Schränke im Wohnzimmer. In einer der Schubladen entdeckten wir eine Pralinenschachtel, die von einer durchsichtigen Folie umhüllt war. Vorsichtig entfernten wir die Folie und aßen den gesamten Inhalt. Danach stülpten wir die Folie wieder über die Pralinenschachtel. Zu unserer Überraschung sah die Schachtel tatsächlich ungeöffnet aus. Als meine Eltern Besuch bekamen und die Schachtel öffneten, um ihren Freunden Pralinen anzubieten, mussten sogar sie über unseren Streich lachen. Alle nahmen es mit Humor. Trotzdem konnte ich meiner Mutter ihre Verärgerung ansehen. Kaum war der Besuch gegangen, bekamen wir von ihr eine lautstarke Standpauke. Natürlich machten wir das nie wieder, denn unsere Mutter konnte sehr einschüchternd sein. Jede ihrer Drohungen nahmen wir ernst.

Besonders fasziniert war ich vom Werkzeug meines Vaters. Oft schaute ich es an und fragte mich, was ich damit machen könnte. Kaputte Uhren schraubte ich auf, baute sie auseinander und wieder zusammen. Das machte ich auch mit dem Bügeleisen und dem Staubsauger. Dabei war ich stets bemüht, alles so zu hinterlassen, wie es ursprünglich war, um mich vor dem Zorn meiner Eltern zu schützen. Der Wasserhahn in der Toilette hatte schon lange meine Neugier geweckt. Er sah irgendwie anders als alle anderen Wasserhähne in der Wohnung aus. Während meine Eltern einmal nicht daheim waren, drehte ich so lange daran, bis plötzlich das Wasser mit Hochdruck bis an die Decke spritzte und nicht mehr aufhörte. „Oh, Gott, was mache ich jetzt?“, schoss es mir durch den Kopf. Schnell rannte ich zum Nachbarn, der sogleich den Hauptwasserhahn zudrehte. Ich muss heute noch über mich selber lachen. Aber meine Eltern waren sehr verärgert über den Schaden, den ich angerichtet hatte. Die gesamte Decke musste neu gestrichen werden.

Am glücklichsten war ich, wenn mein Vater zuhause handwerkliche Arbeiten ausführte. Ich beobachtete ihn, lief ihm unentwegt hinterher und brachte ihm die Werkzeuge, die er gerade brauchte. Er strahlte immer große Ruhe und Geduld dabei aus. Ob er nun tapezierte, die Wände strich, Leitungen unter Putz legte, Möbel montierte oder Lampen anschloss, alles fand ich spannend. Am liebsten stieg ich auf die Leiter und beobachtete alles von oben. So lernte ich viel von meinem Vater, was ich später auch umzusetzen wusste.

KAPITEL 4: Urlaube in der Türkei

Wende dein Gesicht der Sonne zu, und du lässt die Schatten hinter dir. (Buddhistische Weisheit)

Es vergingen Wochen, Monate, Jahre. Ich gewöhnte mich an das Leben hier. Niemals konnte ich mich aber an das Fehlen des Meeres gewöhnen. Ich freute mich immer ganz besonders, wenn es Sommer wurde, denn das war die Zeit, in der wir in den Urlaub in die Heimat fuhren. Meine Eltern sparten sich ihre gesamten Urlaubstage auf, damit wir in den Schulferien fünf Wochen in Antalya sein konnten.

Jedes Jahr fuhren wir mit dem Auto in die Türkei. Zu der Zeit gab es nur selten Direktflüge in unsere Heimatstadt. Außerdem wollten meine Eltern auch in der Türkei ein Fahrzeug zur Verfügung haben. Sie nahmen stets viele Geschenke für ihre Freunde und die Familie mit. Das wäre mit dem Flugzeug nicht möglich gewesen. Die Autofahrten in die Türkei waren ein Abenteuer, das so viele Gefahren barg. Wir hatten immer Angst, wenn wir durch Bulgarien fuhren, da es zu dem Zeitpunkt streng kommunistisch war. Die Strecke, die wir befahren durften, war durch eine weiße, durchgezogene Linie markiert. Nur wenn die Linie nicht durchgezogen war, durften wir anhalten. Von diesen nicht durchgezogenen Linien gab es jedoch nur wenige. Oft mussten wir uns sogar den Gang zur Toilette verkneifen. Deshalb fuhr mein Vater am liebsten nachts durch Bulgarien, da wir Kinder meistens schliefen und er nicht auch noch Rücksicht auf uns nehmen musste. Es war derzeit strengstens untersagt, in Dörfer oder Städte in Bulgarien einzufahren. Meine Eltern hielten sich meist nicht daran und fuhren trotzdem in Dörfer ein, um dort den hausgemachten Käse von den Dorfbewohnern zu kaufen. Einmal wurden wir dabei ertappt, wie wir in der Dunkelheit der Nacht aus einem Dorf wieder hinausfuhren. Plötzlich kamen bewaffnete Soldaten aus dem Gebüsch, richteten ihre Gewehre auf uns und schrien, wir sollen anhalten. Mein Vater ging auf die Bremse und wurde langsamer. Die Soldaten nahmen die Waffen herunter und gingen schnellen Schrittes auf uns zu. Da trat mein Vater das Gaspedal bis zum Anschlag durch und fuhr beschleunigt davon. Als die Soldaten begriffen, was passiert war, gaben sie mehrere Schüsse auf uns ab. Wir Kinder duckten uns erschrocken. Da wurde mir bewusst, mein Vater hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet. Wieder zurück auf der regulär erlaubten Strecke, schaltete er sie erneut ein und mischte sich unter die anderen Fahrzeuge, die denselben Weg befuhren.

Unser Auto war immer voll beladen. Oben auf dem Fahrzeug war zusätzlich ein Gepäckträger befestigt. Oft sahen wir andere Reisende, die genauso bepackt denselben Weg in die Türkei fuhren. Wenn sich mein Vater verfahren hatte, sagte er, wir sollen Ausschau nach den Fahrzeugen mit den Koffern auf dem Dach halten. Voller Spannung suchten wir die Straßen mit unseren Augen ab. Hatten wir eines entdeckt, freuten wir uns Kinder und jubelten. Anschließend schlossen wir uns ihnen an und begleiteten uns gegenseitig eine gewisse Zeit des Weges.

An den Landesgrenzen wurden alle Fahrzeuge gründlich von den Grenzbeamten durchsucht. Wenn wir Pech hatten, standen wir stundenlang an der Grenze. Immer wieder mussten wir das ganze Gepäck entladen, aufpacken und von neuem aufladen. Mein Vater hatte das wirklich satt, deshalb kaufte er Zigaretten, die er den Soldaten an den Grenzen gab. Wenn ein Grenzsoldat Schwierigkeiten machte und unser Auto besonders intensiv durchsuchte, legte mein Vater Geld in seinen Reisepass. Der Grenzbeamte nahm es an sich und ließ uns weiterfahren, ohne unser Fahrzeug vollständig ausräumen zu lassen. Manche von ihnen forderten sogar selber Geld und gaben den Hinweis, wenn wir nicht zahlen, würden sie das ganze Auto durchsuchen. Wenn man nicht darauf einging, nahmen sie alles bis hin zum Motor auseinander.

Im Laufe der Jahre hatte sich meine Mutter mit ihren Schwiegereltern zerstritten und besuchte sie nicht mehr. Mein Vater, mein Bruder und ich besuchten sie weiterhin. Meine Mutter sagte, mein Großvater würde sie bestimmt als schlechte Frau bezeichnen und über sie schimpfen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt noch klein und wussten nicht, was los war. Mein Großvater schimpfte tatsächlich bei jeder unserer Begegnungen über meine Mutter. Er war sehr verärgert über unseren Fortgang nach Deutschland, zumal unsere Rückkehr nicht absehbar war. Da meine Mutter der Auslöser unserer Auswanderung war, gab er ihr die Schuld. Mein Vater hätte auch lieber weiter in der Türkei gelebt, wie er oft in seinem Leben beteuerte.

Ich war der Liebling meines Großvaters. Wann immer wir uns sahen, sagte er mir, wie sehr er mich vermisse. Er nannte mich „Stupsnase“ und küsste mich nie, sondern drückte seine Nase an mich und atmete mich ein. Er sagte, man solle Kinder nicht küssen, sondern nur ihren Duft einatmen, damit ihre Schönheit nicht verblasse. Er war so rührend, liebevoll und poetisch. Meine Großeltern besuchte ich immer gerne. Bei ihnen fühlte ich mich geborgen und geliebt, auch wenn sie meine Mutter ablehnten und keine guten Worte über sie zu äußern vermochten. Dies führte oft zu Unbehagen und langem Schweigen, wenn wir zusammensaßen.

Mein Großvater besaß ein Grundstück in der Innenstadt von Antalya. Ein Bauunternehmer kam eines Tages auf ihn zu und bot an, ihm das Grundstück abzukaufen und darauf ein Hochhaus zu errichten. Er ging darauf ein und erhielt als Verkaufserlös zwei Wohnungen im Haus. Das Haus wurde nach meinem Großvater benannt. Es war eines der ersten Hochhäuser, das in Antalya gebaut wurde. Wie viele Stockwerke es hatte, weiß ich nicht mehr, aber seine Wohnung befand sich im oberen Drittel, ich glaube im siebenten Stockwerk. Nachdem mein Großvater in Pension gegangen war, zog er mit meiner Großmutter zusammen in diese Wohnung. Meine Eltern kauften sich dort auch eine Wohnung, wie auch die jüngere Schwester meiner Mutter. Sie lebte dort viele Jahre mit ihrer Mutter, ihrem Ehemann und ihren Kindern. So hatten wir während unserer Aufenthalte in Antalya sehr intensiven Kontakt zu ihnen. Die Wohnungen waren um die hundert Quadratmeter groß. Jedes der vier Zimmer hatte einen Zugang zu einem separaten Balkon. Oft denke ich daran, wie schön es war, sich bei meinen Großeltern aufzuhalten. Sie hatten auf den Balkonen Bettgestelle aus Holz aufgestellt. Darauf lagen feste Baumwollmatratzen und Kissen. In der Regel waren wir im August in der Türkei, dem heißesten Monat des Jahres. Ich legte mich gerne auf eines der Matratzen und genoss die leichte Brise, die auf dem Balkon wehte und für Abkühlung sorgte. Es fühlte sich so herrlich entspannend und beruhigend an. Die Luft war rein und die Atmosphäre beglückend.

Da wir nur einmal im Jahr in der Türkei waren, beschlossen meine Eltern nach ein paar Jahren, die Wohnung im Hochhaus zu vermieten. Danach sahen wir nur noch selten meine Großeltern. Damit wir aber trotzdem eine Bleibe hatten, kauften sie ein großes Familienzelt, das wir am Strand auf einem Campingplatz aufstellten. Zuerst freute ich mich über diese Tatsache, weil wir direkt am Strand waren und immer schwimmen gehen konnten. Aber meine Eltern untersagten uns, schwimmen zu gehen, wenn sie Erledigungen machen mussten. Das kam oft vor. Dann hatten wir das Zelt zu hüten, da sie dort ihre Wertsachen aufbewahrten. Das fand ich sehr schade. Ich litt darunter, direkt am Strand zu sein, aber nicht ins Meer gehen zu können. Trotzdem hielten wir uns an die Anweisungen unserer Eltern. Während unseres Aufenthaltes auf dem Campingplatz kamen stets Interessenten für das Zelt auf uns zu. Mit gutem Gewinn verkauften es meine Eltern und brachten im nächsten Jahr wieder ein neues Zelt mit. Etliche Jahre verbrachten wir unsere Urlaube auf diese Weise.

Nach dem Tod meiner Großeltern erbte mein Vater ihre Wohnung. Nach ein paar Jahren verkauften meine Eltern zuerst die Wohnung meiner Großeltern und später ihre eigene. Mit diesem Geld erwarben sie sich eine Neubauwohnung direkt am Strand und einen Laden in der Innenstadt, den sie vermieteten. Später kauften sie auch zwei Häuser in einem Feriendorf in Fethiye. Heute ist von alledem nichts mehr geblieben, außer Erinnerungen.

KAPITEL 5: Auf dem Gymnasium

Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, ist unbedeutend, verglichen mit dem, was in uns steckt. (Buddhistische Weisheit)

Nach unseren Urlauben in der Türkei verspürte ich stets große Trauer und Sehnsucht. Aber das Leben hier ging weiter und auch meine Bemühungen, auf das Gymnasium zu kommen. Jedoch erwies sich das schwieriger als gedacht, da sich meine Grundschullehrerin mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Sie gab mir eine Vier in Deutsch. Damit hatte ich natürlich keine Chance. Meine Eltern waren jedoch der Auffassung, ich würde das Gymnasium schaffen. Aus diesem Grund ging meine Mutter eines Tages mit mir zusammen zu einem Gymnasium in der Nähe unserer Wohnung, um mit dem Direktor über meine Aufnahme an seiner Schule zu sprechen. Er führte zunächst ein Gespräch mit meiner Mutter und anschließend mit mir. Danach wurde eine Aufnahmeprüfung durchgeführt, die ich ohne Probleme bestand. Ich war überglücklich, diese Schule besuchen zu dürfen, nachdem ich so lange hart dafür gekämpft hatte. Meinen neuen Schulrektor hatte ich in verschiedenen Jahrgängen in Mathematik. Oft sagte er mir, er sei stolz auf mich und sehe mich als vorbildliche Schülerin mit Integrationshintergrund. Zu dieser Zeit gab es nur wenige ausländische Kinder auf dem Gymnasium. Ich gehörte nach seiner Ansicht zu den Schülerinnen, die den Notendurchschnitt seiner Schule verbesserte. Dies betonte er bei jeder Gelegenheit. Jedes Schuljahr bekam ich eine Belobigung, die meine guten Leistungen würdigte.

Meine Mutter durfte nicht studieren, sondern hatte lediglich eine Hauswirtschaftsschule besucht. Weil mein Bruder nur sehr schlechte Leistungen in der Schule erbrachte, waren nun ihre ganzen Erwartungen auf mich gerichtet. Mein Bruder war faul und hatte nur das Spielen im Kopf. Oft versuchte meine Mutter, mit ihm zu lernen. Sie hatte aber keine Geduld und auch nicht ausreichend Wissen. Sie schrie meinen Bruder an, schlug ihn und biss ihm sogar manchmal in die Hände, wenn er ihren Erwartungen nicht nachkam. Das machte mir Angst und veranlasste mich, viel zu lernen und gute Noten nach Hause zu bringen. Irgendwann gestand sich meine Mutter ein, meinem Bruder schulisch nicht helfen zu können. Daraufhin engagierte sie einen Studenten namens Rolf, der ihm zweimal die Woche Nachhilfe gab. Rolf studierte Chemie an der Universität in Stuttgart. Schnell fand ich Interesse an seinem Unterricht und fragte meine Eltern, ob ich nicht auch mitmachen dürfte, aber sie waren dagegen. So blieb mir nichts anderes übrig, als anderthalb Stunden direkt vor der geschlossenen Türe zu sitzen und zu lauschen. Eines Tages versteckte ich mich unter dem Sofa, um mehr mitzubekommen. An dem Tag suchten meine Eltern überall nach mir. Erst nach dem Unterricht bemerkten sie mein Versteck unter dem Sofa. Danach erlaubten sie mir, auch an der Nachhilfe teilzunehmen. Mit der Zeit stellte sich heraus, der Unterricht brachte mir mehr als meinem Bruder, zumal ich sehr viel Freude am Unterrichtsstil von Rolf hatte. In der siebenten Klasse meinte Rolf, er könne mir nichts mehr beibringen, weil ich selber schon so weit sei. Anschließend kam er nicht mehr, was ich sehr schade fand.

Meine Mutter wollte nicht nur daheimsitzen und ausschließlich Hausfrau und Mutter sein. Sie war sehr emanzipiert, womit mein Vater keinerlei Probleme hatte. Er respektierte sie, ihre Wünsche und Bedürfnisse. So suchte meine Mutter immer wieder nach einer Arbeit und war bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt. Da sie sich jedoch nicht unterordnen konnte, wechselte sie oft ihren Arbeitsplatz.

Ich ging schon immer gerne in die Schule und war sehr wissbegierig. Meine Schulzeit auf dem Gymnasium war im Großen und Ganzen eine gute Zeit. Dort lernte ich meine Freundin Bärbel kennen. Sie hatte ein reines Herz, war freundlich und hilfsbereit. Im Gegensatz zu mir war sie ein sehr starkes Mädchen. Die Trennung ihrer Eltern hatte sie gut verkraftet. Dadurch war sie bereits reifer und weiter als ich. Sobald sich herausstellte, sie würde mit ihrer Mutter zusammen in eine andere Stadt ziehen, brachte sie mich aus Sorge, dass ich keinen Anschluss finden würde, mit anderen Kindern zusammen.

Aufgrund der Erziehung, wie auch der Strenge meiner Eltern konnte ich mich kaum mit Freunden und Klassenkameraden treffen. Auch deshalb gehörte ich zu den Außenseitern. Natürlich freundet man sich dann auch mit anderen Außenseitern an. So lernte ich meine beste Freundin Petra auf dem Gymnasium kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Gerne erinnere ich mich an unsere gemeinsame Schulzeit. Petra war immer korrekt, zuverlässig und loyal, ein guter Mensch mit Niveau und Herz. Ihre Eltern waren sehr liebevolle Menschen. Irgendwann in der Oberstufe lebten wir uns auseinander. Nach dem Abitur brach unser Kontakt vollständig ab. Bei einem unserer Jahrgangstreffen konnte ich ihre Telefonnummer in Erfahrung bringen, sodass ich sie nach dreißig Jahren wiedersah. Unsere Begegnung war beglückend. Sofort war das Gefühl von Vertrautheit und bedingungsloser Freundschaft wieder da. Als außerdem auch noch ihre Eltern kamen und mich liebevoll umarmten, musste ich mir die Tränen des Glücks verkneifen. Das fühlte sich sehr schön an.

---ENDE DER LESEPROBE---