Ich bin so wie ich bin - Dominic Müller - E-Book

Ich bin so wie ich bin E-Book

Dominic Müller

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Beschreibung

Dominic hält seine Umgebung auf Trab. So beispielsweise hackte er als Sechsjähriger einen Hotel-Gästecomputer und machte möglich, dass der Internetzugang ab sofort gratis funktionierte. Oder auch dann, wenn der 23-Jährige auf Wanderschaft geht, einkauft, ohne an der Kasse zu bezahlen, und sich danach zu Fuß auf dem Pannenstreifen der Autobahn auf den Heimweg macht. Dominic lebt in seiner eigenen Welt – überreizt von all den ungefiltert auf ihn einströmenden Einflüssen – und doch nimmt er jede Kleinigkeit um ihn herum wahr. Sprechen kann er kaum. Doch das Schreiben hingegen ermöglicht ihm den Zugang zu unserer "normalen" Welt. Seine Texte sind voller Weisheiten und Empathie für seine Mitmenschen, die er auf für uns normalem Wege nicht vermitteln kann. "Denken Sie ab und zu mit dem Bauch. Der weiß es nämlich oftmals besser." – Dominic Müller

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EPUB

Seitenzahl: 157

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Dominic Müller

Copyright: © 2017 Cameo Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Katja Völkel, Dresden Covergestaltung: werbemacher.ch, Thun Coverabbildung: Lea Moser Fotografie, Bern Layout, Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-906287-38-6

Inhalt

Mein Vorwort

Der Autismus und ich

Zu meiner Person

Ohnmächtig

Selbstmotivation

Die Diagnose

Was ist Autismus

Kapitel Ich

Das Leiden hat einen Namen

Die Gestützte Kommunikation (facilitated communication, kurz: fc)

ABA (Applied Behavior Analysis)

Hallo, guten Abend

Die Entscheidung des Menschen, sich zu verändern

Rote Köpfe

Mein eigener Kosmos. Gedanken und Gedichte

Ich heiße Dominic Müller

Die Jahreszeiten

Der Frühling

Der Sommer

Der Herbst

Der Winter

Die gute alte Zeit

Die Musik, mein Seelenretter

Wenn ich diese Fertigkeit des Vollkommenen habe

Geschichten aus meinem Leben

Zum ersten Mal

Ich bin so, wie ich bin

Die Polizei, dein Freund und Helfer

Sommerlager 2013

Leben und lieben

Hoch zu Ross

Die Schlüsselsuche und eine genervte Mami

Meine Schwestern

Meine Großeltern

So sehe ich das

Ich bin ein Autist

Sprache muss sein

Vorurteile

Selbstliebe

Kommode Lobreden

Die Kinder der heutigen Zeit und das freie Umfeld der Erwachsenen

Rot oder grün

Die homogenen Menschen

Ohne Humor geht nichts

Angst

Ohne Kompromisse leben

Eine Rede verfassen

Trauer

Wie geht es, so zu sterben, ohne zu hadern?

Unser gutes Gespür

Gott hat einen Platz in meinem Leben

Ohne Gott kommt nichts

Erfolg

Vertrauen

Frustration

Hoffnungslosigkeit

Sorgen

Wie andere mich sehen. Briefe und Gedanken

Dora Heimberg

Margarete Schmocker-Fleischmann

Kennenlernen

Lisa Hächler, ehemalige Schulleiterin

Ein Brief von meiner Mami

Meine Nachbarn, Karin Schnellmann und Bernd Räpple

Schlusswort

Es war einmal ein Autist

Fussnoten

Mein Vorwort

Ich soll ein Vorwort schreiben, sagt Mami. Das würden alle Autoren machen. Und was schreibt man da? Ich denke, dass es etwas Individuelles sein sollte, was geschrieben wird. Das wird sicher gut kommen.

Ich bin Autist. Ich war ein schwieriger Fall. Bin ich das immer noch? Ich weiß es manchmal selber nicht. So gesehen ist es relativ. In etlichen Situationen sicher schon stark, aber richtigerweise entscheidet das jeder, der gerade mit mir zu tun hat, selbst, wie schwierig ich in diesem bestimmten Moment bin. Es geht nicht mit allen gleich gut oder schlecht. Es richtet sich immer nach meiner Tagesform und demjenigen, der gerade mit mir zu tun hat. Warum schreibe ich mit Menschen, denen ich gut gesinnt bin? Ganz einfach: Ich kann mich so ausdrücken. Sicher ist, funktionieren tut es meistens nicht auf Anhieb. Guter Rat ist viele Male gefragt. Der Mensch, der mich stützt, muss an mich glauben. Das ist Voraussetzung. Ausdauer und einen starken Willenbraucht er auch. Wenn er zu früh aufgibt, dann wird das nichts. Ich schreibe ihm nicht schon beimersten Mal, welche Farbe meine Unterhose hat. Das braucht Zeit. Es gibt Menschen, bei denen stimmt die Chemie – was für ein unschönes Wort, um diese Beziehung auszudrücken – recht schnell. Das erleichtert die Kommunikation untereinander sehr. Ich spüre die Schwingungen der Menschen stark, und das macht es nicht einfacher.

Dieses Buch habe ich mit großer Freude geschrieben. Ich danke all den Menschen, die mir bis dahin in irgendeiner Form geholfen haben, damit ich bis dahin gekommen bin. Sicher ist, dass es von allen Helfenden viel Ausdauer und Kraft gebraucht hat, um mich an diesen Punkt zu bringen. Ein ganz großer Dank geht an meine Mami und Lisa. Sie haben viele Stunden mit mir verbracht, um mit mir zu schreiben. Danke, danke, danke! So viele gute Menschen gibt es auf der Erde, man muss sie nur sehen und wahrnehmen. Danke Gabriel Palacios und deine guten Menschen im Kreis um dich herum. Du hast mir eine Stimme gegeben. Das ist grandios und treibt mich weiter an. So kann ich etwas dazu beitragen, damit wir Autisten verstanden werden, und Verständnis für uns aufgebracht werden kann, wenn es die Situation erfordert. Gabriel, du bist ein großartiger Mensch. Danke, danke, danke!

Es ist auch so, dass ich guter Dinge bin, dass es in meinem Leben vorwärts gehen wird. Ich spüre diese Energie in der Himmelssphäre, die jeder Mensch aufnehmen kann, um über sich hinauszuwachsen.

Ich wünsche allen ein vergnügliches Lesen meines Buches. Möge euch beim Lesen meiner Geschichten ein Licht aufgehen, vielleicht regen sie den ein oder anderen auch zum Nachdenken an, berühren eure Seelen oder entlocken euch ein Schmunzeln. Humor ist wichtig im Leben und erleichtert vieles.

Carpe diem.

Der Autismus und ich

Zu meiner Person

Dominic Müller ist mein Name. Ich wurde am 5. Januar 1994 geboren und bin in Grindelwald und Leissigen aufgewachsen. Komplett ungut ist, Gott hat mir eine Behinderung mit ins Leben gegeben. Autismus, so nennt die Gesellschaft meine Behinderung. Der Begriff Autismus kommt aus dem Griechischen und bedeutet „sehr auf sich bezogen sein“. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Ich bin aber nicht geistig behindert und ich habe die normale Schule besucht. Keiner nimmt mir meine Intelligenz. Ganz viele Leute meinen, ich sei nicht normal, aber das stimmt nicht. Ich nehme es nur nicht so genau mit den Anstandsregeln. Für mich ist es manchmal schwer, euch zu verstehen, weil es in mir ein Riesenchaos auslöst. Ich kann mich zum Beispiel nicht an eurer Mimik orientieren, deshalb fordere ich die Menschen heraus, mir ihre Emotionen in Großformat zu zeigen. Sie sollen bestimmt, klar und deutlich sagen, was sie fühlen und wollen, dann kann ich ihre Gefühle erkennen. Eure Welt ist poppig und wirr, es braucht viel Konzentration und Anstrengung, euch zu verstehen.

In weiter Form habe ich einen Asperger-Autismus, vermischt mit frühkindlichem Autismus. Ich hatte schon von Geburt an Anzeichen, aber die hat niemand verstanden. Menschen mit Asperger können sich vielmals mit Lautsprache verständigen, ich noch nicht. Viele Autisten haben Inselbegabungen. Ich kann zum Beispiel etwas schreiben und nebenbei alle Geräusche und Gespräche erfassen und dazu noch für mich sprechen. Das löst aber furchtbare Geräusche in meinem Kopf aus, die Füße kann ich nicht mehr stillhalten und ich werde zappelig. Digitale Abläufe, Filmabspanne und vieles andere in dieser Richtung lassen mich in meine Welt abschweifen, wie vielleicht jemand, der Drogen genommen hat.

Licht und farbige Leuchten haben für mich gute und schlechte Besonderheiten. Die eine ist die, dass ich Licht vielmals lösche, weil es mir besser geht in der Dämmerung. Farbige Leuchten hingegen können mich teilweise beruhigen.

So habe ich euch einen vagen Einblick in meinen Autismus gegeben. Es gibt natürlich noch tausende von verschiedenen autistischen Verhaltensweisen, die ich hier gar nicht alle aufzählen kann.

Ich danke allen, die schon nur versuchen, uns Autisten zu verstehen und uns zu akzeptieren, so wie wir eben sind.

Ohnmächtig

Lohnend ist es nicht, als Autist auf die Welt zu kommen. Große Kummerfalten bekommen Eltern, wenn sie vom Arzt die Diagnose erhalten. Lohnend loben können Eltern ihr Neugeborenes bei einer solchen Diagnose deshalb nicht. Junge Menschen können aber nicht wählen, wie sie auf die Welt kommen wollen; johlend kommen komischerweise nur gesunde Kinder gut an.

Komplett blöd ist, dass keiner jung genug als Autist erkannt wird. Lohnen könnte sich von Anfang an eine intensive Therapie. Ohnmächtig kommen von alleine bindende Probleme auf solche Eltern zu. Jung wie sie sind, wissen sie sich nicht zu helfen. Komisch nur, dass niemand ihnen helfen kann. Es kommen ohnmächtige Fragen und niemand weiß eine Antwort. Besuchen uns Verwandte, von beiden Elternseiten, kommen immer gleich hunderte von Fragen, die niemand beantworten kann. Kinder haben damit kaum Probleme, aber Erwachsene.

Ordnung muss her und es wird nach Therapien gerufen. Komplett überfordert sind viele Eltern, denn sie wissen nicht, welche die richtige ist. Niemand kann ihnen wirklich raten, denn jeder hält seine für die Beste.

Noch nicht ruhmreich und ohne Erfolg kommen Leute von der Früherziehung mit viel Spielzeug, das für Autisten nichts taugt. Lohnend für Eltern sind logischerweise Kinderbuben oder Kindermädchen, zwar noch jung, aber entlastend für die Eltern.

Kommen später die Schuljahre, wird es noch schwieriger, denn Kinder mit Autismus gehören nicht selbstverständlich in die normale Schule. Es muss darum gekämpft werden und Schulbegleiterinnen müssen her. Junge Heilpädagoginnen oder Heilpädagogen eignen sich nicht für eine Schulbegleitung, besser sind ältere mit Erfahrung und Kenntnissen über Autismus. Komplett daneben ist es jedoch, wenn Lehrpersonen nicht begreifen, dass Autisten Schulbegleitung benötigen. Noch dürfen nicht alle bunten Autisten die Regelschule besuchen; noch ist ungewiss, wie es mit Autisten in der Schule weitergehen soll.

Junge Erwachsene mit Autismus haben es schwer, in der Berufswelt bunt Fuß zu fassen, es traut ihnen niemand etwas zu. Ohne viel Unterstützung durch hochgradige, mutige Fachleute geht gar nichts. Noch gibt es keine guten, bunten Berufsausbildungen für sie. Doch ohne Zukunftsperspektive lohnt es sich für junge autistische Leute nicht, nach Arbeit zu suchen. Gut, wer mutige, kommunikative Eltern hat, die nicht aufgeben und nach Arbeitsmöglichkeiten suchen. Noch nichts begreifend, beginnen sie, jubelnd gut gemeint, bei privaten Geschäftsleuten eine Stelle zu suchen. Zu jung, um genügend Erfahrung zu haben, stehen sie dann ohnmächtig da, wenn es nicht gut kommt. Pingelige Arbeitgeber haben in puncto Kompliziertheit autistischen Verhaltens noch Mühe, lockende Angebote zu machen.

Von sich aus in eine Institution für Behinderte zu gehen, kommt für die Eltern nicht infrage, sie sind noch nicht bereit dazu. Komisch ist, dass angeblich nur Fachleute wissen, was gut ist für Autisten. Institutionsleitungen nehmen Autisten nicht so gern, weil sie viel Aufmerksamkeit benötigen. Es muss hart gekämpft werden, schon nur für einen Platz in einer Beschäftigungsgruppe. Normal wäre, dass Autisten eine Arbeit machen könnten, die ihnen zusagt. Ohnmächtig ist, dass vieles nicht bezahlt wird von dem, was Autisten brauchen würden.

Noch ist der nobel, wer sich um kluge Autisten kümmert, Honigschlecken ist die Arbeit mit ihnen nicht. Lobenderweise gibt es aber immer mehr unkomplizierte Mitmenschen, die gut denken über Autisten und für sie kämpfen. Das sind Lichtblicke.

Selbstmotivation

Liebe Karin1,

du hast mich gefragt, ob ich einen guten Rat wüsste, wie sich deine kranken Menschen wieder selber motivieren können.

Ich bin Autist und sage dir, es ist schwierig, wenn wir so speziell sind. Wir sind sonderbar und werden vielmals nicht verstanden. Ich hatte auch depressive Phasen. Da war ich noch jünger. Es gab nicht viel, was ich damals konnte. So gab es meine Mutter, die sicher viel dazu beigetragen hat, dass ich da rausgekommen bin. Es gibt aber noch heute Momente, in denen es mir Mühe macht, alles zu ertragen und auszuhalten. Was ich immer sage, und was ich selber auch immer wieder üben muss, ist den Willen aufzubringen, diesen Zustand zu ändern. Glücklich zu sein und sich zu freuen.

Es gibt da eine Sache, die ich auch mache: Das Positive an mir sehen. Also, ich sehe gut aus, habe tolle Haare und ich bin Autor. Das stellt mich unheimlich auf die Beine. Macht das auch. Schaut euch an, und sagt zu euch vor dem Spiegel:”ich habe schöne Beine“,”ich kann ganz toll schreiben“ oder”meine Ohren sind optimal angewachsen“. Nicht weit suchen. Das müsst ihr immer wieder machen, jeden Tag. Ihr findet ganz schnell viele positive Werte an euch. Es können auch immer wieder die Gleichen sein. So lernt ihr euch selber lieben. Das solltet ihr wirklich jeden Tag machen, und dankbar sein dafür. So dreht euer Unterbewusstsein von negativ auf positiv. Das ist der erste Schritt.

Gebt euch Zeit dafür. Gebt euch durch Gebete, oder etwas, was euch viel bedeutet, Halt. Ich habe das Universum und die Engel. Die sind für mich Seelenbalsam. Ich kommuniziere viel mit ihnen, und sage danke, dass sie mich führen. Ihr müsst Vertrauen finden in das Leben. So baut ihr eure Ängste ab. Sicher ist das ein Prozess, und der dauert etwas. Auch die schlechten Momente solltet ihr nicht werten, sonst würde auch ich nicht mehr leben wollen, denn ich ecke jeden Tag irgendwo an.

Es ist auch gut, wenn ihr euren Tagesablauf strukturiert. So wisst ihr genau, ich arbeite eine gewisse Zeit, die ich versuche einzuhalten, und dann erst kommt die Pause. Verlangt Motivation von euren Betreuern, das zu schaffen, und zwar genau in diesem Moment, an dem ihr aufgeben wollt. Ich habe das auch jahrelang geübt, und tue es immer noch.

Genauso wie ihr in der Natur Frieden findet. Beobachtet die Vögel, die Blumen. Ruht euch unter einem Baum aus, tankt Energie. Verbindet euch mit dem Einfachen im Leben. Stellt auch keine Ansprüche an das Leben, und akzeptiert eure momentane Krankheit, als sei sie ein guter Kollege, der euch etwas belästigt, sich aber wieder anders verhalten wird, wenn ihr ihn so akzeptiert, wie er ist. Genießt das Leben immer einen kleinen Schritt mehr, und akzeptiert eure Näpfchen der dunkleren Seite. Sie werden dann schneller wieder hell und klar.

Ich wünsche euch das Selbstvertrauen eines dürstenden Kamels in der Wüste, dass es eine Oase mit Wasser finden wird.

Mit den leuchtvollen Farben des Regenbogenlichtes grüße ich euch zuversichtlich und motiviert.

Dominic Müller

Die Diagnose

(Erika Müller)

Ich wurde in all den Jahren so viele Male gefragt, wie ich denn gemerkt hätte, dass mit Dominic etwas nicht stimmt.

Die Schwangerschaft verlief problemlos und im Austrittsbericht des diensthabenden Arztes im Krankenhaus stand: Spontangeburt, gesunder Knabe. Dominic weinte schon im Krankenhaus viel. Sie brachten ihn abends, so gegen elf, regelmäßig zu mir ins Bett, weil er nicht schlafen wollte. Ich kann mich auch erinnern, dass eine Freundin zu mir sagte, sie hätte noch nie ein so schönes Baby gesehen. Vielleicht drückte schon damals seine Einzigartigkeit durch.

Zu Hause war es anstrengend, denn Dominic schlief nicht besser als im Krankenhaus. Er bekam auch ein extrem juckendes Ekzem an seinen Wangen, die er sich nachts so blutig kratzte, dass ich ihm Fäustlinge nähte, die ich zum Schlafen über seine Hände zog. Wenn Babys weinen, versucht man ja oft, ihnen den Schnuller in den Mund zu stecken. Bei Dominic löste das oft Brechreiz aus, und die ganze Nahrung kam im hohen Bogen retour. Es grauste ihn sicher schon damals vor diesem Silikonzeugs im Mund.

Auffällig wurde er für mich in dieser Situation: Wir saßen am Tisch beim Essen, Dominic neben uns im Kindersitz. Immer wenn ich zu ihm sprach, reagierte er nicht. Das fiel mir immer mehr auf, und ich vermutete, dass er nicht hörte. Dominic war damals etwa dreizehn Monate alt. Wenn ich etwas über Autismus gewusst hätte, wären mir auch andere auffällige Verhaltensweisen von ihm eher bewusst geworden. Er stopfte sich alles in den Mund – angefangen von Blumenerde, über Hydrokugeln, Styroporkugeln vom Kinderstaubsauger, Sand bis hin zu Steinen – einfach alles, was er so finden konnte. Auffallend war auch sein Zehenspitzengang, sobald er richtig laufen konnte. Das tat er auch erst mit fünfzehn Monaten. Er schlürfte tagelang Meerwasser, bis er Durchfall bekam. Spazierte am Strand tagelang hin und her. Wenn der Fernseher lief, ging er mit dem Gesicht ganz nah an den Bildschirm ran. Er kniete am Salontisch und bewegte sein Spielzeugauto hin und her, völlig konzentriert auf die sich drehenden Räder. Manchmal, wenn es an der Haustür klingelte und Dominic die Person sah, warf er sich rückwärts zu Boden und klopfte mit seinem Schädel auf den Untergrund. Beruhigen konnte man ihn in dieser Situation sehr schlecht. Sprachlich kommunizierte er einzelne Wörter wie Mama, Papa, ogi, ugi, agi und acht. Das fiel aber nach kurzer Zeit wieder weg.

Aufgrund unserer Vermutung, dass unser Sohn nicht hören könnte, nahmen wir Kontakt mit dem Kinderarzt auf, der uns einen Termin bei einer Psychologin im Kinderspital Bern vermittelte. Er meinte, dass es auch eine Entwicklungsverzögerung sein könnte. Jungs seien ja manchmal etwas später als das weibliche Geschlecht. In Bern wurde die Psychologin jedoch auch nicht fündig und es wurde ein Hörtest gemacht. Dominic reagierte dabei auch nicht großartig, und der Professor tadelte uns, dass man das als Eltern eigentlich schon früher hätte merken müssen. Dominic wurde dann ein Schlafsirup verabreicht und daraufhin an ein Messgerät angeschlossen, das attestierte, dass Dominic zu hundert Prozent hörte. Das Schlussgespräch blieb der Arzt uns bis heute schuldig.

Da jetzt guter Rat teuer war und man nicht wusste, was los war, verschrieb die Psychologin für Dominic Früherziehung. Dabei kommt eine Fachperson zu dem Kind nach Hause und versucht spielerisch herauszufinden, wo die Ursache liegen könnte. Bei Dominic zeigte diese Maßnahme wenig bis keinen Erfolg. Vielmals zog die Frau entmutigt von dannen, bis sie eines Tages, Dominic war inzwischen zweieinhalb Jahre alt, den Ausdruck Autismus fallen ließ und die Vermutung in den Raum stellte, dass unser Sohn eventuell solche Züge haben könnte. Ich wurde aufmerksam, denn endlich gab es einen konkreten Verdacht, und erkundigte mich daraufhin in einer Buchhandlung, wo mir ein Autismus-Ratgeber empfohlen wurde. Auf einer Seite waren zehn Verhaltensweisen angegeben, die auf ein autistisches Verhalten hindeuteten. Ich konnte acht von zehn Übereinstimmungen finden und meldete mich daraufhin beim Kinderarzt mit meinem Verdacht. Er konnte mir aber diese Vermutung nicht bestätigen, mit den Worten, dass er sich mit Autismus gar nicht auskenne.

Ich erzählte meiner Freundin von meiner Vermutung, und wie es der Zufall oder das Schicksal manchmal so will, war sie gerade in Behandlung bei ihrem Hausarzt. Wie sie wusste, hatte er zwei autistische Brüder. Sie fragte ihn, ob er sich Dominic mal anschauen würde.

Er nahm sich die Zeit, und Dominic hüpfte im Behandlungszimmer auf Zehenspitzen auf und ab, gab dabei unartikulierte Laute von sich. Nach fünf Minuten Beobachtung war es für den Arzt klar: Dominic zeigte deutliche Anzeichen für Autismus! Eigentlich wollte ich diese Diagnose nicht hören und doch war ich im ersten Moment froh, endlich Klarheit zu haben. So konnte er auch bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet werden. Dominic war jetzt fast drei Jahre alt. Autismus war vor zwanzig Jahren für viele noch ein Fremdwort. Glücklicherweise hat sich das Wissen um die Krankheit bis in die heutige Zeit massiv verbessert.

Was ist Autismus

(Cordilia Derungs)

Der Schweizer PsychiaterEugen Bleulerprägte den Begriff Autismus um 1911 im Rahmen seiner Forschungen zurSchizophrenie. Er bezog ihn ursprünglich zunächst nur auf diese Erkrankung und wollte damit eines ihrerGrundsymptomebeschreiben – die Zurückgezogenheit in eine innere Gedankenwelt. Bleuler verstand unter Autismus „die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens“.

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud beschäftigte sich etwa zur selben Zeit mit den Begriffen „Autismus“ und „autistisch“ von Bleuler und setzte sie mit „Narzissmus“ bzw. „narzisstisch“ gleich – als Gegensatz zu „sozial“.

Die Begriffsbedeutung wandelte sich mit der Zeit von „dem Leben in einer eigenen Gedanken- und Vorstellungswelt“ hin zu „Selbstbezogenheit“ in einem allgemeinen Sinn.

Hans AspergerundLeo Kannernahmen den Autismusbegriff dann 1943 und 1944 auf. Sie sahen in ihm aber nicht mehr nur ein einzelnes Symptom wie Bleuler, sondern versuchten damit gleich ein ganzesStörungsbildeigener Art zu erfassen. Sie unterschieden dabei Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in ihr Inneres zurückziehen, von jenen, die von Geburt an in einem Zustand derinnerenZurückgezogenheitleben. Letzteres definierte nunmehr den Begriff „Autismus“.

Grundlagenforschung

In der Forschung werden verschiedene mögliche Ursachen oder Auslöser von Autismus untersucht. Genetische Faktoren, Spiegelneuronen, Abweichungen im Verdauungstrakt, Vermännlichung des Gehirns, atypische Konnektivität (atypischer Informationsfluss im Gehirn), Umwelt und mögliche kombinierte Faktoren.