Ich habe nichts mehr nachzutragen - Hanns Dieter Hüsch - E-Book

Ich habe nichts mehr nachzutragen E-Book

Hanns Dieter Hüsch

3,8

Beschreibung

"In einem Vorwort zu einem seiner Bücher sagt Hüsch, lange Zeit sei ihm nicht bewusst gewesen, wie christlich geprägt sein Werk von Anfang an war. Er selber konnte im Nachhinein nicht beschreiben, wann ihm das immer klarer wurde. Erst in den Achtzigern definierte er Texte dann als christlich, sei es als Psalm oder Predigt." [Quelle: Joachim Kosack im Vorwort] "Was immer sein Geheimnis sein mag: Um ihn sammelt sich eine Gemeinde, wo und wofür und wogegen er auch auftritt, spontan und mit einer unaufhaltsamen Dynamik. Er könnte eine Kirche gründen." [Quelle: Klaus Harpprecht, Die Zeit]

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Über dieses Buch

»Was immer sein Geheimnis sein mag: Um ihn sammelt sich eine Gemeinde, wo und wofür und wogegen er auch auftritt, spontan und mit einer unaufhaltsamen Dynamik. Er könnte eine Kirche gründen.« (Klaus Harpprecht in Die Zeit)

Der Autor

Hanns Dieter Hüsch (1925–2005) war Schriftsteller, Kabarettist, Liedermacher, Schauspieler, Synchronsprecher und Rundfunkmoderator. Mit über 53 Jahren auf deutschsprachigen Kabarettbühnen und 70 eigenen Programmen gilt er als einer der produktivsten und erfolgreichsten Vertreter des literarischen Kabaretts im Deutschland des 20. Jahrhunderts.

Hanns Dieter Hüsch: Das literarische Werk

Herausgegeben anlässlich seines 90. Geburtstags am 6. Mai 2015 von Helmut Lotz

Ich sing für die VerrücktenDie poetischen Texte

Denn in jeder Leiche ist ein Kind verstecktDie kabarettistischen Texte

… so dass sich die Landpfleger sehr verwundernDie politischen Texte

Ich habe nichts mehr nachzutragenDie christlichen Texte

Das Gemüt is ausschlaggebend. Alles andere is dumme QuatschDie Niederrhein-Texte

… dass die Erziehung seiner Kinder eine völlig verfahrene warDie Hagenbuch-Texte

Gemacht aus Bauern- und BeamtenschwächeDie autobiografischen Texte

… am allerliebsten ist mir eine gewisse HerzensbildungDie Interviews

Hanns Dieter Hüsch

Ich habe nichts mehrnachzutragen

Die christlichen TexteDas literarische Werk, Band 4

Mit einem Vorwort von Joachim Kosack

Edition diá

Inhalt

Vorwort

Die christlichen Texte

Editorische Notiz

Textverzeichnis

Impressum

Ohne christliche Weltsicht undenkbar

Die einen sagen, es läge am Geld

Die andren sagen, es wäre die Welt

Sie läg in den falschen Händen

Jeder weiß besser, woran es liegt.

Doch es hat noch niemand den Hass besiegt

Ohne ihn selbst zu beenden.

Der Plattenschrank meiner Eltern war Anfang der 1970er Jahre alphabetisch korrekt aufgeräumt. Und hinter Händels »Messias« und Haydns »Schöpfung« stieß ich als – ich glaube – gerade mal Siebenjähriger auf Hüsch. Da war ein komisches Cover mit einem lustigen Gesicht, gemalt wie eine Karikatur, und drüber stand »Typisch Hüsch«. Die Platte legte ich auf und fand sie irgendwie interessant. Mal was anderes als Winnetou. Die Stimme kannte ich aus den Stummfilmen, die das ZDF freitags zeigte, mit das Einzige, was ich im Fernsehen schauen durfte. Deshalb fand ich es lustig, aber auch warm, und die Musik mochte ich ebenfalls, konnte man schnell mitsingen. Viel verstand ich natürlich am Anfang nicht, aber so etwas wie

Dass einige mächtig und die anderen ohnmächtig sind

Kann man damit erklären

Dass einige verschlagen und die anderen die

Geschlagenen sind

leuchtete mir irgendwie ein. Und mehr oder minder in einer evangelischen Kirche aufgewachsen, konnte ich mich über Texte wie »Kirche«

Gestern noch Inquisition,

Heute können auch Ungläubige in der Kirche Kaffee kochen

amüsieren. Oder auch über das »Wort zum Sonntag«, das ich gerne selber im Familienkreis vortrug:

Möge, der du sein werdest,

dann siehst du, was du sein dürftest.

Guten Abend.

Dass das alles christlich geprägte Texte eines gläubigen Menschen waren, begriff ich zunächst nicht. Denn da gab es ja auch all die anderen Texte über den Krieg, über den Niederrhein, über Frieda und den Wilden Westen und über Arbeiter, die jede Nacht um zwei Uhr aufstehen müssen.

In einem Vorwort zu einem seiner Bücher sagt Hüsch, lange Zeit sei ihm nicht bewusst gewesen, wie christlich geprägt sein Werk von Anfang an war. Er selber konnte im Nachhinein nicht beschreiben, wann ihm das immer klarer wurde. Erst in den Achtzigern definierte er Texte dann als christlich, sei es als Psalm oder Predigt.

Die politischen Texte waren teils links, teils friedensbewegt in späteren Jahren; die Niederrhein-Texte warmherzig und heiter, Hagenbuch verschroben-philosophisch. Und so weiter und so fort – ein heterogenes Gesamtkunstwerk. Wie passt das alles zusammen? Doch wenn man neben dieses Werk die Bibel legt, wird klar, welchem Geist all die Gedichte, Geschichten und Lieder entsprungen sind. Etwa dieser frühe Text:

Bedenkt, dass jetzt um diese Zeit

Der Mond die Stadt erreicht,

Für eine kleine Ewigkeit

Sein Milchgebiss uns zeigt.

Bedenkt, dass hinter ihm ein Himmel ist,

Den man nicht definieren kann,

Vielleicht kommt jetzt um diese Zeit

Ein Mensch dort oben an.

Und umgekehrt wird jetzt

Vielleicht ein Träumer in die Welt gesetzt,

Und manche Mutter hat erfahren,

Dass ihre Kinder nicht die besten waren.

[…]

Und dass gefoltert wird, das sollt ihr auch bedenken,

Gewiss ein heißes Eisen, ich wollte niemand kränken,

[…]

Soll’n wir sie lieben, diese Welt,

Soll’n wir sie lieben?

Ich möchte sagen:

Wir woll’n es üben.

Diese Zeilen sind ohne eine umfassend humanistische, aufgeklärte, aber eben auch christliche Weltsicht undenkbar.

Mich prägte Hüschs »Setzen auf die Liebe«, seine durch niemanden wegzudiskutierende Toleranz, seine Absage an den Hass, sein selbstverständliches Bekenntnis zu 1. Korinther 13

Denen, die sich jetzt entzweit sehn

Empfehlen wir 1 Korinther 13

wie auch sein stetiger Blick auf die schützenswerte Kreatur

Ich sing für die Verrückten

Die seitlich Umgeknickten …

Und all das machte mir darüber hinaus als christlich sozialisiertem Menschen klar, dass das Neue Testament eben nicht nur eine frohe Botschaft, sondern auch ein sozialer Auftrag ist, tagtäglich, im Großen wie im Kleinen.

Er kann mir sagen was er will

Und kann mir singen wie er’s meint

Und mir erklären was er muss

Und mir begründen wie er’s braucht

Ich setze auf die Liebe! Schluss!

Joachim Kosack, 2015

Joachim Kosack, geb. 1965 in Indonesien, aufgewachsen in Wuppertal, dort Kabarettist und Mitbegründer eines Zimmertheaters. Nach sieben Jahren als Regisseur an deutschen Provinztheatern Produzent bei der UFA, Fictionchef bei Sat1 sowie Professor an der Filmakademie Ludwigsburg. Heute Geschäftsführer der UFA Fiction. Wichtigste Projekte: »Die Flucht«, »Stauffenberg«, »Danni Lowinski«, »Bella Block«, »Der Rücktritt«.

Choral

Es ist dem Menschen beigegeben

Ein kleines Stück von einem großen Leben

Das sich vollzieht

Ohn Unterschied

Ob Bettler oder hohes Tier

Von einer Handvoll Erde sind wir alle hier

Bis Gras wächst über dieses Lied.

Wollt darum freundlich sein

Und euch mit Heiterkeit versehn

Es hat der Mensch zu kommen und zu gehn

Dieses ist ausgemacht von Anfang an

Mit Hochmut ist nicht viel getan.

Es ist dem Menschen aufgegeben

Mit Güte Gutes zu erstreben

Ohn Unterlass

Auch soll er das

Was nötig ist zum Leben mit allen teilen

Und aller Kreatur zu Hilfe eilen

Bis Blumen wachsen aus dem Gras.

Wollt gnädig sein und nicht mit Hohn verachten

Die nichts auf dieser Welt zustande brachten

Wenn es bestimmt, dass wir gen Himmel reisen

Dann ist mit Reichtum nichts mehr zu beweisen.

Es wird dem Menschen nachgegeben

Wenn er bereut

Und ändert sein bisheriges Leben

Der Tanz ist tot

Der Mensch kehrt heim zu Tisch und Brot

Der Rausch verfliegt.

Die Demut siegt

Die Masken sind gefallen –

Doch größer wär des Menschen Not

Wär nicht ein Gott, der milde mit uns allen.

1956

Sie sagen

Sie sagen

Idealismus ist ein Intelligenzdefekt

Ich glaube es nicht

Sie sagen

die Bergpredigt wäre nicht so gemeint

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Du sollst nicht töten ist so zu verstehn, dass …

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Bei etwas gesundem Menschenverstand müsste doch jeder …

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Selbst Christus würde, wenn er heute …

Ich glaube es nicht

Und wenn man mir Berge

schwarzen und roten Goldes verspricht

Ich glaube es nicht

1956

Bedenkt

Bedenkt, dass jetzt um diese Zeit

Der Mond die Stadt erreicht,

Für eine kleine Ewigkeit

Sein Milchgebiss uns zeigt.

Bedenkt, dass hinter ihm ein Himmel ist,

Den man nicht definieren kann,

Vielleicht kommt jetzt um diese Zeit

Ein Mensch dort oben an.

Und umgekehrt wird jetzt

Vielleicht ein Träumer in die Welt gesetzt,

Und manche Mutter hat erfahren,

Dass ihre Kinder nicht die besten waren.

Bedenkt auch, dass ihr Wasser habt und Brot,

Dass Unglück auf der Straße droht

Für die, die weder Tisch noch Stühle haben

Und mit der Not die Tugend auch begraben.

Bedenkt, dass mancher sich betrinkt,

Weil ihm das Leben nicht gelingt,

Dass mancher lacht, weil er nicht weinen kann,

Dem einen sieht man’s an,

Dem andren nicht.

Bedenkt, wie schnell man oft ein Urteil spricht.

Und dass gefoltert wird, das sollt ihr auch bedenken,

Gewiss ein heißes Eisen, ich wollte niemand kränken,

Doch werden Bajonette jetzt gezählt,

Und wenn eins fehlt,

Es könnte einen Menschen retten,

Der jetzt um diese Zeit in eurer Mitte sitzt,

Von Gleichgesinnten noch geschützt.

Wenn ihr dies alles wollt bedenken,

Dann will ich gern den Hut, den ich nicht habe, schwenken.

Die Frage ist:

Soll’n wir sie lieben, diese Welt,

Soll’n wir sie lieben?

Ich möchte sagen:

Wir woll’n es üben.

1958

Unter Stehlampen sitzen wir

Unter Stehlampen sitzen wir

Mit all unsren sterblichen Dingen

Und wir lieben diese alte Welt

Die keinen Urlaub kennt

Aber wir bleiben stumm

Denn unser Schmalspurschicksal interessiert ja nicht

Wir gehen weiter wenn Bäume abgesägt werden

Ein Schulterzucken ist kein Trost für die Blätter

Wenn wir unser Nebenan erblicken

Sind wir nicht mehr wie wir sind

Sehen wir an uns entlang

Denken wir an unsre Obduktion

Wir hören unser Umunsherum

Wissen auch viel von Biologie

Und feiern manchmal Triumphe

Doch säuberlich zusammengerechnet

Wohnen wir allein

Jeder in seinem Gartenzaun

Unsere Welt hat kein Dach über dem Kopf

Wir sitzen unter Stehlampen

Und warten auf das Kopfnicken der Katastrophe.

1959

Predigt in Anführungszeichen

Deckt den Tisch

Lasst jedermann eintreten

Gleich welchen Gruß er anbietet

Er kommt in Lumpen oder Seide

Verfolgt oder ausgesandt

Fragt nicht viel –

Wir sind alle arm geworden an Liebe

Und reich an Vorurteilen

Es kommen viele vorbei die bitten

Zögert nicht

Vermeidet Ausreden

Eines schwarzen Tages sind wir dran

Dann bitten wir

Glück ist keine runde Summe

Zirkus heißt Kreis

Bildet ihn

Steht euch gegenüber

Seht euch an

Liebt euch

Nehmt den Einsamen auf

Lasst ihn zuhören wenn ihr Pläne macht

Er macht keinen Strich durch eure Rechnung

Nehmt das Tuch auf dem gestickt steht

Eigner Herd ist Goldes wert

Und reicht es dem dessen Herd verlassen steht

Guckt nicht auf das Hemd dessen Farbe euch nicht passt

Es ist sauber und wärmt

Wie lange weiß keiner

Tod kommt Tod geht

Singt mit denen deren Lieder friedlich sind

Lasst die Dichter nicht zu kurz kommen

Haltet Wasser bereit um die Stirn zu kühlen

Lest die Sorgen von den Augen ab

Auf vielen Häusern ist ein Dach über vielen Menschen

Auf vielen Häusern ist kein Dach über vielen Menschen

Täglich werden es mehr

Überlegt wie sie zu gleichem Recht kommen können

Sprecht nicht von Naturgesetzen

Der Mensch ist nicht von Menschenhand

Erklär deinem Herzen keinen Bankrott

Und sind wir nicht von gleichem Stand

So doch vom gleichen Gott

Bietet einen Platz an

Jedem der nicht weiterweiß

Tragt ihn unter die Sonne

Wenn ihr einen Baum besitzt zeigt ihm wo Schatten ist

Er mag wählen

Ihr aber mögt ihn beschützen bis er weiterweiß

Hört auch andere Meinungen an

Vergleicht sie mit der euren

Gebt Auskunft wenn ihr lange nachgedacht habt

Lächelt wenn ihr sprecht

Es macht den anderen sicher und freundlich

Und lässt ihm Zeit selbst zu lächeln

Bis alles Schwere einfach ist

Nimm den Hut und hüte dich

Vor denen die schwätzen über dein Angesicht

Die aber schätzen dein Angesicht

Denen sei nah und brüderlich

Teilt den Tag nicht ein in Launen und Besserwissen

Er nimmt kein Ende dann

Und ist gefährlich gegen Abend

Wenn Flugzeuge rot und grün sich zeigen

Verzeiht den Einfältigen

Versteht die Vielfältigen

Sie lieben und verlieren damit ihr gewinnt

Übt euch

Prüft eure Mittel

Seht eure Grenzen

Vieles ist gutzumachen

Es soll keine Stunde sein die ich nicht günstig finde

Kein Gespräch kein Gruß kein Weg

Wo ich nicht hingehe und das alles versuche

Erklär deinem Herzen keinen Bankrott

Der Mensch ist nicht von Menschenhand

Und sind wir nicht von gleichem Stand

So doch vom gleichen Gott

1960

Credo: Ich glaube an die Güte

Ich glaube an die Güte

Ich glaube an den Fluch und an den Zweifel

Ich glaube an den hoffnungslosen Menschen

Ich glaube an die Fehler unsere Fehler

Ich glaube an die Armut

Ich glaube an die Anstrengung gut zu sein

Ich glaube an die geringste Freundlichkeit

Ich glaube an den plötzlichen Tod auf freier Strecke

Ich glaube an eine schreckliche Welt voller Irrtümer und später Einsichten

Ich glaube an die geringste Freundlichkeit auf Erden

Ich glaube an den Sommer und den Herbst

Ich glaube an die täglichen Versuchungen und an die nächtliche Verlorenheit

Ich glaube dies auf meinem Rücken auszutragen

Ich glaube an die vollendete Sinnlosigkeit dieser Welt

Ich glaube an die Güte

Ich glaube an die geringste Freundlichkeit

Ich glaube an das Leben

1960

Fahrender Schüler, Bericht

Es ist aufgezeichnet dass er manches Haus betrat

Und zugegen war in vielen Städten

Die ihn auch behalten hätten

Doch er war kein Mann der Tat

Wenn man ihn zur Rede stellte

Sagte er er wisse nicht worum es ginge

Denn er lege seinen Kopf nicht gerne in die Schlinge

Die schon viele in die Hölle schnellte

Mittags wenn die Leute sich beeilen

Leib und Seele zu erhalten

Sah man in der Sonne ihn mit anderen Gestalten

In die Stuben blinzeln ob auch alle redlich teilen

Manchmal sagte er nur ja

Und das hieß wohl dass die Menschheit wächst

Es war dann ein unsichtbarer Text

Auf seiner Stirne da

Grinsen war für ihn ein Wort

Und das bot er feil den feinen Herren

Die Zigarren aus den Schränken zerren

Doch er war nur einmal dort

Meistens ließ er seine Mütze liegen

Bei den Mädchen die er nahm

Und er ging wenn der Gedanke kam

Über andere zu siegen

Denn er wollte nicht gewinnen auf der Erde

Darum sprach er auch nicht viel

Darum bat er auch sehr oft und kühl

Dass es Abend mit ihm werde.

1961 oder früher

Fahrender Schüler, Nachtstück

Es fressen aus der Hand mir die Kälber

Immer dann

Wenn meine Haut härter wird und gelber

Und ich keinen Schirm aufspann

So ich über Wiesen mondwärts eile

Man muss sich bei den Blumen bücken

Mit ihnen und den kleinen Gräsern heile

Ich meinen gebeugten Rücken

Es kommen Vögel nachts in meine Gegend

Die wissen nicht was sie singen

Und sehen mich im Schlafe überlegend

Wie den nächsten Tag verbringen

Teilweis will ich’s zufrieden sein

Zu hausen bei den Bäumen

Doch muss manches allzeit vermieden sein

Unter der Haut und in den leichten Träumen

Vom vielen Durch-die-Wolken-Gucken

Ward der Himmel alt und ungemein

Doch kann er noch den Regen auf die Erde spucken

Und gegen Morgen warm und freundlich sein

Es regnet auf mein Herz

Man zählt die Sterne besser nicht

Es huschen Mond und schwarzer Scherz

Über mein Angesicht

1961 oder früher

Fahrender Schüler, Choral

Lasset den Himmel hoch oben

Die Hölle in Ruh

Wollet die unerbittlichen Nächte loben

Den Leib und die abgelaufenen Schuh

Kommen die Nöte zuhauf

Nehmet den Mund voll Melancholie

Niemand steht für euch auf

Niemand und nie

Leget das Haupt in die Hand

Wenn ihr verletzt und verlassen seid

Lobet die Uhren aus Sand

Lobet den Gott Gelassenheit

Achtet das Brot und den Wein

Trachtet nicht nur nach Gewinn

Seht es weiß keiner von eurem Gebein

Woher und wohin

Lasset den Wald und das Gras

Öffentlich mit euch sprechen

Lobet den täglichen Spaß

Und das tägliche Kopfzerbrechen

Strecket den Leib nach der Decke

Damit ihr so schnell nicht zu fassen seid

Lobet die Wurzel den Wurm und die Schnecke

Lobet den Gott der Gelassenheit

1961 oder früher

Fahrender Schüler, Blues

Ich fahre die Straßen entlang

In Zeiten die nicht sicher sind

Flöte und Baum

Trommel und Traum

Sind in meinem Gesang

Ich bin gekommen um Trost zu schreiben

Auf ein Blatt Papier

Mit einem vergilbten Klavier

Versuche ich Nachrichten aufzutreiben

Aus der Stadt

Die kleinlich klein

Im Grab mit einem Bein

Mich ausgespien hat

Bin ich gekommen euch zum Spaß

Und gehe hin wo Leides ist

Und Freude

Und wo beides ist

Zu lernen Mensch und Maß

Bis unter der Hand

Trommel und Traum mich verneinen

Flöte und Baum zu Gebeinen

Gott weiß in welchem Land

1961 oder früher

Hört dieses Lied

Hört dieses Lied,

aus drei Worten gemacht –

Hört dieses Lied,

das den Menschen erst macht –

Hört dieses Lied,

das den Tag überdacht –

Hört dieses Lied

das die Nacht überwacht:

Liebe deinen Nächsten,

der neben dir weint;

liebe deinen Nächsten,

beschäme deinen Feind;

liebe deinen Nächsten

und gib auf ihn acht!

Wir sind an Liebe alle arm geworden

und reich an Vorurteilen;

Glück ist keine runde Summe –

Steht euch gegenüber,

seht euch an und liebet euch.

Nimm deinen Hut und hüte dich

vor denen, die schwätzen über dein Angesicht,

die aber schätzen dein Angesicht,

denen sei nah und brüderlich!

Hört dieses Lied,

das älter als wir und älter noch:

Biete einen Platz an

jedem, der nicht weiterweiß –

Wenn ihr einen Baum besitzt,

zeigt ihm, wo der Schatten ist.

Hört auch andere Meinungen an,

vergleicht sie und gebt Auskunft,

wenn ihr nachgedacht habt.

Lächelt, wenn ihr sprecht,

es macht den anderen sicher und freundlich

und lässt ihm Zeit, selbst zu lächeln –

Erkläret euren Herzen keinen Bankerott.

Der Mensch ist nicht von Menschenhand,

sind wir auch nicht vom selben Stand,

so doch vom selben Gott!

Liebe deinen Nächsten,

der neben dir lacht;

liebe deinen Nächsten,

beschäme deinen Feind;

liebe deinen Nächsten

und gib auf ihn acht –

Hört dieses Lied,

aus drei Worten gemacht:

Der Folterknechte sind gar viele,

die Nacht ist ihre Zeit

und hält das Licht verborgen.

Sie haben Nationalgefühl,

so hör’n sie nicht auf, wenn jemand schreit,

und foltern bis zum Morgen.

Weh dem, der eine schwarze Haut

und sich nicht schön beiseitehält,

um Abstand zu beweisen.

Der Sklavenmarkt ist abgebaut,

doch heißt’s noch immer: Unterwelt

in manchen weißen Kreisen.

Geht in die Häuser

und rufet hinein,

geht auf die Straßen

und hämmert es ein,

geht auf die Plätze

und malet es an:

dass der Mensch ohne Mitmensch

nicht bestehen kann!

Zähl deine Chancen

die du verpasst –

verschenke ein Kleid,

wenn auch zwei du nur hast.

Liebe deinen Nächsten

und gib auf ihn acht.

Hört dieses Lied,

das den Menschen erst macht!

1961

Das Wort zum Sonntag

Wenn ich mir jetzt, meine lieben Zuhörer, eine Brille aufsetze – und Sie mir freundlichst erlauben in Ihre Stube hinein zu Ihnen zu sprechen, in Ihren eigenen Bereich hineinzuschaun, so hat das mit der Brille ja heute eine eigene Bewandtnis.

Vor einigen Tagen sah ich, wie ein netter junger Mann nach Anbruch der Dunkelheit sich eine alles noch mehr verdunkelnde Sonnenbrille aufsetzte. – Ein andermal hörte ich, wie jemand zu seinem Nachbarn sagte: Eine rosarote Brille, und alles sieht gleich ganz anders aus.

Da habe ich mich gefragt: Was sieht denn gleich ganz anders aus?

Und wie oft hören wir doch heute, ich habe nicht den richtigen Überblick, ich sehe da nicht mehr klar, ich schaue da nicht mehr hindurch. – Sollten da vielleicht zu viel Sonnenbrillen und zu viel rosarote Brillen mit im Spiel gewesen sein? Wer immer nur Buttercremetorte isst, weiß eines Tages gar nicht mehr, wie Buttercremetorte schmeckt. Und wer sich eine Sonnenbrille oder eine rosarote Brille aufsetzt, der muss nicht meinen, dass Gott unseren wahren Alltag nicht sieht. ER ist unser Optiker. ER braucht keinen Kneifer und keinen Aussichtsturm. ER ist weitsichtig und kurzsichtig zugleich. ER sieht uns an und durch uns hindurch. Durch und durch. Für und für.

Lassen Sie mich schließen mit einem Wort, das uns die Augen öffnen helfen will, mit einem Wort des böhmischen Wanderpredigers Heinrich Ignaz Mützenbecher, der da sagt: »Möge, der du sein werdest, dann siehst du, was du sein dürftest!«

Guten Abend.

1971 oder früher

Da sahen sich die Menschen an

Als aber alles durchorganisiert und multipliziert und durchprogrammiert

da sahen sich die Chefdurchblicker an und sprachen:

Den Heiligen Geist den ham wir

aus der Welt geschafft

jetzt kommen Sohn und Vater dran

und lobten gegenseitig sich

die Profis und die Macher

und schafften Seel’ und Seele ab

die großen Herrn der weiten Welt

und teilten sich das große Geld

und teilten nicht zu knapp.

Als aber alles durchreflektiert und durchdirigiert und durchexerziert

da sahen sich die Menschen an und sprachen:

Uns geht es gut, wir können nicht klagen

weg mit der Seele

erst kommt der Magen dran

sie fühlten sehr zufrieden sich

an Hab und auch an Gut

und wenn der Mensch im Glücke schwimmt

dann denkt er nicht daran

wie man sich denken kann

dass er sein Glück von andren nimmt.

Ich weiß nicht, wie es plötzlich kam

wie jetzt durch diese Tür

es rief mich an bei meinem Nam’

und sprach: So folge mir

in meine Welt, die nicht von dieser Welt

und doch im Diesseits liegt

Das Brot, dass dich lebendig hält

ist leicht, doch wer es wiegt

weiß, dass ich ihn geliebet hab

Und wer sich will befrein

der lässt vom Haben langsam ab

und kehrt zurück zum Sein

und kehrt zurück zur Kreatur

weiß sich mit allem eins

und teilt das Brot auf jeder Spur

zurück zum Kern des Seins.

Heut hungern Milliarden schon

in Elendsvierteln hausend

und warten auf den Menschensohn

damals warn’s nur 5000

und Fisch und Brot

und Sein und Tod

denn Mensch sein heißt

Brot und auch Geist

Es kommt die Zeit

es kommt der Tag

wo man nicht mehr gewinnen mag

die Stund ist nicht sehr weit

Du isst dein Brot

du schenkst es her

ob all der Not

und bist zum Sein bereit

Und sich beweist

schon tot gesagt

und ungefragt

der Heil’ge Geist.

1979 oder früher

Posthum

Und Gott sprach zu den Wesen die nun auf der Erde sich tummelten

Wenn ihr tief genug grabt oder geduldig die Angel auswerft

Dann wird auch die Stunde kommen wo ihr auf Menschen stoßt

Die ich nach meinem Bilde dereinst gemacht

Aber nach ihrem Bilde leben wollten

Sich mit Schmutz und Gift bewarfen bis sie schließlich

Darin ertrunken erstickt oder verdurstet sind

Weil jeder mit seinem Besen den Schutt vor des anderen Türe kehrt

So lange bis Wälder und Flüsse Kapellen und Kirchen

Häuser und Hütten

Kinder und Kegel nicht mehr zu sehen

Sondern nur noch zu riechen waren.

Und Gott sprach zu den Wesen die nun auf der Erde sich tummelten

Eigentlich ist es schade

Denn der Mensch war mein Lieblingsspielzeug und ich hatte meinen Gefallen an ihm

Und vielleicht war es ein Fehler von mir

Ihm zu gestatten eigene Wege zu gehn

Denn meine Wege sind zwar unerforschlich aber die Wege des

Freien Menschen führten ihn in Schlamm und Morast

Wie er es haben und nicht haben wollte.

Nun liegt die Menschheit unter Abfall und Auswurf

Tief im eigenen Schmutz

Erst warf man Papier und Steine weg

Tüten und Taschen

Speise und Plastikeimer

Dann warf man die Kühe weg

Sie fraßen vergiftetes Gras

Und zuletzt warf der Mensch sich weg

Immer einer zum andern immer einer zum andern

Die Letzten fielen von selbst um

Und ich ließ sie zuregnen mit himmlischer Asche

Und als sich der Letzte noch einmal bewegte las ich von

Seinen Lippen: Es muss was geschehn

Da ließ ich ihn langsam ertrinken.

Und Gott sprach zu den Wesen die nun auf der Erde sich tummelten

Wenn ich noch einmal Menschen mache bekommen sie keinen freien Willen

Dann werde ich sie dumm aber glücklich halten

Geht nun an eure Arbeit

Und die Wesen gingen an ihre Arbeit

Es waren Geier

Die sollten das Oberflächlichste vom Oberflächlichen säubern

Und fanden bald ein Papier

Darauf stand noch mit Filzstift geschrieben:

Kundgebung gegen die Umweltverschmutzung

Kommt alle in Massen

Es muss was geschehn

20.15 Uhr Gemeindehaus

Kommt alle in Massen

Es muss was geschehn

20.15 Uhr Gemeindehaus

Kommt alle in Massen

Es muss was geschehn

20.15 Uhr Gemeindehaus …

1981 oder früher

Utopie

Ich sehe ein Land mit neuen Bäumen.

Ich sehe ein Haus aus grünem Strauch.

Und einen Fluss mit flinken Fischen und einen

Himmel aus Hortensien sehe ich auch.

Ich sehe ein Licht von Unschuld weiß.

Und einen Berg, der unberührt.

Im Tal des Friedens geht ein junger Schäfer,

der alle Tiere in die Freiheit führt.

Ich hör ein Herz, das tapfer schlägt –

in einem Menschen, den es noch nicht gibt,

doch dessen Ankunft mich schon jetzt bewegt,

weil er erscheint und seine Feinde liebt.

Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erlebe.

Das ist die Welt, die nicht von unserer Welt.

Sie ist aus feinstgesponnenem Gewebe,

und Freunde, seht und glaubt: Sie hält.

Das ist das Land, nach dem ich mich so sehne,

das mir durch Kopf und Körper schwimmt.

Mein Sterbenswort und meine Lebenskantilene,

dass jeder jeden in die Arme nimmt.

1983

Und sie bewegt mich doch

Nein, ich wollte eigentlich ein Programm machen,

das mit der Bundesrepublik überhaupt nichts zu tun hat.

Und als es fertig war, das Programm, stellte ich fest,

dass es mit der ganzen Welt nichts zu tun hat.

Oh nein, mein Gott, hab ich gedacht.

Aber keine Angst.

Natürlich hat dieses Programm was mit dieser Republik zu tun.

Und auch mit dieser Welt,

die ja von oben bis unten durch und durch eine völlig erbarmungslose ist.

Der Humanismus faul und eitel.

Der Sozialismus unfehlbar, großspurig, selbstgerecht.

Die Kirchen beide immer noch von oben herab,

halbherzig, überheblich zugleich,

verwechseln gnadenlos nach wie vor

Religion mit Moral.

Der Kapitalismus korrupt und kriminell.

Die fortschrittlichen Zirkel

lügen sich täglich die Taschen voll,

und auf alles bin ich hereingefallen.

Heute noch, selbst heute Abend noch.

Und bin immer noch der kaputte Christ.

Der auf die Bergpredigt schwört.

Der alte gläubige Vollidiot.

1984, aus dem Programm »Und sie bewegt mich doch«

Und hätte der Liebe nicht. Predigt

Liebe Freunde und Freundinnen mit Christus! Es ist für mich eine hohe Auszeichnung, mit euch in dieser Messe eine Predigt zu versuchen. Ich sage versuchen, weil ich bis zu diesem Augenblick immer noch nicht recht begriffen habe, das ich das tun darf. Denn predigen heißt ja verkünden, verkündigen, heißt auch schelten oder sogar im Zorn sich für oder gegen etwas ereifern, die Leviten lesen. Was aber kann ich verkünden, wen sollte ich schelten, und für wen oder gegen was soll ich mich an dieser Stelle ereifern. Und siehe da, ich fand einen Ausweg und dachte mir: Du musst dich für etwas begeistern!

Nun ist das wie immer und alles leichter gedacht und gesagt als getan. Wir leben wieder in einer Welt der Knechtschaft, der Ausbeutung, der bedingungslosen Polarisierung, wir leben in einer Todeslandschaft und wissen oft nicht mehr ein noch aus. Wie soll da noch Begeisterung übrig bleiben oder neu aufkommen und wachsen, zumal wir selber schon halb gefangen sind in den Netzen unserer ideologischen Weismacher und ihrer pragmatischen Handlager, Spekulanten und Interessenkrämer, die Gottes Erde und was darin ist, den Erdkreis und die darauf wohnen, verkaufen und verkommen lassen.

Nun, ich halte hier keine politische Rede, obwohl es vielleicht für mich leichter wäre. Nein, ich will mich für etwas begeistern! Vielleicht für eine Devotio moderna, für eine neue Frömmigkeit ohne Aufsehen, ohne unsere irdische Betriebsamkeit, ohne Raserei durch die erbarmungslose Öffentlichkeit unserer Tage. Ich weiß, wie schwierig das ist, wie viele Konflikte auszuhalten sind, wie viele Widersprüche anzunehmen und zu ertragen sind, wie viele Enttäuschungen verarbeitet werden müssen, wie viel täglicher Kleinkram uns einen Strich durch unsere Hoffnungen macht und wie viele Menschen dann oft in einem Labyrinth der Aussichtslosigkeit enden.

Manch gutes Wort und manch schöner Spruch sind dann für viele Menschen nicht mehr annehmbar. Das ist nicht so einfach, dann nur mit der Bibel zu kommen und zu glauben, dann ginge es schon wieder, dann sei wieder alles gut. Das müssen wir wissen, wenn wir öffentlich darüber nachdenken wollen. Das müssen wir wissen, wenn wir unserer Soziabilität treu bleiben wollen. Aber dennoch und gerade deswegen bleiben wir bei dem Wort Gottes, dennoch und gerade weil wir es wissen, setzen wir auf die Bibel, dennoch harren wir aus und setzen unsere Hoffnung auf die Sprache Jesu Christi. Warum?

Weil es die freieste Sprache, die umfassendste, die menschlichste und die innigste Sprache ist. Selbst im Schweigen sagt und zeigt uns Christus, dass es, meine Freunde, um eine andere Weltgeschichte geht als die, die wir hier und jetzt so jämmerlich fabrizieren. »Und er antwortete ihm nicht auf ein Wort, so dass sich der Landpfleger sehr verwunderte.« Ein Bibelsatz, der mich in den letzten Jahren immer wieder beeindruckte und begleitete. Und ich meine, es ist ein hochpolitischer Satz. Wie tief muss Jesus durch Pilatus und dessengleichen hindurchgesehen haben und wahrlich eine andere Geschichte gemeint haben, und das angesichts des nahen Todes. Wie lächerlich sie uns doch alle erscheinen müssen, die Herren Landpfleger und ihresgleichen früher und heute, wenn wir uns die übermenschliche und überweltliche Contenance des Jesus von Nazareth vorstellen. Ich sage es so salopp, um mir überhaupt nur einen Bruchteil von diesem Geist, der die Welt überwunden hat, vorstellen zu können.

Und vielleicht muss man es ganz anders sagen und sehen, ganz anders auslegen, »des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt«, das wissen wir zu gut, aber gleichviel, warum das alles:

Weil er uns erlösen wollte, weil er uns geliebt hat, weil er von uns gewusst hat, weil er unser Kommen und Gehen und das, was an schwerem Leben dazwischen ist, weil er dies vorausgefühlt hat und immer voraussehen wird bis in alle Ewigkeit, weil er uns geliebt hat.

Ich will hier nicht den Theologen spielen und keinem ins Handwerk pfuschen, aber könnte es vielleicht nicht daran liegen – der organisierte Tod marschiert immer schneller mit Gift und Gas, mit Hunger und Folter, mit den teuflischsten Waffen seit Menschengedenken durch unsere Welt, mit Hass und Habgier in den Hirnen laufen die Menschen Programmen und Funktionären nach – könnte es vielleicht nicht auch daran liegen, dass wir alle noch nicht mit der Geschichte Jesu Christi begonnen haben, oder dass wir alle meinen, die Geschichte Gottes schon so gut zu kennen.

Martin Luther sagt: »Wir hingegen, liebe Freunde, wollen uns so verhalten, als ob wir die Geschichte noch nicht kennen.« Wollen wir vielleicht annehmen, wir sind schon ganz ordentliche Christen, wenn wir ein Transparent höher halten, oder etwas mehr beten und singen, ein Grab schmücken, Geld nach Lateinamerika schicken, damit sei schon alles getan. Natürlich ist damit vieles getan. Aber ich meine, ich fürchte sogar, wir haben mit dem größten und schwersten Mittel noch nicht begonnen: mit der Liebe, wie sie uns Christus demonstriert hat. Mit der Nächstenliebe nicht und mit der Feindesliebe haben wir noch nicht begonnen, und sind frei nach Goethe ein düsteres Geschlecht geblieben, dem nicht zu helfen ist.

Bertolt Brecht, der sicher kein Christ war, hat es uns vorgehalten: »Wollt nicht in Zorn verfallen, denn alle Kreatur braucht Hilf’ von allen.« Der Ton liegt auf alle und allen, die Freundlichkeit und die Hilf’ für jede Kreatur. Die Solidarität der Kreaturen. Das braucht Geduld, aber es heißt auch: »Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und wer sich selbst beherrscht, ist besser als einer, der Städte gewinnt.«

Lasst uns, meine Freunde, die Geschichte Jesu Christi beginnen. Die große Geschichte der Liebe, daraus die Geschichte des Friedens wächst, blüht und gedeiht. Verlassen wir die Geschichte der kleinlichen Polarisierer, deren Mittelmäßigkeit stets in Anmaßung übergeht. Lasst uns, wie der große griechische Prediger Johannes Chrysostomos gesagt hat, das Kreuz Christi wie eine Krone tragen. Beginnen wir mit der Geschichte Gottes, unsere Weltgeschichte wird eine andere werden, und wir werden erlöster aussehen.

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete

und hätte der Liebe nicht

so wäre ich ein tönend Erz

oder eine klingende Schelle

Und wenn ich weissagen könnte und wüsste

alle Geheimnisse und alle Erkenntnis

und hätte allen Glauben

also dass ich Berge versetzte

und hätte der Liebe nicht

so wäre ich nichts

Die Liebe ist langmütig und freundlich

die Liebe eifert nicht

die Liebe treibt nicht Mutwillen

Sie blähet sich nicht

Sie stellet sich nicht ungebärdig

Sie suchet nicht das Ihre

Sie lässt sich nicht erbittern

Sie rechnet das Böse nicht zu

Sie verträgt alles

Sie glaubet alles

Sie hoffet alles

Sie duldet alles

Die Liebe höret nimmer auf

So doch die Weissagungen aufhören werden

Und die Sprachen aufhören werden

Und die Erkenntnis aufhören wird

Denn unser Wissen ist Stückwerk

Und unser Weissagen ist Stückwerk

1. Korinther 13

Und so werden auch die Soldaten langsam nicht mehr durch die Stadt marschieren, sie werden langsam nach Hause gehen und Apfelbäume – wenn ich ein Dichter wäre, müssten’s Apfelbäume sein – und Apfelbäume pflanzen. In Peking werden die Soldaten mit ihren Bajonetten kleine Holzvögelchen schnitzen. Und überall werden die Soldaten voller Freude wieder ein richtiges Handwerk erlernen und mit den Kindern sonntags auf den Hügeln sitzen und Pflanzen beschreiben. Die großen Raketen werden zwar zunächst noch in den großen Museen zu sehen sein, aber dann wird man bald darüber lachen. Und der große amerikanische Präsident wird am lautesten darüber lachen. Die ganze Welt wird lachen.

Und wie das so ist, zuerst werden alle Menschen etwas verlegen grinsen, dann werden sie lächeln, dann lachen und schließlich so losprusten, dass die, die noch vor kurzem sehr geweint hatten, schon ein bisschen mitlächeln. Man wird sich auf die Schulter schlagen und sagen: Mensch!

Denn ein anderes Wort wird ihnen zunächst nicht einfallen. Mensch!, werden sie alle sagen, und denken werden sie alle, wie konnten wir nur so lange so dumm sein, wo wir doch immer dachten, wir wären so klug. Und wenn wir dann sehen, wie die Marxisten nicht mehr Marxisten und die Kapitalisten nicht mehr Kapitalisten und die Faschisten nicht mehr Faschisten und die Kommunisten nicht mehr Kommunisten und die Nationalisten nicht mehr Nationalisten und die Rassisten nicht mehr Rassisten und die Stalinisten nicht mehr Stalinisten zu sein brauchen, dann werden wir sehen, wie eine zufriedene Menschheit durch Täler und Schluchten, über Gebirge und auf wilden Flüssen sich auf den Weg macht, um sich Guten Tag zu sagen und zu fragen: Wie geht es dir?

Und wen wundert’s dann, wenn dann die Chinesen in Bonner Cafés sitzen und Deutsche auf dem Roten Platz in Moskau Luftballons steigen lassen, wen wundert’s dann, wenn Orthodoxe mit Atheisten sich übers Wetter unterhalten und Farbige in europäischen Krankenhäusern operieren und Juden und Kleinbürger, Hindus, Christen und Zigeuner an einem schönen runden Tisch im Freien sitzen und sich alte Witze erzählen.

Wen wundert’s dann?!

Und dann kommen auch noch die Amerikaner (die kommen ja immer) und singen eines ihrer vielen lustigen Lieder. Und der Refrain eines Liedes könnte vielleicht heißen:

Wenn wir ehrlich sind, alter Bursche

Müssen wir doch zugeben

Dass wir alle gleich sind

Das bisschen Fleisch und Knochen

Das ist doch nichts Besonderes

Darum lass uns daran denken, alter Bursche

Dass von uns das Gleiche übrig bleibt.

Keiner fragt mehr nach Konfession oder Hautfarbe, nach Weltanschauung oder Parteibuch, nach Bankkonto oder gesellschaftlicher Position. Aller ideologischer Ballast kann endlich über Bord geworfen werden. Besserwisser und Sklavenhalter, Rechthaber und Ausbeuter werden nie mehr gesehen.

Der Mensch kommt zur Ruhe. Die Zukunft leuchtet. Der Frieden ist mit uns.

Ja! Ich will mich für etwas begeistern!

Ich setze auf die Liebe

Das ist das Thema

Den Hass aus der Welt zu entfernen

Bis wir bereit sind zu lernen

Dass Macht Gewalt Rache und Sieg

Nichts anderes bedeuten als ewiger Krieg

Auf Erden und dann auf den Sternen

Ich setze auf die Liebe

Wenn Sturm mich in die Knie zwingt

Und Angst in meinen Schläfen buchstabiert

Ein dunkler Abend mir die Sinne trübt

Ein Freund im anderen Lager singt

Ein junger Mensch den Kopf verliert

Ein alter Mensch den Abschied übt

Ich setze auf die Liebe

Das ist das Thema

Den Hass aus der Welt zu vertreiben

Ihn immer neu zu beschreiben

Die einen sagen es läge am Geld

Die andern sagen es wäre die Welt

Sie läg in den falschen Händen

Jeder weiß besser woran es liegt

Doch es hat noch niemand den Hass besiegt

Ohne ihn selbst zu beenden

Er kann mir sagen was er will

Er kann mir singen wie er’s meint

Und mir erklären was er muss

Und mir begründen wie er’s braucht

Ich setze auf die Liebe! Schluss!

Gott schütze euch

Gott schütze und befreie uns

Amen

1985, auf dem 21. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf

Nachtrag

Nun gut

Die Geschichte läuft

Das Spiel wird gespielt

Alles ist gesagt

Ich habe nichts mehr nachzutragen

Und das hab ich mir eigentlich immer gewünscht

Dass ich eines Tages nichts mehr nachzutragen habe

Also

Dass ich in der Lage bin

Nichts mehr nachtragen zu müssen

Dass ich niemandem etwas nachtrage

Mit anderen Worten

Dass ich fähig werde

Nicht mehr nachtragend zu sein

So dass ich wahrhaftig sagen kann

Ich habe nichts mehr nachzutragen

Oder ich trage niemandem etwas nach

Und der Friede

Kann endlich

In mein Herz einziehen.

1985

Seht welch ein Mensch. Predigt

Freunde lasst uns singen aber was

Ich habe Menschen gesehen die

wenn sie ihr Opfer gefunden hatten

sofort etwas schneller und etwas lauter sprachen

Im Namen des Volkes im Namen des Vaters

Im Namen der Was-weiß-ich-Revolution

Ich habe Menschen gesehen die sofort etwas schneller

Und etwas lauter sprachen oder vorlasen aus Büchern

Und mit belegter Stimme alles belegten nur um Sieger zu werden

Die immer etwas mehr wussten und etwas besser wussten als ihre Opfer

Auch wenn es sich um einen Witz drehte

Seht welch ein Mensch

Wir haben Augen im Kopf

Wir haben gute Augen

Wir haben schlechte Augen

Wir haben Augen die sprechen

Wir können mit anderen Augen sehen

Wir können mit eigenen Augen im Spiegel unsere eigenen Augen sehen

Wir können andere Augen sehen

Wir können Augen machen

Wir können anderen schöne Augen machen

Wir können ein Auge zudrücken

Wir können die Augen schließen

Wir können unsere Augen einen Spalt öffnen

Wir können unsere Augen weit aufreißen

Wir können unseren Augen nicht trauen

Die immer wieder jawohl sagten jawohl jawohl

In Violinkonzerten ertranken und die restlichen Bilder

Luther Kindheitsbestecke

Hölderlintastaturen

Einfach verbrannten

Einfach sich nicht mehr stören ließen

Und versteinerten

Seht welch ein Mensch

Wir können uns auf unsere Augen verlassen

Wir haben unsere Augen überall

Ich habe Menschen gesehen

Die sich alles an fünf Fingern ausrechneten –

Das kann man sich doch an fünf Fingern ausrechnen

Sagten sie

Beim Straßburger Münster und beim längsten Fluss Asiens

Und wurden doch ausgesetzt auf getarnte Seelen-Verkäufer

Von denen die etwas lauter und etwas schneller gesprochen hatten

Ich habe Menschen gesehen die ganz plötzlich aufsprangen

Um etwas zu sagen und sich wieder hinsetzten

Mit schneeweißem Gesicht

Abgeschlagen

Hinterher sich dann heimlich betranken

Die lichterloh durch Kornfelder streiften

Deutschland die zweigeteilte Dame auf dem Rücken

Selbst zweigeteilt sich nicht entscheiden konnten

Und in motorisierten Küchen unter den Tisch fielen

Ohne Unterschrift

Seht welch ein Mensch

Wir können mit unseren Augen beobachten

Wir haben wachsame Augen

Wir sehen wie man sich auf dem Bahnsteig begrüßt

Wir sehen wie man sich auf dem Bahnsteig verabschiedet

Wir können wegsehen

Wir sehen wie ein Kind langsam einschläft

Wir sehen eine öffentliche Hinrichtung

Wir sehen wie Rudi Völler in eine Abseitsfalle läuft

Wir sehen den Präsidenten nach einer Operation

Wir sehen Astronauten auf Flugzeugträgern

Wir sehen Schweißtropfen auf der Oberlippe eines Funktionärs

Wir haben Augen im Kopf

Wir sehen wie Kinder in eine Gaskammer stolpern

Wir sehen mit einem Opernglas La Traviata

Ich habe Menschen gesehen

Aufgeregte mit beschlagenen Brillengläsern

Denen ihr ganzes Wissen zertreten wurde

Erasmus von Rotterdam und die Biologie

Weil sie sich nicht ausdrücken konnten

Mit zitternden Händen

Wir sehen uns vor

Wir sehen uns um

Wir sehen durch jemanden hindurch

Wir sehen das Ganze

Wir sehen das Ganze als Einheit

Wir sehen die Teile als Ganzes

Wir sehen die Teile nur im Zusammenhang mit dem Ganzen

Wir sehen das alles von einer anderen Warte aus

Wir sehen es als Prozess

Wir sehen es als Prozess der sich ständig abbaut und ständig aufbaut

Wir sehen es als gegeben

Wir sehen es als gegebenes Ganzes im Zusammenhang mit einem gänzlichen Ganzen

Wir sehen es philosophisch

Seht welch ein Mensch

Ich habe Menschen gesehen

Die auf dem Boden ihre Schreibunterlagen suchten

Zu Hause alles genau überlegt

Und nun keinen Zusammenhang mehr fanden

Sich immer wieder zusammensetzten

Sich auseinandernahmen und sich wieder zusammensetzten

Und um einen Moment baten – Einen Moment bitte

Große Menschen

Die wenn sie aufstanden noch größer wurden

Nicht durch die Tür gingen

Und doch nach drei Worten geschlagen waren

Wie sie zu leise sprachen

Es nicht aushalten konnten und weggingen

Seht welch ein Mensch

Wir sehen es nicht so schwarz

Wir sehen es mehr grau in grau

Wir sehen es schwarzweiß

Wir sehen es mehr rosa

Wir haben ja Augen im Kopf

Wir können mit den Augen sehen

Wir können unsere Augen schließen

Wir wollen nichts mehr sehen

Wir können nichts mehr sehen

Wir können nicht mehr sehen dass man unsere Augen zudrückt

Wir brauchen nun nicht mehr zu sehen was andere dann sehen

Wir sehen dann etwas anderes was die anderen noch nicht sehen

Seht welch ein Mensch

Ich habe Menschen gesehen

Wenn sie ihr Gehirn durchwühlten

Fanden sie keinen gültigen Ausweis

Nahmen ihre Mäntel und krochen durch die Straßen

Bis sie verrosteten

In Bahnhofshallen auf Zeitungen saßen

Abgeschlagen und weit hinten

Die auf Züge sprangen den Spiegel im Kopf

Die Zeit unterm Arm und konkret sagten

Dass es konkret gesehen konkret doch wohl so sei

Freunde vielleicht können wir uns eine Schnittmuster-Chirurgie erfinden

Und schneiden uns selbst so aus dass wir passen

Schneiden uns Beine und Finger zurecht

Und sind so entstellt und verschlüsselt

Als Probe Mensch – Liebling der ganzen Nation

Seht welch ein Mensch

Heiliger Busen – Heiliger Bauch

Heilig heilig die Arbeitslosen zuhauf

Heilig die Schwätzer – Heilig die Ketzer

Heilig alles was da schon marschiert

Heilig alles

Bis es dann passiert

Wir werden es ja sehen

Ihr werdet es ja sehen

Wir werden es ja sehen

1987, auf dem 22. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main

Anstoß zum Frieden

Stellt die Meinungen ein

Dass die Liebe gedeiht

Lasst die Liebe blühen

Dass der Frieden wächst

Lasst den Frieden in euer Herz

Dass die Menschen erlöster aussehen

Befreit den Menschen

Damit er von den Ansichten lässt

Und die Meinungen einstellt

Und sagen kann

Ich bin für dich

Und nicht gegen dich

Ich bin mit dir

Und nicht vor dir oder nach dir

Ich bin neben dir und nicht über dir

Ich bin bei dir

Auch wenn du gegen mich bist

Lasst uns Gottes versammelte Großzügigkeiten werden

Und seine Artisten sein

Die Welt überwinden

Nicht mit Leichtigkeit gewiss

Aber mit Zuversicht

Geduld und Freundlichkeit

Lasst uns Nachsicht üben

Wo andere den Schlussstrich ziehen

Lasst uns spielerisch auftreten

Wo andere mit dem Fuß aufstampfen

Lasst uns Feinde in Freunde verwandeln

Darum stellt die Meinungen ein

Dass die Liebe gedeiht

Lasst die Liebe blühen

Dass der Frieden wächst

Lasst den Frieden in euer Herz

Dass die Menschen erlöster aussehen

Befreit den Menschen

Damit er von den Ansichten lässt

Und die Meinungen einstellt

Und sagen kann

Ich bin für dich

Und nicht gegen dich

Ich bin mit dir

Und nicht vor dir oder nach dir

Ich bin neben dir

Und nicht über dir

Ich bin bei dir

Auch wenn du gegen mich bist

Viele sagen

Das sei ihnen unmöglich

Andre sagen

Das entspräche nicht ihrem gesunden Menschenverstand

Es kann auch nicht unserem Verstande entsprechen

Es kann nur der Liebe Gottes entsprungen sein

Und ist ein Geschenk außerhalb unserer Reichweite, außerhalb der Geschichte

Öffnen wir unsere Augen und unsere Herzen und nehmen wir endlich das Geschenk an

Es ist unsere einzige Chance Weltfrieden zu machen

Und allen Menschen ein Wohlgefallen zu bereiten

1987, auf dem 22. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main

Versöhnen. Predigt

Sich versöhnen gehört zu den Dingen, die, frei nach Bertolt Brecht, einfach, aber schwer zu machen sind. Versuchen wir, meine Freunde, wieder einmal das Schwere mit Heiterkeit so leicht zu machen, wie es schwer ist.

Oft hören und lesen wir in der letzten Zeit überall das Wörtchen »dennoch« im einem sehr merkwürdigen und eigenartigen Sinn. Etwa:

Obwohl die Atmosphäre eisig war, verlief das Gespräch dennoch mit herzlicher Offenheit.

Die Zahl der Arbeitslosen wird zwar nicht geringer, dennoch besteht kein Grund zur Panik.

Trotz Ramstein und Remscheid sollten wir dennoch unsere atlantische Bündnisverantwortung nicht aus den Augen verlieren.

Auch wenn der Kollege X in seiner wichtigen Rede recht ungereimte bis gefährliche Behauptungen aufstellte, bleibt er dennoch ein ehrenwerter Mann.

Auch wenn immer mal wieder technische Pannen in Kernkraftwerken passieren, ist das dennoch kein Grund, das Geschäft mit der Angst zu schüren.

Die Gesundheitsreform mag sicher nicht in allen Punkten ideal sein, dennoch ist sie für den Einzelnen von hoher sozialer Ethik.

Und so weiter und so weiter.

Wenn der Frieden längst ein Gruß ist

und die Fahne aller Menschen nur noch weiß ist

und die Friedenstaube keine Ente,

Rupert Scholz ist auch schon lange in Rente,

alle Menschen Zivilisten und die Friedenspfeife rauchen,

weil sie keinen Feind mehr brauchen.

Und der Osten mit dem Westen

auf dem langen Marsch zum Besten,

was der Mensch sich antun kann,

nämlich Freundschaft und Versöhnung, dann,

dann kommt immer einer bei uns um die Ecke,

hebt den Zeigefinger warnend und erklärt:

Dennoch sollten wir Deutschen das Gefühl

der Bedrohungsangst nicht verlieren,

weil wir auf der Hut sein müssen,

und nicht gleich jedem Russen um den Hals fallen.

Nun, das finde ich allmählich, mit Verlaub, auch an so ’nem schönen Sonntagmorgen in der Kirche zum Kotzen.

Dennoch, meine Freunde,

das kleine Wort jetzt mal umgekehrt benutzt,

lasst uns dennoch heiter bleiben,

und auf dem Wege zur Versöhnung mit den Völkern

und mit allen Menschen,

bleiben wir bei uns,

schieben wir nicht immer gleich alles auf andere.

Wir sollten dazu eigentlich am ehesten in der Lage sein,

mit Christus an unserer Seite.

Geben wir uns hin,

und geben wir uns auf, das heißt,

wir geben unsere eigenen kleinen Vorurteile,

die gar nicht so recht in Gottes Plan passen,

auf, und geben uns mit Demut dem anderen Menschen hin.

Ich habe schon einmal gesagt, an anderer Stelle:

Keiner erhebe sich über den anderen

oder erniedrige sich unter den anderen.

Keiner kommt auf den Gedanken,

er sei besser oder schlechter,

wichtiger oder wertloser als der andere, keiner.

Hingabe und Aufgabe »der Menschen wegen« sollten eigentlich für uns Christenmenschen ganz klare Ausgangspositionen sein. Ich weiß, es ist natürlich das Einfache, das schwer zu machen ist, ich sagte es schon, und der Mensch kann sich nichts aussuchen. Er wird ja in die Welt gesetzt, und nun muss er sich durchstrampeln durch seine Zeit, durch unsere Zeit, die er sich nicht aussuchen kann, sagen wir mal von Hindenburg bis Helmut Kohl. Oder … von 1925 bis vielleicht zum Jahr 2000, wenn’s gutgeht, toi, toi, toi. Ich drück mich jetzt mal salopp aus: Fertig ist der Zeitgenosse. Jetzt kannst du zusehen, armes Menschlein, wie du damit fertig wirst. Niemand fragt dich, ob du vielleicht in der Renaissance oder um Friedrich den Großen herum hättest wohl leben wollen oder bei Friedrich II. von Hohenstaufen. Das Land, dein Land kannst du dir auch nicht aussuchen. Und wenn du ganz langsam bei Verstand oder zu Verstand gekommen bist, dann merkst du erst: Ah, du bist Deutscher – nicht Russe. »Deutschland« heißt das Land. Und nun sieh zu, wie du damit fertig wirst. Da lernst du ein bisschen Geschichte in der Schule, und dann wirst du sehen, was das für einen Spaß macht, Deutscher zu sein. Den Stolz darauf, den kriegst du auch noch später beigebracht. Die Religion kannst du dir auch nicht aussuchen. Du kannst zwar später von einer Kirche in die andere treten, das ist alles erlaubt, aber am Anfang bekommst du deine Religion angezogen wie deinen Kieler Matrosenanzug. Deinen Vornamen kannst du dir nicht aussuchen. Du heißt Günter. Gewöhn dich dran. Dein Großvater hieß auch Günter.

Du kannst dich dann später mit th schreiben. So wie ich ja später eigenmächtig Hans einfach mit zwei n geschrieben habe. Weil: Mein Großvater hieß Johannes.

Deine Hautfarbe übrigens ist auch nicht deine Leistung. Dein Gesicht, dein Geschlecht auch nicht. Du bist der reine Zufall. Gottes Zufall, wenn du es dir mal klarmachst. Gottes Liebling und nicht Liebling der Nation. Und dann kommt ganz langsam die Zeit, in der du dir was aussuchen kannst, eigentlich aber etwas aussuchen musst: deinen Beruf, deine Frau, deinen Mann, deine Philosophie, deine Partei. Und was so vom Menschen alles verlangt wird, was er alles sein muss und sein soll und doch nicht sein kann, und oft auch nicht sein will. Und doch muss der arme Mensch, und wenn ich mir so vorstelle, wie viele Menschen es gibt, wie groß die Welt ist. Und da meint ausgerechnet unsereiner, es müsste alles so gehen, wie er sich das vorstellt. Denken wir doch mal darüber nach, ganz kurz, wie viele Hautfarben es alleine schon gibt und wie viele sogenannte Kulturkreise auf der ganzen Welt, die Medizinmänner und Zauberer eingerechnet, die es ja noch überall gibt, mehr oder weniger. Bei uns ja weniger. Wir haben ja eigentlich noch Glück, wir haben evangelisch und katholisch und freigeistig und gottgläubig und Sekten sonder Zahl, was da alles gepredigt wird. Der eine glaubt das, und der andere glaubt das, und viele glauben wieder gar nichts oder beten die Natur an. Das müssen wir uns doch vielleicht einmal auch an diesem Morgen ins Gedächtnis rufen. Was sich da aber alles tut, allein schon bei uns. Und wenn man dann noch ganz richtig und ernsthaft an die ganze Welt denkt, für ein paar Sekunden nur, dann wird man rammdösig, um mal dieses passende rheinische Wort zu verwenden. Wie will man das alles unter einen Hut bringen, meine Freunde. Gut, lassen wir mal alle Hautfarben und Religionen weg und die ganzen Kulturkreise und die üblichen Zivilisationsübungen und gucken mal bei uns im Kleinen nach. Da ist doch auch alles anders. Allein schon die eigene anspruchsvolle Umgebung, hie und da.

Da hat doch zum Beispiel jeder immer noch einen besseren Geschmack als der andere. Wenn man sagt: »Wir waren neulich in Dings, das fanden wir schön«, dann heißt es doch meist: »Ja, fandet ihr, also wir wissen, also wir waren nicht so begeistert.« Ja, wie soll denn da erst ein Restindio aus dem wildesten Amazonasgebiet mich verstehen, beziehungsweise mit mir übereinstimmen, wenn ich mich vor ihn hinstelle und singe: »Ein feste Burg ist unser Gott.« Und umgekehrt, wenn der mich durch 100 000 Lianen, barfuß und ohne Machete zu seinem 130 Jahre alten Oberhäuptling führt, und der sagt dann zu mir vielleicht: »Galapapos truente madridos rubato amigo dos passos con weyos avenidas.« Das ist antiquarisches Hispanisch und heißt, glaube ich: »Mein Freund, sei froh, dass das Blasrohr noch einmal an dir vorübergegangen ist.« Wie soll ich denn da … Wie soll ich denn das als blasser Mitteleuropäer mit Platon, Erasmus und Hexenschuss im Rücken, wie soll ich denn das verstehen? Da liegen doch wirklich nun Welten dazwischen, wie man immer so schön sagt. Da kann ich doch wenigstens vielleicht von meiner eigenen, kleinen Umgebung ein bisschen mehr Zustimmung erwarten. Aber, ob ich in ein Bekleidungsgeschäft, zu einem Fest, in irgendeine Ausstellung oder in ein Konzert gehe und sage: »Also, ich fand es toll, ich fand es großartig«, heißt es immer Folgendes: »Du, also ich weiß nicht, wir fanden es nicht so berauschend.« Wie soll das, ich will ja nun mal mit aller Vorsicht sagen, dass, dass ich oft Schwierigkeiten habe mit meiner Demut. Mit meiner Großzügigkeit. Mit meiner Geduld. Vielleicht auch hie und da mit meiner Versöhnung. Denn wir sind doch alle von ganz merkwürdigen Pressionen gezeichnet. Von ganz engen Gedankengängen besetzt. Wir können doch oft nicht aus unserer kleinbürgerlichen Haut, anstatt einen weltbürgerlichen Horizont zu haben. Wir denken doch: Gefühle und Kreise sind selbstgefällig. Sehr selbstgefällig, anstatt alles aufzugeben, wegzugeben, beiseitezuschieben, was wir gestern mal gemeint haben. Wir müssen von allen Urteilen weit entfernt sein, wenn wir auf Menschen zugehen wollen. Gleichsam so tun, als wüssten wir gar nichts. Dem anderen den Vortritt lassen. Warum nicht mal den unteren Weg gehen. Aus unserer Freiheit als Christenmenschen heraus. Aus Freiheit und Liebe. Mal den zweiten Platz belegen. Das heißt, Siegen und Verlieren gibt es nicht mehr; geht nicht mehr, denn jeder braucht doch jeden.

Meine Freunde, sehen sie mal, das mit der Freiheit, der Gleichheit und Brüderlichkeit ist ja gerade in diesem Jahr besonders hochreif. Und dass wir brüderlich und schwesterlich frei unter Gleichen sind, das sollte ja für uns Christen eine geradezu religiöse Selbstverständlichkeit sein!

Sehen Sie mal, meine Nase mit meinem holländischen Pannekuchengesicht ist nicht die allerschlankste, nicht hellenistisch und auch nicht degeneriert-ägyptisch, meine Füße sind kleiner als die meisten Füße auf dieser Erde. Ich habe zwei linke Hände, das heißt, ich kann nur jeden dritten Nagel in die Wand schlagen. Ferner kann ich nicht fotografieren und nicht Auto fahren. Das ist schon fast meine ganze Biographie. Ich kann auch nicht Schach spielen, fällt mir gerade ein. Aber ich kann Gedichte machen, das ist nichts Besonderes. Dafür können Schreiner Tische und Stühle machen.

Ich will damit nur sagen: Wenn wir auch nicht alle gleich aussehen und nicht von gleichem Stand sind, so doch vom selben Gott. Und darum braucht jeder jeden. Keiner kann ohne den anderen auskommen, existieren. Ich kann ohne meinen Bäcker nicht leben, ganz simpel, denn ich brauche das Brot, das er macht. Er kann zwar ohne mich leben, denn er braucht meine Gedichte nicht, oder vielleicht manchmal doch. Aber einen Schuster braucht er für seine Füße, denn Schuhe kann er ja nicht machen. Und der Schuster braucht wieder den Schneider für seinen Leib. Und der Schneider braucht wieder Brot und Schuhe und vielleicht auch Gedichte für seine Seele. Das sind natürlich alles banale Geschichten, zugegeben. Und manche machen ja auch ihr Brot und die Schuhe inzwischen selber. Soll sein, soll sein.