... so dass sich die Landpfleger sehr verwundern - Hanns Dieter Hüsch - E-Book

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Hanns Dieter Hüsch

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Beschreibung

"Hüschs Zeitkritik war stets Ideologiekritik des skeptischen Individuums, des kleinen Mannes auf der Straße, der sich so seine Gedanken macht. Obwohl er während der Revoltejahre keineswegs abseits stand und sich wie viele damals wünschte ›Komm heißer Herbst und mache / Die Bäume alle rot‹, wurde ihm ein ›bourgeoiser Verniedlichungstrend‹ vorgeworfen … Beim Folklore-Festival auf der Burg Waldeck 1968 buhte man ihn gar unter wüsten Beschimpfungen - ›Kitschgemüt mit Goldbrokat‹ - von der Bühne. Die Ironie der Geschichte will, dass er heute zu den Letzten - und zugleich Besten - der Branche gehört, die überhaupt noch in den Kategorien von Politik und Gesellschaft, Kritik und Solidarität denken, denken können - ja, die überhaupt noch aus eigenem Antrieb Ideen entwickeln und nicht von angestellten Gagschreibern getextete Texte auswendig vortragen müssen, bis die Quotenguillotine fällt." [Quelle: Der Spiegel vom 1. Mai 2000]

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Über dieses Buch

»Hüschs Zeitkritik war stets Ideologiekritik des skeptischen Individuums, des kleinen Mannes auf der Straße, der sich so seine Gedanken macht. Obwohl er während der Revoltejahre keineswegs abseits stand und sich wie viele damals wünschte ›Komm heißer Herbst und mache / Die Bäume alle rot‹, wurde ihm ein ›bourgeoiser Verniedlichungstrend‹ vorgeworfen … Beim Folklore-Festival auf der Burg Waldeck 1968 buhte man ihn gar unter wüsten Beschimpfungen – ›Kitschgemüt mit Goldbrokat‹ – von der Bühne.

Die Ironie der Geschichte will, dass er heute zu den Letzten – und zugleich Besten – der Branche gehört, die überhaupt noch in den Kategorien von Politik und Gesellschaft, Kritik und Solidarität denken, denken können – ja, die überhaupt noch aus eigenem Antrieb Ideen entwickeln und nicht von angestellten Gagschreibern getextete Texte auswendig vortragen müssen, bis die Quotenguillotine fällt.« (Der Spiegel vom 1. Mai 2000)

Der Autor

Hanns Dieter Hüsch (1925–2005) war Schriftsteller, Kabarettist, Liedermacher, Schauspieler, Synchronsprecher und Rundfunkmoderator. Mit über 53 Jahren auf deutschsprachigen Kabarettbühnen und 70 eigenen Programmen gilt er als einer der produktivsten und erfolgreichsten Vertreter des literarischen Kabaretts im Deutschland des 20. Jahrhunderts.

Hanns Dieter Hüsch: Das literarische Werk

Herausgegeben anlässlich seines 90. Geburtstags am 6. Mai 2015 von Helmut Lotz

Ich sing für die VerrücktenDie poetischen Texte

Denn in jeder Leiche ist ein Kind verstecktDie kabarettistischen Texte

… so dass sich die Landpfleger sehr verwundernDie politischen Texte

Ich habe nichts mehr nachzutragenDie christlichen Texte

Das Gemüt is ausschlaggebend. Alles andere is dumme QuatschDie Niederrhein-Texte

… dass die Erziehung seiner Kinder eine völlig verfahrene warDie Hagenbuch-Texte

Gemacht aus Bauern- und BeamtenschwächeDie autobiografischen Texte

… am allerliebsten ist mir eine gewisse HerzensbildungDie Interviews

Hanns Dieter Hüsch

… so dass sich die Landpfleger sehr verwundern

Die politischen TexteDas literarische Werk, Band 3

Mit einem Vorwort von Renate Künast

Edition diá

Inhalt

Vorwort

Einzeltexte 1950–1963

Carmina Urana. Vier Gesänge gegen die Bombe

Einzeltexte 1965–1969

Enthauptungen

Einzeltexte 1971–2001

Einzeltexte undatiert

Freiheit in Krähwinkel

Der Weiber Streik

Das Opfer Helena

Editorische Notiz

Textverzeichnis

Impressum

»Das Volk schläft. Die Dichter träumen«

Dieses Buch ist ein alternatives Geschichtsbuch, ein Gang durch die Republik nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, den alten Machtstrukturen bis ins Heute. Die Texte von Hanns Dieter Hüsch beschreiben aus seiner Sicht, auf dem Hintergrund seiner Erwartungen, Hoffnungen und Ängste, wie sich Land und Gesellschaft entwickeln. Oder eben auch nicht.

Das Buch zeigt auch, dass es schon früh Menschen gab, die sich sorgten, die mit angespitztem Stift auf Fehlentwicklungen zeigten.

Bereits 1950 weist Hüsch kritisch auf das, was sich da wieder mächtig aufstellt und aufrüstet:

In der Wüste von Nevada

Und in den verdunkelten Limousinen des roten Oktobers –

Und fragt spitz:

Habt ihr euch überlegt,

dass ihr töten müsst oder dass ihr getötet werdet?

Er schwankt zwischen Engagement und Rückzug, wenn er bereits Mitte der fünfziger Jahre sinniert:

dann wird es dir vielleicht eines Tages genügen:

Zu arbeiten, dein Geld zu verdienen und deine Familie zu ernähren.

Diese Entwicklung vollzieht sich in seinen Augen auf dem Hintergrund einer tiefkonservativen Grundstimmung in den Familien, die sonntags beim Kaffee die Musik aus dem Radio mit dem Begriff »Urwaldfisematenten«abtun. Seine Beschreibung der Grundsituation dieser Zeit gipfelt in einer Art Anekdote:

Wussten Sie schon, dass kürzlich fünf bis sechs amerikanische Luftwaffenoffiziere zum lieben Gott kamen, um mit ihm über die Errichtung von Atomstützpunkten im Himmel zu verhandeln. Der liebe Gott sagte: »Sorry, meine Herren, nur über meine Leiche!« – Nun muss man mal abwarten.

Wir Leserinnen und Leser wissen, wie das zumindest auf Erden weiterging. Ich zumindest fühle mich in jene Zeit zwischen Kartoffelsalat und Würstchen zurückversetzt, wo bei familiären Festen das Alte schöngeredet wurde – von anderen Dingen habe man nichts gewusst, deshalb auch nichts ändern können. Während gleichzeitig neue Konfrontationen entstanden, Atomwaffen und -bunker gebaut wurden und Sicherheit auf einem Niveau suggeriert wurde, das der sinnlosen Empfehlung entsprach, sich als Schutz vor radioaktivem Fallout unter den Tisch zu ducken.

Hüsch ringt da eher mit grundsätzlichen Zukunftsfragestellungen:

Es muss möglich sein, den Feind zu lieben

[…] den Feind nicht zu verletzen

Seine »Vier Gesänge gegen die Bombe« widmen sich ganz der Kritik an der Abschreckungspolitik, sogenannten sauberen Bomben und enden mit dem verzweifelten Wunsch:

Den Geist zu finden:

Den Menschen mit dem Menschen zu verbünden.

Mit großem Nachdruck dann:

Fragt eure Väter

Warum sie sich nicht vor euch stellen

Wenn man euch zum Dienst mit der Waffe holt

Dieser Text von 1966 trifft mich tief, denn hier stellt Hüsch ja mehr als die Frage nach der Verantwortung der Vätergeneration für die Zeit vor 1945. Hier lautet die Frage, warum sie nichts gelernt haben aus dem selbst erlebten Elend, warum sie nicht ihre Aufgabe als Väter sehen, ihre Kinder beschützt aufwachsen zu lassen.

Dann wird es doch Frühling!? »April« heißt ein Text, in dem sich Hüsch über Karl Krolow, Hans Enzensberger, Peter Rühmkorf und andere freut. Frohlockt gar, wenn er schreibt:

Mancher Bauer salbt sich mit Kamille,

Und die Weidenkätzchen machen kille kille

Aber das andere, die Ratlosigkeit und der große Zweifel seiner Generation, sind ebenso präsent, etwa in »Der Wille zur Tracht« oder »Der Konfirmand«, der sich zwischen Buttercreme und neuer Armbanduhr bewegt. Um konsequent bei den Notstandsgesetzen und dem durch sie erzeugten enormen innen- sowie gesellschaftspolitischen Druck zu enden und bei den verquasten und herbeigezogenen Begründungen für ihre Entstehung, »für den Fall, dass sich die Situation ergäbe«: Wenn plötzlich aus »Freiheit … die Einsicht in die Notwendigkeit« wird:

Da plötzlich diese jungen Studenten und so was

Das sind doch gar keine Menschen mehr sind das doch

Die sollen doch alle

[…]

Aber nach Kuba sollen die alle gehen

[…]

Alles gleichmachen wollen die

Wie in Russland

Das kennen wir ja noch von der Gefangenschaft

Ja, so war es: Eine in alten Strukturen und Werten gefangene Gesellschaft, die sich bis dato der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, der Verfahren gegen Täter, der Aufklärung über das Mitläufertum nicht gestellt hatte, wehrte sich gegen alles Neue, etwa gegen die Studentenbewegung: Geh doch rüber in den Osten, wenn es dir hier nicht passt! »Alles verdächtige Elemente«. Man hört den Ton und erinnert sich.

Wie sehnt er den Herbst herbei – der dann doch ganz anders wurde als erwartet. Vom Frühlingserwachen direkt zu

Komm heißer Herbst und mache

Die Bäume alle rot

[…]

Komm heißer Herbst wir brechen

Trotz Papst und Polizei

Genauso wie die Tschechen

Die Ketten der Angst entzwei

Verzweiflung deutet sich an im »Tanz ums elitäre Kalb«, wenn es heißt:

Brecht die Schöpfung ab

Stellt den Menschen ein

Brecht die Schöpfung ab

Unerklärlich bleibt mir, wie Hüsch dann mit dieser Einsicht und kritischen Distanz zur SPD kommen konnte, obwohl – so ging es damals zeitweise ja einigen. 1971 unterstützt er eine sozialdemokratische Wählerinitiative mit der Begründung: Wer Dinge verändern wolle, »der lasse seine Stimme nicht verfallen«. Und weiter:

Übrigens, ich wähle nicht nur SPD, ich wähle Willy Brandt. […] Endlich ein Politiker, dem man (nach Theodor Heuss) wieder zuhören kann. Der in der Lage ist, Fehler offen zuzugeben und zu sagen, dass wir alle Opfer bringen müssen, wenn wir es mit der Demokratie ernst meinen. Sein Kniefall in Polen war christlicher als die gesamte CDU/CSU.

Hüsch hatte konkrete Reformpolitik vor Augen.

Der gebe seine Stimme für geduldige Schritt-für-Schritt-Arbeit an einer neuen, nichtkapitalistischen Gesellschaftsordnung, für ein anti-faschistisches Deutschland.

Nun denn. Was er wohl heute schreiben würde? Zum Beispiel angesichts des Freihandelsvertrages zwischen der EU und den USA?

Im Jahre 1971 noch voller Erwartungen, doch 1985 (vermutlich) wieder ernüchtert: über seine verlorene Jugend und über die aktuelle Jugend.

Als die Nazis die Macht ergriffen, war ich acht Jahre alt

[…]

als Herr Brandt mehr Demokratie versprach, war ich 44

Und mit Blick auf sein Heute geht es weiter mit:

sind wir Älteren vielleicht manchmal jünger als die Jungen

Die Jugend von heute

Es tut mir leid

Halte ich für verraten und verkauft

Zugeschüttet mit Billigware mit oberflächlicher Politemulsion

Hinters Licht geführt von einer erbarmungslosen Zerstreuungsmafia

Hanns Dieter Hüsch äußert Verdruss über die neuen Politikmethoden – oder sind es in Wahrheit die klugen Strategien einer immer globaleren wirtschaftlichen Struktur? Er bemerkt, dass immer mehr mit Wissenschaft argumentiert und faktisch die Zukunft beschädigt wird. Er sucht »die geistig-moralische Wende«, die von Helmut Kohl proklamiert, von Hüsch aber nirgends gefunden wird. Ja, Helmut Kohl taucht natürlich in seinen Texten auf, wie auch nicht angesichts von 16 Jahren Kanzlerschaft? Denn noch ist alles »Socken, Senf und Sauerkraut«, trotz behaupteter moderner Volkswirtschaft, die nun eintrete.

Die Wirtschaft entwickelt sich rasant weiter, nicht aber die Hoffnungen. Stattdessen immer größere Werbeflächen: Genuss, Schönheit und viele andere Versprechen. Und Hüsch ärgert sich. Werbeplakate propagieren groß das Rauchen, unten steht klein die gegenteilige Botschaft der EG-Gesundheitsminister: »Rauchen ist schädlich für Ihre Gesundheit«. Überhaupt die schöne neue Werbewelt, die von uns nicht nur ein bestimmtes (ungesundes) Verhalten will, nein, sie malt auch Alltagsbilder, die so nur für wenige existieren: tüchtig, fleißig, Reiheneckhaus, mit dem Sparkassendirektor Tennis spielen und pro Person 14 Kilogramm Pralinen im Jahr verzehren.

Hier spielt er mehr und mehr mit der Idee des Wirtschaftswunders und dem damit verbundenen wachsenden Konsum. »Millionen-Menschen« zeigt aber auch auf, wie der Graben zwischen den sozialen Schichten immer breiter wird. Sympathisch, dass er hier nicht Arbeiter- oder Angestelltengehälter bemüht. Es reicht der Vergleich zwischen dem Bundeskanzler (467.000 DM), Lothar Matthäus (8 Millionen DM) und Michael Schumacher (25 Millionen DM). Schon diagnostiziert er den rapiden Verfall der Sitten. Reisen werden möglich, und in den Hotels wird geklaut, was irgendwie in den Koffer passt.

Das von den angeworbenen Gastarbeitern miterarbeitete sogenannte deutsche Wirtschaftswunder lässt aber kein kulturelles Verständnis wachsen. Im Gegenteil. In »Duisburger Kreuzzug« schreibt Hüsch 1997 über eine Bürgerinitiative gegen den Ruf des Muezzin:

Aber in Duisburg da haben sich die Leut darüber mehr aufgeregt

Als über die Steuerdiskussion und den ganzen Rentenkram

[…]

Und es wurde viel von »schleichender Islamisierung« gesprochen

Ich merke es auch schon und gehe oft mit Kopftuch

Passt heute noch, wie wär’s mit einer Aktion?

Ach, mir wird ganz schwindelig beim schnellen Lauf durch das politische Geschehen. Wie weit ist doch 1998 von 1950 entfernt.

Die Wirtschaft ist rasant gewachsen und wird immer globaler. Sogenannte deutsche Unternehmen sitzen in Wahrheit ganz woanders und zahlen auch dort kaum Steuern. Globale Produktionsprozesse sind entstanden, die die Kunden nicht mehr erkennen lassen, wo und unter welchen Bedingungen die Waren entstanden. Wer wie ausgebeutet wird. Was alles mit unserer Umwelt angestellt wird.

Hanns Dieter Hüsch zitiert ernüchtert den klugen Lothar Späth, der aus der Politik zu Jenoptik ging:

Und dann hat der Lothar noch gesagt

»Die Wirtschaft habe sich durch die Globalisierung

Von den Ebenen der Politik gelöst

Und öh sich von der Nation verabschiedet«

Nun ist wohl nichts mehr vorzubringen? Hier müsste ein neuer Band beginnen, wie wir der globalen Wirtschaft, die sich ihre Regeln weiter selbst »lobbyiert«, entgegentreten können. Wie wir nicht weiter die Missachtung der Menschenrechte, den Raubbau an unseren Lebensgrundlagen und die immer größere Schere zwischen Arm und Reich auf dieser Welt zulassen.

Warum Hüsch die internationale Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung nicht als großen Akteur in der Politik gesehen hat, der Unternehmen Grenzen setzt, bleibt meine offene Frage.

Ich hoffe, dass nicht eintritt, was Hüsch schon früh schrieb: »Das Volk schläft. Die Dichter träumen«.

Renate Künast, 2015

Renate Künast, Jahrgang 1955, Rechtsanwältin, trat 1979 der Westberliner Alternativen Liste bei. 2000–2001 Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, 2001–2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, 2005–2013 Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2014 ist Renate Künast Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz.

Einzeltexte 1950–1963

Die grünen Tische

Die grünen Tische –

In der Wüste von Nevada

Und in den verdunkelten Limousinen des roten Oktobers –

Warten auf euch.

Seid ihr euch klar darüber?

Habt ihr euch überlegt,

Dass ihr schießen, schlagen und stechen müsst?

Und dass ihr erschossen, erschlagen und erstochen werden könnt?

Ihr habt euch das überlegt?

Dann ist es gut.

Jeder soll tun, was er für richtig hält.

Es kann keiner aus seiner Haut.

Ich kann euch nicht sagen: Seid tapfer!

(Das sagen nur Gymnasialdirektoren),

Außerdem wäre es Hohn,

Denn wenn die Reihe an mich kommt,

Werde ich nicht mittun.

Solange die eurasischen Greise nicht selbst die Knarre in die Hand nehmen,

Werde ich nicht mittun.

Deshalb bin ich kein Kommunist,

Da müsste ich viel mehr rechts stehn.

Solange die eurasischen Greise sich an

20-Jährigen vergreifen,

Kann ich nicht mittun. –

Aber ich lasse mich gern belehren.

Ich hoffe, ihr wisst viel besser, was in der Welt vorgeht.

Ja, ich sehe es euch doch an, dass ihr sagen wollt:

Lieber junger Freund: Lebensnotwendigkeit,

Frieden in Freiheit, ja und

Vor allen Dingen, Europa nicht vergessen.

Ihr habt ja so recht.

Wie konnte ich das übersehen.

Deshalb habt ihr das Recht, mich einen feigen Hund zu nennen.

Macht, was ihr wollt und geht dahin, wo ihr hingehört!

Die grünen Tische –

In der Wüste von Nevada

Und in den verdunkelten Limousinen des roten Oktobers –

Warten schon auf euch.

Seid ihr euch klar darüber?

Habt ihr euch überlegt,

dass ihr töten müsst oder dass ihr getötet werdet?

Ihr habt euch das überlegt.

Dann ist es gut.

Jeder soll tun, was er für richtig hält.

Es kann keiner aus seiner Haut.

1950

Bitte an die Alliierten

1. Sprecher: Dies ist kein Gedicht, kein Oratorium, keine gedankenlyrische Unglaubwürdigkeit, keine metaphysische Operette, keine Du-kannst-mir-mal-im-Mondschein-begegnen-Serenade, sondern eine Bitte.

Chor: Bitte.

1. Sprecher: Was ist denn mit Ostpreußen?

2. Sprecher: Oder mit der Neiße?

1. Sprecher: Kriegen wir alles wieder!

2. Sprecher: Wieso müssen wir im Westen begradigt werden?

1. Sprecher: Die werden sich noch mal in die Finger schneiden!

2. Sprecher: Sollen mal anständig dazwischenfahren!

Chor: An jedem deutschen Stammtisch sitzt ein CiceroUnd schreit: »O lasst euch nicht gelüsten!Die Fahne hoch, presto, presto, prestissimo.Die Zeit ist ernst, man muss sich wieder brüsten.«An jedem deutschen Stammtisch sitzt ein Wilhelm Tell:»Ja, wenn wir einig sind, dann kann uns nichts passieren!Drum seid auf Draht, seid über-über-nationell!Auch wenn wir noch den nächsten Krieg verlieren!«»Haltet nur aus, je länger, desto besser!An unserm Wesen soll die Welt genesen.Es kommt die Nacht der langen Taschenmesser.Und wenn wer stirbt, dann sind wir’s nicht gewesen.«An jedem deutschen Stammtisch sitzt ein Führer,Von seinen Paladinen gut beschützt.»Ein Volk, ein Reich, ein Königreich für einen Führer!Denn gut ist, was dem Staate nützt, denn gut ist, was dem Staa-«

1. Sprecher: Na, mit dem Staat könn’ wir keinen Staat machen!

2. Sprecher: Wir brauchen den Mann, der die Karre aus dem Dreck zieht!

Chor: Wir treten zum Bitten.Was bleibt uns sonst übrig?Andre Sieger, dieselben Sitten!Ihr Herren aus Moskau oder aus New York!Macht Schwierigkeiten, wenn’s nicht anders geht.Es ist doch so, ihr habt die Fäden in der Hand.Seid doch vernünftig, verdammt und zugenäht!Wir wollen keinen Siegfried, keine Orden!Wenn man auch noch so viel Reklame macht.Wer morden will, der soll sich selbst ermorden.Wir wollen keine Teutoburger Schlacht.Das ist das Canossa ’49.Wir haben nichts zu verlieren.Wir treten zum Bitten seit ’45.Oder müssen wir wieder marschieren?Ihr Herren im Kreml und im Weißen Haus!Wenn’s nötig ist, dann seid ihr meist vergriffen.Bis eines Tages – ja, dann ist es aus:Dann werden wir mal wieder machtergriffen.

vermutlich 1950

Begegnung mit Deutschland

Ich saß in einem vollbesetzten Café. Ich sitze ungern in einem vollbesetzten Café. Ich saß mit einem guten Freund zusammen, und nachdem wir sehr umständlich über zwei moderne Jazzplatten diskutiert hatten, sagte er: »Übrigens, du stehst in einem tollen Buch.«

Ich sagte: »Ich bin nicht gefragt worden, infolgedessen stehe ich auch nicht in einem tollen Buch. Machst dich über mich lustig, was?«

»Ich denke nicht dran«, sagte er, »komm, ich werde es dir beweisen.«

Wir zahlten und machten uns auf den Weg.

Mein Freund wohnt unterm Dach. Unterm Dach angekommen, sagte er: »Nimm Platz!« Ich legte mich auf den Fußboden und war auf alles gefasst. »Hier«, sagte mein Freund, »hier stehst du drin, guck selber nach«, und er legte mir ein Buch auf den Bauch.

Ich wartete ab, bis er sich in seinen Schaukelstuhl gesetzt hatte, dann nahm ich das Buch und las auf dem Umschlag: Denk ich an Deutschland. Ich richtete mich etwas auf und las noch einmal: Denk ich an Deutschland. Ich sah vor mir den Kopf eines Knaben und den Kopf des Gekreuzigten. Zwei Köpfe. Darunter sechs Stahlhelme.

»Guter Umschlag«, sagte mein Freund.

Ich begann zu blättern und las: Denk ich an Deutschland, ein Kommentar in Bild und Wort, zusammengestellt von Jürgen Neven und Michael Mansfeld, Verlag Kurt Desch, München Wien Basel.

»Zwei Journalisten«, sagte mein Freund.

»Sei doch mal ruhig«, sagte ich.

Ich blätterte und las, und es verging eine geschlagene Stunde, bis ich mich beruhigt hatte, denn es war ein unruhiges Buch, keine bequeme Nachmittagslektüre.

Ich saß längst nicht mehr auf dem Fußboden, sondern war eben im Begriff, eine Rede zu halten, und sagte: »Wir sind mitverantwortlich für das, was in Deutschland geschieht. Schlag Seite 31 auf, und du weißt, was wir zu verteidigen die abendländische Ehre haben.«

Mein Freund schlug Seite 31 auf. Und Seite 59. Und Seite 62. Seite 64. Seite 75. Schonungslose Bilder und eindeutige Texte. Wir kramten in diesem Buch, verzweifelt und ebenso freudig erregt über diesen mutigen Versuch, Deutschland so zu zeigen, wie es ist: Manager aus allen Lagern, neonazistischer Spuk, materielle Not der Intelligenz im Westen und ihr geistiges Elend im Osten, und überall eine gutgläubige Menge, die den politischen Führern zuhört, wenn sie ihre verwirrenden Programme entwickeln.

»Ein gutes Buch«, sagte mein Freund.

»Ein bitteres Buch«, sagte ich, »aber mit Charme allein lässt sich diese Welt nicht verändern.«

Ich schlug Seite 67 auf. Da stand mein böses Wortspiel »Wer PRO sagt, muss auch THESE sagen«. Darüber das Bild eines Beinamputierten, der mit Hilfe seiner Frau und einer neuen Prothese den ersten Gehversuch macht. Ich klappte das Buch wieder zu.

»Nimm’s mit«, sagte mein Freund, »ich schenk es dir.«

»Na, ausgezeichnet«, sagte ich, »das macht wohl der Franz von Assisi, der hier am Schluss zitiert wird.«

Mein Freund nickte. »Ich kann’s schon auswendig«, sagte er.

»Na, denn man los«, sagte ich.

Und er sprach, herrlich unbeholfen: »Und wir wünschten uns doch, dass wir Liebe übten, da wo man sich hasst / dass wir verziehen, da wo man sich beleidigt / dass wir verbänden, da wo Streit ist / dass wir Hoffnung erwecken, wo Verzweiflung quält / dass wir ein Licht anzündeten, wo Finsternis regiert / dass wir Freude brächten, wo der Kummer wohnt!«

Während er dies sprach, ging ich aus dem Zimmer.

1956

Nachmittag eines Clowns

Leute aus Europa

Nicht jedes Wort ist echt

Vieles ist Verputz

Mancher stiehlt bei Brecht,

wenn nicht bei Ringelnutz.

Leute aus Europa!

Ich bin betrunken

und stelle das zur Diskussion.

Nehmen wir einmal an,

Europa geht unter,

was dann,

ihr seid nüchtern,

aber Europa ist ein windschiefer Traum,

bis dahin werden viele nicht mehr nüchtern sein,

und man wird nicht genug Hinrichtungshöfe haben,

und viele werden noch sagen: Es lebe die Freiheit!

Aber der Mond von Boston wird derselbe bleiben wie der von Wien.

Trink dein Bier aus, Genosse,

Wirf deine Schreibmaschine weg, Journalist,

Lass deinen Seneca im Bücherschrank, Student,

Und du Philosoph, nimm deine randlose Brille ab und tausche dafür ein Stück Brot.

Sie werden kommen, und alle werden ihr Hab und Gut auf den Rücken nehmen und nach einer Straße suchen.

Und wenn ihr mich fragt: Wer wird kommen?

Jeder wird gegen jeden gehen, und keiner wird mehr wissen, warum und wofür!

Ihr Leute aus Europa, und wenn ihr Glück habt, kommt ihr in den Himmel.

Es ist jetzt schätzungsweise zwischen drei und vier, und nach diesem Gedicht kräht kein Hahn, wenn Europa sich in Luft auflöst.

Nachmittag eines Clowns, Sie gestatten, denn manchmal kann ich mich nicht mehr entsinnen,

ist es besser zu gewinnen

oder tapfer zu verlieren,

fragte schon Shakespeare, der noch keinen Eisschrank kannte.

Und sie werden nebeneinanderstehn im Himmel: Der Titoist neben den Schönen von Piccadilly Circus, der Christ neben dem Attentäter, der seine Lederjacke noch mit Stolz trägt, und es wird ein Mann hereinkommen und sagen: Na, ihr Besserwisser. Und niemand von uns allen wird mehr ein Motiv finden, denn wir werden zu weinen anfangen.

Und viele werden darunter sein, denen hatte man gesagt: Wir haben keine Häuser mehr; legt euch mit euren Familien schlafen auf den nackten Boden: Für die Freiheit! Und sie legten sich hin und waren nicht die Schlechtesten.

Doch andre wieder, Motorisierte, fuhren über sie hinweg und sagten ebenfalls:

Für die Freiheit!

Und manche, die noch leben, vielleicht die Letzten, sagen:

Das ist ja alles übertrieben, auch dies Gedicht sei wohl zu schwarz gesehn.

Ich bitte um Pardon, und mich nicht ernst zu nehmen, ich bin betrunken, und es ist jetzt schätzungsweise zwischen vier und fünf, da sagt man so etwas schon mal, ich möchte keines Menschen Vorschrift sein, und wenn ich wieder nüchtern bin, wird auch der Mond von Boston derselbe bleiben wie der von Wien.

Es ist nur so, weil man sich manchmal nicht mehr ganz entsinnen kann.

Distanz … Distanz ist wohl das Beste!

Nicht jedes Gedicht gelingt,

nicht jeder Reim hält stand,

nicht jeder Vogel, der singt,

hat ein Vaterland.

Ihr Leute aus Europa!

Nehmt eure Kinder. Und seht euch vor!

1957 oder früher

Froh in die Wahl. Geheimprotokolle über neuste Propagandawege

Ein schlichtes Zimmer, karg, wie die Wiege aller großen Gedanken. Parteisekretär Blitz geleitet die beiden weltweit bekannten Lachschlager »Fidelitasspatzen« Spatz und Sputz zur einfachen Polstergarnitur. Blitz ist ernst, aber voll innerer Heiterkeit.

Blitz: Froh ist die Wahl, meine Herren! Zigarettchen? Also, die Sache … Ja! Die Sache ist die: Da wollen wir also, 14 Tage vor der Wahl, einen bunten Abend gestalten, mit Tanz hinterher und so – und Sie, in Ihrer bekannten Art, nicht wahr, Sie sollen uns dabei helfen, dem Abend ein besonderes Gepräge zu geben, die Leute aufrütteln, wach halten – ruhig auch nachdenklich machen, wir wollen ja keinen Zirkus da stattfinden lassen, klar?

Spatz: Klar.

Sputz: Also, da könnte zunächst mal einer rauskommen …

Blitz: Der Komiker, den wir das letzte Mal hatten, der hatte sehr starken Erfolg. Sie werden doch auch …

Spatz: Sicher, sicher. Zunächst müsste mal der Kontakt hergestellt werden, dann ist das andere halb so schlimm …

Blitz: Also, zunächst müssten Sie mal den Kontakt herstellen, verstehen Sie?

Sputz: Wir kommen gewöhnlich zuerst heraus und begrüßen die Leute.

Blitz: Aha! Sehr gut! Könnten Sie das vielleicht mal – nur mal andeuten …

Spatz (erhebt sich): Aber gerne! Froh in die Wahl, liebe Leute! Auch dieses Mal wollen wir alle gemeinsam lachen über das, was die in Bonn so machen!

Sputz (zu Blitz): Großartig, wie? Damit ist meistens das Eis schon gebrochen!

Blitz (sehr ernst): Also, es ist nicht so, meine Herren, dass bei uns die Leute stur sind. Nur darf es nicht so hoch sein – ganze Woche schwer gearbeitet, nicht wahr … aufrütteln, wach halten, die Zeit karikieren … Der Anfang eben war mir, offen gestanden, zu literarisch. Natürlich sollen Sie nicht Ihr Niveau verlassen …

Spatz: Dann vielleicht so: Da geht neulich Frau Müller in die Kirche …

Blitz: Das würde ich bringen! Frau Müller in die Kirche, da lachen die Leute!

Spatz: Und unterwegs trifft sie die Frau Meier …

Blitz: Großartig!

Spatz (wird immer schneller): Trifft die Frau Meier; die Frau Meier nicht faul, fragt die Frau Müller: Wohin des Wegs? In die Kirche, sagt die Müllerin. Warum nehmen Sie dann die Mettwurst mit?, fragt Frau Meier. O Himmel, schreit die Frau Müller, jetzt hab ich mein Gesangbuch in die Suppe getan!

Inhaltsschwere Sekunden eisiger Stille

Sputz: Das könnte man wirklich vielleicht … ich meine …

Blitz: Das war – das war doch politisch gemeint, nicht wahr? Nur weil nämlich nach Ihnen noch ein Zauberer auftritt – damit es sich nicht überschneidet, meine ich.

Spatz (hastig): Ja, und dann haben wir da noch eine lustige Szene, da macht immer einer dem anderen alles nach! Wenn das nicht zu hoch ist …

Sputz: Schlägt immer ein! Erst fassen wir uns ans rechte Ohr …

Blitz: Aha. Politisch, was?

Spatz: Und dann die Hände übern Kopf – und die Leute machen eben einfach alles nach! Neue Wege in der Unterhaltung. Das bringt Zug herein! Ich meine …

Blitz (nach langer Überlegung): Haben Sie dann noch was über Adenauer …

Sputz: Wie bitte? Über wen?

Blitz: Adenauer!!!

Spatz: Ob das so unsere Linie ist …

Blitz: Ich meine, das Ganze ist doch ein bunter Abend und soll für unsere Partei eine unmerkliche Reklame sein, nicht wahr?

Sputz: Da haben Sie hoffentlich auch an ein Streichquartett gedacht – wegen des Kulturerbes. Dass das auch angesprochen wird.

Blitz: Wir haben eine ausgezeichnete Blaskapelle. Wird mit einem Potpourri aufwarten.

Spatz: Und dann kommen wir?

Blitz: Dann kommen direkt Sie, damit die Leute noch zuhören, und dann der Zauberer. Aber die richtige Stimmung muss schon bei Ihnen aufkommen.

Sputz: Da sind wir schon goldrichtig.

Blitz: Ich weiß ja. Ich hab das so angekündigt: »Es führen durch den Abend mit Sketchen und Chansons Spatz und Sputz, von Film, Funk und Bühne bestens bekannt, die in launigen Worten das halten, was die Regierung uns nicht verspricht …«

Spatz: Sehr lustig.

Blitz: Man hat ja auch seine Ader. Wenn Sie nun noch ein paar Einlagen hätten …

Sputz: Aber sicher. (er singt) Kleines Mädel, komm mit mir nach Hawaii …

Blitz: Genau das. Die Stimmung kann ruhig etwas nachdenklich werden, nicht wahr. Hinterher wird ja noch getanzt. Also, meine Herren: Froh in die Wahl!

Spatz: Sie können sich ganz und gar …

Sekretärin (stürzt herein): Herr Blitz, wir müssen umdisponieren. 14 Tage vor der Wahl hat schon die FPL ihren bunten Abend!

Blitz: Das typische perfide Manöver! Damit soll man nun koalieren! Also, dann: Meine Herren, wir verlegen auf eine Woche vor der Wahl!

Spatz: Das – das geht leider nicht. Ausgeschlossen.

Blitz: Aber wieso denn! Ist sogar viel besser. Da vergessen die Leute nicht …

Sputz: Das schon. Aber an diesem Sonnabend sind wir schon für den bunten Abend der CPD unter Vertrag.

Blackout

1957 oder früher

Weil er ein Mensch doch ist …

Die Weisen

befürchten eine neue Zeit aus Eisen,

die Narren

laden diese Zeit auf ihren Thespiskarren.

Noch schreibt der Leit-artikel sich mit »t«,

doch d’accord heißt noch lange nicht okay.

Denn der Scheck heiligt die Mittel,

der Scheck lenkt die Moral,

der Scheck verbrieft die Titel

und transzendiert den Choral.

Es geht doch um die Sache,

so sagen viele jetzt,

doch wenn man dann die Sache

mal sachlich übersetzt:

Dann geht’s ums Geld, Geld, Geld

auf dieser Welt, Welt, Welt,

und du erkennst,

es ist nicht alles schwarz-rot-gold, was glänzt.

Denn die Welt ist nicht so rund, wie sie aussieht,

keine Königin so bunt, wenn sie sich auszieht,

keine Bombe so diskret, dass sie nicht losgeht,

und kein Mensch ein Prophet, wenn’s ums Moos geht,

kein Fisch so radioaktiv,

wenn das Geld nicht durch die falschen Finger lief.

Der Geist schwebt zwar über dem Wasser,

wer ihn ruft, wird ihn nicht mehr los,

er macht dich edler und blasser

und sorgt für die Hebung des Niveaus.

Und so heben wir alle Tage

das Niveau wer weiß wohin,

Geld kommt für uns nicht in Frage,

wir leben vom geistigen Gewinn.

Doch wenn der Geist eines Tages nicht mehr mitmacht,

weil das Brot durch die Rechnung einen Schnitt macht,

dann ist alle Weisheit vergebens

und das Ergebnis deines geistigen Strebens.

Der Scheck heiligt die Mittel,

der Scheck lenkt die Moral,

der Scheck verbrieft die Titel

und transzendiert den Choral.

Und so kommen wir zum Schluss:

Gott diktiert und der Mensch motiviert,

weil er recht haben muss.

Und warum muss er recht haben?

Weil er eitel ist.

Und warum ist er eitel?

Weil er ein Mensch doch ist.

Doch warum macht ihn das Geld mobil?

Weil er ein Mensch doch ist,

und das ist nicht viel!

1957 oder früher

Wo gehörst du hin?

Wenn du dir überlegst

Wenn du dir in aller Ruhe überlegst

Falls du das noch kannst

Wenn du dir überlegst

Wo gehöre ich hin? (ganz banale Frage)

Wo gehöre ich hin?

Ich gehöre … tja … weiter geht’s schon nicht

(Das berühmte Trommeln mit den Fingern)

Hm.

Wie wäre es mit einer Dackelliebhabervereinigung?

Du könntest da Schriftführer werden

Planstelle

Zwei Ausflüge im Jahr. Mit Damen.

Keine Antwort.

Du arbeitest, verdienst dein Geld, ernährst deine Familie.

Genügt dir das? Meistens nicht.

Du triffst einen Freund, bestimmt triffst du mal einen Freund, oder was noch besser ist, deinen ehemaligen Lehrer, der sagt: Was machen Sie denn so? Bin sehr gespannt.

Du sagst: Ich mache so das und das, dieses und jenes …

Du meinst Brot, er meint Laufbahn. Kein Kontakt.

Tja.

Du hast Herz, gewiss hast du Herz, aber du kannst dir nichts dafür kaufen.

Irgendwer gibt sich die Ehre, dich einzuladen, mal sehn, was man für den jungen Mann tun kann.

Du gehst nicht hin, doch du gehst, aber da gehörst du nicht hin, stimmt’s?

Es stimmt!

Du arbeitest, verdienst dein Geld, ernährst deine Familie.

Aber es genügt dir nicht.

Was haben wir denn da noch?

Du redest, nein, du redest ja gar nicht so viel, sondern dein Nachbar redet mit dir.

Der sagt: Ich weiß gar nicht, Sie sind doch ein intelligenter Mensch, dass Sie sich nicht schon längst einmal politisch, soll’n Sie mal sehn, eines Tages …, so sagt dein Nachbar.

Du sagst: Jaja, hm, ja hm, ja … ja, und denkst: Nein!

Das sind die Sachen mit ’ner Fahne.

Nun wird die Geschichte schon runder.

Interessiert dich der Kaiser von Siam

oder überhaupt das hohe Volk?

Ne ne.

Und wenn du nach unten guckst, Vorsicht, konsequent bleiben!

Dein Herz ist viel zu groß, als dass man dich da auch nur eine Sekunde verstehen würde.

Da kommt noch ein Verehrer von dir gelaufen und sagt: Sie … Sie hätten das Zeug, ein Revolutionär zu werden, aber Ihnen ist ja nichts heilig.

Stimmt das?

Darüber sprichst du nicht gerne.

Tja.

Wer liebt dich?

Ich meine, wer dich wirklich liebt, nicht auf Kamerad, edle Gesinnung und Schmus und so …

Da gehörst du hin.

Alles andere ist Menschenfang, interessiert uns nicht.

Wenn du dir das überlegst, in aller Ruhe

Falls du das noch kannst

Wenn du dir das überlegst

dann wird es dir vielleicht eines Tages genügen:

Zu arbeiten, dein Geld zu verdienen und deine Familie zu ernähren.

1957

Hausmusik

Sonntags zwischen Kaffee und Kuchen

Hat die Familie Gänseklein

Konservativ zu sein.

Sollte es jemand versuchen,

Zersetzendes Gift ins Feld zu führen,

Sieht man Herrn Gänseklein strategisch

In seiner Tasse rühren:

»Frontgeist schwimmt oben, hat immer oben geschwommen!

Fritz, stell das Radio ab, das ist keine Musik für uns,

Ich bin schließlich nicht Hinz oder Kunz,

Ich bin der Herr Gänseklein!

Singt mal ein Lied von Löns!

Mutter Grün ist allemal eine herzerquickende Seelenlabung,

Klara, bei deiner Begabung

Solltest du längst vom Blatte singen,

Wenn Luther das wüsste, hätt er die Bibel nicht übersetzt!

Hier wird nicht geschwätzt!

Bismarck lebt, das heißt, er ist tot, aber er lebt.

Fritz, du kriegst gleich eine geklebt,

Wenn du noch einmal ans Radio gehst

Und diese unsolide Musik andrehst,

Urwaldfisematenten!

Holt mal die Violinen vom Speicher

Und die Noten aus dem Kleiderschrank,

Ich habe Beethoven noch gehört, als er Elly Ney spielte,

Und ihr,

Spielt noch nicht mal Klavier.«

Sonntags zwischen Kaffee und Kuchen

Hat die Familie Gänseklein

Konservativ zu sein.

Sollte es jemand versuchen,

Anderer Ansicht zu sein,

Redet Herr Gänseklein

Unmissverständlich Latein:

»Quod licet jovi, non licet bovi,

Sparta, Leonidas,

Biss auch nicht umsonst ins Gras!

Und so soll es auch heute sein

Bei Kind, bei Weib und Mann,

Und wer sich nicht beherrschen kann,

Der gehe in den Turnverein!

Mama! Ich vermisse mein schwarzweißes Band.

Wie? Beim Bügeln verbrannt.

Das ist doch – zwei Frauen im Haus und noch keine Zucht!

Krafft Erdmann, spiel mal ’nen Marsch!

Ich werde euch schon die Trompetentöne beibringen,

Mit vollem Mund singt man nicht,

Heißt die erste Bürgerpflicht.«

Abends sitzt Herr Gänseklein dann am Stammtisch

Und seine Kinder zu Hause,

Zwischen den Generationen liegt eine Pause.

1957

Volkslied

Es ist spät in Europa,

Es ist spät in der Welt,

Und die Leute in Europa,

Die zählen ihr Geld,

Denn vielleicht steht morgen schon

Draußen vor der Tür die Inflation.

In der einen Hand die Bibel,

In der andern Hand das Geld,

Und der eine ist sensibel,

Und der andre wird geprellt.

Keiner weiß, wie’s weitergeht,

Und wie hoch der Mensch im Kursbuch steht.

Und da nützt auch keine Hausbar

Noch ein Fernsehschrank auf Raten,

Denn wenn einmal ein Krieg aus war,

Kamen neue Potentaten.

Es ist spät in Europa,

Es ist spät in der Welt,

Und wenn bald auf Europa

Der Schnee wieder fällt,

Fallen Hoffnung und Geduld,

Doch was steigt

Ist die Schuld.

1957

Choral

Eine runde Summe Sehnsucht,

Ausprobiert bei einer Sarabande in Asbestanzügen,

Schlafen wir

Nachtmusik für Nachtmusik.

Hinter uns der Chor der Spitzel,

Die sogar den Mond bestechen,

Unsre Fuge in Gefängnis

Oder -ismen abzuschwächen.

Eine Hälfte Heiterkeit und Anarchie,

Ausgeführt mit zersetzender Naivität,

Millimeterweise leben wir

Tageslärm für Tageslärm.

Über uns ein großer Himmel

Reichlich mit Geduld versehn,

Denn wenn man den Körper foltert,

Kann kein Geist darüber stehn.

Eine runde Summe Sehnsucht

Wird verhört von einer Mehrheit mit Moral bei Fuß,

Sterben wir,

Zeit der Handlung: Überall.

1957

Es hat sich herumgesprochen

Es hat sich herumgesprochen, dass die Neandertaler recht hatten.

Die Dinosaurier hatten recht,

Joseph und Jakob hatten recht,

Dschingis Khan hatte recht,

Napoleon hatte recht,

Simon Bolívar hatte recht,

Der Mahdi hatte recht,

Lord Kitchener hatte recht,

Alle hatten sie recht,

Sie hatten alle recht,

Bonifatius hatte recht,

Die Sarazenen hatten recht,

Recht hatten auch die Statthalter in Kleinasien,

In Patagonien und in Sibirien,

Friedrich der Große und Friedrich Wilhelm der Kleine hatten auch recht.

Piłsudski hatte recht,

Marius und Sulla hatten recht,

Robespierre hatte recht,

Bismarck hatte recht.

Sie hatten alle recht,

Alle hatten sie recht.

Die Konquistadoren,

Die Revolutionäre,

Die Konservativen,

Die Monarchisten,

Die Anarchisten, die Christen, die Sozialisten,

Die Kapitalisten, die Liberalen, die Traditionalisten,

Die Revisionisten, die Bolschewisten, die Radikalisten,

Die Philosophisten, die Neofaschisten, die Realisten,

Die Idealisten, die Kabarettisten, Optimisten und Pessimisten,

Die Nihilisten und Opportunisten,

Militaristen und Pazifisten,

Stoizisten und Defaitisten,

Individualisten und Nonkonformisten,

Polizisten und Egoisten,

Alle haben sie recht, sie haben alle recht, alle, alle haben sie recht,

Sie haben alle recht,

Alle, sie haben alle recht,

Recht, recht haben sie alle, alle, alle haben sie recht.

Sie haben alle recht, sie haben alle recht, sie haben alle recht,

Sie haben alle recht, sie haben alle recht,

Sie haben alle recht, sie haben alle recht.

Sie haben alle recht, alle, alle haben sie recht, alle.

1957

Wussten Sie schon …

… dass kürzlich fünf bis sechs amerikanische Luftwaffenoffiziere zum lieben Gott kamen, um mit ihm über die Errichtung von Atomstützpunkten im Himmel zu verhandeln. Der liebe Gott sagte: »Sorry, meine Herren, nur über meine Leiche!« – Nun muss man mal abwarten.

1957

Zeppelinenthusiasmus

Unter dem Herzen schadenfrohe Erinnerung.

Vorurteil: Der vornehme Mensch kleidet sich einfach.

Veteranen über dem Sofa mit Spitzendeckchen (sich regen bringt Segen)

Der Jugend Rezept sein

Alles in Konserven und aus dem Bücherschrank

Hinein in die verlogene Sittsamkeit abgestandener Gefühle

Mottenkugeln

Feiertage auswendig wissen

Auch ein Stündchen Erbauung gefällig

Auf dem Klavier klassische Büste

Trostpreis vom Skatclub »Germania«

Mit Schillerkragen hinaus

Kartoffelsalat und Würstchen bleiben in der Familie

Streng an die Natur halten

Das Altertum gegen Schnaken verteidigen

Im dunklen Anzug vertrocknen

Die Reichswehr beschwören

Gesicht wie Grammatik

Der Krieg war schön (manches Stück Erde gesehn, was man sonst nie gesehn hätte)

Säbel hängt neben Hirschgeweih

Nazis doch auch ihr Gutes

Gedanke vom Reich immerhin etwas

Die paar Juden

Was ha’m denn die andern gemacht

Zylinder noch mal mit Helm vertauschen

Den Asiaten schon zeigen

Reichsapfel fällt nicht weit vom Stammtisch

Bier her

DIE VERGANGENHEIT HAT SCHON BEGONNEN

Muss begossen werden

Ex

1958 oder früher

Lied aus dieser Zeit

was wollt ihr hören

ich biete leichte und auch schwere lieder feil

die leichten sind schwer und die

schweren gehen nicht ins ohr

dann gibt es lieder die betören

und andre wieder sind das gegenteil

am besten ist ich trage euch eins vor:

die kinder von quemoy

verlieren ihre hände

und wissen nicht warum

der krieg geht nicht vorbei

er sieht sich nach gelände

und dann nach menschen um

der folterknechte sind gar viel

die nacht ist ihre zeit

und hält das licht verborgen

sie haben nationalgefühl

so hör’n sie nicht wenn jemand schreit

und foltern bis zum morgen

weh dem der eine schwarze haut

und sich nicht schön beiseitehält

um abstand zu beweisen

der sklavenmarkt ist abgebaut

doch heißt’s noch immer: unterwelt

in manchen weißen kreisen

die besserwisser sitzen oben

die fehlerlosen spielen ku-klux-klan

die raffinierten sind gemachte leute

die menge muss die herren loben

und die gesellschaft tanzt auf dem vulkan

das ist doch die moral von heute:

wer seine ellenbogen niemals übertreibt

der muss am ende sehn was übrig bleibt

ich fahre zu fuß

die straßen hinab und hinauf

dass ihr euch aber nicht wundert

wenn ich müde bin leg ich mich ohne gruß

der erde zur last nach einem tageslauf

ich bin müde vom 20. jahrhundert

kommt vorbei irgendwer

und fragt mich nach unserer zeit

vielleicht herren die machen groß daher

herren mit steifen hüten

drück ich ein auge zu und sage: tut mir leid

also ich finde sie in ordnung eine große eine herrliche zeit

vielleicht meine herren können sie mir diese antwort vergüten

1958 oder früher

Kinderkreuzzug

That’s my story,

Das ist die Geschichte von den Kindern,

Die ausziehn

Und um Frieden bitten,

Um Frieden auf ihre Art,

Denn sie freuen sich,

Worüber wir uns nicht mehr freuen.

That’s my story,

Ist mein Tagtraum:

Die Kinder ziehen aus

Mit Zweigen und Schildern

Und Bilderbüchern,

Und sie singen ihre Welt

In unsre Welt,

Und sie singen,

Und sie winken,

Dass sie kein Mensch

Übersieht,

Überhört,

Unterschätzt.

Ihre Welt

Ist nicht unsre Welt,

Und ihr Geld

Ist nicht unser Geld,

Ihr Spiel ein Kinderspiel,

Ihr Mund ein Kindermund,

Ihr Herz ein Kinderherz,

Ihr Land ein Kinderland,

Ihr Schmerz ein großer Schmerz,

Ihr Sand ein großes Reich,

Ihr Ohr ein großes Tor.

That’s my story:

Die Kinder ziehen aus,

Damit wir sie besser im Auge behalten,

Wenn sie lachen,

Wenn sie weinen

Auf dieser bösen weiten Welt:

Kinder aus Nagasaki,

Gelb wie Nikotin,

Kinder aus Liverpool,

Deren Eltern aus Wien,

Kinder aus Winterthur,

Groß nur wie drei Käse,

Kinder aus Istanbul

Und danach ein Chinese,

Kinder aus São Paulo,

Auf den Plantagen geboren,

Kinder aus Leningrad,

Köpfchen kahl geschoren,

Kinder aus Albuquerque,

Indianisches Blut,

Kinder aus Halberstadt,

Deutsches Gedankengut,

Kinder mit nackten Füßen

Und einer Handvoll Brot

Singen, winken und grüßen,

Kinder in Schwarz und in Rot.

Eskimos kommen mit Schnee,

Stapfen verspielt herum

Wie ein Bild von Paul Klee,

Kinder aus Hilversum,

Neben mir spricht man Mongolisch,

Kinder aus Nazareth,

Augen sehr melancholisch,

Haben kein Dach und kein Bett,

Haben nur Kindergeld,

Bitten, dass man sie hört

Und dass man ihr Bild von der Welt,

Ihr Bild von der Welt

Nicht zerstört.

Denn ich höre die Kinder

Vor dem Einschlafen sagen:

Die Wolken

Sind der Fußboden

Des lieben Gottes.

That’s my story,

Ist mein Traum.

1958

Bedenkt

Bedenkt, dass jetzt um diese Zeit

Der Mond die Stadt erreicht,

Für eine kleine Ewigkeit

Sein Milchgebiss uns zeigt.

Bedenkt, dass hinter ihm ein Himmel ist,

Den man nicht definieren kann,

Vielleicht kommt jetzt um diese Zeit

Ein Mensch dort oben an.

Und umgekehrt wird jetzt

Vielleicht ein Träumer in die Welt gesetzt,

Und manche Mutter hat erfahren,

Dass ihre Kinder nicht die besten waren.

Bedenkt auch, dass ihr Wasser habt und Brot,

Dass Unglück auf der Straße droht

Für die, die weder Tisch noch Stühle haben

Und mit der Not die Tugend auch begraben.

Bedenkt, dass mancher sich betrinkt,

Weil ihm das Leben nicht gelingt,

Dass mancher lacht, weil er nicht weinen kann,

Dem einen sieht man’s an,

Dem andren nicht.

Bedenkt, wie schnell man oft ein Urteil spricht.

Und dass gefoltert wird, das sollt ihr auch bedenken,

Gewiss ein heißes Eisen, ich wollte niemand kränken,

Doch werden Bajonette jetzt gezählt,

Und wenn eins fehlt,

Es könnte einen Menschen retten,

Der jetzt um diese Zeit in eurer Mitte sitzt,

Von Gleichgesinnten noch geschützt.

Wenn ihr dies alles wollt bedenken,

Dann will ich gern den Hut, den ich nicht habe, schwenken.

Die Frage ist:

Soll’n wir sie lieben, diese Welt,

Soll’n wir sie lieben?

Ich möchte sagen:

Wir woll’n es üben.

1958

Es muss möglich sein (I)

Es muss möglich sein

Auch den Feind zu lieben

Sonst ist alle Liebe nur

Eine Kleinigkeit

Eine Veranlagung

Eine Nebensache

Und

Keine Anstrengung

Keine Überwindung

Keine Würde

Feinde in Freunde verwandeln

Das ist des Menschen Zukunft

1959

Das gesprochene Lied vom geschriebenen Leid

dies ist ein lied vom totalen rekord

es ist nicht geeignet zum singen

es berichtet vom klingenden autosport

und auch von ähnlichen dingen

da waren trödler wie jedes jahr

die säumten die lange strecke

und als die stunde gekommen war

da kam der tod um die ecke

es hob ein fahrer die sterbende hand

und das zeichen war deutlich zu verstehn

doch als man später den toten fand

da konnte man ihn nicht mehr sehn

und als noch die karussells im kreis sich

ahnungslos drehten

da hatten schon zwanzig bis dreißig

eine andere fahrt angetreten

und mancher der für eine zeitung schrieb

für den war die meldung tabu

und deckte weil ihm nichts anderes übrigblieb

die toten mit zeitungen zu

auch sah man einige aufgeregt sprechen

um die leitenden herrn zu bewegen

das geschäft mit dem tode abzubrechen

doch sie gaben dem tod ihren segen

denn der segen kommt nicht immer von oben

er lässt sich gerne addieren

und im krieg kann man ja auch nicht erst proben

wie viel menschen ihr leben verlieren

und wer anders darüber denkt der irrt sich

oder tut gut daran zu schweigen

denn man konnte schon zwischen dreißig und vierzig

tote den fotografen zeigen

die schlacht geht weiter lautete ein satz

und als man das Blut einigermaßen entfernt

da standen an demselben platz

menschen die hatten nichts daraus gelernt

in der welt hielten viele den atem an

und mancher vergaß dabei ganz

dass er keine fremdsprache kann

und sucht im atlas le mans

und so lasen sie wohl zum ersten male

von dieser französischen stadt

die eine kathedrale

und auch eine rennstrecke hat

und als dann der mond in der nacht sich

anschickte zu scheinen

da konnte man über achtzig

ordnungsgemäß beweinen

und es weinten auch die die niemand verloren

da das unglück des guten zu viel

denn manchmal übertönten die motoren

die verstümmelten am start und ziel

am ziel sind nur wenige angelangt

und niemand hat sich bis jetzt

bei den toten für den umsatz bedankt

es sind untersuchungen angesetzt

die untersuchen nun umständlich wort für wort

um den fortschritt zu rehabilitieren

und es wird nicht lang dauern bis dass sie mord

einwandfrei sanktionieren

das ist das ende von diesem lied

es ist nicht geeignet zum singen

und außerdem wird es auch wie man so sieht

fast niemand zur einsicht bringen

1959

Archeblues

So war es,

So ist es,

So wird es,

So bleibt es,

Schon Salomo

Schreibt es,

Dass alles ganz eitel.

So war es,

So ist es,

So wird es,

So bleibt es,

Schon Sokrates

Schreibt es.

Ich weiß, dass ich nichts weiß,

Nicht Anfang und Ende

Und auch nicht den Zeitpunkt

Des Jüngsten Gerichts weiß.

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Trotz Turmbau zu Babel,

Trotz Sintflut und Eiszeit,

Das ist meine Weisheit.

Ich weiß, dass ich nichts weiß,

Und so schließt der Kreis sich,

Denn einzig im Schweiß

Meines Angesichts weiß ich,

Dass alles ganz eitel

Und ein Haschen nach Wind,

Und unter der Sonne,

Da ist keinerlei Sieg.

Karthago ging hops

Und Rom in die Binsen,

Und hörst du wen weinen,

Siehst du wen grinsen.

Pompeji ist futsch,

Und Lima ging flöten,

Und hörst du wen lachen,

Siehst du wen töten,

Und hörst du wen sterben,

Siehst du wen leben,

Doch Troja ging unter

Und ebenfalls Theben.

Auch Tibets Gebetsmühlen

Langsamer mahlen,

Und übrig geblieben

Sind lediglich Zahlen,

Sind Zahlen und Ziffern,

Sind Nummern und Scheine,

Sind Gräber und Götzen,

Sind Sprüche und Steine.

Doch Frieden auf Erden

Soll werden, soll werden,

Muss werden, muss werden

Mit Wort und Gebärden,

Mit Tat und Beschwerden,

Soll Frieden auf Erden

Werden werden,

Werden werden.

Doch weil er nicht wird,

Der Frieden auf Erden,

Seit tausendmal hundert-

Tausend Jahren,

Sind wir im falschen Boot gefahren.

Drum baun wir die Arche.

Holt Holz aus den Wäldern

Mit Sägen und Stangen,

Mit Äxten und Seilen,

Öl für die Kolben

Und Brot für den Tisch,

Hammer und Nägel

Und salzigen Fisch

Und Milch für die Kinder

Und Wein für die Greise,

Teer aus den Fässern

Und Lampen fürs Licht,

Speck für die Mäuse,

Die Luken macht dicht,

Und Glocken zum Läuten

Bei Nebel und Nacht,

Glocken zum Läuten.

Hierher die Tiere,

Dorthin die Menschen.

Und Glocken und Läuten.

Wir bauen die Arche!

Vorsichtig mit den Maschinen,

Wir bauen die Arche.

Und Glocken und Läuten.

Dampf in den Kesseln.

Wir bauen die Arche,

Ja Ja

Ja Ja

Ja Ja

Baut die Arche,

Dass wenn Regen fällt,

Baut die Arche,

Wenn kein Stern euch hält.

Nur Gottes Land hat Hand und Fuß.

Hört und singt den Archeblues.

Baut die Arche,

Entflieht dem Labyrinth,

Baut die Arche denen,

Die guten Willens sind,

Nur Gottes Land hat Hand und Fuß,

Hört und singt den Archeblues.

Wir fahren die Straße entlang

In Zeiten, die nicht sicher sind.

Flöte und Baum,

Trommel und Traum

Sind in unsrem Gesang.

Wir sind gekommen euch zum Spaß

Und gehen hin, wo Leides ist

Und Freude,

Und wo beides ist,

Zu lernen Mensch und Maß.

1959

Es muss möglich sein (II)

Es muss möglich sein, den Feind zu lieben,

Es muss möglich sein, es schnell zu tun,

Es muss möglich sein, die List zu üben,

Bei dem Feinde auszuruhn.

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die solches versprachen,

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die solches nicht hielten.

Und es sprachen die, die anders fühlten:

Es muss möglich sein, den Feind an einen Tisch zu setzen,

Es muss möglich sein, den Tisch dann auch zu decken,

Es muss möglich sein, wenn viele schwätzen,

Seine eigne Rede zu verstecken.

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die solches verhandelten,

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die sich aber nicht wandelten.

Es muss möglich sein, den Feind auch zu beschämen,

Es muss möglich sein, die Türen für ihn aufzuhalten,

Es muss möglich sein, den Hass zu zähmen

Und viel Einsicht zu entfalten.

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die solches versprachen,

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die solches nicht hielten.

Und es sprachen die, die anders fühlten:

Es muss möglich sein, die Nachsicht einzusetzen,

Es muss möglich sein, es schnell zu tun,

Es muss möglich sein, den Feind nicht zu verletzen,

Sondern mit ihm auszuruhn.

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die solches verhandelten,

Gone with the wind,

Sangen die Männer, die sich aber nicht wandelten.

Und es sprachen die Misshandelten:

Es muss möglich sein, die Liebe auszuführen.

Wir wollen wissen, wo wir morgen sind.

Und es sangen die Männer:

Gone with the wind.

1960

Geopolitik des Herzens

Aus einer achtlos begrabenen schwarzen Haut,

Aus einer achtlos begrabenen schwarzen Haut,

Aus einer achtlos begrabenen schwarzen Haut,

Aus einer achtlos begrabenen schwarzen Haut

Werden eines blutigen Tages wachsen

Zwölf verkrüppelte Bäume, blattlos, sprachlos verkrüppelte Bäume,

An denen 80 Trommeln aus weißer Haut hangen,

Wie Früchte zum Fraß vom wohlgeborenen Baume des Bösen:

Früchte aus weißem Fleisch.

Doch wenn du von ihnen issest, wenn du von ihnen issest und du von ihnen issest,

Zur Mittagszeit

Im bequemen Lehnstuhl, bewaffnet mit einer Sonnenbrille,

Wird es in deiner Seele beginnen zu dämmern,

Wird es in deiner Seele beginnen zu dämmern

Und in den Seelen gelangweilter Ladys,

In den Seelen von Überseegangstern,

Überseeseelen, Überseegangstern,

In den Seelen von gekauften Gesundheitsaposteln,

In den Seelen gestorbener Seelen,

Verdorbener Seelen,

In den Seelen gerissener Mondspezialisten,

In verstaubten, gestrandeten Seelen,

In erlaubten, im Meer gelandeten, im Urwald

Und vom Haifisch zerfleischten Seelen,

In den Seelen, die ständig befehlen, Verbrechen versprechen,

In den Seelen von Altbolschewisten,

Von Neofaschisten,

In den Seelen von superkonstanten Christen,

In den Seelen der Hochfinanziellen,

In Turnhallen und Industriebordellen,

In schnellen schnellen und langsamen Seelen

Wird es beginnen zu dämmern, zu dröhnen, zu trommeln und hämmern.

Und bei schwarzem Kaffee und weißer Milch

Selbstverständlichem

Schwarzen Kaffee und weißer Milch

Stelle ich auf keiner Landkarte,

Sondern aufgrund meiner Seele,

Sondern auf Grund meiner Seele

Stelle ich fest:

Aus einer achtlos begrabenen schwarzen Haut werden eines blutigen Tages

Wachsen zwölf verkrüppelte Bäume, blattlos, sprachlos verkrüppelte Bäume,

An denen 80 Trommeln aus weißer Haut hangen wie Früchte zum Fraß vom

Wohlgeborenen Baume des Bösen,

Früchte aus weißem Fleisch.

Merke: Wer auf Menschen schießt,

Schießt auf sich selbst. [1]

1960

[1] In der ersten Fassung heißt es:

Merke: Wer auf einen Menschen schießt,

Schießt auf Gott.

25 000 Polizisten

25 000 Polizisten

werden Augen machen wie ein Luchs

denn sie haben einen Präsidenten zu bewachen

Präsident sein heutzutage ist demnach kein Jux

sondern mehr zum Weinen als zum Lachen

25 000 Polizisten

müssen einen Mann beschützen

der in einer kugelsich’ren Limousine sitzt

und die Herren Polizisten werden ganz schön schwitzen

wegen eines Mannes, der wohl selbst am meisten schwitzt

Außerdem sind 13 Streifenwagen in der Lage

jeden Steinwurf, der eventuell sich tut

abzufangen und des Präsidenten alte Tage

sind gesichert gegen jede Form von Wut

41 Motorräder fahren Schritt

Tokio wird auf den Beinen sein

ja, die ganze Welt fährt mit dem Präsidenten mit

nur der Präsident wird sehr alleine sein

Und vielleicht sagt Ike sich auch

irgendetwas stimmt an dieser Rechnung nicht

25 000 Polizisten schützen mich vor Schall und Rauch

einen Mann, der sonst so gern von Freiheit spricht

Ach, was sind das nur für Zeiten

wo sich Präsidenten panzern müssen

um gesund nach Hause heimzukehren

Sicherheitsverträge kann man schließen

ob sie dann auch Sicherheit gewähren?

Das muss Ike nun mal am eignen Leib erfahren

ja, ich bin in Sorge um den Präsidenten

hoffentlich geht alles gütlich aus

lieber wär ich Jazztrompeter bei Stan Kenton

als in Eisenhowers weißer Haut im Weißen Haus

Flugzeugträger, Fallschirmspringer

5 Transportmaschinen fliegen mit im Reigen

diesmal sind es nicht die Neger

sondern Gelbe die sich bockig zeigen

3 1/2 Millionen wollen streiken und auch demonstrieren

Ike ficht das nicht an

will er sein Prestige nicht verlieren

muss er auch in Japan zeigen, dass er lächeln kann

Lächeln können alle diese Präsidenten

doch im Grunde tuen sie mir leid

und sie sind wie wir ein Opfer unsrer konsequenten

mitleidlosen Zeit

Darum bin ich froh, dass ich kein Präsident bin

und am 19. nach Tokio muss

auch dass ich kein FBI-Agent bin

macht mir keinen weiteren Verdruss

Ich bin einer, der die Freiheit liebt, das Volk und auch den Präsidenten

doch wenn 25 000 Polizisten ihn bewachen müssen

möcht ich wissen, wo denn da die Freiheit, die ich meine, ist

oder gibt’s die Freiheit nicht, oder ist sie da, wo keine ist

und man nur noch von ihr spricht.

1960

O ihr lieben Zeitgenossen!

Es gibt Größeres als Deutschland.

Es gibt Größeres als England,

Frankreich, Russland und Amerika.

Es gibt Höheres als Mendès France und Adenauer,

Churchill, Malenkow und Eisenhower.

Und es weiten sich die Zeiten

Und die Tageshorizonte.

Und des Teufels Generalitäten,

Die man stündlich hören kann und konnte,

Sind im Augenblick von hinnen:

Wenn wir hoffen,

Wenn wir glauben,

Wenn wir wieder uns besinnen.

vermutlich 1960

Zoll und Haben

Es war an einem Montag.

Nein, an einem blauen Mittwoch.

An einem Mittwoch war’s.

Da ging ich leichtfüßig zum Zollamt

Durch eine Unterführung, dann rechts, dann noch mal rechts.

Und Sie sind da, Sie können es in Ihrem Leben nicht verfehlen.

Und so ging ich die 350 Schritte und wusste, dass es jetzt losgeht. –

Das ist also das Zollamt!

Freundliches Haus. Bitte keine Hunde mitbringen.

Anmeldung zur Vorprüfung. Vorprüfung. Vorprüfung zur Anmeldung.

Nur einzeln eintreten! Ich nahm meine Mütze ab.

Ich trat einzeln ein.

Lange bis böse Gesichter. Schreibtische. Schränke.

Schimpansen.

Ich stand und wartete 40 Sekunden.

Was wollen Sie hier?

Ich habe keinen Doktor, keinen Direktor, ich strahle dieselben auch nicht aus, also sagte ich, was ich wollte.

Ich habe eine Karte von Ihnen bekommen.

Ich möchte Plakate abholen.

Hängen Sie sie auf? Nein.

Drucksachen? Aus der Schweiz.

Haben Sie Unterlagen?

Die Gehälter der Beamten werden erhöht.

Sie müssen eine Zollwertanmeldung, eine Einfuhrmeldung mit der Rechnung in doppelter Ausführung vorlegen.

Beglaubigt, gestempelt, abgestempelt.

Formulare an der Kasse, der Bundesminister für Justiz.

Ich hätte gerne eine Zollwertanmeldung.

A oder B?

Was heißt A oder B?

Dann gehn Sie noch mal zurück und fragen A oder B.

Ich fragte A oder B.

A natürlich, 30 Pfennig, haben Sie’s klein.

Jetzt lösen Sie den Frachtbrief ein, dann füllen Sie die Formulare aus, dann können Sie die Ware haben.

Sie gehen jetzt hier raus, halten sich rechts, dann noch mal rechts über die Schienen zum Güterbahnhof.

Werden die Waren eingeführt, zur Lagerung, zur Eigenveredelung, zur Lohnveredelung, Absatz und Unterabsatz der Tarifnummer, bitte alle Fragen beantworten, Striche sind keine Antwort.

Ich stolperte über Schienen, alte Schienen, alte Schwellen, den Güterbahnhof entlang in eine neue Zwangszelle hinein.

Man frühstückte. Ich zeigte meine Karte. Hauptmann von Köpenick.

Ein Mensch in ausgedienter Eisenbahnerjacke winkte mich mit dem Kopf zum nächsten Schalter. Der Mensch konnte nicht sprechen, er hatte den Mund voll.

15,60 zahlte ich.

Dann wieder raus.

Wieder über die alten Schienen, alten Schwellen. Ich hatte einen kleinen Wald im Kopf. Ich ging und beim Gehen verlor ich den Mut, Zoll und Haben, ich ging und ging am Zollamt vorbei. Ich hatte das Zollamt im Rücken. Die Plakate liegen heute noch da. Sie werden dringend gebraucht, sie verkommen, verschimmeln. Ich habe den Mut verloren, ich verliere ihn immer mehr, Zoll um Zoll.

Die Gehälter der Beamten werden erhöht, hoffentlich nicht, um den Menschen zu erniedrigen.

1961

Keine Rosen ohne Nelken

Neulich wollte Herr Meyer drei Rosen kaufen. Der Rosenfunktionär sagte: Schön, drei Rosen. Ich kann sie Ihnen aber nur geben, wenn Sie zwei Nelken dazunehmen. O, das ist schade, sagte Herr Meyer, was mach ich da? Wissen Sie, ich mag keine Nelken, bei uns zu Hause gibt’s seit Jahr und Tag nur Rosen, Nelken kommen nicht ins Haus.

Tja, sagte der Rosenfunktionär, das tut mir leid, und wenn Sie nur eine Rose nehmen, da müssten Sie dann allerdings ein halbes Veilchen dazunehmen.

Ein halbes Veilchen, sagte Herr Meyer, ich weiß nicht. Veilchen mag ich weltanschaulich nicht. Es gibt also keine Rose, ohne dass ich etwas dazunehme?

Leider nein, sagte der Rosenfunktionär. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich gebe Ihnen die Rose und das halbe Veilchen. Sie bezahlen mir beides, nehmen aber nur die Rose mit nach Hause, wie wäre das?

Hm, machte Herr Meyer, vielen Dank, aber das kann ich mit meiner Gesinnung nicht vereinbaren.

Es braucht ja niemand zu merken, sagte der Rosenfunktionär, das Veilchen bleibt hier, und ich weiß von nichts.

Das kann ich meinen Kindern nicht antun, sagte Herr Meyer, beim besten Willen nicht.

Sie werden aber, glaube ich, in der ganzen Stadt keine Rosen ohne Nelken oder Veilchen bekommen, sagte der Rosenfunktionär.

Und woran liegt das?, fragte Herr Meyer.

Woran liegt das, vielleicht an den Verhältnissen, die Nelken und Veilchen wollen auch verkauft werden.

Und wenn niemand sie kauft?

Der bekommt auch keine Rosen, traurig, aber wahr!

Zu dumm, sagte Herr Meyer, und was machen Sie für Erfahrungen.

Ich mache gute Geschäfte, vielleicht sind morgen früh Primeln dran, wer weiß. Ich schlage Ihnen nochmals vor, Sie nehmen die Rosen, bezahlen die Nelken und Veilchen mit, und niemand hat was gesehen, die meisten machen es so!

Aber doch nicht alle?, sagte Herr Meyer.

Fast alle. Sie sind eine Ausnahme, sagte der Rosenfunktionär. Aber ich bitte Sie, was haben Sie davon, gut, eine saubere Gesinnung, davon können Ihre Kinder aber nicht groß werden. Behalten Sie ruhig Ihre Gesinnung, und ich behalte meine Rosen, oder aber, gestalten Sie Ihre Gesinnung etwas elastischer, und die Rosen, Nelken und Veilchen laufen Ihnen nach, wohin Sie sie haben wollen.

Ich kann mich daran nicht gewöhnen, sagte Herr Meyer, ich kann mich an den Gedanken nicht gewöhnen, Rosen mit Nelken zu verbinden, nur um die Rosen zu erhalten, das wäre auch den Nelken gegenüber unfair.

Das ist ein Standpunkt, sagte der Rosenfunktionär, aber wer ist heute schon fair, ich verkaufe, lasse meine Finger aus dem Spiel, ist das nicht genauso fair?

Also, sagte Herr Meyer, es ist tatsächlich nichts zu machen?

Tut mir aufrichtig leid, sagte der Rosenfunktionär, Rosen nur mit Nelken oder Veilchen.

Herr Meyer zog den Hut und ging nach Hause.

Etwa acht Tage später machte Herr Meyer einen Fehler.

Er brach ein. Und zwar in dasselbe Blumengeschäft, und stahl eine wunderschöne Rose, legte das Geld auf den Ladentisch, versuchte die Spuren zu verwischen und ging die halbe Nacht durch die schlafende Stadt.

Am Morgen aber fand man ihn, die Polizei fand ihn auch, man nahm ihm die Rose ab, klopfte ihm väterlich auf die Schultern, und der Polizeipräfekt sagte: Herr Meyer, wie konnten Sie so etwas machen, in Ihrem Alter, wir sperren Sie nicht ein, weiß Gott, es ist zu lächerlich, aber warum mit der Gesinnung durch die Wand, Mensch Meyer, wussten Sie denn nicht, dass wir alle nur Rosen mit Nelken oder Veilchen kaufen?

Nein, das wusste ich nicht, sagte Herr Meyer und weinte.

Nun gehn Sie mal schön nach Hause, seien Sie in Zukunft vernünftig, denken Sie doch mal an Ihre Frau und Ihre Kinder, zum Donnerwetter noch mal!

Herr Meyer ging mit völlig leerem Kopf nach Hause. Sein Kopf wurde immer leerer und sein Herz immer kleiner.

Nach Monaten aber raffte sich Herr Meyer wieder auf, ging in ein Blumengeschäft und sagte: Ich hätte gerne drei Nelken.

Die kann ich Ihnen gerne geben, sagte der Nelkenfunktionär, aber nur, wenn Sie zwei Rosen dazunehmen.

1962 oder früher

Das Lied vom Recht

Der gerechte Mensch übersieht den Menschen

Der ungerechte Mensch

Übersieht den gerechten Menschen

Der Mensch bekommt den gerechten Menschen

Und den ungerechten Menschen

Zu spüren

Der Gerechte wird ungerecht

Der Ungerechte wird gerecht

So wie der Gerechte ungerecht wird

Recht und Unrecht werden begangen

Objektiv

Sachlich

Leblos

Lieblos

Auf dem Rücken des Menschen ausgetragen

Die Gerechten und die Ungerechten rufen:

Recht so!

Recht geschieht ihm!

Recht hat er!

Richtet ihn!

Weil aber die Liebe nicht sein kann

Hat man das Recht

Und das Unrecht

Und das ungerechte Recht

Und das gerechte Unrecht

Und das ungerechte Unrecht

Und das gerechte Recht

Weil man die Liebe nicht nach dem Winde drehen kann

Rechtet man

Wer ist man?

Richtet man

Wer richtet?

Der gerechte Mensch und der ungerechte Mensch

Den Menschen

Weil aber die Liebe nicht sein kann

Hat man das Recht

Und das Unrecht

Und das ungerechte Recht

Und das gerechte Unrecht

Und das ungerechte Unrecht

Und das gerechte Recht

Weil man die Liebe nicht nach dem Winde drehen kann

Rechtet man

Wer ist man?

Richtet man

Wer richtet?

Der gerechte Mensch und der ungerechte Mensch

Den Menschen

1962

Freunde, wir haben Arbeit bekommen

Und schon steht der deutsche Spießer wieder auf dem Sprung.

Hält seinen Vormund leicht geöffnet,

zu schlucken, was da fault.

Schon laufen Alt und Jung und Christ

und kleiner Mann in seine Arme,

und alles fängt von vorne an.

Die national-soziale Lederhosenreaktion,

ihr blutig Beil noch unterm Bett,

sie fordert schon, im altbekannten Ton,

für Deutschland ein gesundes Nationalkorsett.

Ich versteh’s nicht,

kein Mensch regt sich.

Und das deutsche Volk pflegt sich.

Die Herren sagen: Randerscheinung.

Und viele sind sogar der Meinung,

dass man nun diese neodemokratische Farbe

doch endlich wieder ganz genau unter Kontrolle habe.

Puritanismus und Josefa Berens-Totenohl im Schrank.

Den Scheitel grade und die Nägel kurz geschnitten,

das wuchert um sich, zieht die Messer blank,

gen Ostland wird natürlich auch geritten.

Ich versteh’s nicht,

kein Mensch regt sich.

Und das deutsche Volk pflegt sich.

Ich kann es nicht poetisch sagen,

ich weiß nur noch von jenen Jahren,