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Sera kommt aus dem Herzen der bürgerlichen Mitte, sie ist ein Kind der Liebe und eines, das geliebt und achtsam erzogen wird. Sie geht in den christlichen Kindergarten, dann in die Privatschule - beste Verhältnisse = beste Voraussetzungen fürs Leben? Mit elf erwacht Sera aus ihrer Kinderwelt: Technodiskos, Alkohol, Drogen, Sex, alles auf einmal. Die Eltern bekommen nichts mit, alles läuft über soziale Netzwerke. Ein ungeschönter Einblick in die Welt der Großstadt-Teenies 2013.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2013
SERA
ICH LIEBE DICH,GEFÄLLT MIR
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Der Inhalt dieses Buches beruht auf Tatsachen. Zum Schutz der Rechte
der Personen wurden Namen, Orte und Details geändert.
Originalausgabe
Aufgezeichnet von Lukas Lessing
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Kolf.
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Andy Hahnemann, Berlin
Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung, Berlin
E-Book-Produktion: Greiner&Reichel
ISBN 978-3-8387-4501-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Oh Gott, alle so alt hier! Und ich bin erst elf!
Um mich herum ist es dunkel und laut, aber Ohren zuhalten geht nicht. Die Bässe trampeln mir in den Bauch. Ich stehe starr da, mit weit aufgerissenen Augen.
Komme ich etwa vom Land? Nein, die Fahrt hierher im Auto mit meiner Mutter hat nur ein paar Minuten gedauert, aber trotzdem war das eine Weltreise. Hier tobt das wirkliche Leben!
In den Lichtblitzen zucken Körper. Das ist der Tresor, der berühmteste Technoclub der Welt. Kennt man eben. Am Teenie-Samstag gehört der Club den Kids, und ich bin die Jüngste. Die anderen sind mindestens zwölf, wie Anna, Molly und Antonia. Als sie mir vor ein paar Tagen von dieser Party erzählt haben, wollte ich sofort mitkommen. Nicht noch ein halbes Jahr warten! Ich bettelte meine Mutter so lange an, bis sie auf dem Muttizettel mein Alter heraufgesetzt hat, von elf auf zwölf. So einen Zettel braucht man nämlich, um reinzukommen. Meine Mutter dachte, das ist eine Kinderdisco von den Pfadfindern oder so, und ich habe ihr nicht widersprochen. Konnte ich auch schlecht, weil ich selbst nicht wusste, was mich erwartet. Deshalb habe ich mich angezogen wie zu einem Kindergeburtstag. Shorts mit schwarzen Leggings und ein blau-weiß gestreiftes Oberteil. Ich sehe total scheiße aus. So, als ob ich zum Shoppen ginge, aber nicht in die Disco. Schlimm! Trotzdem bin ich von dem Moment an, in dem ich dort drinnen stehe, überglücklich.
Endlich Tresor!
Aber ich habe auch Angst. Vor den Jungs und ihren Blicken. Davor, alles falsch zu machen, denn das hier ist Neuland für mich.
In dem Gewühle erkenne ich Fanny und Marie, was mir ein wenig Sicherheit gibt. Fanny kenne ich, seit ich sechs bin. Sie ist Familie. Na ja, wie Familie. Marie war meine Sitznachbarin in der Schule. Langsam werde ich locker. Ich kann wieder normal atmen. Wir beginnen zu tanzen, ein bisschen wenigstens. Ich bin überwältigt. Viele sind sogar schon 15 oder 16, das sieht man. Andere kommen mir noch älter vor und erfahrener sowieso. Die wissen, wie es geht, das spüre ich. Die bewegen sich sicher. Die tanzen richtig. Die flippen gut aus. Die haben Frisuren und geile Klamotten. Die sind geschminkt.
Mache ich alles nicht, habe ich alles nicht, aber egal. Die Jungs kommen trotzdem, vor allem die Türken. Die kommen sofort, wenn du ein weißes Mädchen bist, und wenn du auch noch blond bist sowieso. Ich hatte damals noch nicht viel mit Türken zu tun gehabt, weil es in Mitte kaum welche gab und in meiner Schule schon gar keine.
Aber im Tresor lerne ich welche kennen. Mit meinen Freundinnen tanze ich in einer ganzen Gruppe, einander gegenüber, in zwei Reihen. Auf der einen Seite die Jungs, auf der anderen Seite wir Mädchen. Ich tanze zwischen Marie und Fanny. Irgendwann werden wir alle im Gedränge aneinandergequetscht, Schweiß an Schweiß und Körper an Körper. Wir Mädchen legen den Jungs die Arme auf die Schultern, und die Jungs legen ihre Arme um unsere Hüften und tanzen weiter. Das ist Wahnsinn. Ich bin so aufgeregt. Jungs halten mich fest. Das fühlt sich gut an. So neu, anders. So warm.
Fanny will etwas sagen. Ich sehe nur Lippenbewegungen und verstehe kein Wort. Alles ist Bass. Ich schreie zurück. Einer greift mir auf die Schulter. Ich drehe mich um, aber da ist nur Gedränge. Keine Ahnung, wer was von mir wollte. Einen Augenblick später sind die anderen weg und ich alleine. Niemand mehr da, den ich kenne. Schlimm. Schon vorher hatte ich Angst, dass das passieren kann. Rufen ist zwecklos, weil es zu laut ist. Gucken ist ebenso sinnlos, weil ich kleiner bin als die meisten und weil es zappenduster ist. Ich drehe mich einmal, zweimal, fünfmal im Kreis, und immer noch ist keine von meinen Freundinnen da. Panik!
Zwei Typen kommen auf mich zu. Gut aussehende Jungs, Türken. Unsicher, aber nicht ganz so sehr wie ich. Einer von denen quatscht mich trotzdem an:
Willst du tanzen?
Das ist die Standardansage aller türkischer Jungs. Klar will ich tanzen! Warum denn nicht? Ich nicke stumm.
Der Junge zieht mich in die Mitte. Jetzt bin ich nicht mehr allein. Ich bin aufgeregt, weil alles so fremd ist. Vor allem die Jungs. Ich hatte noch nie etwas mit Jungs zu tun gehabt, die nicht in meiner Klasse waren. Und die kenne ich alle, seit ich sechs Jahre alt bin. Das sind Kinderfreunde, also sind das Kinder für mich und ich für sie. Aber hier im Tresor interessieren sich Fremde für mich. Für mich! Nicht als Freunde, sondern als Jungs. Das ist anders!
Ich tanze mit dem türkischen Jungen. Die Musik hämmert mir auf die Ohren und wummert in meiner Magengrube. Es ist enger als in einer vollen U-Bahn. Unbeholfen sind wir beide, aber keiner muss was sagen, wegen des Lärms. Plötzlich umarmt er mich. Ist das ein Zeichen? Ist es vorbei? Er schiebt mich auf die Seite der Tanzfläche. Ist er nicht zufrieden?
Wie heißt du?
Sera.
Schön, brüllt er.
Und du?
Altan. Tschüss dann.
Ja, tschüss!
Und das war es dann auch schon. Noch eine Umarmung, und ich stehe wieder bei meinen Freundinnen.
Altan schiebt sich mit seinem Kumpel durch die Menge, als wäre nichts gewesen. Ich tue auch als ob, aber ich bin elektrisiert. Ich habe mit einem fremden Jungen getanzt! Er hat mich aufgefordert! Altan!
Plötzlich ist die Musik mit einem Schlag weg. Neonlicht flackert auf, und es wird hell. Zeit zu gehen. Peinlich, wie genau alle zu sehen sind. Wie nah und scharf und deutlich. Jeder kann jeden beobachten, und alle tun genau das. So viele Blicke auf mir!
Ich dränge mich so schnell ich kann mit Anna und Molly und Antonia hinaus in die Kälte. Schnell noch einen Gruß dahin und von dort ein Winken entgegengenommen und dann nichts wie weg. Unsere Stimmung ist perfekt. Was für ein Erlebnis!
Wir quetschen uns ins Auto meiner Mutter. Die hat mit ihrem Freund schon lange gewartet und schimpft gleich los. Eine Stunde, sagt meine Mutter, eine Stunde habe ich in der Kälte auf euch gewartet.
Aber was sollten wir denn machen? Dauerte eben mit der Garderobe und den Toiletten.
Die Jungs sind auch schon draußen. Laufen uns hinterher und winken. Wir kreischen so laut, dass Mama kaum Autofahren kann. Ihr Problem! Wir wären sowieso lieber mit der U-Bahn gefahren, aber das durften wir nicht. Vier kleine Mädchen, die um elf Uhr abends alleine durch die Stadt fahren, das hätten unsere Eltern niemals erlaubt, außer die von Antonia. Denen war das egal, sie durfte alles.
Meine Mutter im Auto labert dauernd irgendwas zu ihrem Freund auf dem Beifahrersitz, aber wir sind viel zu aufgedreht, um etwas mitzubekommen. In meinen Ohren klingelt noch der Lärm von vorhin. Alle schnattern wild durcheinander über die Jungs – wie süß der war und wie toll der und der aussah und was für ein Wahnsinn das alles war. Meine Freundinnen übernachten natürlich bei mir, und wir reden noch die ganze Nacht über die Jungs, ohne Pause. Das war alles so neu für mich, so wild, so groß!
Yeah, Tresor!
Die Party im Tresor fand nur einmal im Monat statt. Das war schlimm: Nach jedem Besuch mussten wir einen ganzen Monat warten – allein dadurch war klar, dass diese auserwählten Wochenenden nur dem Tresor gehörten und niemandem sonst! Aber immerhin waren wir vorgewarnt – nochmals wollten wir dort nicht wie die letzten Landeier aufkreuzen. Entsprechend dauerten unsere Vorbereitungen den ganzen Tag. Ich fuhr von einer Freundin zur anderen, um Klamotten zu holen. Dann begannen wir mit Umziehen, Schminken, Haaremachen. Ich war wieder mit Molly dort und mit Anna. Mit der konnte ich am besten reden. Unsere Mütter waren von unseren Vätern getrennt, meine schon, seit ich ein Kleinkind war, und beide hatten einen neuen Mann, mit dem wir nicht klarkamen. Das hatte etwas Verbindendes. Antonia war auch mit von der Partie. Mit ihr war es klasse, weil sie alles durfte. Das hat mir imponiert.
Beim zweiten Mal gingen wir viel besser ab auf der Tanzfläche. Wir wussten, was uns erwartete: Lärm, Körper, Schweiß, Reiben, Drängen, Blicke, Sprüche. Keine Zigaretten, kein Alkohol, kein Dope. Das interessierte uns damals noch nicht und war sowieso nicht erlaubt im Tresor.
Bei den Jungs waren wieder die Türken in der Überzahl. Die kamen alle voll nah ran beim Tanzen, so dicht, dass man nicht ausweichen konnte. Die meisten rochen wie Parfumläden und hatten diese Picaldi-Klamotten an, so eine typische Prollmarke mit weiten Jeans und tiefen Hosenböden und künstlich ausgewaschenen Stellen auf den Schenkeln. Dazu trugen sie Collegejacken und Goldkettchen und viel Gel in den Haaren. Das sah komisch aus, aber nicht abstoßend. Eher fremd, interessant. Und anders als alles, was ich vorher in meiner Privatschule gesehen hatte, die wie ein Aquarium gegen alles Fremde abgeschottet war.
Überhaupt war hier alles anders als früher. Noch im Sommer davor war ich ein richtiges Kind gewesen: An den Samstagen bin ich noch nicht durch eine finstere, donnernde Höhle gesprungen, sondern durch den sonnigen Garten meiner Mutter. Damals hatte ich noch nie etwas vom Tresor gehört. Jungs waren für mich genauso unschuldig wie ich selbst, Sex war für mich eine Silbe ohne jede Bedeutung, Rauchen fand ich widerlich, und von Kiffen, Bongs und Ott hatte ich nicht die geringste Ahnung. Im letzten Sommer meiner Kindheit bin ich mit meinen Freunden auf Bäume geklettert, oder wir saßen in unserem alten Bauwagen, der ganz aus Holz war und nur uns Kindern gehörte. Richtig geil hatten wir den hergerichtet, allen Müll rausgetan und von innen und außen gestrichen. Ein altes Sofa hatten wir reingeschoben und an die Wände Poster gepinnt – so romantisch waren wir. Dort habe ich auch meinen elften Geburtstag gefeiert, im Sommer 2009, mit bunten Kuchen, Limo, Lichterketten und Liedern. Aber schon ein halbes Jahr danach ging es los mit Tresor – und mit den Jungs.
Ich war zwölf, und Finn schon fast 15. Das hat nicht lange gehalten, und ich habe ihn nur dreimal gesehen, aber es war eine richtige Freundschaft, mit Gefühlen und allem. Mit Freund meine ich nicht nur Küssen oder Tanzen, sondern auch Sprechen, Pläneschmieden und Simsen. Das war die Hauptsache in unserer Beziehung: SMS schreiben, hin und her und her und hin. Hundert Stück jeden Tag, mindestens, über jede Bewegung und jeden Eindruck und jede Kleinigkeit und die großen Gefühle auch.
Kennengelernt habe ich Finn natürlich im Tresor, beim Tanzen. Er kam auf mich zu und hat mich angetanzt, und ich ihn. Etwas anderes konnte man nicht machen, dafür war es zu laut. Aber wir sind noch hinüber an die Bar und haben gesprochen. Finn gefiel mir sofort. Er war groß, witzig, nicht schüchtern, mit Sommersprossen und rötlichen Haaren – ein ähnlicher Typ wie ich. Für mich sah er total gut aus, und er fragte mich, ob ich nicht mit ihm ins Kino gehen wollte. Natürlich wollte ich.
Ich habe keine Ahnung mehr, welchen Film wir sahen. Irgendeine amerikanische Comedy, von der ich kaum etwas mitbekommen habe, denn sobald das Licht ausging, hat er mich geküsst. Als hätte er sich das genau so zurechtgelegt. Im ersten Moment wusste ich nicht, was los war, als er mir die Zunge in den Mund steckte, aber dann gefiel es mir. Wir küssten uns fast die ganze Vorstellung lang. Das waren meine ersten richtigen Küsse, und die ersten Zungenküsse sowieso. Wir sehen bestimmt aus wie so ein küssendes Paar auf der Leinwand, dachte ich. Ich war so stolz, dass ich es getan hatte, aber ein paar Tage später schrieb Finn mir eine SMS, die mich ins Grübeln brachte:
Ich wollte dich nur mal fragen …
Was denn?
Ob wir Petting machen?
????
Sorry, das hat mir nur ein Freund in mein Handy getippt :-)
Schon gut …
Mir war natürlich klar, dass der Freund nur eine Ausrede war. Die Frage hat mich trotzdem geschockt: Petting mit zwölf! Das kam mir sehr früh vor. Ich war unsicher: Musste das schon sein? Entsprach das meinem Alter? Sollte ich mit Anfang zwölf Sex haben? Ein bisschen fett erschien mir das Ganze schon. Ich wusste nicht so recht und wollte erst mal Zeit gewinnen.
Ein paar Tage später begannen die Sommerferien. Ich fuhr mit meiner Mutter und einem Freund von ihr nach Frankreich. Finn und ich schickten jeden Tag an die 20 SMS hin und her, ohne internationale Flatrate, bis mein Zähler bei 162 Euro stand – meine Mutter tobte, als sie zu Hause die Rechnung sah.
Vermisse dich – was machst du?
Ich liebe dich.
Und ich erst!
Was machst du den ganzen Tag?
Schwimmen, in so einem komischen Hotel am Meer. Viel lieber wäre ich bei dir in Berlin …
Ich liebe dich …
Nach zwei Wochen Ferien durfte ich schon vorher zurück nach Berlin, endlich! Meine Mutter setzte mich in einen Zug, meine Freundin Anna holte mich vom Bahnhof ab, und für die nächsten beiden Wochen wohnte ich bei ihr und ihrer Mutter.
Schon am nächsten Tag traf ich Finn wieder. Es herrschte große Freude – wir fielen uns in die Arme, als hätten wir uns ein paar Jahre nicht gesehen. Ich war so glücklich. Wir gingen gleich wieder ins Kino. Von diesem Mal weiß ich noch, wie der Film hieß: Marmaduke. Wieder eine ziemlich dämliche amerikanische Komödie, mit sprechenden Hunden. Dass ich mich noch an den Titel erinnere, ist ein Zeichen dafür, dass ich diesmal nicht so richtig bei der Sache war. Natürlich küssten wir uns sofort wieder, aber irgendwie war die Luft draußen: Ich fand mich zu klein für Finn, und er kam mir zu alt vor, zu erwachsen. Wie von einem anderen Stern. Ich merkte, dass ich nicht mehr richtig verliebt war, sondern nur so allgemein hin und weg von ihm, weil er viel größer war als ich und auch so anders. Also herrschte nach dem zweiten Kinobesuch erst mal Sendepause. Über Petting haben wir auch nicht mehr gesimst, und darüber gesprochen haben wir schon gar nicht. Im Herbst trafen wir uns nur noch ein einziges Mal. Da wurde mir klar, dass das nichts wird mit uns. Nach dem Date habe ich Schluss gemacht mit ihm, per SMS. Das klingt übel, war aber ganz freundlich gemeint. Er war auch nicht groß beleidigt, sondern hat das gut weggesteckt. Das war es dann – so viel zu Finn. Witzig ist, dass wir immer noch Kontakt via Facebook haben. Das ist auch schön, denn sonst hätten wir uns längst aus den Augen verloren, was schade wäre, denn er ist ein cooler Typ – Finn ist schon seit über einem Jahr mit einem Mädchen zusammen und total glücklich!
Als es vorbei war mit Finn, meiner ersten Tresorbekanntschaft, ging es für mich so richtig los dort. Meine Scheu war wie weggeblasen. Ich war frei. Ich tanzte wie wild. Ich ließ mich fallen. Als ein gutaussehender Junge sich einmal besonders nah an mich rangedrängt hatte, war plötzlich sein Mund auf meinem. Das hatte ich nicht erwartet. War das Ernst? War das Spiel? Ich stand da, stocksteif, aber der Junge schnitt nur eine lustige Grimasse und tanzte einfach weiter. Und ich genauso. Wir tanzten und lachten und er küsste mich ein zweites Mal. Es fühlte sich gut an, Mund auf Mund, ein bisschen offen, und schon war seine Zunge in meinem Mund und schob sich da hin und her. Ich war erst erschrocken, aber dann gefiel es mir, und ich schob meine Zunge in seinen Mund. Für mich war das der erste Kuss mit einem fremden Jungen und damit eine große Sache. Finn hatte ich auch geküsst, aber den hatte ich ja schon gekannt. Der hier war dagegen irgendwer. Ich fühlte mich wie im Rausch. In einem Taumel, wacher als wach. Es kam von überallher auf mich zu, wie eine Lawine. Mit einem Mal, mit dem Tresor.
So ging das nun einmal im Monat, am Tresor-Wochenende: tanzen, tanzen, tanzen, und immer wieder küssen und knutschen. Mit Finn war das ein anderes Küssen gewesen als mit den Jungs hier. Privater, vertrauter. Die Jungs hier küsste ich meistens, ohne sie zu kennen. Ich roch das viele Parfum und den Schweiß. Es war aufregend und viel zu laut, um sich zu unterhalten. Ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich sagen sollte, und die Jungs wussten das auch nicht. Ihre Namen hätten sie sagen können und ich meinen, klar. Manchmal taten sie das auch, und manchmal nicht.
Einmal bildeten einer von denen und seine Kumpels einen Kreis um mich. Das waren nur Türken, und es waren gutaussehende Jungs darunter. Mit denen tanzte ich weiter, wild und immer wilder. Und ich tanzte gut. Als Vierjährige bin ich zum ersten Mal zum Freien Tanz gegangen – so hieß mein Kindertanzkurs. Dort sprangen wir damals schon wild rum und studierten die witzigsten Figuren ein. Mit elf war ich längst im Hip-Hop-Kurs, aber immer ohne Jungs, da machten nur Mädchen mit. Und jetzt im Tresor: Jungs, überall Jungs! Die nahmen mich in der ganzen Gruppe ran, beim Tanzen. Plötzlich küssten mich alle, einer nach dem anderen. Das war wie ein großes Spiel, und ich musste das auch so sehen, als Spiel, sonst hätte ich mich bedrängt fühlen müssen. Bei dem ganzen Gezappel fiel sogar mein Gürtel ab, den ich über dem T-Shirt trug. Das bemerkte ich erst, als ihn mir einer der Jungs vor das Gesicht hielt.
Den bekommst du erst wieder, wenn du mich küsst, sagte er.
Hab ich gemacht, einfach so, ohne nachzudenken.
Nach der Tanzerei wollte ein dunkelhäutiger Junge mit mir nach unten gehen. Da waren Zellen mit Gitterstäben dran. Alles war dunkel und erhitzt von den vielen Körpern und dem Schweiß. Man konnte kaum etwas sehen. Ich dachte, das wäre die nächste coole Aktion. Dort unten hat der mich angetatscht, überall. Ich wusste zuerst nicht, was los war, aber ich habe einfach mitgemacht. Überall hatte ich seine Hände, unter meinen Kleidern. Das war so merkwürdig, fast unangenehm, aber ich war neugierig auf alles, was kam. Die Türken waren alle so drauf, dass sie immer was von den Mädchen wollten. Da hat keiner nach dem Alter gefragt oder nach dem Namen oder irgendwas, da wurde sofort rumgeknutscht. Seitdem habe ich den Schlampenruf. Wenn ein Mädchen den hat, geht der nicht mehr weg. So etwas spricht sich rum und wird immer größer aufgebauscht, obwohl nichts war außer Geknutsche. Aber ich will mich nicht beschweren. Ich wurde nicht gezwungen, und ich hatte meinen Spaß. Ich wollte das, und deshalb ist es passiert. Punkt.
Einer von den Typen sah richtig gut aus. Ich wusste aber nicht mal, wie der hieß. Da kam ein anderer Typ zu ihm hin und fragte ihn:
Ist das da deine Freundin?
Dabei zeigte der auf mich. Der gut aussehende Junge sah mich an und sagte nur:
Ja.
Das hat mich geflasht. Ich kannte den keine zehn Minuten, und er hat zu dem anderen einfach ja gesagt. Wie krass war das denn?
Und ich so: Was? Habe ich einen Freund?
Das dachte ich nur, gesagt habe ich nichts. Ich hatte nichts von ihm, keinen Namen, keine Handynummer, kein Facebook, keine Adresse, nichts. Aber wir waren zusammen! Das war so absurd. Als ich mit Fanny zu Hause auf ihrem Bett saß, zur nächtlichen Nachbesprechung, stellte sie mir prompt die naheliegende Frage:
Wie heißt er denn?
Und ich: keine Ahnung!
Wie sieht er aus?
Na toll!
Und wie heißt er?
Fanny! Ich weiß nicht, wie er heißt …
Ich wusste, das kam scheiße rüber, aber was sollte ich tun? Außerdem fand ich den Jungen toll. Also hatte ich einen Freund ohne Namen. Ich wusste, dass er so aussah wie Cristiano Ronaldo, der Fußballer – vom Typ her. So nannte ich ihn auch. Irgendwann kamen wir noch auf den Namenszusatz Junior. Wir nannten ihn ab sofort nur noch Ronaldo Junior. Schlimm.
Von da an ging das richtig los mit den Jungs, zumindest für mich. Viele im Tresor kannten mich schon. Es waren immer dieselben Typen dort. Das Ganze war bald schon so was von normal für mich. Sogar an der Tür kannten sie mich, und ich kam ganz selbstverständlich rein. Alle Schwarzen in dem Club, oder überhaupt alle Jungs, haben mich ständig angesprochen, ob ich mit ihnen tanzen will. Das war schon fast peinlich, wie sie alle ausgerechnet mit mir auf die Tanzfläche wollten! Meine Freundinnen tanzten aber auch nicht so wie ich. Nicht so extrem. Alle sagen immer, ich tanze so wild, wie eine Schwarze, ich soll mich zusammenreißen, aber darauf hatte ich keine Lust. Dabei kann ich gar nicht so gut tanzen, wie ich möchte. Ich hätte gerne noch mehr drauf!
Bald habe ich im Tresor auch oben auf den Podesten getanzt, mit Molly. Dann sammelten sich die Jungs erst recht um uns. Das war scheiße für die anderen Mädchen. Bei denen kam Eifersucht auf. Das wollte ich zwar nicht, aber irgendwie gefiel es mir trotzdem. Das war irre cool, und die Eifersucht war begründet, denn durch das Tanzen hatten wir die besten Chancen bei den Jungs. Andere hatten es schwerer, und dann wurden sie erfinderisch. Eine Freundin sagte mir, sie küsst ihren Freund nicht, weil der einen Ständer hat, dabei hatte der gar keinen Ständer. Hat sie sich bloß ausgedacht, damit sie ihn nicht küssen muss, weil ihr das alles noch zu früh war und zu viel. Oder vielleicht wollte er sie auch gar nicht küssen, wer weiß? Jedenfalls hat sie bis heute immer noch nicht geküsst, und sie wird bald sechzehn! Mittlerweile hat sie sich alle Haare abrasiert, zu einer Zwei-Millimeter-Glatze. Das wird ihr auch nicht helfen, aber egal.
Fabian ging in meine Klasse. Und ich war das erste Mädchen, das er geküsst hat. Er war klein, mit braunen Haaren und Sommersprossen – ein süßer Typ, aber ein Stubenhocker. Meistens saß er allein zu Hause rum und hat gelesen. Die Jungs aus unserer Klasse nervten ihn mit ihrer kindischen Art. Er war nicht gerade schlecht in der Schule, aber richtig gut auch nicht, weil er nie viel gelernt hat. Und er hat mich geliebt wie ein Klammeraffe. Ständig war er hinter mir her und neben mir und wollte überallhin mit. Auf einer Klassenfahrt habe ich aber Gefühle für seinen besten Freund bekommen, für Philipp.
Das war im Frühling 2011, knapp vor meinem 13. Geburtstag. Wir lebten in einer Art Jugendherberge mitten im Wald, irgendwo in Brandenburg. Den ganzen Tag hingen wir am See ab oder spielten Volleyball. Eigentlich schön, aber die Stimmung war im Arsch – nur weil ich mich von Fabian trennen wollte. Meine Freunde waren deswegen in zwei Lager gespalten: Manche waren auf meiner Seite, wie Philipp, und fanden das gut mit der Trennung. Die anderen waren auf der Seite von Fabian und mit ihm der Meinung, dass wir zusammenbleiben müssten. Mir ging es dabei nicht gut, denn eigentlich war Philipp der Hauptgrund für die Trennung, was ich ihm aber natürlich nicht gesagt hatte. Schlimme Sache, sich in den besten Freund des Freundes zu verlieben. Mir war das peinlich, ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich dachte, so etwas geht nicht – aber passiert war es mir trotzdem: Ich fand Philipp so toll!
Wir hatten von Anfang an eine großartige Zeit miteinander. Wir konnten wunderbar zusammen chillen: Wir lagen in unserer Unterkunft gemeinsam in einem Bett und malten in einem Buch rum – das reichte, um glücklich zu sein. Wir konnten aber auch tollen Spaß zusammen haben: Einmal schlichen wir uns zusammen in die Jungsdusche, leerten dort sämtliche Shampooflaschen aus und drehten die Duschen voll auf, bis aus allen Türen riesige Schaumberge quollen. Als wir dann brüllend vor Lachen aus der Dusche kamen, sorgte das für Jubel bei den Jungs und für große Aufregung bei den Mädchen – eine von ihnen allein mit einem Jungen in der Dusche! Nur Fabian fand das natürlich nicht lustig, und schon kam einer mit der neuesten Nachricht angerannt:
Fabian will sich aufhängen wegen dir, mit seinem Ladekabel!
Aufgeregt liefen ein paar Jungs in das Mädchenzimmer, in dem ich mit meinen Freundinnen lag. Wegen diesem Blödsinn habe ich mich zum ersten und bis heute auch auch letzten Mal mit Fanny gezofft, und wir waren für einen Tag nicht mehr die besten Freundinnen. Sie meinte, ich müsste mich entscheiden, ob ich mehr mit Jungs machen möchte oder mit Mädchen. Ich wollte nicht vor eine solche Entscheidung gestellt werden, aber sie ließ nicht locker, also habe ich mich für die Jungs entschieden. Das konnte sie nicht verstehen, und schon hatten wir den vollen Streit. Aber wie gesagt, nur für einen Tag.
Als wir zurück nach Berlin fuhren, war die Sache schon ausgestanden. Leider war ich nicht die Einzige, die in Philipp verliebt war – Käthe und Paula ging es genauso. Die zwei waren gute Freundinnen von mir, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Eiskalt ging ich zu den beiden hin und klärte sie ein für alle Mal auf:
Tut mir leid, aber Philipp will nichts von euch. Ihr könnt euch die Mühe sparen …
Das war natürlich frei erfunden, aber es verfehlte nicht seine Wirkung. Im Zug setzte ich mich einfach neben Philipp, und er legte den Arm um mich, was ich gerne geschehen ließ. Natürlich sahen das alle, und ich genoss das sehr – endlich am Ziel! Als wir in Berlin aus der Bahn stiegen, fühlten wir uns schon wie ein Paar, obwohl wir erst später richtig zusammenkamen. Den ersten Kuss tauschten wir am Alex aus, ein paar Tage nach unserer Rückkehr. Schön war, dass wir es beide wollten, gleichzeitig. Wir standen nur da und sahen uns an. Nicht nur die Kugel des Fernsehturms über unseren Köpfen drehte sich, sondern die ganze Welt – um uns. Eine Viertelstunde standen wir einfach so da. Oder war es eine halbe Stunde? Es kam mir jedenfalls ewig lang vor, bis wir endlich unsere beiden Münder aneinanderpressten. Acht Monate blieben wir zusammen, von diesem Moment an.
Philipp hat sich in der Zeit immer um mich gekümmert. Als wir einmal bei mir zu Hause chillten, sagte ich nur, dass ich Bock habe auf McDonald’s. Er zieht seine Schuhe und Jacke an und geht raus.
Ich frage ihn: Wo willst du um Himmels willen hin, so spät?
Warte mal …
Eine Viertelstunde später kam er wieder, mit zwei Cheeseburgern. Er ist mit dem Fahrrad zum Alexanderplatz gefahren, zu McDonald’s. Eine so süße Aktion – und das ohne viele Worte. Einmal stand er vor meiner Haustür, mit einer Blume, einer Rose, um mir eine Freude zu machen, einfach so. Die hat er im Schulgarten gepflückt, hat mir ein Freund im Nachhinein erzählt.
Ich war richtig glücklich mit Philipp. Zusammen mit seinem Kumpel Lukas hatten wir Spaß ohne Ende. Wir waren das perfekte Team. Ob wir zu dritt bei mir übernachtet, eine Schaumschlacht im Badezimmer gemacht oder nur gemeinsames gechillt haben – egal, es war immer geil. Wir konnten Dinge bringen wie um Mitternacht einen Riesentopf Spaghetti kochen und den direkt im Bett futtern, zu dritt unter der Decke. Das war alles so echt und so lustig, das werde ich nie vergessen. Oder wie mir schlecht war vom ersten Jay, das war auch mit den beiden. Ist mir danach nie wieder passiert. Ich hatte echt nur einen einzigen Zug genommen, und danach musste ich mich fast übergeben, so schlimm war der Shit für mich. Weil ich das Rauchen noch nicht gewohnt war, darum.
Das Wichtigste war für mich aber nicht das Kiffen, sondern der Tresor, wegen der Jungs. Der war mein echtes Zuhause! In den Tresor gingen mit der Zeit immer mehr ältere Jungs, was okay war, weil mich die sowieso mehr interessierten, und Fanny auch. Ich war meistens mit ihr im Tresor. Fanny ist eben meine beste Freundin, wir sind unzertrennlich.
Wir sind vorher sogar extra shoppen gegangen, natürlich alleine! Mit den Müttern hätte das nicht funktioniert. Die hätten sowieso alles, was wir haben wollten, als zu kurz empfunden. Als zu dünn. Zu erwachsen. Zu nuttig. In der Art. Damit ging der ganze Samstag drauf und manchmal der Freitagnachmittag gleich mit. Am Sonntag nach der Party haben wir nur noch gechillt und die Nachbesprechungen abgehalten.
Zu Halloween sind wir ins Kaufhaus und haben uns dort Teufelsteile gekauft, Hörner zum Auf-den-Kopf-Stecken, denn auf der Einladung stand, dass man sich verkleiden sollte. Wir waren dann allerdings die Einzigen, die verkleidet kamen. Das war so was von peinlich! Fanny hatte ein Nuttenoberteil an, schwarz-rot, vorne zum Knöpfen, eine Mischung aus BH und Top. Ich tanzte mit jemandem und wollte meine Teufelsteile nicht mehr haben, weil ich gemerkt hatte, dass die Jungs nicht so drauf stehen, wenn mir Hörner aus dem Kopf wachsen. Also habe ich die Hörner einfach irgendjemandem in die Hand gedrückt, und schon waren sie weg. Es war so voll, dass ein ständiges Drücken und Schieben und Reiben um uns war, so geil. Im Sommer war das manchmal zu viel. Das war fast schon eklig, weil alle so geschwitzt haben und in dieser Mischung von Deo und Schweiß rummachen mussten. Geil war das trotzdem.
Ich habe die ganze Zeit getanzt, und immer wieder hat mich einer von hinten angetippt. Wenn ich mich umdrehte, sah ich gleich, ob ich den Jungen schon kannte. Ich glaube, nach ein paar Monaten Tresor hatte ich schon mit fast jedem dort getanzt. Und wenn ich ihn kannte, habe ich meistens gesagt: Scheiße – such dir eine andere, mit der du tanzen kannst!
Es kommt sonst einfach doof, wenn du immer mit demselben tanzt. Dann denken die Typen gleich, du willst was von ihnen, und die anderen denken, ihr seid zusammen – macht also keinen Sinn. An dem einen Samstag tippte mich wieder einer an. Ich drehte mich um, und da stand so ein kleiner Schwarzer.
Hi!
Den kannte ich auch schon.
Und er: Ja hallo, ich bin Akin.
Ich: Ja … und?
Er: Willst du mit meinem Freund tanzen?
Hinter Akin stand Noel, der mir gleich ziemlich gut gefiel. Aber ich zögerte, weil ich merkte, dass dieser Tanz etwas Besonderes werden könnte, und ich hatte doch schon einen Freund. Ich war erst seit Kurzem mit Philipp zusammen. Aber er wollte nicht in den Tresor mitkommen.
Und ich so: Ich weiß nicht …
Dann Akin: Komm schon.
Ich: Na, okay.
Ich dachte, gut, du tanzt mit ihm, nicht mehr. Das tat ich auch, und alle Schwarzen, eine ganze Gruppe, haben geguckt und plötzlich einen Kreis gemacht um uns. Wir waren im Kreis und tanzten und tanzten.
Noel ist auch ein Schwarzer, oder eigentlich ein Brauner, denn sein Vater ist Afrikaner und seine Mutter ist Deutsche, aber das sah man nicht so, weil er ziemlich dunkel war. Mir sind die Braunen lieber als alle anderen. Ich mag Mischlinge. Die sehen besser aus als Deutsche, und sie sind nicht so stur wie die Türken. Und witziger.
Ich weiß bis heute nicht, woher meine Vorliebe für die Braunen eigentlich kommt. Ist erst seit dem Tresor so. In unserer Klasse gibt es keine Türken, keine Schwarzen, keine Araber. Im Tresor habe ich zum ersten Mal gesehen, dass die besser tanzen können als die Deutschen – und besser feiern.
Noel war klein und so jung, voll süß. Das war eine Überraschung für mich, denn sonst hatte ich mich eher für Ältere interessiert. Na ja, mindestens für Gleichaltrige. Aber jünger? Das konnte ich mir nur dadurch erklären, dass Noel was Besonderes hatte. Noel war irgendwie fame, das heißt, alle wollten was von ihm. Wir haben getanzt, bis einer der Jungs schrie:
Mach doch mal ein bisschen Pfeffer. Mach ein bisschen mehr!
Wir tanzten also richtig wild, bis uns die anderen in Ruhe gelassen haben. Dann waren wir wieder nur zu zweit.
Und ich zu ihm: Du weißt, dass ich einen Freund habe.
Ist mir egal!
Okay …
Das sagte er einfach so, und ich auch. Das war der Kern unserer Beziehung. Er sagte was, und ich fand das okay. So war das. Ganz easy. Ich war aber nicht gleich verliebt. Klar gefiel mir das Tanzen mit ihm, klar fand ich ihn süß, aber es hatte keine große Bedeutung. Er war einfach ein Typ, mit dem ich getanzt hatte, und er ging mir vielleicht bis zur Schulter.
Wir tanzten und tanzten, und plötzlich hat er mich geküsst.
Ich dachte noch, nein, Scheiße, weil meine Freundin Antonia danebenstand, die sollte das nicht sehen. Wenn Philipp davon erfährt! Also huschte ich schnell weg. Ich und Noel hatten noch kurz Facebook ausgetauscht, und wir verabschiedeten uns, als Antonia schon neben mir stand.
Ihr habt euch geküsst!
Nein, wir haben nur getanzt.
Ich habe das gesehen!
Nein, hast du nicht …
Ich wollte nicht, dass das auffliegt. Ich mochte Philipp.
Sicher hast du!
Sicher nicht! Ich habe ihn nicht geküsst, das sah vielleicht so aus, weil wir so eng getanzt haben …
Sie zögerte: Jaaaa … okay. Das hoffe ich für dich. Du weißt schon, dass du einen Freund hast?!
Und ich: ja, klar …
Puuh. Ausatmen, entspannen. Sei nicht so streng, Antonia! So fing die Sache mit Noel an, und sie war von Anfang an schwierig.
Weiter ging es am nächsten Tag, aber sofort. Noel schrieb mir auf Facebook, dann rief er an, und wir telefonierten richtig lange. Das war nur am Beginn so, denn wir hatten nie Geld genug zum Telefonieren und beschränkten uns deshalb, wann immer es ging, auf Facebook-Messages oder WhatsApp-Nachrichten. Eben alles, was gratis ist. Doch am Anfang war die Vernunft total abgeknipst. Es ging nur ums Reden, Reden, Reden. Er hat mir so viel erzählt von sich und ich ihm von mir. Dann hatten wir darüber geredet, was wir gerade im Fernsehen gucken. Er sagte, er guckt Galileo. Das habe ich auch eingeschaltet, und wir unterhielten uns darüber. Es ging es um Delfine – seine Lieblingstiere.
Mehr war nicht. Mir reichte es völlig, mit Noel zu chatten und manchmal zu telefonieren. Diese paar Only-Facebook-Monate lang blieb Noel für mich nicht viel mehr als ein Gedanke, wenn auch ein ziemlich deutlicher. Er tanzte durch meine Vorstellungen, bis wir uns doch noch mal im echten Leben verabredeten, an der Weltzeituhr. Ich stand dort herum, zwischen den Tausenden Menschen, die auf dem Alex wie immer in alle Richtungen durcheinanderliefen – und wer nicht kam, war Noel. Scheiße, dachte ich, und wollte schon weg, als ich einen Typen mit roter Jacke bemerkte, der wie Noel aussah. Ich lief ihm hinterher, und er war es wirklich – umgeben von einer Horde Mädchen, die hinter ihm herrannte. Als ich kam, sagte er zu denen: Verpisst euch mal alle. Das hat mir imponiert. Dann sind wir zu dritt – Akin war auch mit dabei – zum Media-Markt rein und dann zu Kaufhof, nach oben in die Sportabteilung. Dort sind wir Roller gefahren und haben ein bisschen geredet. Dabei fand ich ihn ganz süß, aber das war’s auch. Da ist immer noch nichts passiert.
Aber dann auf Skype. Als ich mal bei Fanny übernachtete, habe ich das erste Mal mit Noel geskypt. Da habe ich ihn von ganz, ganz nah gesehen, auf dem Bildschirm vor mir, nicht im dunklen Tresor oder als Foto auf Facebook oder zusammen mit anderen auf dem Alex, sondern richtig nah! Das war sehr süß. Wir waren bis drei oder vier Uhr morgens zusammen online. Dabei haben wir nicht dauernd gesprochen, sondern manchmal nur zusammen dieselben Lieder gehört und uns die ganze Zeit angeguckt. Da ist es dann eben passiert. Hin und wieder haben wir uns auch was geschrieben, Ich liebe dich <3. Ich aber nur: <3<3<3, gleich dreimal das Zeichen für Herz. Wir haben uns tatsächlich am Bildschirm ineinander verliebt. Ich war total überwältigt von ihm, weil er so lange geskypt hat mit mir. Fünf, sechs Stunden bis in die Nacht hinein, er ist fast vor der Cam eingeschlafen. Doof war nur, dass die Sache mit Philipp noch nicht vorbei war.
Ich habe mich dabei auch scheiße gefühlt, schon während des Skypens, aber ich konnte nicht anders. Fast schon am Morgen haben wir aufgelegt, und es hatte mich richtig erwischt. Trotzdem konnte ich auch in den nächsten Tagen noch nicht mit Philipp Schluss machen. Der war für mich Alltag, ich sah ihn jeden Tag in der Schule, er gehörte für mich dazu. Ich konnte ihn nicht einfach entfernen aus meinem Leben, nur weil ich mich in Noel verliebt hatte.
Jakob. Das ist eine dumme Geschichte, die ich gerne weglassen würde, aber sie ist nun mal passiert. Deshalb glaube ich, dass ich sie auch erzählen muss. Ja, das ist total wichtig. Wir verstanden uns ziemlich gut, Jakob und ich.
Okay, Jakob: Früher hatten wir nicht so engen Kontakt. Man hat sich Hallo gesagt, wir haben ab und zu miteinander geredet, aber in diesen Monaten klappte es richtig gut mit uns beiden. Einmal übernachteten wir zusammen bei Fanny, deren Eltern nicht da waren. Ich lag neben Jakob, und wir haben gekuschelt. Ich hatte nur noch Unterwäsche an – keine Ahnung mehr, wieso. Ich lag in seinen Armen, und wir haben uns gegenseitig berührt. Das klingt selbstverständlich, aber es war so neu, ich kannte das alles noch nicht. Er fing an, mich zu fingern, in der Muschi, aber ohne Küssen.
Am nächsten Tag dachten wir so: Scheiße, was haben wir da gemacht? Jakob war einer der besten Freunde von Philipp. Wir hatten das getan, ohne vorher darüber gesprochen zu haben. Völlig ungeplant, und es war total komisch, für beide von uns. Aber so fing es an.
Jakob schlug vor, wir sollten so was öfter machen, auch ohne Gefühle. Das fand ich nicht schlecht, denn um damit aufzuhören, war das Gefühl ohne Gefühle einfach zu gut gewesen. Jakob kam also noch zweimal oder dreimal zu mir, und wir machten in meinem Zimmer rum, aber wir gingen nicht weiter. Wir haben uns immer nur geküsst. Bald ging das so weit, dass wir uns auch in der Schule küssten, in den Pausen am Schulhof und auf den Gängen. Was für eine Scheißsituation: Ich war mit Philipp zusammen, ich dachte an Noel, aber ich habe mit Jakob auf dem Gang geknutscht.
Einmal haben wir uns vor dem Werkraum geküsst – während Philipp und alle anderen schon drin waren. Dann sind wir einfach reingegangen, erst er und ein paar Minuten später ich, damit es nicht so auffällt. Schlimme Sache, das.
Irgendwann hatte Jakob keinen Bock mehr auf mich. Vielleicht war er auch sauer, weil er wusste, dass er nicht der Einzige war, denn da gab es ja noch Noel, auch wenn wir uns lange nicht gesehen hatten. Irgendwann, als Jakob mal bei Philipp war, bin ich auch hin, weil es mir gereicht hat. Ich musste daran denken, wie ich und Jakob rumgemacht hatten, und dass er mich trotzdem nicht mehr beachtete. Wie ungerecht war das denn?! Mich überkam eine wahnsinnige Wut, und ich musste anfangen zu heulen. Ich wollte die ganze Sache rauslassen, ich wollte Philipp einfach alles sagen. Jetzt, hier, sofort. Vor seiner Wohnungstür!
Aber als ich mit Fanny ankam, haben die beiden uns nicht reingelassen. Stattdessen schoben sie uns einen Zettel unter der Tür durch, da stand Hallo drauf. Die Jungs fanden das lustig und immer lustiger und schoben einen Zettel nach dem anderen unter der Tür durch, während ich draußen vor Wut heulte. Irgendwann hatte ich endgültig genug. Ich habe einen der Zettel genommen, umgedreht und hinten noch etwas drauf geschrieben:
Philipp, wie findest du das eigentlich, dass dein bester Freund dich mit mir betrügt?
So, jetzt war es raus. Diesen Satz hielt ich vor das Guckloch. Leider musste ich dabei immer noch voll heulen.
Nach ein paar Sekunden Zögern und Stille machte Philipp die Tür auf. Jetzt war der Spaß vorbei. Er lachte nicht mehr, sondern blickte mich nur entsetzt an.
Und Jakob so: Was hast du da gemacht?
Und ich: keine Ahnung? Musste halt mal raus.
Jakob und ich gingen eine Etage tiefer, um unter vier Augen über die ganze Sache zu sprechen, aber er war einfach nur kalt wie ein Fisch. Für ihn war das nur ein Spiel gewesen.
Dann ging ich wieder nach oben und versuchte, Philipp alles zu erklären, aber das klappte nicht so recht. War halt eine Scheißgeschichte.
Philipp sah mich nur traurig an und sagte: Du bist trotzdem das Beste, was mir je passiert ist.
Das gab mir einen richtigen Stich ins Herz.
Und dann fing er an zu weinen, und Fanny und ich nahmen Reißaus. Ich hatte mit allem gerechnet – mit Wut, mit Hass, mit Gelächter, mit Spott – aber nicht damit. Philipp war nicht sauer, nicht wütend, sondern einfach nur verletzt und enttäuscht. Heulend rannte ich aus dem Haus, Fanny dicht hinter mir her. Ich lief nach Hause und wollte nichts als allein sein.
Im Badezimmer erschrak ich, sobald ich in den Spiegel sah: Ein trauriges, verheultes, mit Wimperntusche verschmiertes Gesicht glotzte mich an. Ich schlich durch die Wohnung, ziellos und völlig fertig. Als es dunkel wurde, vergrub ich mich mich auf meinem Sofa unter ein paar Kissen. Zu allem Überfluss drückte mich plötzlich etwas im Gesicht. Ich hob den Kopf und erkannte einen Handschuh, den Philipp vor ein paar Tagen hier vergessen hatte. Und schon folgte die nächste Ladung Tränen. Ich heulte und heulte, bis ich nicht mehr konnte. Dann holte ich mein Tagebuch heraus – nichts Großes, nichts Feierliches. Einfach nur ein Schulheft, in das ich seit ein paar Tagen ein paar Sachen eintrug, weil mir alles zu viel geworden war. Weil ich dachte, mich und alles andere dadurch ein bisschen in den Griff zu bekommen. Auf die erste Seite hatte ich eine deutliche Warnung geschrieben:
Niemand darf das lesen, auch Noel nicht!
Gleich darunter hatte ich eine Art Überschrift gesetzt, die mein wichtigstes Gefühl jener Tage ausdrückte:
Über das verrückteste Mädchen der Welt: Sera.