Im Wald - Nele Neuhaus - E-Book
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Im Wald E-Book

Nele Neuhaus

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Beschreibung

Mitten in der Nacht geht Im Wald bei Ruppertshain ein Wohnwagen in Flammen auf. Aus den Trümmern wird eine Leiche geborgen.  Oliver von Bodenstein und Pia Sander vom K11 in Hofheim ermitteln zunächst wegen Brandstiftung, doch bald auch wegen Mordes.  Kurz darauf wird eine todkranke alte Frau in einem Hospiz ermordet. Bodenstein ist erschüttert, er kannte die Frau seit seiner Kindheit.  Die Ermittlungen führen Pia und ihn vierzig Jahre in die Vergangenheit, in den Sommer 1972, als Bodensteins bester Freund Artur spurlos verschwand.  Ein Kindheitstrauma, das er nie überwand - und für viele Ruppertshainer eine alte Geschichte, an die man besser nicht rührt.  Es bleibt nicht bei zwei Toten. Liegt ein Fluch über dem Dorf?  Nele Neuhaus fängt die trügerische Dorfidylle Rupperthains ein, in der das Ermittlerduo in ihrem achten Fall ermittelt.  Der neue Bücher Bestseller der bekannten Krimi-Autorin schafft durch die Beschreibung von Originalschauplätzen und der Skizzierung des Dorflebens eine dichte Atmosphäre.  Die Verbrechen erschüttern diese Idylle und werden in diesem Buch zu Bodensteins persönlichstem Fall.  Mit dem Taunus-Krimi landet die deutsche Schriftstellerin erneut auf den vorderen Plätzen der Bestsellerlisten.

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Das Buch

Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein wird nachts zu einem Brand in der Nähe von Ruppertshain gerufen. Er vermutet, dass der Feuerteufel dahinter steckt, der seit Monaten im Taunus sein Unwesen treibt und leer stehende Gebäude anzündet. Doch diesmal geht es um mehr: Im brennenden Wohnwagen auf dem Campingplatz im Wald kam ein Mann ums Leben. Bodenstein und seine Kollegin Pia Sander ehem. Kirchhoff ermitteln wegen Mordes. Als sie mit der Besitzerin des Wohnwagens sprechen wollen, kommen sie zu spät: Auch sie wurde getötet, obwohl sie sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt hätte. Während die Polizei fieberhaft nach einem jungen Mann fahndet, der in der Brandnacht im Wald den Täter gesehen haben könnte, geschieht ein dritter Mord.

Vor über vierzig Jahren verschwand Bodensteins bester Freund, der zehnjährige Artur, spurlos. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Mordserie und diesem nie aufgeklärten Vermisstenfall? Bodenstein geht den alten Spuren nach und entdeckt Ungereimtheiten und Ermittlungsfehler. Pia und er stoßen auf eine Mauer aus Schweigen, Angst und Misstrauen, und der Mörder scheint noch nicht am Ende mit seiner Mission. Um ihm Einhalt gebieten zu können, müssen sie herausfinden, was im August 1972 im Wald bei Ruppertshain wirklich geschehen ist.

Die Autorin

Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und, unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg, Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.

NELE NEUHAUS

IM WALD

Kriminalroman

Ullstein

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Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

ISBN 978-3-8437-1429-7

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © plainpicture/ NaturePL/ Klaus Echle

E-Book (3): Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Matthias.Danke für deine Geduld, für Aufmunterung, Unterstützung und für deine Liebe.

Verdrängung ist die tödlichste Form der Verleugnung.

C. Northcote Parkinson

Personenregister

Schulfreunde von Oliver von Bodenstein in alphabetischer Reihenfolge:

Ralf Ehlers, Unternehmer und Lebenskünstler

Jakob Ehlers, sein Bruder

Patrizia Ehlers, geb. Kroll, dessen Frau

Dr. Inka Hansen, Tierärztin

Andreas Hartmann, Metzgermeister

Franziska Hartmann, seine Schwester

Elisabeth Hartmann, seine Mutter

Edgar Herold, Schlossermeister

Conny Herold, seine Frau

Rosemarie Herold, geb. Kroll, seine Mutter

Clemens Herold, sein Bruder

Sonja Schreck, geb. Herold, seine Schwester

Detlef Schreck, Sonjas Mann

Wieland Kapteina, Revierförster

Ronja Kapteina, seine Tochter

Klaus Kroll, Ortspolizist, Bruder von Rosemarie Herold und Patrizia Ehlers

Dr. Peter Lessing, Investmentbanker

Henriette Lessing, seine Frau

Elias Lessing, sein Sohn

Letizia Lessing, seine Tochter

Konstantin Pokorny, Bäckermeister

Sylvia Pokorny, seine Frau

Roman Reichenbach, Installateur

Simone Reichenbach, geb. Ohlenschläger, seine Frau

Pauline Reichenbach, ihre Tochter

Weitere Figuren:

Adalbert Maurer, Pfarrer im Ruhestand

Irene Vetter, seine Schwester

Leonard Keller, Städtischer Arbeiter

Annemarie Keller, seine Mutter

Felicitas Molin, Schwester der Pächterin des Waldfreundehauses

Dr. Renate Basedow, Ärztin in Ruppertshain

Benedikt Rath, Kriminalhauptkommissar a. D.

Valentina Berjakov

Claudia Ellerhorst, ihre beste Freundin

Estefania Ugonelli

Das K11:

Oliver von Bodenstein, Erster Kriminalhauptkommissar, K11

Pia Sander, ehem. Kirchhoff, Kriminalhauptkommissarin, K11

Dr. Nicola Engel, Kriminalrätin, Leiterin der RKI Hofheim

Kai Ostermann, Kriminaloberkommissar, K11

Kathrin Fachinger, Kriminaloberkommissarin, K11

Tariq Omari, Kriminalkommissar, K11

Cem Altunay, Kriminalhauptkommissar, K11

Christian Kröger, Kriminalhauptkommissar, Erkennungsdienst

Prof. Dr. Henning Kirchhoff, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin Frankfurt

Dr. Frederick Lemmer, Rechtsmediziner

Gianni Lombardi, Vernehmungsexperte vom LKA

Dr. Kim Freitag, forensische Psychiaterin, Pias Schwester

Merle Grumbach, Opferbeauftragte der RKI Hofheim

Stefan Smykalla, Pressesprecher der RKI Hofheim

Außerdem:

Karoline Albrecht

Dr. Christoph Sander

Sophia von Bodenstein

Gabriella von Rothkirch

Heinrich Graf von Bodenstein

Leonora Gräfin von Bodenstein

Quentin von Bodenstein

Lorenz von Bodenstein

Thordis von Bodenstein, geb. Hansen

Prolog

31. August 1972

Ich will das nicht tun. Aber ich muss. Ich habe keine andere Wahl. Ich kann nicht zulassen, dass er mir alles zerstört. Und genau das wird passieren, und zwar schon bald. Er wird irgendjemandem das erzählen, was er mir erzählt hat, vielleicht sogar der Polizei, die noch immer überall nach dem Russenkind sucht und jeden im Dorf ausfragt. Man wird ihm glauben, so, wie ich ihm geglaubt habe. Es wird sich herumsprechen und das ganze Dorf wird es erfahren. Sie werden schockiert tun und mitleidig, aber hinter meinem Rücken werden sie über mich lachen, weil ich so naiv bin. Ich kann schon hören, wie sie tratschen. Ich kann mir genau vorstellen, wie sie verstummen, sobald ich irgendwo auftauche. Bevor das geschieht, muss ich handeln. Ich muss einfach.

Die ganze Nacht über habe ich mir den Kopf zerbrochen. Jetzt habe ich einen Plan. Es ist ziemlich praktisch, dass mich alle für etwas dumm halten. Niemand würde mir so etwas zutrauen. Nicht mir.

Ich laufe durch die Obstwiesen, auch wenn die Strecke etwas weiter ist. Falls mir jemand begegnet, kann ich behaupten, ich wollte ein paar Äpfel lesen. Die Sonne ist eine bleiche Scheibe am Himmel. Beim Laufen kleben meine Oberschenkel aneinander, so schrecklich heiß ist es. Kein Lüftchen geht. Seit Tagen hat es keinen Tropfen mehr geregnet, doch heute wird es ein Gewitter geben. Die Schwalben fliegen ganz tief und die Luft ist elektrisch aufgeladen.

Endlich habe ich den Wald erreicht. Die Schatten der Bäume spenden kaum Kühle. Es ist unnatürlich still. Der Wald scheint den Atem anzuhalten. Vielleicht ahnt er, was ich vorhabe. Zwischen hohen Fichten steht seine Hütte. Er hat sie selbst ausgebaut, und ich habe ihm oft dabei geholfen. Ich kenne jeden Winkel, und manchmal wünschte ich, es wäre anders gekommen.

Am liebsten würde ich wieder umkehren, aber ich kann nicht. Ich muss es tun, sonst wird er mir die Chance zerstören, endlich von meiner Familie wegzukommen. Die Oberfläche des kleinen Tümpels, den wir letzten Sommer zusammen gegraben und in den wir Kaulquappen gesetzt haben, schimmert wie schwarzes Glas. Mein Herz pocht, als ich an die Tür der Hütte klopfe. Ein paar Sekunden hoffe und fürchte ich, dass er nicht da ist. Aber dann geht die Tür auf. Er trägt nur eine Jeans, sein Oberkörper ist nackt und sein Haar noch feucht. Sein Blick streift mein Gesicht, ein ungläubiges Lächeln schleicht sich in seine Mundwinkel. Er hat nicht mit mir gerechnet. Natürlich nicht. Nach allem, was ich vorgestern zu ihm gesagt habe.

»Hey, das ist ja schön!«, sagt er und seine Augen leuchten. »Warte, ich zieh mir schnell was über.«

Er ist so anständig. Trotzdem hasse ich ihn, weil er mich festhalten will, hier, in diesem Leben, das ich nicht mehr will. Er streift sich ein T-Shirt über.

»Willst du reinkommen?«, fragt er. Er ist ein bisschen unsicher.

»Klar. Wenn du mich rein lässt …« Ich lächele, obwohl ich lieber weglaufen würde. Mir ist übel. Die Hütte besteht nur aus einem Raum. Er klaubt ein paar Klamotten zusammen, wirft sie auf einen Stuhl. Mein Blick fällt auf die Schlafcouch, die ordentlich gemacht ist.

»Setz dich doch.« Er ist aufgeregt, glaubt, hofft, ich sei gekommen, um ihm zu sagen, dass ich über alles nachgedacht habe und zu ihm zurückkehre. Trotz allem. »Willst du was trinken? Ich hab Coca-Cola da.«

»Nein, danke«, sage ich.

»Du … du siehst sehr hübsch aus«, sagt er verlegen. »Das Kleid steht dir echt gut.«

»Danke.« Ich muss mich beeilen. Nicht dass die Kinder mich hier überraschen. Ich schmiege mich an ihn. Er riecht nach Duschgel und Shampoo, und ich schließe die Augen, weil mir die Tränen kommen. Ach, wenn es doch nur eine andere Lösung gäbe!

»Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe«, murmele ich.

»Und mir tut’s leid, dass ich dir gedroht habe.« Seine Stimme ist ganz nah an meinem Ohr. »Aber ich musste es dir doch sagen. Immerhin war es dein …«

»Nicht! Bitte! Ich weiß ja, dass du es nur gut meinst.«

Und trotzdem lasse ich mir mein Glück nicht von dir kaputtmachen, denke ich. Nicht von dir, und auch von keinem anderen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine echte Chance.

Sein Atem streichelt mein Gesicht, ich berühre seine Wange, seinen Nacken. Alles an ihm ist so vertraut.

Geh!, schreit die Stimme in meinem Kopf. Geh einfach weg und lass ihn in Ruhe!

Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Er ist völlig arglos.

»Ach, ich habe dich so sehr vermisst.« Ich spüre seine Lippen weich und zärtlich in meinem Haar.

Jetzt, denke ich. Lieber Gott im Himmel, verzeih mir!

Er begreift nicht, was mit ihm geschieht. Guckt mich nur ungläubig an. Und dann ist alles vorbei.

Fünf Minuten später atme ich die warme Luft, den Duft von Harz und Sommer und Fichtennadeln. Meine Knie sind weich wie Pudding. Ich wollte das nicht tun. Aber ich musste. Er hat uns keine Wahl gelassen.

Dienstag, 7. Oktober 2014

»Danke fürs Mitnehmen.«

»Alles klar.« Der Mann nickte gleichgültig, setzte schon den Blinker, um sich wieder in den Verkehr einzufädeln, und blickte in den Außenspiegel. »Ciao!«

»Ciao!« Er kletterte aus dem Lieferwagen, zerrte seinen Rucksack aus dem Fußraum und schlug die Tür zu. Glück gehabt, dass der Typ angehalten hatte. Es zog sich nämlich ganz schön, den Berg hoch von Königstein bis zur Billtalhöhe, und er wollte vor Einbruch der Dunkelheit im Wohnwagen sein. Von den Pendlern, die aus Frankfurt in den Hintertaunus fuhren, nahm keiner einen Tramper mit, erst recht keinen Langhaarigen, der aussah wie ein Penner. So was täte sein Vater auch niemals. Der Lieferwagen tauchte in den Verkehrsstrom ein, und er wartete am Straßenrand, bis er endlich die Straße überqueren konnte.

Von hier aus waren es noch knapp anderthalb Kilometer Fußmarsch, dann hatte er sein Ziel erreicht, den Campingplatz am Waldfreundehaus. In den drei Monaten im Jugendknast hatte er jede Nacht vom Wald geträumt. Von Bäumen, die bis in den Himmel wuchsen, vom lehmigen Duft feuchter Erde, vom dämmerigen Licht und den Geräuschen. Er liebte den Wald, seitdem er denken konnte. Seine Schwester hatte immer Schiss gehabt, aber er mochte es, wenn sich die Bäume über ihm schlossen. Nur dann fühlte er sich geborgen. Vielleicht sollte er ja Förster werden. Oder Waldarbeiter, so lange, bis er das Abi nachgeholt hatte. Denn das hatte er vor.

Auf der linken Seite der Schotterstraße tauchten mehrere Weiher auf, die dem Angelsportverein gehörten. Zwischen Tannen und Fichten standen vereinzelte Laubbäume, deren Blätter sich schon herbstlich verfärbten. Als sich ein Auto näherte, verbarg er sich hinter dem Stamm einer mächtigen Buche. Niemand sollte ihn sehen. Im Laufe der Zeit hatte er gelernt, sich unsichtbar zu machen. Es dämmerte schon, als er endlich die große Waldwiese erreichte. Um nicht an der Ausflugsgaststätte vorbeigehen zu müssen, schlug er sich ein Stück durchs Unterholz, bog den rostigen Maschendrahtzaun herunter, der den Campingplatz umgab, und kletterte darüber. Dann setzte er sich unter einen Baum und wartete. Von seinem Platz aus hatte er einen ungehinderten Blick auf die Wohnwagen, die in einer großen Runde rings um die Wiese am Waldrand standen. Die meisten waren seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Ihre Besitzer nutzten den Campingplatz zur Sommerfrische oder an den Wochenenden. Manchen der Wagen sah man allerdings an, dass sie schon sehr lange unbenutzt waren. In einem von ihnen wollte er die nächsten Tage unterkommen, bis er den Entzug hinter sich hatte.

Heute war Tag vier seiner neuen Zeitrechnung. Der Zeit ohne Drogen. Diese ersten vier Tage eines kalten Entzugs waren die schlimmsten, das wusste er, denn es war nicht der erste, den er machte. Im Knast hatte er schon dasselbe erlebt, aber danach hatte es keine Woche gedauert, bis er wieder voll drauf gewesen war. Diesmal wollte er es wirklich durchziehen. Er wollte weg von der ewigen Jagd nach dem Zeug, das sein ganzes Leben bestimmte. Endgültig. Das hatte er Nike versprochen. Und seinem Kind, das in ein paar Wochen zur Welt kommen sollte. Ein Junge würde es werden, Nike hatte es ihm auf dem Ultraschallbild gezeigt. Und dann hatte sie ihm gesagt, dass er nicht mehr wiederzukommen bräuchte, solange er nicht clean sei. Sie hatte dabei geweint, und er auch.

In dem Augenblick hatte er sich vorgenommen, es zu schaffen. Er wollte seinem Sohn ein Vater sein, ein guter Vater. Kein Junkie, der nur den nächsten Schuss im Kopf hatte und für den sein Sohn sich schämen musste. Vor allen Dingen aber wollte er ein besserer Vater sein, als seiner es für ihn gewesen war.

Die ersten drei Tage, die schlimmsten, hatte er in einem leerstehenden Haus in Bockenheim verbracht. Stöhnend hatte er sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Der kalte Schweiß hatte widerlich nach dem Gift gestunken, das eine solche Macht über seinen Körper und seinen Geist hatte. Das ganze Zimmer hatte danach gerochen und nach Kotze und Urin. Vielleicht war es genau das, was er gebraucht hatte. Dieses Gefühl, das letzte Stück Dreck zu sein.

Er wartete, bis am späten Abend die Lichter im Wohnhaus neben der Gaststätte erloschen waren. In einem einzigen Wohnwagen auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese brannte Licht, sonst war alles dunkel. Er hatte sich für den Wagen ganz am Ende der Kolonie entschieden. Die morschen Holzstufen der Veranda, die rings um den Wohnwagen führte, knarrten unter seinen Füßen. Das Schloss an der Tür war ein Witz. Er brauchte keine Minute, um es zu knacken. Drinnen roch es muffig und nach Schimmel, aber das war ihm egal. Mit dem Feuerzeug leuchtete er das Innere des Wohnwagens aus, das erstaunlich geräumig war. Natürlich alles im spießigen Fünfziger-Jahre-Look. Aber es gab ein Bett mit Kissen und Decken und ein Campingklo. Zu seiner Freude fand er mehrere Sixpacks mit Mineralwasser auf der Arbeitsfläche der Küchenzeile, im Hängeschrank Konservenbüchsen mit Ravioli und Thunfisch und Gläser mit eingemachtem Obst. Im abgeschalteten Kühlschrank, dessen Tür nur angelehnt war, lagen sogar noch sechs Dosen Bier. Hier konnte er es eine Weile aushalten. Er warf seinen Rucksack auf die Eckbank, streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sich auf das Bett fallen. Noch zwei, drei Tage, dann konnte er Nike sagen, dass er clean war.

»Du wirst sehen, Nike«, murmelte er. »Alles wird gut.«

Minuten später war er tief und fest eingeschlafen.

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Die Detonation ließ das alte Holzgebäude erbeben. Die Fensterscheiben klirrten, gleichzeitig begannen die Hunde draußen im Flur zu bellen. Felicitas Molin fuhr aus dem Tiefschlaf hoch, ihr Herz hämmerte, und sie wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Ein rötlicher Lichtschein fiel durch die Gardinen, die sich im Luftzug bauschten. Sie erkannte verschwommen die Digitalanzeige des DVD-Players unter dem Fernseher. 2:24. Erst dann fiel ihr ein, dass sie nicht in ihrer gemütlichen, sicheren Wohnung in Friedrichsdorf war, sondern im Haus ihrer Schwester. Mitten im Wald und völlig allein, kilometerweit entfernt von der nächsten menschlichen Behausung. Sie streckte die Hand aus. Statt eines vertrauten Körpers war da nur die Lehne des Sofas. Seit nunmehr neun Monaten, zwei Wochen und drei Tagen musste sie sich jedes Mal beim Aufwachen bewusst machen, dass auch Ehemann Nummer zwei aus ihrem Leben verschwunden war, und zwar auf äußerst schäbige Art und Weise. Genau genommen war er nämlich nicht einfach verschwunden, sondern hatte sie betrogen, gedemütigt und verlassen, nachdem er ihr Geld ausgegeben und dazu noch einen Riesenberg Schulden angehäuft hatte, für die sie nun geradestehen musste. Immer öfter dachte sie an ihren ersten Mann, mit dem sie fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen war, bevor sie ihn wegen dieses Bürschchens mit den treuen Hundeaugen und dem zugegeben äußerst appetitlichen Körper verlassen hatte. Bis heute fiel es ihr schwer zu begreifen, was geschehen war. Nichts war mehr übrig von ihrem Leben. Weil sie nicht mehr gewusst hatte, wo sie bleiben sollte, war sie schließlich hierher zu Manu und Jens gezogen, in diese grässliche alte Holzbude, die ein Eigenleben zu besitzen schien. Die Balken knackten und knarrten, der Wind heulte schaurig in den Kaminen, und in den Wänden glaubte sie permanent das Trippeln kleiner Pfoten zu hören. Die Nächte waren das Schlimmste. Am liebsten hätte Felicitas sich die Decke über den Kopf gezogen, den Knall und den seltsamen Lichtschein ignoriert und weitergeschlafen. Aber die Hunde bellten, als seien sie kurz davor, durchzudrehen.

»Was für ein blöder Mist!« Felicitas stemmte sich mühsam hoch und sackte wieder zurück. Sie war wieder auf der Couch eingeschlafen. Ihr Kopf dröhnte, das Zimmer drehte sich vor ihren Augen und ihre Zunge fühlte sich dick und pelzig an. Eine ganze Flasche Dornfelder und fünf Whiskey-Cola waren wohl ein bisschen viel gewesen, aber ohne die benebelnde Wirkung des Alkohols wäre sie gestern Abend wahrscheinlich vor Angst gestorben. Mühsam kam sie auf die Füße und schleppte sich zum Fenster. Sie schob die Gardine zur Seite, alles, was sie erkennen konnte, war ein diffuser Lichtschein drüben auf dem Campingplatz. Ohne Kontaktlinsen war sie blind wie ein Maulwurf. Auf dem Regal im Flur lag Jens’ Feldstecher, mit dem ihr Schwager im Sommer gerne die jungen Mädchen in ihren Bikinis beobachtete. Felicitas tastete sich hinaus in den Flur. Die Hunde hatten aufgehört zu bellen, hockten aber beide vor der Haustür und knurrten. Plötzlich huschte heller Lichtschein über die Wände. Motorengeräusch! Felicitas erstarrte für eine Sekunde vor Schreck. Doch das Auto fuhr vorbei, und sie entspannte sich wieder. Kein Einbrecher, der ihr nach dem Leben trachtete, nur irgendjemand, der um diese Uhrzeit mitten im Wald unterwegs war. Ein Liebespaar vielleicht, das ein abgeschiedenes Plätzchen gesucht und gefunden hatte.

Zurück im Wohnzimmer, gelang es ihr kaum, das Fernglas scharf zu stellen, so sehr zitterten ihre Hände. Dann sah sie es. Weiter hinten auf der großen Waldwiese, auf der die Wohnwagen standen, brannte es, und zwar heftig. Es würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Feuerwehr zu verständigen! Dummerweise hatte sie hier draußen null Handyempfang und das Festnetztelefon war vorne in Manus Büro. Just in dem Augenblick, als sie sich abwenden wollte, gab es auf dem Campingplatz eine zweite, noch heftigere Explosion. Eine grelle Stichflamme schoss in den schwarzen Nachthimmel, alle Fensterscheiben im Haus klirrten und die Hunde fingen wieder an zu bellen. Für ein paar Sekunden konnte Felicitas ganz deutlich die Umrisse eines Menschen vor dem hellorangefarbenen Feuerball erkennen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, und sie bebte am ganzen Körper, als sie nun hinaus in den Flur stürmte. Großer Gott! Da draußen war jemand, der die Wohnwagen anzündete! Sie traute sich nicht, das Licht einzuschalten. Erst gestern hatte sie in der Zeitung wieder von dem Feuerteufel gelesen, der seit Monaten hier in der Gegend sein Unwesen trieb und schon mindestens fünfzig Brände gelegt hatte.

Die Hunde bellten und jaulten vor der Tür des Windfangs wie rasend. Bear und Rocky waren Australian Cattle Dogs, furchtlose Tiere mit rötlich grauem Fell, hellen, wachsamen Augen und schneeweißen Zähnen. Sollte sie die zwei einfach nach draußen lassen? Was würde Manu wohl an ihrer Stelle tun? Ihre Schwester war immer pragmatischer und mutiger gewesen als sie, wahrscheinlich wäre sie direkt auf die Wiese marschiert, um den Kerl zur Rede zu stellen. Ach, verdammt, warum musste so etwas ausgerechnet jetzt passieren, wo ihre Schwester für sechs Wochen nach Australien geflogen und sie hier mutterseelenallein war? Felicitas schob die Tür zu dem kleinen Büro auf, tastete sich zum Schreibtisch vor und nahm das Telefon von der Ladestation. Mit zittrigen Fingern tippte sie die 112 und schloss die Tür hinter sich, sonst hätte sie bei dem Hundegebell keinen Ton verstanden. Ihr Blick wanderte zum Fenster und vor Schreck setzte ihr Herz für ein paar Schläge aus. Da draußen stand ein Mann direkt hinter der Scheibe und grinste sie an.

***

»Dad! Da-ad! Papa, wach auf!«

Ein helles Stimmchen und eine energische kleine Hand, die nachdrücklich an seiner Schulter rüttelte, katapultierten Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein unsanft vom Traum in die Realität eines viel zu frühen Morgens.

»Wie spät ist es?«, murmelte er und blinzelte in das grelle Licht der Deckenlampe.

»Zwei – Fünf – Eins«, erwiderte Sophia, die noch Schwierigkeiten mit dem Lesen der Uhrzeit hatte. »Dein Handy klingelt seit Zwei – Drei – Sieben. Da ruft einer mit einer unterdrückten Nummer an.«

Das klang vorwurfsvoll. Bodenstein zuckte vor Schreck zusammen, als direkt neben seinem Ohr eine dissonante Tonfolge losschrillte.

»Ich hab’s dir gleich mitgebracht, dann musst du nicht extra aufstehen.« Seine Tochter, sieben Jahre alt und hellwach, hielt ihm sein Smartphone entgegen. Anrufe mit unterdrückter Nummer konnten um diese Uhrzeit nur von Sophias Mutter kommen, wenn sie sich – wie es gerade der Fall war – in einem exotischen Land mehrere Zeitzonen entfernt aufhielt, oder vom KvD der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim. Bodenstein vermutete Letzteres und behielt recht. Auf einem Campingplatz mitten im Wald zwischen Königstein und Glashütten war ein Wohnwagen in Flammen aufgegangen, es hatte eine heftige Explosion gegeben, die man bis nach Königstein gehört hatte. Da ein Feuerteufel seit Monaten schon die ganze Region in Atem hielt und das K11 neben Verbrechen gegen das Leben auch für Brandsachen zwischen Main und Taunus zuständig war, hatte man ihn verständigt.

»Ich fahre gleich hin«, sagte Bodenstein und beendete das Gespräch. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schloss die Augen. Läge dieser Campingplatz nur zweihundertfünfzig Meter weiter westlich, hätte das Telefon bei seinem Kollegen vom Hochtaunuskreis geklingelt. So ein Pech. Heute Nacht hatte er Bereitschaftsdienst, obwohl Sophia bei ihm war. Der Dienstplan konnte nicht immer Rücksicht auf seine private Situation nehmen, besonders nicht, seitdem die Kleine beinahe fest bei ihm wohnte. Die Ausnahme war mehr oder weniger zur Regel geworden.

»Musst du weg?«, erkundigte sich Sophia.

»Hm, ja.«

»Kann ich mitkommen?«

Gute Frage. Er konnte ein siebenjähriges Kind unmöglich allein im Haus lassen. Es war mitten in der Nacht, viel zu früh, um Eltern von Schulkameradinnen aufzuwecken und Sophia bei ihnen abzuladen. Zu seinen eigenen Eltern zu fahren würde einen ziemlichen Umweg bedeuten, und es war nicht sicher, ob sie es überhaupt hören würden, wenn er bei ihnen an die Haustür klopfte. Eine Klingel gab es am Gutshaus noch immer nicht.

»Gibt es Tote?«

Sophia klang genau wie ihre Mutter, Bodensteins Exfrau, die er vor beinahe dreißig Jahren am Schauplatz eines Selbstmordes kennengelernt hatte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete er gähnend. »Es ist wahrscheinlich nur eine Brandstiftung.«

»Schade.« Sophia hüpfte auf das Fußende des Bettes. »Ich würde total gerne mal einen Toten sehen.«

»Wie bitte?« Bodenstein öffnete die Augen, richtete sich auf und musterte seine jüngste Tochter, die sich im Schneidersitz niedergelassen hatte und nachdenklich eine Strähne ihres dunklen Haares zwischen den Fingern zwirbelte.

»Na ja. Greta hat ihre tote Oma gesehen. Mit Blut und Gehirn und allem«, erwiderte Sophia. »Und ich bisher nur ein paar tote Tiere. Das ist voll ungerecht.«

»Du bist noch ein bisschen jung für den Anblick einer Leiche«, entgegnete Bodenstein trocken.

Karolines Tochter Greta war durch das Erlebnis vom Dezember vor zwei Jahren tief traumatisiert, doch offenbar hatte sie mit Sophia darüber gesprochen, und das konnte ein gutes Zeichen sein, denn sonst erwähnte sie den Tod ihrer Großmutter mit keinem Wort. Karoline hatte ihre Tochter damals sofort aus dem Internat geholt und das Mädchen von Kinderpsychologen betreuen lassen, ihr Exmann und sie hatten viel Zeit mit Greta verbracht, und Karoline, die selbst ein schweres Trauma erlitten hatte, reiste seitdem nur noch dann, wenn Greta bei ihrem Vater war. Die meiste Zeit arbeitete sie nun von zu Hause aus, um jederzeit für ihre Tochter da sein zu können.

Bodenstein schwang die Beine über den Bettrand. »Was mache ich jetzt mit dir?«

»Ich will mitkommen!« Sophia sprang mit einem Satz aus dem Bett, ihre Augen glänzten. »Bitte, Dad! Bitte, bitte, bitte!«

»Es ist drei Uhr morgens«, erinnerte er sie. »Du musst morgen in die Schule, und eigentlich solltest du noch etwas schlafen.«

»Ich bin total ausgeschlafen«, behauptete Sophia. »Und ich kann ja morgen Mittagschlaf machen, wenn ich aus der Betreuung komme. Bitte, Papi!«

Er hatte ohnehin keine andere Möglichkeit, als sie mitzunehmen. Cosima ließ die Kleine zwar schon gelegentlich für ein paar Stunden alleine in ihrer Wohnung, wenn sie irgendwohin musste, aber nicht nachts.

»Dann zieh dich an. Und nimm gleich deinen Ranzen mit.«

»Juhu!« Sophia machte einen Luftsprung und sauste aus dem Schlafzimmer. Bodenstein blickte ihr kopfschüttelnd nach, dann öffnete er den Kleiderschrank und zog einen warmen Pullover heraus. Er kannte den Campingplatz am Waldfreundehaus, oben auf der Billtalhöhe. Im Wald war es grundsätzlich ein paar Grad kühler als innerhalb einer Ortschaft, und Mitte Oktober konnte es im Taunus nachts schon empfindlich kalt werden.

***

Die Straßen lagen wie ausgestorben da, alle Häuser waren dunkel. Nur die Straßenlaternen warfen ein mattes orangefarbenes Licht auf die Hausfassaden und den Asphalt, der noch völlig trocken war.

Vor Tag und Tau, ging es Bodenstein durch den Kopf, als er in die Robert-Koch-Straße abbog, die das kleine Taunusörtchen Ruppertshain in zwei Hälften teilte. Unterhalb der Straße lag der alte Teil des Ortes mit seinen verwinkelten Gassen, oberhalb waren die Neubaugebiete in den letzten vierzig Jahren den steilen Hang empor gekrochen. Am Zauberberg, der ehemaligen Lungenheilstätte, setzte Bodenstein den Blinker und bog rechts in Richtung Königstein ab. Sogar für Zeitungsausträger war es noch zu früh. Wer jetzt unterwegs war, war per se verdächtig. Zu 70 Prozent wurden Verbrechen nachts verübt. Nicht ohne Grund fürchtete der Mensch die Dunkelheit.

Sophia redete wie ein Wasserfall, Bodenstein hörte nur mit einem Ohr zu und brummte hin und wieder zustimmend. Ihr Mitteilungsdrang war immens, und sie besaß die Eigenart, alles, was ihr gerade durch den Kopf ging, ungefiltert herauszuplappern. Im Licht der Scheinwerfer tauchte eine Hinweistafel auf.

»Schon 65Wildunfälle seit 2007«, las Sophia. »Vor zwei Wochen waren es erst 63. Wird das eigentlich immer automatisch geändert, Papa? So wie an einer Tankstelle?«

»Nein«, erwiderte Bodenstein. »Ich denke, dass der Förster die Zahlen aktualisiert.«

Für einen kurzen Moment herrschte Ruhe.

»Du, Papa? Was ist eigentlich ein Wildun-Fall?«

»Das heißt Wild-Unfall.« Bodenstein musste schmunzeln. »Wenn ein Auto mit einem Reh oder einem Wildschwein zusammenstößt, bezeichnet man das als Wild-Unfall.«

»Ach so.«

Nach ein paar Kilometern öffnete sich der Wald auf der rechten Seite. Die hohe Mauer der Ausbildungsstätte einer Großbank tauchte auf. Dahinter erstreckten sich die Lichter von Königstein bis hinab ins Tal. Über ihnen thronte majestätisch die hell erleuchtete Burgruine.

»Papa? Wusstest du, dass sich da mal einer erschossen hat?«

»Wo?«

»In der Gartenhütte von der KTC«, erwiderte Sophia. »Das hat der Opa erzählt. Aber das ist schon ganz lange her.«

»Hm«, murmelte Bodenstein nur und nahm sich vor, seinem Vater bei Gelegenheit ins Gewissen zu reden. Nur weil Sophia mit ihrer altklugen Art den Eindruck erweckte, älter zu sein, als sie war, so waren Geschichten über Selbstmorde definitiv ungeeignet für eine Siebenjährige mit einer so morbiden Phantasie, wie seine jüngste Tochter sie besaß.

Links ging es auf den Waldparkplatz, wo ein anderer Fall ihn vor Jahren zu einer Leiche in einem Ferrari geführt hatte. Nach zehn Jahren als Leiter des K11 der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim war es für Bodenstein kaum noch möglich, unbefangen durch die Gegend zu fahren. Erinnerungen an Schauplätze von Mord und Totschlag hatten in seinem Kopf neue Orientierungspunkte geschaffen. In seinem Beruf war das unvermeidlich, aber ein Kind in Sophias Alter sollte seine Heimat nicht als eine mit Leichen gespickte Landkarte wahrnehmen.

Durch die Nepomuk-Kurve fuhr er in den Ölmühlweg und dachte mit dem üblichen flauen Gefühl, das ihn jedes Mal auf dem Weg zu einem Verbrechensschauplatz beschlich, an das, was ihn wohl erwarten mochte. Die Feuerwehrleute befürchteten, im Wohnwagen könne sich jemand aufgehalten haben, als er in Flammen aufgegangen war, aber davon hatte er Sophia natürlich nichts erzählt. Brandleichen waren etwas Fürchterliches. In Bodensteins persönlicher Hitliste der schlimmsten Leichen standen sie ganz weit oben, zusammen mit solchen, die längere Zeit im Wasser gelegen hatten oder ein paar Tage warmen Temperaturen ausgesetzt waren und kaum noch etwas Menschliches hatten. Bislang hatte sich die mysteriöse Serie von Brandstiftungen auf unbewohnte Gartenhütten, Scheunen, Papiercontainer und Strohballenlager beschränkt. Nie war ein Mensch zu Schaden gekommen. Sollte sich das heute Nacht geändert haben?

Die Ampel an der B8-Kreuzung blinkte im Nachtmodus. Der Berufsverkehr ging frühestens in zwei Stunden los. Dann würde sich eine schier endlose Blechlawine durch das Nadelöhr des Königsteiner Kreisels in Richtung Frankfurt wälzen. Bodenstein bog nach links, Richtung Limburg, ab. Hoffentlich betraf dieser Brand tatsächlich nur den Wohnwagen, dann konnte er die Ermittlungen schnell an die Brandsachverständigen übergeben. Die Bundesstraße machte eine weite Links-, dann eine Rechtskurve. Schon von weitem sah Bodenstein das pulsierende Blaulicht eines Streifenwagens. Er stand an dem Waldweg, der zur Waldgaststätte auf der Billtalhöhe führte. Der uniformierte Beamte gehörte zu den Königsteiner Kollegen, erkannte ihn und ließ ihn mit einem Kopfnicken passieren.

Bodenstein folgte dem geschotterten Weg durch den Wald. Er konnte das Feuer riechen, bevor er die Lichtung erreicht hatte. Rauch hing zwischen den Bäumen und kroch durch die Lüftungsschlitze ins Innere des Autos. Dann sah er den Lichtschein durch die Stämme der Fichten. Auf dem Parkplatz standen mehrere Fahrzeuge, darunter ein Rettungswagen mit geöffneten Türen. Bodenstein parkte zwischen einem Streifenwagen und einem dunkelgrünen Jeep und wandte sich zu Sophia um, die bereits ihren Gurt gelöst hatte.

»Ich muss jetzt hier arbeiten«, sagte er zu seiner Tochter. »Und ich möchte, dass du solange im Auto bleibst, okay?«

»Och Menno! Wieso denn?« Sophia zog eine Flunsch.

»Weil ich das sage. Ich mache die Standheizung an und bitte einen Kollegen von der Streife, ein Auge auf dich zu haben.«

»Ich will aber das Feuer sehen! Bitte, Papi!«

»Nein.«

»Und was soll ich bitte schön hier machen?« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Ich langweile mich zu Tode!«

»Das war die Abmachung. Du hast doch deinen iPod dabei. Kann ich mich darauf verlassen, dass du hierbleibst und keinen Unsinn machst?«

»Und wenn ich Durst kriege? Oder aufs Klo muss?«

Bodensteins Geduldsfaden wurde dünner. »Dann sagst du einem der Polizisten Bescheid. Sie bleiben in der Nähe und schauen nach dir. Aber du steigst auf keinen Fall aus und läufst hier alleine herum. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Sophia bemerkte die Schärfe in seinem Ton.

»Klar.« Sie wich seinem Blick aus. Bodenstein hatte ein ungutes Gefühl. Die Chancen, dass Sophia tatsächlich im Auto blieb, lagen bei knapp fünf Prozent. Sie hielt sich an keine Regel, denn Cosima erlaubte ihr so gut wie alles, nur, um ihre Ruhe zu haben. Das führte dazu, dass Bodenstein in der Zeit, die Sophia bei ihm verbrachte, ständig Kämpfe auszufechten hatte. Egal, ob es um Tischmanieren, Schlafenszeiten, die Nutzung des iPods oder Fernsehsendungen ging, jedes Mal gab es eine Diskussion, die nicht selten mit Tränen und Wutanfällen endete.

***

Die Ausflugsgaststätte und das benachbarte Wohnhaus lagen dunkel und abweisend da, die Möbel des Biergartens waren schon weggeräumt. Selbst Optimisten rechneten im Oktober hier oben im Taunus nicht mehr mit Biergartenwetter. Bodenstein öffnete den Kofferraum und holte ein Paar Gummistiefel heraus. Die Mischung aus Löschwasser und Matsch wollte er seinen Schuhen nicht zumuten. Er stellte den Kragen seiner Jacke auf und blickte sich um. In dem grünen Jeep, hinter dessen Windschutzscheibe an einem Saugnapf ein Schild mit der Aufschrift »Forstschutz Hessenforst« baumelte, saß ein Hund, dessen Atem die Scheiben beschlagen ließ.

Im unteren Bereich der großen Lichtung, auf der etwa drei Dutzend Campingwagen standen, war die Hölle los. Mehrere Löschfahrzeuge parkten kreuz und quer. Dichter Qualm waberte über der Wiese, helles Scheinwerferlicht vermischte sich mit den Farben des Feuers zu einem Lachsrosa, vor dem sich die Feuerwehrleute wie schwarze Scherenschnitte bewegten. Bodenstein betrachtete das hektische Treiben mit wachsender Besorgnis. Der Brand war noch nicht unter Kontrolle, die Flammen hatten auf einige Fichten übergegriffen, die nun wie Fackeln brannten. In den letzten Wochen hatte es kaum geregnet, der Wald war sehr trocken, und die Gefahr, dass sich das Feuer zu einem Waldbrand auswuchs, war groß. Mit einem Knall, der das Brummen der Aggregate übertönte, barst der Stamm einer Fichte und versprühte einen Funkenregen. Die ganze Szenerie hatte etwas Dämonisches, wie in einem Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren. Der beißende Brandgeruch trieb Bodenstein die Tränen in die Augen. Verbrannter Kunststoff und Benzin. So rochen brennende Tankstellen.

An der Einfahrt zum Campingplatz standen mehrere Leute und blickten zum Feuer hinüber. Ein Feuerwehrmann sprach mit einem Mann in grünem Loden. Wieland Kapteina war der Revierförster, ein alter Freund Bodensteins seit Kindertagen.

Der Feuerwehrmann bemerkte ihn und kam auf ihn zu. Auch er war Bodenstein gut bekannt. Immer wieder traf man sich an Schauplätzen ähnlich unerfreulicher Ereignisse wie diesem.

»Guten Morgen«, grüßte Bodenstein ihn.

»Morgen, Herr Hauptkommissar«, erwiderte Jan Kwasniok, der Wehrführer der Königsteiner Feuerwehr.

»Was ist passiert?«

»Einer der Wohnwagen und ein in der Nähe abgestelltes Auto brennen«, erklärte Kwasniok. »Außerdem hat das Feuer auf ein paar Bäume übergegriffen.«

»Der Feuerteufel mal wieder?«

»Bisher war er nur in Kelkheim und Liederbach aktiv.« Kwasniok schürzte nachdenklich die Lippen. »Viel kann ich noch nicht sagen, aber hier wurde mit ziemlicher Sicherheit Brandbeschleuniger benutzt. Und im Feuer dürften mehrere Flaschen mit Campinggas explodiert sein, das würde zumindest die Heftigkeit und die extreme Hitzeentwicklung des Feuers erklären.«

»Personenschaden?«

»Die Befürchtung liegt nahe, wegen des Autos. Aber an den Wohnwagen kommen wir noch nicht ran.«

»Wer hat den Brand gemeldet?«

»Die Schwester der Pächterin.« Der Wehrführer nickte in Richtung einer Frau, die auf zwei Polizisten einredete. »Der Knall der Explosion hat sie aufgeweckt. Dann hat sie das Feuer gesehen und gleich angerufen.«

Das Funkgerät des Einsatzleiters rauschte und knackte.

»Ich muss wieder«, entschuldigte er sich und setzte seinen Helm auf. »Bis später.«

Zwei weitere Feuerwehrautos näherten sich mit blinkendem Blaulicht durch den Wald, rumpelten über den Parkplatz und fuhren auf die Wiese. Bodenstein bat die Kollegen von der Schutzpolizei, ein Auge auf Sophia zu haben, dann wandte er sich der Frau zu, die den Brand gemeldet hatte. Er schätzte sie auf irgendetwas zwischen Ende vierzig und Mitte fünfzig, und sie war so mager, dass sie fast anorektisch wirkte. Ein verlebtes Gesicht, schmale Lippen, eine zerzauste Dauerwelle. Die blonde Farbe war an den Ansätzen schon ein paar Zentimeter herausgewachsen. Dicke Brillengläser ließen ihre rotgeränderten Augen unnatürlich groß erscheinen. Als sie den Mund öffnete und sich ihm als Felicitas Molin vorstellte, verschlug es Bodenstein für einen Moment den Atem. Eine solch massive Alkoholfahne hatte er selten gerochen.

»Haben Sie etwas getrunken?«, erkundigte er sich.

»Oh Gott, ja«, gestand sie ihm, hielt die Hand vor den Mund und kicherte hysterisch. »Ich hab hier draußen eine Todesangst. Nach einer Flasche Wein kann ich wenigstens einschlafen.«

»Das klingt nicht so, als ob Sie hier wohnen würden.«

»Momentan schon. Aber normalerweise bin ich nicht ganz alleine hier draußen. Meine Schwester und ihr Mann haben die Gaststätte gepachtet.« Mit einer vagen Handbewegung wies Felicitas Molin auf die Gebäude, die sich an den leeren Biergarten anschlossen. »Sie sind zum ersten Mal seit fünf Jahren in den Urlaub gefahren, und ich passe solange auf alles auf. Ich arbeite freiberuflich, deshalb ist das kein Problem.«

»Ist außer Ihnen noch jemand dauerhaft auf dem Gelände?«

»Nein, ich glaube nicht. Die Saison ist beendet und dann kommt kaum noch jemand hier raus.«

»Was haben Sie beobachtet?« Bodenstein hegte wenig Hoffnung, dass Felicitas Molin in ihrem Zustand irgendwelche hilfreichen Beobachtungen gemacht haben könnte, aber es konnte ja sein.

»Ich habe ein Auto gehört«, antwortete sie zögernd. »Und ich meine, jemanden beim Feuer gesehen zu haben. Aber ich bin mir nicht sicher.«

Ihr Blick schnellte zu den beiden Polizeibeamten hinüber.

»Da … da war ein Mann, der zum Fenster reingeguckt hat«, flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Aha. Wo?«

»Am Bürofenster. Das liegt auf der anderen Seite des Hauses, Richtung Straße. Ich habe die Feuerwehr angerufen und da … da glotzte er mich durchs Fenster an. Ich hätte mich fast zu Tode erschreckt!« Frau Molin streckte eine Hand aus. »Schauen Sie, wie ich immer noch zittere!«

»Konnten Sie sehen, wohin der Mann verschwunden ist?«, wollte Bodenstein wissen.

»Nein«, flüsterte die Frau. »Und das macht mir Angst.«

»Haben meine Kollegen schon nachgeschaut?«

»Ich … ich habe ihnen nichts davon erzählt.«

Bodenstein bat einen der Streifenbeamten, auf der rückwärtigen Seite des Wohnhauses nach Fußspuren zu schauen.

»Wem gehört das ganze Gelände hier eigentlich?«, fragte er Frau Molin, als der Kollege gegangen war.

»Einem Verein. ›Die Waldfreunde Hessens‹. Die Wohnwagen gehören Vereinsmitgliedern, und in der Holzbaracke da drüben gibt es Zimmer, die gelegentlich an Wanderer vermietet werden. Die Campingsaison ist seit Ende September vorbei, und das Gästehaus ist auch geschlossen.«

»Wissen Sie, wem der Wohnwagen gehört, der in Flammen aufgegangen ist?«

»Nein. Tut mir leid.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe aber irgendwo eine Telefonnummer vom Verein. Die kann ich Ihnen raussuchen.«

»Das wäre gut.«

Der jüngere der beiden Polizisten näherte sich.

»Herr Hauptkommissar, ich soll Ihnen von Ihrer Tochter ausrichten, dass sie aufs Klo muss und am Verdursten ist«, sagte er und grinste.

»Danke. Ich kümmere mich darum.« Bodenstein nickte resigniert, wandte sich um und winkte Sophia, die sofort die Tür aufriss und aus dem Auto kletterte.

»Sie nehmen Ihre Tochter mit zu einem Einsatz?« Frau Molin schürzte missbilligend die Lippen. »Und das zu dieser Uhrzeit?«

»Glauben Sie mir, das mache ich nicht gerne«, entgegnete Bodenstein kühl. »Allerdings kann ich ein siebenjähriges Kind wohl kaum alleine zu Hause lassen.«

»In sechsundsechzig Tagen werde ich acht«, verkündete Sophia mit Nachdruck. »Normalerweise darf ich nicht mit Papa zur Arbeit. Wegen den ganzen Leichen und so. Aber meine Mama ist gerade in Russland mit ihrem neuen …«

»Gibt es hier irgendwo eine Toilette?«, unterbrach Bodenstein seine Tochter hastig, bevor sie dieser Fremden noch mehr Familieninterna auf die Nase binden konnte.

»Ja, natürlich. Drüben, bei der Gaststätte.« Felicitas Molin starrte ihn aus wässrigen Augen an. Vorwurfsvoll oder mitleidig? Oder eher … sensationslüstern? Hauptkommissar schleppt seine siebenjährige Tochter mitten in der Nacht zu Verbrechensschauplatz mit. Bodenstein konnte die Schlagzeile schon vor seinem inneren Auge sehen und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht kroch.

»Komm, Sophia«, sagte er knapp.

»Ich kann ihr die Toilette zeigen«, bot Frau Molin eilfertig an. »Und die Kleine kann gerne bei mir im Haus bleiben, bis Sie hier fertig sind. Drinnen ist es wärmer als hier.«

Die Vorstellung, seine kleine Tochter in der Obhut einer alkoholisierten Unbekannten zu lassen, behagte Bodenstein ganz und gar nicht. Lieber würde er Wieland bitten, nach Sophia zu sehen. Mit ihm musste er ohnehin später noch sprechen.

»Vielen Dank, das ist nicht nötig«, sagte er deshalb höflich.

»Bitte sehr.« Das klang schnippisch. »Wenn Sie meinen, dass es besser ist, ein kleines Kind hier alleine herumlaufen zu lassen.«

»Ich bin nicht klein!«, protestierte Sophia.

»Sie läuft nicht alleine herum«, entgegnete Bodenstein schärfer als beabsichtigt.

»Schon klar.« Frau Molin stieß ein höhnisches Schnauben aus, dann zog sie einen Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Daunenjacke und drehte sich um. Er folgte ihr mit Sophia an der Hand über die Terrasse des Biergartens zu den Toiletten. Ein Außenstrahler am Dachfirst der Gaststätte sprang an. Bodenstein knipste das Licht in der Damentoilette an und wartete draußen. Es war höchste Zeit, mit Cosima zu sprechen, auch wenn er dazu nicht die geringste Lust verspürte. Aber es konnte nicht sein, dass sie Sophia bei ihm ablud, wann immer es ihr passte. Eine ganze Weile hatte es recht gut geklappt mit den Betreuungszeiten, aber seitdem Cosima im vergangenen Jahr erfahren hatte, dass ihre Mutter ihr Testament geändert und ihm, Bodenstein, ihre Villa in Bad Homburg per Schenkung vermacht hatte, hielt sie sich an keine Absprachen mehr.

»Herr Hauptkommissar?« Der Beamte, der nach Spuren schauen sollte, bog um die Hausecke. »Ich konnte den Spanner dingfest machen.« Er präsentierte ein Windlicht, das einem Halloween-Kürbis nachempfunden war, sichtlich darum bemüht, ernst zu bleiben. »Könnte es sein, dass es dieser Herr war, der Sie angestarrt hat, gnädige Frau?«

Bodenstein lächelte amüsiert.

»Sie machen sich über mich lustig!«, zischte Felicitas Molin gekränkt. »Das ist ja wohl das Allerletzte!«

Sie wandte sich ab und schwankte zurück zum Haus.

»Danke für Ihre Hilfe!«, rief Bodenstein ihr nach. »Ich habe später noch ein paar Fragen an Sie.«

»Sie wissen ja, wo Sie mich finden«, schnappte die Frau und verschwand in der Dunkelheit.

»Ein Kürbis!«, kicherte der Streifenbeamte und stellte das Windlicht auf die Waschbetonplatten. »Na ja, so, wie die Dame nach Alkohol riecht, sieht sie wahrscheinlich auch weiße Mäuse.«

***

Der Morgen graute schon, als das Feuer endlich gelöscht war. Über der Waldwiese hing der Qualm wie Morgennebel und stieg nur langsam in den von purpurfarbenen Streifen durchzogenen Himmel. Die Feuerwehrleute rollten die Schläuche ein, die ersten Fahrzeuge verließen die Wiese. Von dem Wohnwagen mit Vorzelt war nur noch ein geschwärztes Gerippe übrig, die Außenhaut aus Aluminium, die Styroporisolierung und die Innenverkleidung aus Holz waren restlos verbrannt. Das Löschwasser und die Hitze des Feuers hatten die Fläche ringsum in einen Kreis aus Matsch und Asche verwandelt. Daneben schwelte das Wrack eines Autos. Fabrikat und Typ des Fahrzeugs waren nicht mehr zu erkennen, selbst die Nummernschilder waren in der Flammenhölle geschmolzen. Zur Erleichterung des Försters war es der Feuerwehr jedoch gelungen, eine Ausbreitung des Feuers in den Wald zu verhindern, lediglich fünf Fichten, die im Halbkreis um den Wohnwagen herumgestanden hatten, waren den Flammen zum Opfer gefallen. Um kurz vor sechs Uhr morgens begannen zwei Feuerwehrleute damit, die Überreste des Wohnwagens zu inspizieren und nach letzten Glutnestern zu schauen.

Bodenstein stand ein paar Meter entfernt und sah ihnen schweigend zu, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. Immer wieder gingen Küchen, Wohnzimmer, Garagen und auch Wohnwagen in Flammen auf, weil Menschen leichtfertig mit Benzin und Gasflaschen hantierten. In den meisten Fällen konnten die Leute sich retten. Sein Bauchgefühl sagte ihm zwar, dass es hier nicht so war, dennoch hoffte Bodenstein inständig, in seinen letzten zweieinhalb Monaten als Leiter des K11 von einer Ermittlung wegen Brandstiftung mit Personenschaden verschont zu bleiben.

Zum Jahresende würde er für ein Jahr aus dem Berufsleben aussteigen. Die Entscheidung für ein Sabbatical hatte er sich lange und gründlich überlegt, bevor er Dr. Nicola Engel, seine Chefin, von seinem Ansinnen unterrichtet hatte. Sein Beruf war für ihn immer weitaus mehr gewesen als nur ein Job zum Geldverdienen. Er war mit Leib und Seele Polizist und Ermittler, nach einer Karriere beim LKA oder im Polizeipräsidium hatte er sich nie gesehnt. Doch in den letzten Jahren hatte sich etwas verändert. Dinge, die er früher problemlos auf Distanz hatte halten können, berührten ihn plötzlich stärker und ließen sich nicht mehr abschütteln. Es gelang ihm oft nicht, die Arbeit nach Feierabend auszublenden. Die Fälle verfolgten ihn. Er war Polizist geworden, weil er an Gerechtigkeit geglaubt hatte, an Regeln und Werte. An Gut und Böse. Und dieser Glaube war ihm abhandengekommen, genauso wie die Jagdlust, die ihn früher erfüllt und angespornt hatte. Er hatte es satt, von Menschen belogen und für dumm verkauft zu werden. Die endlosen, ermüdenden Stunden, in denen er jemandem gegenübersaß, von dem er wusste, dass er ihm etwas verschwieg, waren vergeudete Lebenszeit. Und wenn man endlich alle nötigen Indizien und Beweise für eine Verhaftung zusammenhatte, tauchte ein cleverer Anwalt auf, und schon wurden aus lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung fünfzehn Jahre oder eine Einweisung in die Psychiatrie. Mit einer günstigen Prognose spazierte der Täter irgendwann wieder frei herum, aber sein Opfer wurde nicht mehr lebendig, und die Kollateralschäden, die traumatisierten Angehörigen, schienen Gerichte, Gutachter und Staatsanwälte zunehmend weniger zu interessieren. Das war nicht mehr das, was Bodenstein unter Gerechtigkeit verstand.

Der Fall, bei dem er Karoline Albrecht vor zwei Jahren kennengelernt hatte, hatte ihm endgültig den Rest gegeben. Es war ihnen nicht rechtzeitig gelungen, diesem Psychopathen das Handwerk zu legen. Als sie ihm letztendlich auf die Schliche gekommen waren, war es ein bitterer Sieg gewesen, denn zu viele Menschen hatten sterben müssen. Das überwältigende Gefühl der Machtlosigkeit und das unbefriedigende Ende des Falles hatten aus dem vagen Unbehagen die Erkenntnis werden lassen, dass er etwas Grundsätzliches in seinem Leben verändern musste. Ein weiterer Grund, weshalb er ein Jahr pausieren wollte, war Karoline. Er wollte Zeit für sie haben, denn sie war ihm wichtig. Ihre Beziehung, die sich behutsam entwickelt hatte, machte seit Monaten keinerlei Fortschritte mehr, und er musste ergründen, woran das lag.

Seine Chefin war natürlich alles andere als begeistert gewesen, hatte die endgültige Entscheidung darüber aber nach Wiesbaden delegiert, und so hatte Bodenstein vor ein paar Wochen ein Vier-Augen-Gespräch mit dem neuen Polizeipräsidenten geführt, den er aus seiner Zeit bei der Frankfurter Kripo gut kannte. Im Unterschied zu den meisten seiner Amtsvorgänger war er kein Verwaltungskarrierist, sondern hatte selbst lange Jahre an vorderster Front Dienst getan: als SEK’ler, beim K11 in Frankfurt, wo er unter anderem die Ermittlungen in einigen der spektakulärsten Mord- und Entführungsfällen der letzten Jahre geleitet hatte. Er hatte Bodensteins Wunsch nach einer Auszeit verstanden und akzeptiert. Nicola Engel hatte die Nachricht mit einem Schulterzucken aufgenommen und gesagt, Bodenstein könne nicht erwarten, automatisch wieder Leiter des K11 zu werden, wenn er aus seinem »Urlaub« zurückkehrte, aber das hatte ihn kalt gelassen. Eine endgültige Entscheidung über seine Nachfolge war an höchster Stelle noch nicht gefallen, doch er ging fest davon aus, dass man seiner Kollegin Pia Sander die Leitung der Abteilung übertragen würde. In der Vergangenheit hatte sie oft genug bewiesen, dass sie absolut in der Lage war, seinen Job zu machen.

»Herr Hauptkommissar?« Die Stimme des Wehrführers riss Bodenstein aus seinen Gedanken. »Wir haben eine Leiche gefunden. Am besten, Sie schauen sich das mal selbst an.«

Der winzige Rest an Hoffnung war dahin. Leider hatte Bodenstein genau das befürchtet, irgendwem musste schließlich das Auto gehören, das direkt neben dem Wohnwagen abgestellt worden war. Als er Kwasniok durch die klebrige Asche folgte, spürte er die Wärme unter den Sohlen seiner Gummistiefel. Im Laufe der Jahre hatte er viele Leichen gesehen, das gehörte zu seiner Arbeit, aber an den Anblick gewöhnte er sich nie. Auch diesmal schauderte er. Vor wenigen Stunden war dieses verkohlte Etwas ein lebendiger, atmender und fühlender Mensch gewesen. Dass es sich bei dem Feuer um Brandstiftung gehandelt hatte, stand für die Feuerwehr mittlerweile außer Frage. Was zu klären blieb, war, ob der Tod des Opfers bereits vor dem Ausbruch des Brandes eingetreten war oder erst in dessen Verlauf.

Bodenstein zückte sein Handy, um erst dem KvD und dann Pia die Situation zu schildern.

»Am besten rufe ich Henning an«, antwortete Pia sofort. »Er soll selbst kommen, bevor er sich hinterher beschwert. Wer kümmert sich um die Spusi?«

»Der KvD weiß Bescheid.«

»Okay, ich fahre gleich los.«

Sie legte auf, und Bodenstein steckte sein Handy weg.

»Ich will Ihnen etwas zeigen.« Der Einsatzleiter der Feuerwehr hatte gewartet, bis Bodenstein das Telefonat beendet hatte, nun führte er ihn in einem Bogen um die Überreste des Wohnwagens herum. Er deutete auf mehrere halbrunde Metallstücke inmitten des Ascheberges, geschwärzt und verkohlt.

»Das sind die Reste von Propangasflaschen«, erklärte Kwasniok.

»Aha.« Bodenstein wusste nicht ganz, worauf der Einsatzleiter hinauswollte. Er war selbst kein Camper, aber es war allgemein bekannt, dass Wohnwagen mit Gas beheizt wurden und auch der Herd mit Campinggas funktionierte.

»Eine Propangasflasche kann im Prinzip nicht explodieren«, fuhr Kwasniok fort. »Ohne Sauerstoff brennt Propangas nicht. Und diese Flaschen sind so konzipiert, dass bei Wärmeentwicklung, wenn der Flascheninnendruck steigt, das Druckentlastungsventil aufgeht.«

»Und dann explodiert es.«

»Nein. Das Gas brennt nur ab. Wie eine Art Flammenwerfer. Gefährlich wird es erst dann, wenn das Gas ausströmt und nicht gleich entzündet wird, also wenn sich ein Raum mit Luft-Gas-Gemisch füllt. Dann reicht ein Funke, und alles geht in die Luft.«

Bodenstein nickte.

»Die Flaschen waren offenbar rings um das Vorzelt platziert«, sagte der Einsatzleiter. »Es ist nur eine Vermutung, aber ich könnte mir Folgendes vorstellen: Jemand dreht die Druckventile der Flaschen auf und sorgt dafür, dass der Inhalt der Flaschen in das geschlossene Vorzelt strömt.«

Er stapfte zurück zur Vorderseite des zerstörten Wohnwagens und deutete auf eine verkohlte Spur im Gras, die nun im heller werdenden Zwielicht deutlich zu erkennen war.

»Dann legt er eine Art Zündschnur aus Benzin.« Kwasniok ging an der Spur entlang, und Bodenstein folgte ihm. Der aufgeweichte Boden quatschte unter den Sohlen seiner Gummistiefel. »Ungefähr dreißig Meter lang. Dann muss er nur noch ein Streichholz an die Benzinspur halten, und – peng! – alles fliegt in die Luft.«

»Klingt plausibel.« Bodenstein fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das unrasierte Kinn.

»Hier war ein Brandstifter am Werk, der sich vorher einen genauen Plan zurechtgelegt hat«, behauptete Kwasniok. »Und ich denke nicht, dass das der Feuerteufel aus Kelkheim war.«

»Danke, Herr Kwasniok. Meine Kollegen von der Brandermittlung werden später noch mal mit Ihnen sprechen.«

»Alles klar. Ein paar meiner Leute bleiben hier und überwachen die Brandstelle. Sie können später bei der Bergung der Leiche helfen.« Kwasniok tippte sich grüßend mit dem Zeigefinger an die Schläfe und ging zu seiner Truppe hinüber.

Bodenstein blickte sich um. Die Grasnarbe der Waldwiese war von den Reifen der schweren Löschfahrzeuge zerwühlt. Löschwasser und Flammen hatten die Brandstelle, die sich durch das Auffinden einer Leiche in einen Tatort verwandelt hatte, zu einem Alptraum für die Techniker der Spurensicherung gemacht. Die Kollegen Kröger und Becht, der Brandspezialist vom K10, würden not amused sein, aber das ließ sich nicht ändern. Auf dem Weg zu seinem Auto rekapitulierte Bodenstein, was er bisher wusste. Irgendetwas konnte mit der zeitlichen Abfolge dessen, was diese Frau Molin ihm erzählt hatte, nicht ganz stimmen. Angeblich war sie von einer Explosion aufgewacht. Dann wollte sie das Motorengeräusch eines wegfahrenden Autos gehört haben, und erst danach, bei einer zweiten Explosion, hatte sie die Gestalt eines Menschen vor den Flammen beobachtet. Das ergab keinen Sinn. Es sei denn, der Brandstifter war nicht der Einzige, der hier in der vergangenen Nacht unterwegs gewesen war.

***

Nachdem die Sonne gegen sechs Uhr mit einem spektakulären Morgenrot den Tag angekündigt hatte, war sie kaum eine Stunde später hinter einer dicken grauen Wolkenschicht verschwunden und schien dort auch für den Rest des Tages bleiben zu wollen. Es nieselte leicht, als Kriminalhauptkommissarin Pia Sander auf dem Parkplatz des Waldfreundehauses aus dem Auto stieg. So weit oben im Taunus gab es keinen lichten Laubwald mehr, nur noch Nadelbäume. Hohe Fichten, Tannen und Kiefern drängten sich um die Lichtung und bildeten eine undurchdringliche dunkle Wand in der grauen Düsternis. Die Ausflugsgaststätte und die Nebengebäude aus verwittertem Holz machten auch keinen besonders einladenden Eindruck.

Pia blickte sich um. Bodensteins Privatauto stand zwischen einem Streifenwagen und einem grünen Jeep von der Forstaufsicht, weit und breit war jedoch keine Menschenseele zu sehen. Obwohl der Brand schon seit einer Weile gelöscht war, roch es noch immer intensiv nach Rauch. Weiter hinten auf der Waldwiese, die weiträumig mit rotweißem Flatterband abgesperrt worden war, stand ein Löschfahrzeug der Feuerwehr in der Nähe des abgebrannten Wohnwagens.

»Seltsam. Wo sind die alle?« Pia angelte ihre Daunenweste von der Rückbank und schlüpfte hinein. Dann nahm sie ihr Handy und rief die Anrufliste auf. Sie tippte auf Bodensteins Nummer, aber eine Verbindung kam nicht zustande. Kein Empfang. Pia blickte in das Auto ihres Chefs, dann in den Streifenwagen.

»Hallo? Was machen Sie denn da?«, fragte jemand dicht hinter ihr, und Pia fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand eine magere Frau mit einem verhärmten Gesicht und einer herausgewachsenen Dauerwelle und starrte sie misstrauisch an. Die dicken Brillengläser verliehen der Frau das Aussehen einer zerrupften Eule.

»Ich bin Kriminalhauptkommissarin Sander.« Pia zückte ihren Ausweis. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

»Ich wohne hier, wenn’s recht ist«, entgegnete die Frau mit einem giftigen Unterton. Sie schnappte sich Pias Ausweis und prüfte ihn so eingehend, als ob sie bei der Einreisekontrolle an einem amerikanischen Flughafen arbeiten würde. »Meine Schwester ist die Pächterin vom Waldfreundehaus. Ich habe heute Nacht die Feuerwehr angerufen.«

Dann fischte sie einen Zettel aus der Tasche ihrer abgetragenen Jeansjacke mit einem Teddykragen, der irgendwann einmal weiß gewesen sein musste.

»Dieser Kommissar wollte von mir eine Telefonnummer haben.« Sie hielt Pia den Zettel hin. »Ich habe sie ihm aufgeschrieben.«

»Danke.«

Der Geruch nach Alkohol, Knoblauch und Mottenpulver, den die Frau ausdünstete, war überwältigend, doch Pia verzog keine Miene.

»Haben Sie meinen Chef zufällig irgendwo gesehen? Ich habe hier leider keinen Handyempfang.«

»Ach, das ist Ihr Chef. Na, herzlichen Glückwunsch.« Die Eule verzog ihre Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln. »Dem ist wohl sein Kind abhandengekommen. Ist ja auch eine ziemlich bescheuerte Idee, ein kleines Mädchen nachts hierher mitzunehmen und unbeaufsichtigt herumlaufen zu lassen.«

Die freundliche Unvoreingenommenheit, die Pia normalerweise jedem Fremden entgegenzubringen versuchte, verwandelte sich blitzartig in Abneigung.

»Ich hatte ihm angeboten, auf die Kleine aufzupassen, aber das wollte er ja nicht«, sagte die Eule schulterzuckend. »Lieber hat er sein Kind bei der Kälte allein im Auto sitzen lassen. Können Sie sich so etwas vorstellen?«

Pia ging es entschieden gegen den Strich, wie abfällig diese Person über ihren Chef sprach.

»Nein, das kann ich nicht«, entgegnete sie deshalb frostig.

»Schon klar.« Der Tonfall war verächtlich. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.«

Da platzte Pia der Kragen.

»Ich würde mein Kind auch nicht bei einer Frau lassen wollen, die wie ein Schnapsladen riecht«, entgegnete sie scharf.

»Was fällt Ihnen ein?« Die Frau fixierte sie wütend aus zusammengekniffenen Augen. »Was wissen Sie denn wohl über mich?«

»Wahrscheinlich ungefähr so viel, wie Sie über meinen Chef wissen«, versetzte Pia kühl. »Man sollte nicht vorschnell Urteile über Menschen fällen, die man überhaupt nicht kennt, Frau …«

»Molin. Felicitas Molin. Ich schreibe übrigens für verschiedene Zeitungen.« In den Augen der Frau funkelte schiere Boshaftigkeit. »Ein Kommissar, der sein Kind nachts mit zu Ermittlungen nimmt, wäre sicherlich einen Bericht wert.«

»Na, dann viel Spaß beim Schreiben.« Pia schüttelte den Kopf. »Passen Sie nur auf, dass Sie sich keine Verleumdungsklage einhandeln.«

Die Eule brabbelte irgendetwas von »Pressefreiheit« und »Informationsauftrag«, aber Pia ließ sie einfach stehen und machte sich auf den Weg zur Brandstelle. Es war ein paar Jahre her, seitdem sie einmal mit Christoph in dem Ausflugslokal hier oben zum Essen gewesen war. Den Campingplatz hatte sie damals gar nicht wahrgenommen. Rings um die Waldwiese waren etwa vierzig Wohnwagen abgestellt, die meisten von ihnen wirkten im grauen Zwielicht trostlos und vernachlässigt. Manche standen zum Schutz vor den Einflüssen der Witterung unter ausgeblichenen Zeltdächern, andere versteckten sich hinter von Moos und Flechten überzogenen Holzpalisaden. Es wirkte nicht so, als ob sie jemandem am Herzen lägen.

Gerade als Pia die Überreste des Wohnwagens erreicht hatte, hinter dem die geschwärzten Stämme von fünf Fichten wie Finger einer Hand aus der Asche ragten, wurden am Waldrand Stimmen laut. Drei Feuerwehrleute und zwei Kollegen von der Schutzpolizei tauchten aus dem Unterholz auf, gefolgt von einem in Jägergrün gekleideten Mann und Bodenstein, der seine Tochter hinter sich her zog. Ihr wütendes Protestgeschrei überhörte er mit stoischer Miene. Nicht zum ersten Mal, seitdem Pia die jüngere Tochter ihres Chefs kannte, bedauerte sie ihn aufrichtig. Das Kind hatte sich zu einer echten Nervensäge entwickelt.

»Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragte sie nach einer kurzen Begrüßung. »Ich hätte das hier übernommen.«

»Du bist in der letzten Zeit schon oft genug für mich eingesprungen«, entgegnete Bodenstein und wandte sich an Sophia. »Du bleibst jetzt hier in der Nähe, verstanden? Ich fahre dich gleich in die Schule.«

»Aber ich will …«, begann Sophia mit erhobener Stimme.

»Schluss jetzt«, schnitt Bodenstein ihr barsch das Wort ab. »Ich will keinen Mucks mehr von dir hören.«

Sophia stampfte wütend mit dem Fuß auf und brach daraufhin in lautes Geheul aus.

»Was habe ich gerade gesagt?« Bodenstein sprach leise und drohend. »Das war das allerletzte Mal, dass ich dich irgendwohin mitgenommen habe.«

»Aber ich hab mir weh geta-han! Aua!«, jammerte das Kind und setzte sich heulend ins nasse Gras. »Ich glaub, mein Fuß ist gebrochen!«

Bodenstein ignorierte das Theater seiner Tochter und stellte Pia Wieland Kapteina vor, den Förster, der für diesen Teil des Taunuswaldes zuständig war. Er war groß und hager, hatte ein kantiges Gesicht mit tiefen Nasolabialfalten, melancholische dunkle Augen und einen grauen Haarkranz.

»Die Schwester der Pächterin, eine Frau Molin, will eine Person gesehen haben, als das Feuer schon brannte und nachdem sie ein Auto wegfahren hörte«, schloss Bodenstein seine knappe Zusammenfassung der Ereignisse. »Wir haben Blutspuren gefunden, die in den Wald führen. Möglicherweise stammen sie vom Täter oder dieser dritten Person.«

»Dann sollten wir einen Suchhund anfordern.« Pia ließ ihren Wortwechsel mit der Eule unerwähnt. »Vielleicht befindet sich derjenige noch in der Nähe, oder er hat eine Spur hinterlassen, die uns weiterbringt.«

Zwei Fahrzeuge holperten über die Wiese: der blaue VW-Bus der Spurensicherung, gefolgt vom Transporter der Brandermittler. Sie stoppten etwa fünfzig Meter entfernt. Bodenstein sah auf seine Uhr.

»Ich muss Sophia in die Schule bringen«, sagte er stirnrunzelnd. Ihm war nicht wohl dabei, jetzt, wo die Ermittlungen ins Rollen kamen, wegfahren zu müssen, das war ihm anzusehen.

»Fahr nur«, erwiderte Pia. »Ich kümmere mich hier um alles.«

»Danke.« Bodenstein stieß einen Seufzer aus. »Ich werde eine Lösung für die nächsten Tage finden. Leider ist es nicht so einfach, Sophia irgendwo unterzubringen.«

»Mach dir keinen Stress. Ich bin ja hier.« Pia wusste über die familiäre Situation ihres Chefs Bescheid und auch darüber, dass seine Exfrau immer häufiger Ausreden fand, um sich nicht um ihre jüngste Tochter kümmern zu müssen. Bodenstein hatte schon seine älteren Kinder mehr oder weniger alleine großgezogen, weil Cosima von Bodenstein oft in ferne Länder gereist war, um Dokumentarfilme zu drehen. Seine Beziehung zu seiner Jugendliebe, der Tierärztin Dr. Inka Hansen, war Pias Meinung nach nicht zuletzt an Sophia gescheitert. Und ob Karoline Albrecht, Bodensteins neue Lebensgefährtin, die Nervenstärke besaß, das anstrengende Kind und dessen unzuverlässige Mutter zu ertragen, musste sich erst noch zeigen.

»Kann ich irgendetwas tun?«, erkundigte sich der Förster mit dem Basset-Gesicht, als Bodenstein mit seiner Tochter Richtung Parkplatz abgezogen war.

»Kennen Sie die Leute, denen die Wohnwagen gehören?«

»Leider weder Namen und Adressen«, bedauerte Wieland Kapteina. »Außer von der Pächterin und ihrem Mann ist mir nur der eine oder andere Spitzname bekannt.«

»Hm.« Pia schob die Hände in die Taschen ihrer Daunenweste und berührte dabei den Zettel, den ihr die Eule eben in die Hand gedrückt hatte.

»Entschuldigen Sie mich. Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu dem Förster, dann spurtete sie hinter ihrem Chef her, der von Kröger aufgehalten worden war. Sie begrüßte den Leiter des Erkennungsdienstes der RKI Hofheim und die anderen Kollegen, die gerade damit beschäftigt waren, ihr Equipment auszuladen, das sie für die Tatortarbeit brauchten.

»Hier sieht’s ja aus, als hätten sie die Schlacht von Waterloo nachgespielt! Ist doch echt zum Kotzen!«, meckerte Christian Kröger verärgert. »Ich frage mich, ob die von der Feuerwehr auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, dass wir noch Spuren sichern müssen!«

Bodenstein und Pia waren Tiraden dieser Art gewohnt. Kröger war ein Perfektionist und hätte am liebsten jeden Verbrechensschauplatz für sich und seine Leute allein gehabt, bevor jemand Spuren zerstören oder verändern konnte.

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Bodenstein trocken. »Aufgrund des Zustands der Leiche habe ich Kirchhoff angefordert.«

»Ein echter Glückstag also«, murrte Kröger. »Wenigstens bin ich diesmal vor ihm da.«

»Ihr seid echt kindisch, Henning und du!« Pia schüttelte den Kopf über den skurrilen Wettstreit zwischen ihrem Ex und dem Chef des Erkennungsdienstes.

»Ich führe aktuell 11:3.« Kröger grinste mit einem Anflug von Triumph. »Uneinholbar. Das wurmt den Doc gewaltig.«

Er und Pias Exmann Henning Kirchhoff pflegten seit vielen Jahren eine von Herzen kommende Feindschaft, die manchmal geradezu groteske Züge annahm, wenn sie sich an einem Leichenfundort wegen einer Kleinigkeit in die Haare gerieten. Ihre Streitereien waren legendär, doch da ihre Animositäten der Gründlichkeit ihrer Arbeit keinen Abbruch taten, ertrugen alle Beteiligten die ständigen Kabbeleien der beiden mit Gleichmut.

»Ach, Oliver, den hat mir die Eule für dich gegeben.« Pia reichte Bodenstein den Zettel. »Eine Telefonnummer, die du von ihr haben wolltest.«

»Danke.« Bodenstein warf einen Blick auf den Zettel. »Das ist wohl die Nummer des Campingplatzbetreibers. Ich rufe vom Auto aus an und erfahre hoffentlich, wem der Wohnwagen gehörte.«

Er ging mit einer theatralisch humpelnden Sophia an der Hand davon. Pia blieb bei Kröger stehen, weil ihr Handy an dieser Stelle Empfang hatte. Sie rief den KvD an, forderte einen Suchhund und Verstärkung für die Suche nach der Person an, die entweder der Brandstifter oder ein möglicher Augenzeuge war. Danach informierte sie den zuständigen Staatsanwalt.