Im Zimmer wird es still - J. Walther - E-Book

Im Zimmer wird es still E-Book

J. Walther

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Beschreibung

Andreas kümmert sich so gut er kann um seinen älteren Partner, als der an Krebs erkrankt. Doch seine Überzeugung, dieser Aufgabe nicht gerecht zu werden, entfernt sie voneinander. Peter kämpft mit seiner Krankheit und versucht Andreas zu schonen. Der schämt sich seiner Erschöpfung ebenso wie seines Bedürfnisses nach Nähe und Zärtlichkeit. Glückliche Erinnerungen werden zu einem Ort des Friedens und stillen Glücks. Doch wie können sie wieder einen Weg zueinander finden ... »Im Zimmer … ist ein zartes, intensives Stück Literatur über die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Metaphysik der Liebe; über Achtsamkeit und Respekt; über die Stürme und Flauten des Miteinanders; über persönliche Grenzen; Herausforderungen, und die Möglichkeit an ihnen zu wachsen.« Little_Kunoichi/lovelybooks 2., überarbeitete Auflage, die Originalausgabe erschien 2011 im B. Gmünder Verlag.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Table of Contents

Titel

Motto

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Nachwort

Impressum

Buchtipp

Buchtipp2

Buchtipp3

J. Walther

 

Im Zimmer wird es still

Ich lag auf den trockenen Geißblattranken

und träumte von einer Höhle unter dem Flussbett

mit einem Mann darin wie du

und eines Tages kam ein Löwe in einem goldenen Feld

Ein Arm umfasste Dan von hinten

und schlitzte meinen Schenkel auf

und ich schlief hundert Tage lang in deinen Armen.

Jim Grimsley »Das Leben zwischen den Sternen«

 

 

 

But I am safe inside a better world of hope and memory

Tom McRae »Got a suitcase, got regets«

1

 

Ein bisschen, nur noch ein bisschen schlafen. Er hält die Augen fest geschlossen. Er ist so müde, und im Bett ist es warm, und er kuschelt sich in den Traum, den er vorm Aufwachen gehabt hat. Der braungebrannte junge Mann läuft weiter auf ihn zu, seine Füße immer auf dem feuchten Sandstreifen, den ab und zu eine Welle benetzt. Dann ist er da und lacht. Legt sich neben ihn, streckt auch seine Beine den Wellen entgegen.

Er schmiegt sich an den Fremden, berührt seine Brust, spürt die starken Hände auf den Muskeln seines Rückens. Schließt die Augen. Will ewig so liegen, in den Armen des fremden Mannes. Die Sonne lässt den Sand auf ihrer Haut trocknen, die Wellen umspülen ihre Füße. Sonnenlicht sickert durch seine geschlossenen Lider, durch die Vorhänge. Es hilft nichts, es ist schon nach sieben und er muss aufstehen. Er weiß, dass Peter schon seit zwei oder drei Stunden wach liegt wie jeden Morgen. Peter würde nie etwas sagen, aber er weiß es doch. Er rollt sich von der harten Schlafcouch. Das große Schlafzimmer im Obergeschoss meidet er schon länger, schläft lieber unten im Gästezimmer.

Er geht durch den kühlen Flur ins Badezimmer. Dort schaut er aus dem Fenster, die Wiese hinterm Haus glitzert feucht in der morgendlichen Kühle. Gedankenverloren wischt er ein paar Flecken von den Terazzofliesen. Dann merkt er, dass er herumtrödelt und zieht sich aus. Er schaut in den Spiegel. Seit Wochen beobachtet er kritisch seinen Haaransatz, es ist nichts zu machen, er bekommt Geheimratsecken. Mit einunddreißig. Er streicht seine Haare zurück, dann wieder nach vorn. Es spielt eigentlich keine Rolle, aber es stört ihn. Er setzt sich auf den Wannenrand, streicht über die Härchen auf seinem Oberschenkel. Er ist blass, hat diesen Sommer wenig Sonne abbekommen. Schneewittchen hat Peter einmal zu ihm gesagt. Schwarze Haare, Milchhaut mit Blut durchmischt. Schneewittchen ist lange her. Jetzt ist er einfach nur unattraktiv blass. Er stiert in den Spiegel, an seinem Bild vorbei, in die Ferne. Er trödelt schon wieder! Schnell wäscht er sich, zieht den Schlafanzug wieder an, putzt die Zähne. Er streicht kurz über seine Wange, entscheidet sich gegen eine Rasur und geht eilig zurück.

Ohne seinen Körper noch einmal zu betrachten zieht er sich nachlässig an und geht dann ins Wohnzimmer. Das sperrige Krankenbett nimmt allen Platz im Zimmer ein, wirkt deplatziert in dem niedrigen Raum. Die Räder zerkratzen die neuen Dielen.

Peter lächelt ihn an. Sein Gesicht hat sich nicht verändert, ist immer noch attraktiv. Nur seine kurzen Haare sind nun endgültig grau geworden. Peter sieht jünger aus als fünfzig. Hat auch vor neun Jahren jünger ausgesehen, anziehend und souverän, mit Lachfalten und Augen voller Lebendigkeit und Wärme.

Er geht zum Bett, küsst ihn flüchtig, Peters Hand gleitet über seinen Nacken. »Gut geschlafen?«

»Ja, hab bis eben durchgeschlafen.« Er fragt nicht zurück, denn er weiß, dass Peter nicht gut schläft. Er zieht die Vorhänge auf. Blinzelt, schaut hinaus in die Blätter der alten Linde auf dem Hof. Sie ist vermutlich so alt wie das Haus selbst, hat einen beeindruckenden Stamm. Peter ist letzten Sommer dagegen gewesen, sie zu fällen, obwohl ein Teil des Stammes hohl und morsch ist. Peter hat sie verteidigt, sich mit einem Baumspezialisten beraten, die Linde behandelt und gepäppelt.

Er wechselt den vollen Beutel aus, der an der hinteren Seite des Bettes hängt, zieht die verrutschte Decke hastig wieder über Peters Füße. Peter schaut aus dem Fenster. »Wird bestimmt wieder schönes Wetter heute.«

»Ja.« Er geht in den Kochbereich und bereitet das Frühstück vor. Müsli und frischen Orangensaft für Peter, Toast und Milchkaffee für sich selbst.

»Die Linde wird bestimmt noch vierhundert Jahre alt«, sagt Peter.

Er beugt sich vor, blickt unter den Hängeschränken hindurch. »Bestimmt. Du hast sie ja gerettet.«

Dann bringt er das Tablett hinüber, deckt für sich selbst den Couchtisch. Sie frühstücken still, schauen ab und zu aus dem Fenster. Er hebt den Löffel wieder auf, als er Peter runterfällt.

Peter muss husten und verschluckt sich an seinem Orangensaft. Er steht auf, aber Peter hat sich schon beruhigt. Er wischt das Tablett ab und füllt Peter noch etwas Saft in die Schnabeltasse.

Nach dem Frühstück räumt er in der Küche auf, bis Schwester Annegret kommt. Sie hat Vertrauen erweckende Fältchen um ihre warmen braunen Augen und sieht nie müde aus. Er mag sie von allen Pflegerinnen am liebsten. Sie ist klein und zierlich. Er wundert sich immer wieder, woher sie die Kraft nimmt, Peter beim Waschen zu drehen. Obwohl er Gewicht verloren hat, ist er immer noch schwerer und größer als sie.

Er sieht Schwester Annegret aus dem Sessel in der anderen Ecke des Zimmers zu, wie sie Peter wäscht und die Windel wechselt. Muss nur Zuschauer sein, ist dankbar dafür. Er klemmt seine Hände zwischen die Schenkel. Das hat er schon immer getan, wenn er ein bisschen Halt sucht. Am ersten Schultag saß er so auf einem Blumenkübel im Hof, bis die Lehrerin ihn endlich fand und mit ins Klassenzimmer nahm.

»Morgen wechseln wir das Laken«, sagt Schwester Annegret.

»Alles klar.« Er ist froh, noch einen Tag darum herumzukommen. Schaut aus dem Fenster, während Schwester Annegret mit geübten Handgriffen das Schmerzmittel spritzt. Es ist ein strahlend schöner Herbsttag, fast noch Spätsommer. Die Herbstastern an Mertens’ Hauswand leuchten lila, daneben eine rostfarbene Dahlie. Die Linde hat schon einige gelbe Blätter.

»Sie können ja mal mit dem Arzt reden, ob sie das Schmerzmittel anders verabreicht bekommen wollen«, sagt Schwester Annegret.

»Es klappt doch so ganz gut«, antwortet Peter und lächelt ihm aufmunternd zu.

»Ja, noch klappt es ganz gut«, meint Schwester Annegret, während sie in die Küche geht und sich die Hände wäscht. Er begleitet sie zur Haustür, sie hält ihr Gesicht einen Moment in die Sonne. »Was für ein schöner Tag. Wer weiß, wie lange das Wetter noch so ist.«

»Ja, man muss es noch genießen.«

»Genau. Also, auf Wiedersehen.« Sie winkt kurz, während sie mit schnellem Schritt zu ihrem Auto geht, das vorm Hof am Rand der Straße parkt. Er geht wieder in die Küche, räumt die Spülmaschine aus. Dann wiegt er Mehl und Butter für einen Teig ab.

»Was gibt es heute?«, fragt Peter von drüben.

»Eine Quiche.«

»Du musst doch nicht immer so etwas Aufwendiges kochen.«

»Ich mach das doch gern«, antwortet er. Er stellt den Teig kühl und schneidet den Käse in Würfel. Verrührt Eier und Sauerrahm, holt eine Auflaufform aus dem Backofen.

»Du magst doch Quiche?« Er erhält keine Antwort, schaut hinüber. Peter ist eingeschlafen und bewegt den Kopf unruhig hin und her. Leise bringt er den Müll nach draußen. Bleibt einen Moment in der Sonne stehen.

Mertens’ schwarze Katze schleicht um die Ecke, eine schlaffe Maus im Maul. Auf der anderen Hofseite tritt die Nachbarin aus der Haustür. Die Katze legt ihr die tote Maus als Tribut vor die Füße.

»Hallo«, die Nachbarin winkt ihm zu.

»Hallo, Katharina.« Die Katze trollt sich beleidigt.

»Hast du vielleicht Lust, mir morgen Vormittag beim Äpfel ernten zu helfen? Ihr könnt auch ein paar Stiegen haben.«

»Ja, gern. So um zehn?«

»Schön, bis morgen.« Katharina hebt grüßend die Hand und geht ins Haus. Die schwarze Katze schleicht sich hinter ihr durch die Tür. Er geht wieder hinein. Das Telefon klingelt und er hebt schnell ab.

»Hallo, Lieber.«

»Hallo Paul. Ist gerade ungünstig, Peter schläft«, flüstert er.

»Wie geht’s dir?«

»Ganz okay.«

Peter wacht auf und er gibt den Hörer weiter, geht in die Küche. Peter unterhält sich leise mit Paul. Er hört Peters Stimme die Vertrautheit alter Freundschaft an. Er überlegt ob er hinausgehen soll, damit sich Peter ungestört unterhalten kann, aber der ist schon dabei, sich zu verabschieden.

Paul gehört zu denen, die nie vergessen anzurufen. Mit anderen Leuten haben sie jetzt weniger Kontakt. Freunde, mit denen sie früher Essen gingen oder ins Kino, melden sich nur selten. Bekannte, die sie hauptsächlich auf Partys getroffen hatten, sehen sie jetzt nicht mehr. Er ist ihnen nicht böse. Er weiß, wie das ist. Hatte es selbst gemerkt, als bei einem guten Bekannten das Immunsystem zusammenbrach. Das normale Leben rann so schnell dahin, Arbeit und alltägliche Aufgaben, ein bisschen Freizeit. Er scheute sich anzurufen, weil er nicht wusste, worüber er sich unterhalten sollte. Dann hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht gemeldet hatte. Zögerte einen Besuch hinaus, fand Ausflüchte vor sich selbst und fühlte sich schlecht dabei. Als er dann doch zu Besuch dort war, fand er die Atmosphäre trotz allem schön und anregend und nahm sich vor, bald wieder zu kommen. Aber dann ging alles wieder von vorn los.

Wahrscheinlich geht es manchen Bekannten von ihnen so. Andere Menschen sind näher gerückt. Unerwartet manchmal.

Peter hat das Gespräch beendet, aber schafft es nicht, das Telefon auszumachen. Er geht rüber und hilft ihm. Peter erzählt, was Paul gesagt hat, wirkt heiter. Dann muss er husten und will etwas zu trinken. Er füllt ihm Tee in die Schnabeltasse.

Er geht zurück in die Küche und kocht frischen Tee. Dann machte er die Quiche fertig. Erstaunt stellt er fest, wie spät es schon ist, ohne dass er viel geschafft hat. Er schiebt die Quiche in den Ofen und bald strömt ein appetitlicher Duft aus dem Backofen.

Er stellt Geschirr auf das Tablett, schaut hinüber zu Peter. Er erinnert sich daran, wie er an freien Tagen manchmal abends gekocht hat. Peter trank ein Glas Wein, lehnte sich an die Anrichte oder legte den Arm um ihn. Er genoss es, Knoblauch und Gemüse kleinzuschneiden, Kräuter zu hacken, genoss den Duft des Essens, der sich mit dem warmen Licht der Küche zu einer behaglichen Stimmung mischte.

Die Küchenuhr klingelt und er holt die Quiche aus dem Ofen. Er lässt sie einen Moment auskühlen. Sie riecht köstlich. Er bringt alles hinüber und zerteilt Peters Portion.

»Schmeckt lecker. Hast du Apfelstücke dran gemacht?«

»Ja, ein paar.«

Peter lacht. »Du könntest wohl an alles Äpfel machen?«

»Zur Zeit schon. Ich kann immer welche von Mertens’ Wiese hinten holen.«

Peter bittet um eine zweite Portion. Sie essen auf, einen Moment unbeschwert, fast glücklich. Sie schauen sich an und in Peters Blick ist die aufmerksame Wärme, die er so mag. Die ihn in seinen Bann gezogen und immer wieder gefesselt hat.

Er tritt ans Bett, berührt Peters Arm. »Bist du satt?«

»Mhm.«

Er räumt ab, tut geschäftig. Dann blickt er Peter noch einmal an, seine Züge werden weich. »Ruh dich aus.«

»Ja. Du auch.«

»Naja, ein bisschen.«

Er geht hinüber ins Gästezimmer, legt sich hin. Sein Körper sinkt ins Bett, als habe er nur darauf gewartet. Es tut gut. Er schließt die Augen, ist müde. Er versucht sich zu erinnern, was er am Vormittag gemacht hat. Ihm fällt nichts Anstrengendes ein. Nichts, was diese Erschöpfung rechtfertigt. Es gelingt ihm nicht einzunicken. Er dreht sich auf die andere Seite. Die alte Schlafcouch knarzt. Er versucht, ganz ruhig zu liegen, aber es hilft nichts. Die Couch hatte er für seine erste Wohnung gekauft. Damals knarzte sie noch nicht und die Sterne glitzerten über dem Dachfenster.

 

Er hört die laute Geräuschkulisse des vollen Gastraums. Hört das Abschwellen der Lautstärke, wenn die Küchentür hinter ihm zufällt. Driftet weg, die Geräusche werden immer leiser. Wärme des Schlafes. Hört Tamara ihm fröhlich etwas zurufen. Tamara, strahlend vor Herzlichkeit. Wie sie in der Pause immer mit ihm auf dem Mäuerchen neben dem Kücheneingang saß, rauchte, ihre schwarzen Haare nach hinten warf. Die Schwalben flogen in elegantem Schwung ihre Nester unter der Dachtraufe an, Raben krächzten in den Bäumen des Stadtparks. Tamaras offene Sympathie vom ersten Tag an, ihr unverkrampftes Quatschen, retteten ihn davor, sich zu sehr zu isolieren.

Er war alleine in diese Stadt gezogen, war schon seit Monaten da, aber es hatte sich als schwer erwiesen, Leute außerhalb der Arbeit kennenzulernen. Manchmal war er einsam. Dann flirtete ein extrovertierter älterer Gast unverblümt mit ihm. Er schlief mit ihm. Lernte durch ihn einen jüngeren Mann kennen und ging auch mit ihm ins Bett. Erfuhr erst dort, dass er einen Freund hatte. Er schluckte seine Enttäuschung herunter.

Trotzdem fand er es nett, von seinem One-Night-Stand zu einer Party bei Freunden eingeladen zu werden. Er ging gespannt und ein bisschen ängstlich hin. Nach der Begrüßung stand er alleine mit seinem Weinglas herum, niemand kümmerte sich um ihn. Er kannte keinen der Männer, außer dem, der ihn eingeladen hatte. Er betrachtete die Einrichtung, die Grafiken an den Wänden, die alten Möbel. Er genoss die Stimmung, das warme Licht der Lampen und Kerzen, die laue Spätsommerluft, die durch die offenen Terrassentüren hereinwehte, die angeregten Gespräche der Männer. Sie waren alle älter als er, die meisten wesentlich älter. Er fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Bei dem Gedanken entspannte er sich, ruhte in sich mitten in dieser Runde.

Dann kam ein weiterer Gast herein. Er drehte sich um und sah ihn. Der attraktivste Mann im ganzen Raum, um die vierzig, mit graumelierten Haaren und einem einnehmenden Lächeln. Er ließ die Augen nicht von dem neuen Gast, als dieser durch den Raum ging und einige Männer begrüßte, fühlte seinen Blick kurz auf sich ruhen. Dann wurden sie einander vorgestellt und einer der Gastgeber bat zu Tisch. Peter setzte sich neben ihn. Er genoss seine Nähe, seine behaarten Arme und schönen Hände, die nach Brot, Oliven oder Wein griffen. Er fühlte sich sehr zu ihm hingezogen.

Sie schauten sich nicht an während des Essens, wechselten nur einige Worte über die Gerichte. Sie beteiligten sich kaum an den Tischgesprächen, machten nur da und dort eine Bemerkung.

Nach dem Essen gingen alle mit ihren Weingläsern hinaus auf die Dachterrasse. Auf dem Boden lagen verblichene Holzbohlen und zwischen den Pflanzen in Terrakottakübeln standen Windlichter. Sie setzten sich nebeneinander in zwei Liegestühle, abseits von den anderen. Dann sprach Peter ihn das erste Mal direkt an. »Du bist neu hier in der Stadt?« Sie unterhielten sich, sehr ruhig. Manchmal waren Pausen zwischen ihren Sätzen und sie blickten über die Terrasse. Er redete mehr, als er es sonst zu tun pflegte. Er mochte die ruhige Gelassenheit, die Peter ausstrahlte, wie er entspannt in dem Liegestuhl saß, sein Weinglas ab und zu von einer Hand in die andere wechselte, sein warmes Lächeln.

Er spürte ab und zu einen Blick der anderen Männer abschätzend auf sich ruhen, aber es störte ihn nicht. Niemand sprach sie an, keiner störte. Zwischen den Liegestühlen stand eine Kerze in einem großen Glas, ihr Licht umschloss sie beide wie unter einer Kuppel.

Peter erzählte von seiner Arbeit. Wie er es liebte, das passende Material für Ringe, Ketten oder Armreifen auszuwählen, sie unter seinen Händen entstehen zu sehen. Wie stolz er auf seinen Laden war. Erzählte von seiner großen Wohnung, von seinen liebsten Orten in der Umgebung. Er schwärmte vom alten Schlosspark im Herbst und sie verabredeten sich für das nächste Wochenende. Gehörten zu den letzten Gästen, die sich verabschiedeten, gingen noch ein Stück zusammen, bis sie sich trennten.

Im Lauf der Woche trug er mehrmals Teller an den falschen Tisch, so sehr musste er an Peter denken. Seine Kolleginnen neckten ihn schon und er riss sich zusammen. Aber am Freitag fiel ihm ein ganzes Tablett mit Gläsern herunter.

Dann sah er ihn endlich wieder. Peter holte ihn ab und sie fuhren in den Park. Die ersten Ahornblätter leuchteten rot und die Platanen verloren große gelbbraune Blätter, von denen er einige aufhob. Irgendwann nahm Peter seine Hand, einfach so, ein junger Mann guckte irritiert. Sie gingen weiter, in einem abseits gelegenen Weg umarmte er Peter, vergaß alle Schüchternheit. War erstaunt, wie nah er sich diesem noch unbekannten Mann fühlte.

Schließlich saßen sie im Auto vor seinem Haus. Die Sonne war schon hinter den Häusern verschwunden. Die Straße war leer. Etwas entfernt ging eine Straßenlaterne an. Sie redeten nicht. Es gab nichts zu reden. Er mochte die Vertrautheit zwischen ihnen, wenn sie miteinander schwiegen. Er drehte seinen Kopf über die Schulter, sah Peter an, bewegte sich ein Stück auf ihn zu. Ihre Lippen berührten sich schon geöffnet, weich und gierig. Es war kein vorsichtig forschender Kuss, es war ein kundiger, bestimmter Kuss. Sie trennten sich nur zögernd.

In den nächsten Wochen war er jedes Mal aufgeregt, bevor er sich mit Peter traf. Dann ruhig in seiner Nähe. Er fühlte sich wohl mit ihm, wo sie auch waren. Einmal steckten die Leute die Köpfe zusammen, als sie auf eine Vernissage kamen, aber es war ihm gleichgültig.

Er konnte es kaum fassen, dass sich dieser attraktive, weltgewandte Mann wirklich für ihn interessierte. Seine Gefühle waren ruhiger als früher, als er Jungen nachgeschwärmt hatte, sich in Träume hineinsteigerte. Seine Empfindungen für Peter war reifer, tiefer. Das was er mit Peter erlebte, war etwas Besonderes, die Zeit flüchtiger Begegnungen vorbei. Er war glücklicher als jemals zuvor, genoss jeden schönen Augenblick.

Trotzdem fragte er Tamara, ob er einer Vaterfigur hinterherlaufe. Schließlich war sein eigener Vater, der seine Mutter verlassen hatte, als er vier war, in seiner Kindheit abwesend gewesen. Sie zog an ihrer Zigarette und warf ihr Haar nach hinten. »Ist das wirklich wichtig? Spielt es eine Rolle zwischen euch?«

Nein, es spielte keine Rolle. Er sah keinen Vater in Peter, wenn er ihn anblickte, ihn küsste, in seinen Armen lag. Manchmal gab Peter ihm einen Rat, aber nie von oben herab. Manchmal setzte er sich gegenüber Peter mit etwas durch, wenn es ihm wichtig erschien.

 

Er dreht sich herum, ist immer noch müde. Er weiß, dass es besser wäre zu schlafen, er weiß, dass er schlafen könnte, wenn er seinen Kopf freibekommen würde. Aber er gibt auf. Öffnet das Fenster, um zu lüften, geht dann wieder hinüber. Peter hat die Augen geschlossen, als er herein kommt. Er tritt näher. Ein Auto hält vor dem Haus.

»Das ist Mark«, sagt Peter.

Er wirft einen Blick nach draußen, dann geht er zur Tür und lässt ihn herein.

»Hey.« Mark küsst ihn. »Ich wollte vor meiner Schicht noch schnell reinschauen.«

Mark geht an ihm vorbei ins Wohnzimmer, begrüßt Peter liebevoll, umarmt ihn und Peter klammert sich einen Moment an seinen Hals. Dann nimmt Mark Pfirsiche aus einer Tüte, drapiert sie auf dem Tisch. Er setzt sich neben das Bett, schneidet einen Pfirsich in samtige Stücke. Erzählt etwas über den Obstverkäufer und über Stiefs, seinen jungen Hund. Einen Labradormischling mit einem Fell, das die Farbe von Sahnebonbons hat.

»Ich habe ein kleines Lammfell mitgebracht, ist gut für die Fersen, damit sie nicht wundliegen.« Mark schlägt die Decke zurück, schiebt Peter das Fell unter die Fersen. Dann setzt er sich auf die Bettkante und beginnt, Peters Füße mit geübten Händen zu massieren, die Gelenke sanft zu bewegen.

Er setzt sich in den Sessel, nimmt sich ein Stück Pfirsich, schaut angestrengt in eine andere Richtung. Peters Beine sind geschwollen und bleich, wächsern, nicht mehr Peters gebräunte muskulöse Beine. Er weiß, dass es gut wäre, sie immer zu massieren. Mark hat ihn nur einmal gefragt, ob er ihm die Griffe zeigen soll, hat sein Zögern bemerkt, ist zu feinfühlig, um ihn zu drängen.

Mark ist völlig unbefangen, erzählt leise eine Geschichte von seiner Arbeit als Rettungsassistent, die Peter zum Lachen bringt. Mark ist groß und drahtig, hat seine Haare kurz rasiert. Er achtet nicht auf Marks Worte, nur auf die ausholende Geste, mit der er sie unterstreicht und sein Lachen, das ihn noch attraktiver macht. Er ist sehr beliebt und einige haben eine Auge auf ihn geworfen. Mark hat Peter schon vor seiner Zeit gekannt, war auch in Peter verliebt gewesen. Er ist Anfang dreißig und hat schon lange keinen Freund mehr gehabt. Manchmal fragt er sich, ob Mark Peter immer noch nachhängt.

Mark hat die Decke wieder zurückgeschlagen, steht auf. »Ich muss schon wieder los. Heute zwölf Stunden Schicht. Aber morgen habe ich nur Bereitschaft.« Er umarmt Peter, küsst ihn, streicht über seinen Arm.

Dann gibt er auch ihm einen Kuss. »Bis morgen. Lass nur, ich finde raus.« Mark geht und er sieht ihn eilig über den Hof laufen.

»Du schläfst doch manchmal mit Mark?«, fragt Peter.

»Hm …«, murmelt er, geht in die Küche. Er nimmt die benutzten Geschirrtücher ab und bringt sie ins Bad. Er hatte gehofft, dass Peter das Thema nicht mehr ansprechen würde. Sein Vorschlag nicht ernst gemeint sei. Noch immer weiß er nicht, was er Peter dazu sagen soll. Als er wieder ins Wohnzimmer kommt, sieht er, dass Peter erschöpft ist.

Er schaut auf die Uhr, entscheidet sich schnell. Die Zeit würde reichen. »Ich fahre noch einkaufen. Soll ich was Besonderes mitbringen?«

Peter hat keine Wünsche, will offensichtlich schlafen. Er belädt den Audi mit leeren Getränkekisten und fährt zum Einkaufscenter. Früher haben sie immer in dem kleinen Supermarkt im Nachbardorf eingekauft und einiges im Bioladen. Jetzt fährt er meist ins Einkaufscenter. Er hatte Peter erklärt, dass es dort alles gibt, was er braucht, auch eine Apotheke, aber das ist nicht der Grund, warum er immer herfährt.

Er bringt erst das Leergut weg und schiebt den Wagen dann durch die langen Gänge. Immer muss er suchen, wenn er etwas Neues braucht. Früher hat er das gehasst. Er schaut eine Weile, bis er den einfachen Quark findet. Dann vergleicht er verschiedene Sorten Schinken und entscheidet sich nach langem Hin und Her für Parmaschinken, schaut zwischendurch kurz auf die Uhr.

Schließlich schiebt er den vollen Einkaufswagen bis zum Auto und lädt alles sorgfältig ein. Jedes Mal hat er das Gefühl, zu viel gekauft zu haben. Dabei müssen sie jetzt aufs Geld achten. Das Pflegegeld reicht nicht weit und ohne Peters Ersparnisse wäre es eng.

Er verdrängt den Gedanken und geht hinüber zur Apotheke. Die Apothekerin kennt ihn schon und er verlässt den Laden vollgepackt mit Medikamenten, Windeln und Produktproben.

Er bringt alles im Kofferraum unter und geht noch hinüber zum Baumarkt. Sie brauchen eigentlich nichts von dort, aber er will schnell durchgehen. Er hat ja das Handy einstecken. In der Gartenabteilung studiert er die Pflanzen, die noch im Angebot sind, rostrote und ockergelbe Chrysanthemen, silbrige Blattpflanzen und Heidekraut. Vergleicht die Rosen, die man wohl jetzt pflanzen muss. Dabei besitzen sie gar keinen Garten, sie haben beide keinen Sinn dafür. Nur neben der Haustür haben sie eine Sitzecke hinter Oleanderbüschen eingerichtet. Trotzdem nimmt er eine Erika mit, obwohl er nicht einmal weiß, wo er sie hinstellen soll.

Dann schlendert er durch die Regale mit Tapeten und Farben. Das Wohnzimmer hat eigentlich eine Renovierung nötig. Die Decke ist angegraut und die Wandfarbe nicht mehr frisch. Aber Renovieren ist im Moment wirklich kein Thema. Trotzdem schaut er sich eine Weile um, legt aber nichts mehr in den Einkaufswagen und geht schließlich zur Kasse. Er schaut auf die Uhr und bekommt ein schlechtes Gewissen, es ist fast sechs. Aber es ist schön, mal herauszukommen, Einkaufen fast die einzige Gelegenheit dafür.

Er kommt gerade rechtzeitig zurück, um die Schwester hereinzulassen. Es ist Schwester Evelyn, die jünger als Schwester Annegret ist. Ihre blonden kurzen Haare sind zu einer stets perfekten Frisur aufgeplustert, um ihren kleinen Mund hat sich ein harter Zug eingenistet. Während er den Einkauf in den Kühlschrank und die Schränke räumt, beobachtet er ihre Handgriffe. Sie verrichtet ihre Arbeit schnell und routiniert. Sie strahlt nie die gleiche Ruhe wie Schwester Annegret aus. Manchmal glaubt er, in ihrer etwas unfreundlichen Art, ihren unpersönlichen Handgriffen, Vorurteile zu spüren. Vielleicht auch, weil sie einmal eine abfällige Bemerkung über Schwule gemacht hatte, aber möglicherweise hatte er die auch missverstanden.

Er betrachtet Peters Gesicht, der sich ganz ruhig die Berührungen einer fremden Frau gefallen lässt, sich sehr freundlich bei ihr bedankt. Er begleitet sie anschließend zur Haustür, wo sie sich, ohne ihm die Hand zu geben, verabschiedet und zu ihrem Auto eilt.

Er geht wieder hinein, beginnt endlich das Abendessen vorzubereiten, es ist schon fast sieben. Behutsam stellt er die Teller auf das Tablett, denn Peter hat die Augen geschlossen, vielleicht schläft er. Am liebsten würde er sich daneben legen. Er fühlt sich erschöpft. Er bleibteinen Moment am Küchentisch sitzen. Das Essen hat Zeit, er will Peter nicht wecken. Draußen beginnt es zu dämmern. Er vergisst, was er hat tun wollen, vergisst die Zeit, starrt aus dem Fenster.

Schließlich steht er auf, sieht, dass Peter wach ist. Er bringt das Tablett hinüber, sie beginnen zu essen. Peter hat wenig Appetit. Er sucht nach einem Gesprächsthema, aber ihm fällt nichts ein.

Als sie fertig sind, räumt er alles ab. Dann zieht er die Vorhänge zu, obwohl es noch gar nicht richtig dunkel ist. Er tritt an Peters Bett, wischt einige Krümel von der Decke. Peters Hand streicht über seinen Unterarm, sucht seine Hand. Er zieht die Decke gerade.

»Ich geh dann mal rüber, ich will mich hinlegen.«

»Ich bin ja auch müde«, meint Peter leise.

»Brauchst du noch etwas?«

»Nein.«

Er küsst Peter auf die Wange. Schließt die Tür leise hinter sich, lässt ihn allein. Er geht durch den dunklen Flur hinüber in sein Zimmer, schließt auch hier die Vorhänge, zieht sich um und legt sich auf die Schlafcouch. Er nimmt die Fernbedienung, dreht sie ein paar Mal in der Hand. Das Stand-by an dem kleinen Fernseher leuchtet nicht. Er müsste aufstehen und ihn anschalten, aber er verliert das Interesse daran. Er löscht das Licht und schließt die Augen.

›Du schläfst doch manchmal mit Mark?‹ - Peter hatte das schon vor einiger Zeit vorgeschlagen, aber bis jetzt noch nicht nachgefragt, wie es darum steht. Er hat Mark nicht einmal von Peters Vorschlag erzählt. Und es ist ihm unangenehm, mit Peter über dieses Thema zu reden. Darüber zu reden, dass er sich meistens zu müde dafür fühlt. Als würde all seine Energie, die über den Alltag hinausgeht, aufgefressen. Als wäre alle Lust aus ihm herausgesaugt. Als wäre sein Körper nicht mehr seiner, nicht mehr jung und schön. Da ist nur noch ferne Erinnerung an wohliges Räkeln im warmen Mittelmeer, sich Ausstrecken in kühlen Kissen, als er sich so zu Hause und wohl in seinem Körper gefühlt hat. Es ist ihm unangenehm, darüber zu reden, wie sehr er sich manchmal nach Berührung sehnt. Wie sehr sich sein Körper in Peters Hand fallen lassen will, wenn sie einen Moment seine Wange berührt.

Starke fremde Hände, die über seine Haut gleiten, jede Stelle finden, die sich nach Berührung sehnt. Ein fremder warmer Mund, noch ein Mund, feuchte Berührungen, Zungen. Er öffnet die Kordel an seiner Pyjamahose, schiebt seine Hand hinein. Zwei junge Männer, die ihn mit ihren Händen und Mündern verwöhnen, still, ohne ein Wort. Er muss nur daliegen. Hände auf seiner Brust, warme Lippen an seinem Bauch, seinen Schenkeln, die sich festsaugen, ihn zum Stöhnen bringen. Ein Mund, der ihn aufnimmt, eine Zunge in seinem Rachen. Als er kommt, stöhnt er laut auf. Dann schläft er ein, einen warmen Männerkörper vor sich, einen hinter sich, ein starker Arm um ihn gelegt.

2

 

Die Dämmerung schimmert hinter den Vorhängen. Es ist noch nicht spät. Im Wohnzimmer ist es halbdunkel. Andreas hat sich schon zurückgezogen. Er ist allein. Aber er kann noch nicht schlafen, das weiß er. Er könnte wieder Licht anmachen, auf dem überfüllten Schränkchen neben dem Bett steht eine Lampe. Es liegen auch zwei Bücher da. Aber er braucht kein Licht. Lesen strengt ihn an, das Buch halten, Zeile für Zeile folgen, mühsam umblättern. Manchmal liest ihm jemand etwas vor.

Er könnte den Fernseher anmachen, aber das will er nicht.

---ENDE DER LESEPROBE---