In der Hitze Wiens - Günter Neuwirth - E-Book

In der Hitze Wiens E-Book

Günter Neuwirth

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Im sommerlichen Wien herrschen Habgier und Neid. Inspektor Hoffmann wird zur Villa eines betagten Hoteliers gerufen. Einbrecher haben den Hausbesitzer ermordet und wertvolle Gemälde gestohlen. Hoffmanns Ermittlungen gestalten sich schwierig, auch weil die Hinterbliebenen sich auffällig wortkarg geben. Welches Motiv steckt hinter der Gewalttat? Als einer der Einbrecher geschnappt wird, beginnt die Jagd nach seinem Komplizen.

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Seitenzahl: 347

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Günter Neuwirth

In der Hitze Wiens

Kriminalroman

Zum Buch

Hitzschlag Während alle Welt im Sommer verreist, muss Inspektor Hoffmann in Wien bleiben und arbeiten. Als er die Leiche des betagten Hoteliers Friedrich Asperger in Augenschein nimmt, deutet alles auf einen Raubmord hin, denn zwei kostbare Gemälde sind aus dessen Villa gestohlen worden. Doch Hoffmann schürft tiefer – und nach und nach tauchen dunkle Familiengeheimnisse auf. Dem Inspektor kommen Zweifel, ob Tochter und Neffen des ebenso hartherzigen wie steinreichen alten Mannes die Wahrheit sagen. Auch an der Aufrichtigkeit des Großneffen zweifelt Hoffmann, hält dieser doch seine Frau wie eine Gefangene. Als einer der beiden Einbrecher geschnappt wird, beginnt die Jagd nach seinem Komplizen. Dabei trifft Inspektor Hoffmann zu seiner Überraschung einen alten Bekannten, den ehemaligen Dealer Hannes, den er vor Jahren hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Hat Hannes nach der Haft sein Leben in den Griff bekommen oder ist er in den Fall verwickelt?

Den in Wien aufgewachsen Günter Neuwirth zog es im Anschluss an eine Ausbildung zum Ingenieur und dem Studium der Philosophie und Germanistik nach Graz. Der Autor verdient seine Brötchen als Informationsarchitekt an der TU Graz und wohnt am Waldrand der steirischen Koralpe. Günter Neuwirth ist Autodidakt am Piano und trat in jungen Jahren in Wiener Jazzclubs auf. Eine Schaffensphase führte ihn als Solokabarettist auf zahlreiche Kleinkunstbühnen. Seit 2008 publiziert er Romane, vornehmlich im Bereich Krimi.

www.guenterneuwirth.at

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Zeidlers Gewissen (2018)

Die Frau im roten Mantel (2017)

Totentrank (2017)

Paulis Pub, E-Book only (2016)

Fichtes Telefon, E-Book only (2016)

Hoffmanns Erwachen, E-Book only (2016)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hanaga / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5978-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Juli

1. Szene

Sie spülte ihre Mundhöhle gründlich mit Wasser und spuckte in das Waschbecken. Mit einer schnellen Bewegung wischte sie Spuren der Zahnpasta von ihren Lippen, danach steckte sie die Zahnbürste zurück in den Becher. Anschließend kämmte sie ihr Haar. Fertig.

Barfuß ging sie in das Schlafzimmer. Tuki trug wie immer ein Nachthemd. Ihr Mann mochte nicht, dass sie Pyjamas trug. Sie schaute zum Wecker auf dem Nachtkästchen. Eine Minute vor halb elf. Sie war wieder pünktlich. Wie immer. Von halb elf bis sechs Uhr früh war Nachtruhe. Die Vorhänge waren zugezogen, alle Arbeiten des Tages erledigt, die Wohnung war in erstklassigem Zustand, das Geschirr gespült, das Handy lag an seinem vorgesehenen Platz im Wohnzimmer, alles war genauso, wie es sein sollte.

Tuki knipste das Licht aus und zog die Decke über sich. Die linke Seite des Ehebettes war leer. Ihr Mann war vor vier Stunden mit dem Taxi zum Flughafen gefahren. Wieder eine Dienstreise. Morgen um 9 Uhr hatte er den ersten Geschäftstermin in Düsseldorf, daher war er am Abend davor angereist. Diesmal würde sie das Bett zwei Nächte für sich alleine haben. Zwei Nächte der Freiheit. Ja, es fühlte sich wie Freiheit an, wenn ihr Mann nicht zu Hause war. Trotz der Kameras. Trotz der versperrten Wohnungstür. Trotz der App auf ihrem Smartphone, die ihrem Mann jederzeit wissen ließ, wo sie sich befand. Wo sollte sie sich anders befinden als in der Wohnung?

Es war ein sicheres Leben, das er ihr bot. Ihr Mann war nicht reich, aber gut situiert. Schöne Kleidung, gutes Essen, moderne Möbel, leistungsfähige Haushaltsmaschinen und nagelneue Unterhaltungselektronik. Auch an seine Ansprüche als Ehemann hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Anfangs war sie von seiner Nähe abgestoßen, ja fast angeekelt gewesen, aber diese Abneigung war einer nüchternen Abgeklärtheit gewichen. Sie wünschte sich ein Kind. Oder mehrere. Am besten drei. Das würde ihr gefallen. Ihre Mutter hatte auch drei Kinder großgezogen. Ihr Mann war aber der Meinung, dass es für Kinder noch zu früh sei. In Österreich bekämen viele Frauen erst mit 30 Jahren Kinder, hatte er ihr erklärt. Das hatte Tuki zuerst nicht glauben können, aber dann hatte sie einen Artikel in einer Onlinezeitung darüber gelesen. Relativ wenige Frauen um die 20 hatten Kinder. Mittlerweile war sie sogar froh, noch keine Kinder zu haben.

Ihr waren so viele überraschende oder seltsame Dinge begegnet. Zum Glück lernte sie schnell. Das war gut. Das war notwendig. Das half ihr, zu überleben. Die Sprache hatte sie in kurzer Zeit beherrscht. Das deutschsprachige Fernsehen half ungemein. In den ersten Monaten hatte sie beim Wohnungsputz regelmäßig die Sätze der Schauspieler nachgesprochen. Aber nicht nur das Lernen von Sprachen fiel ihr leicht, auch technische Anforderungen meisterte sie schnell. Im Umgang mit Computern war sie schon seit der Jugend versiert. Aber davon hatte sie ihrem Mann nichts gesagt. Das war ihr Geheimnis.

Drei weitere Mädchen aus ihrem Viertel waren ins Ausland verheiratet worden. Mit einer war sie zur Schule gegangen, die anderen hatte sie vom Sehen gekannt. Zwei waren zu ihren Männern nach China übersiedelt, eine in die Vereinigten Staaten, sie selbst nach Europa. Ihre Familie hatte viel Geld für die Heirat erhalten. Das machte Tuki stolz.

Erst knapp vor Abschluss des Ehevertrages hatte sie von der Existenz eines Landes namens Österreich erfahren. In der Schule hatte sie von Russland, Deutschland und Frankreich gehört. Und von Griechenland, weil dort die europäische Kultur vor rund 2.500 Jahren entstanden war. Und über das alte Rom wusste sie auch etwas. Aber Wien war ihr unbekannt gewesen. Dabei war Wien eine historisch bedeutende Stadt, wie sie jetzt wusste. Sie hatte alle Bücher über Wien und Österreich in der Bibliothek ihres Mannes gelesen und sie schaute nach wie vor jede Fernsehsendung, die etwas über Land und Leute berichtete. Nach mehrmaligen Bitten hatte ihr Mann mit ihr das Schloss Schönbrunn, die Hofburg und den Stephansdom besucht. Diese Ausflüge hatten Tuki geradezu berauscht. Sie liebte es, die Stadt zu erkunden, die Straßen zu sehen, sich zwischen den vielen eleganten Menschen in der Innenstadt zu bewegen, in einem Kaffeehaus zu sitzen und einen Apfelstrudel zu essen. Aber ihr Mann hatte beschlossen, dass sie genug von Wien gesehen hatte. Sie müsse sich um ihn, die Wohnung und die Balkonpflanzen kümmern, hatte er gesagt.

Und er hatte vorgesorgt, dass sie nicht auf dumme Gedanken kam. Zuerst hatte er die App auf ihrem Smartphone installiert. Diese übermittelte ihm laufend ihre GPS-Daten. Natürlich konnte man eine derartige App leicht austricksen, indem man das Handy einfach liegen ließ. Daher besaß sie keinen eigenen Wohnungsschlüssel. Und Tukis Mann hatte fünf Kameras in den Räumen installiert. Eine davon war eben auf sie gerichtet. Über das Internet konnte er sich jederzeit mit den Kameras verbinden und ihre Anwesenheit in der Wohnung kontrollieren. Sie wusste, dass er bei seinen Dienstreisen regelmäßig nach dem Rechten schaute.

Wieder und wieder überlegte sie die einzelnen Schritte, dachte an alle Möglichkeiten und Hindernisse, schätzte die Gefahren ein. So wie jeden Abend. Die Müdigkeit übermannte sie. Knapp bevor der Schlaf sich über sie senkte, sah sie noch die breiten Auslagen der luxuriösen Boutiquen der Innenstadt, die schmucken Fassaden der Häuser, die unzähligen Menschen in der Fußgängerzone.

Sie träumte von der Stadt, in der sie lebte. Sie träumte von Wien.

2. Szene

»Wolfgang Hoffmann.«

Die männliche Stimme am Telefon klang abgeklärt. Sonores Beamtendeutsch. Hoffmann lauschte.

»Ich verstehe.«

Er klemmte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr und griff nach einem Stift. Ein Notizblock lag auf seinem Schreibtisch immer parat. Er kritzelte Stichwörter auf das Papier.

»Na gut, Herr Leutgeb, ich mach mich gleich auf die Socken. Ja, die Adresse habe ich notiert. Vielen Dank. Gut. Wir sehen uns in Kürze. Danke. Auf Wiederhören.«

Ein Weilchen saß er an seinem Schreibtisch und blickte zum Fenster. Seine Hände ruhten auf der Tischplatte. Still war es im Büro. Der Sommer machte die Vögel flügge, Assmann und Stranek waren ausgeflogen und genossen ihren wohlverdienten Urlaub.

Gerhard Assmann war mit seiner Frau und dem Sohnemann auf dem Land. Das Ehepaar Assmann hatte für drei Wochen eine Ferienwohnung am Ossiacher See in Kärnten gemietet. Mit Bootssteg und vielen Bäumen rundherum. Assmann hatte gleich nach der Ankunft ein Foto geschickt.

Caroline Stranek war mit zwei Freundinnen auf dem Weg ins Baltikum. Die drei Motorradfahrerinnen hatten sich ein beachtliches Pensum vorgenommen. Vor drei Tagen waren sie losgefahren und mussten gegenwärtig irgendwo im endlosen polnischen Hinterland unterwegs sein. Das war nicht die erste Tour, die die drei Frauen gemeinsam unternahmen. Neben Stranek war eine weitere Polizistin mit von der Partie. Eine Kollegin aus Stockerau. Die dritte Frau war im Brotberuf Busfahrerin bei den Wiener Linien.

Hoffmann erhob sich und verließ sein Büro. Er klopfte an die offen stehende Tür des Nebenbüros. Walter Kaltenegger und Sigrid Körner hoben den Kopf. Hoffmann lehnte sich an den Türstock und steckte seine Hände in die Hosentaschen. Kaltenegger liebte zwar die Helligkeit des Sommers, aber unter großer Hitze im Büro litt er. Wenn schon Sommer, dann im Schatten seines Gartens. Ein kleiner Ventilator sorgte für einen kühlenden Luftstrom im Raum.

»Na, so wie du aus der Wäsche schaust, tippe ich auf Arbeit«, brummte Kaltenegger, verschränkte seine Arme und lehnte sich zurück.

»Einbruch in eine Villa am Schafberg. Ein Todesopfer.«

Kaltenegger zog seine Lippen breit. »Na wunderbar. Und das bei der Hitze.«

»Ein alter Mann wurde Opfer von Stichverletzungen. So weit der erste Augenschein. Die Kollegen haben das Programm gestartet. Mag wer von euch mitkommen?«

Kaltenegger wiegte den Kopf. »Ich bin eigentlich schwer beschäftigt. Sigrid?«

Kaltenegger drehte sich seiner jungen Kollegin zu. Auch Hoffmanns Blick wanderte durch den Raum. Sigrid Körner schaute erst Kaltenegger, dann Hoffmann an.

»Wenn ihr mir 30 Sekunden gebt, speichere ich alles noch ab. Ich mache den Verwaltungskram später fertig.«

Kaltenegger nickte. »Passt, übernehmt ihr das. Und wenn was ist, weißt eh, Wolfgang, rührst dich halt.«

»Na sowieso.«

3. Szene

Der alte Dieselmotor tat unermüdlich seinen Dienst, tuckerte vor sich hin und bewegte das Fahrzeug Richtung Süden. Der Sonne entgegen. Hannes hatte aus Wien rausmüssen. Luft holen. Das Meer sehen. Schwimmen. Für ein paar Tage einfach fort.

Er hatte den blauen Škoda-Kombi günstig gekauft. Ein Schnäppchen. Hannes hatte vor dem Privatkauf den Wagen in einer Werkstatt prüfen lassen und zu seiner Überraschung war wenig auszubessern gewesen. 850 Euro hatte die Reparatur gekostet. Er hatte mit dem Doppelten gerechnet. Der Mechaniker hatte mit den Achseln gezuckt und gemeint, dass diese Generation von Dieselmotoren mit viel Hubraum und wenig PS praktisch nicht umzubringen war. 210.000 Kilometer hatte der Motor in den Kugellagern und würde noch so manche abspulen. Da rostete eher die Karosserie weg, ehe der Motor verreckte. Nur bei den Abgastests würde der Wagen garantiert durchfallen.

Hannes war zum ersten Mal in seinem Leben in Kroatien. Seit einer Stunde fuhr er durch eine grüne Berglandschaft. Ein Tal war schöner als das andere. Jetzt ging es bergauf. Auf der Landkarte hatte er den Verlauf der Autobahn A1 studiert. Ein paar Kilometer vor ihm lag der Sveti-Rok-Tunnel durch das Velebit-Gebirgsmassiv. Hannes war in Wien aufgewachsen und in seiner Kindheit und Jugend kaum aus der Stadt rausgekommen. Daher kannte er sehr wenig von Österreich. Weder die Berge, noch die Alpenseen, auch nicht die Adria oder Europa. Wien kannte er zur Genüge. Und deswegen saß er im Auto und fuhr in Richtung Dalmatien. Raus aus dem Moloch.

Früher hatte er Wien gehasst. Früher, als er sich mühsam von einem Tag zum nächsten geschleppt hatte. Dann der Zusammenbruch. Die Zeit im Gefängnis. Dann die Zeit in Arabien. Jetzt wieder Wien. Hannes hatte immerhin begriffen, dass er damals nicht Wien gehasst hatte, sondern sein Leben. Jetzt hasste er Wien nicht mehr, auch wenn er den dringenden Wunsch verspürte, für eine Weile die Stadt zu verlassen. Also hatte er sich einfach ins Auto gesetzt. Und er hasste sein Leben nicht mehr. Er nahm es, wie es kam. Immerhin war er mit der Zeit klüger geworden. Ruhiger. Freier. Einsamer.

Der alte Škoda verfügte über keine Klimaanlage, also standen die beiden Seitenfenster ein Stück offen und das Gebläse arbeitete auf mittlerer Stärke. Als sich der Wagen dem Tunnelportal näherte, schloss Hannes die Fenster und stellte das Gebläse ab. Der Berg verschlang die Autokolonne. Hannes hielt die Rücklichter der Vorderwagen genau im Blick. Er mochte Tunnel nicht, so viel war schon nach ein paar Metern klar. Hannes versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, die Nervosität niedrig zu halten, aufmerksam zu bleiben. Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad, ruhelos wanderte sein Blick vom Vorderwagen zum Tachometer und weiter zum Rückspiegel. Und wieder von vorn. Eine Minute. Nichts Besonderes geschah, die Fahrzeuge rollten weiter durch den Berg. Hannes entspannte sich. Eigentlich war das Fahren durch den Tunnel kein Problem. Warum war er so aufgeregt? Nun, als Autofahrer war er ein Anfänger. Er hatte erst im Gefängnis angefangen, für den Führerschein zu lernen, danach die nötigen Fahrstunden genommen und die Prüfung drei Tage vor seiner Abreise nach Arabien geschafft. Das war eine Bedingung des deutschen Unternehmens gewesen. Die schickten nur Arbeiter mit offizieller Fahrerlaubnis in die Wüste. Er hatte es rechtzeitig geschafft. Aber Hannes war in Arabien kaum selbst gefahren, sondern hatte meist im Firmenbus gesessen.

Das Licht am Ende des Tunnels kam in Sicht. Der Wagen vor ihm legte ein wenig an Tempo zu. Hannes schloss auf. Und schon spie der Berg die Autokolonne wieder aus. Hannes riss die Augen auf. Was war das? Er konnte es nicht glauben. Auf der einen Seite des Tunnels war die Landschaft grün und waldreich, auf der anderen Seite karg und braun. Der Bergzug bildete eine Klimascheide. Am Westhang herrschte mediterranes Klima, am Osthang mitteleuropäisches. Und in der Ferne meinte er schon das Meer auszumachen. Ein Lächeln legte sich auf Hannes’ Miene.

Wieder das Meer. In den letzten beiden Jahren war er ja ein bisschen in der Welt herumgekommen, und egal in welchem Land er gewesen war, das Meer hatte ihn immer fasziniert. Vielleicht lag es daran, dass er in seinen früheren Jahren in der Wiener Vorstadt das Meer nur aus dem Fernsehen gekannt hatte.

Irgendwo würde er einen Campingplatz finden. Kroatien war ja ein Paradies für Camper, die es ein bisschen rustikal mochten. Das Zelt hatte er einen Tag vor seiner Abfahrt gekauft. So richtig geplant war seine Urlaubsreise nicht. Er hatte spontan den Entschluss gefasst, ein bisschen Zeug zusammengetragen und war aufgebrochen. Ab in den Süden. Wann er wieder nach Wien zurückkehren würde, stand in den Sternen. In fünf Tagen, in drei Wochen oder erst im September? Alles war möglich. Er hatte keine großen Pläne.

Ja, zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Hannes wirklich frei.

Ein großartiges Gefühl.

4. Szene

»Wann machst du deinen Urlaub?«, fragte Körner.

Hoffmann verließ mit moderatem Tempo den Parkplatz des Kommissariats. Er hatte es nicht eilig, zum Tatort zu kommen. Beide Fenster der Vordertüren standen sperrangelweit offen, der Ventilator blies durch die Lüftungskanäle. Der Wagen hatte über Mittag in der prallen Sonne gestanden, dementsprechend glühte das Blech und in der Fahrerkabine war es heiß wie in einer Sauna.

»Ich mache heuer keinen längeren Sommerurlaub. Nur ein paar Tage zwischendurch.«

Sigrid Körner zog die Augenbrauen hoch. »Gar nicht? Keine Reise irgendwohin?«

Hoffmann wiegte den Kopf. »Alles, nur keine Reise irgendwohin, bitte. Ich finde Reisen furchtbar unbequem.«

Körner lachte. »Sag bloß, du wirst faul.«

»Faulheit ist eine Tugend.«

»Von der gerade du wenig verstehst.«

»Ich übe noch.«

»Na hallo, ich brauch schon Urlaub. Absolut. Zwei Wochen im Süden sind für mich unbedingt unverzichtbar.«

Hoffmann wiegte den Kopf. »In einem Strandcafé am Meer ein kühles Bier schlürfen, das wäre schon okay. Nein, derzeit habe ich einfach keinen Urlaubsbedarf. Ich habe lange genug nichts getan. Die Arbeit schadet mir nicht.«

Körner nickte zustimmend. Anderthalb Jahre war Hoffmann im Krankenstand gewesen, um gegen seine Krebserkrankung zu kämpfen. Der Kampf war dank seiner Sturheit, viel Glück und natürlich dank optimaler ärztlicher Unterstützung zu seinen Gunsten ausgegangen.

»Wie lange bist du jetzt wieder im Dienst?«

»Vier Monate.«

»Doch schon so lange. Die Zeit ist irgendwie verflogen.«

»Du hast in den letzten Wochen verdammt viele Überstunden gemacht, Sigrid. Das ist uns allen aufgefallen.«

»Passt schon so. Mir gefällt der Job, ich will Ergebnisse, also lasse ich nicht um fünf Uhr alles liegen und stehen, sondern mache halt bis sechs oder sieben weiter.«

»Oder bis neun oder zehn.«

Körner lachte. »Na, so oft ist das auch nicht passiert.«

Hoffmann nickte. »Da hast du recht, so oft ist es nicht passiert. Nur jeden zweiten Tag.«

»Stimmt nicht! Ein- bis zweimal in der Woche höchstens.«

»Ist ja jetzt egal, in jedem Fall hast du dir den Urlaub redlich verdient. Wann geht es los?«

»Erst in einem Monat. Ich fliege Ende August zwei Wochen nach Kreta.«

»Kreta! Sehr schön. Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Braten in der Sonne.«

»Wir werden nicht so oft in der Sonne braten, sondern die Insel erkunden. Mit dem Mietauto und den Fahrrädern einfach losfahren. Kreta ist groß genug für zwei Wochen Abenteuerurlaub.«

Hoffmann blinkte, bremste ab und wartete, bis der Gegenverkehr vorbeigefahren war, dann bog er links ab. Sie näherten sich dem Villenviertel am Schafberg.

»Gehen wir zwei wieder mal essen?«

Die Frage jagte einen heißen Schauer über Hoffmanns Rücken. Spontan erinnerte er sich an den wunderbaren Abend, als Körner und er beim Italiener gemeinsam gegessen hatten. Sie waren sich sehr nahe gekommen. Das war noch vor seiner Krankheit gewesen. Knapp danach hatten sie einen Ausflug an den Neusiedler See unternommen und zum ersten Mal miteinander geschlafen. Die kurze und intensive Beziehung mit Sigrid war ein hell leuchtender Höhepunkt seines ansonsten eher farblosen Lebens. Leider war die Beziehung zerbrochen. An seiner Krankheit. An der Situation, dass er nicht gewusst hatte, ob er dem Totengräber noch von der Schaufel springen würde. An seiner Angst, sich wirklich an sie zu binden, nur um sie ein paar Augenblicke später wieder zu verlieren. In den letzten paar Wochen hatte er sich ganz gut im Griff gehabt und nicht jedes Mal an die schönen Momente mit ihr gedacht, wenn sie gemeinsam in einer Besprechung saßen oder Körner einen Bericht in seinem Büro vorbeibrachte. Und jetzt diese direkt gestellte Frage. Hoffmann holte tief Luft.

»Du, Sigrid, wenn du mich so direkt fragst, dann ja. Sehr gerne sogar.«

Körner fasste nach dem Griff oberhalb ihres Sitzes. Sie funkelte ihn mit großen Augen an. Freude spiegelte sich in ihrem Gesicht. Hoffmanns Herz hüpfte. Wie schön sie war. Eine großartige Frau.

»Super. Was hältst du davon, wenn wir wieder zu diesem Italiener gehen?«

»Zu Cesare?«

»Ja, genau, zu Cesare. Er hat die beste Pizza im Bezirk.«

»Das ist auch meine Einschätzung.«

»Die Woche mal?«

»Von mir aus sobald wie möglich.«

»Reden wir noch. Ich habe jetzt meine Abendtermine nicht genau im Kopf. Ich muss dir nämlich etwas erzählen.«

Hoffmanns Puls war gehörig in Schwung geraten. »Ich höre dir gerne zu. Rede nur.«

Körner deutete durch die Windschutzscheibe nach vorn. »Nicht im Dienst. Wir sind da.«

Zwei Streifenwagen standen vor dem Gartenportal einer ausladenden Villa.

5. Szene

Sie stand in der Küche und zerkleinerte das Gemüse für die Suppe. Natürlich unterschied sich das Warenangebot in den hiesigen Supermärkten von den Waren auf den Märkten ihrer Heimat, und auch die Rezepte der hier üblichen Speisen waren ihr zuerst nicht nur fremd, sondern sogar seltsam erschienen, aber sie hatte sich schnell daran gewöhnt. Mittlerweile liebte sie sogar Speisen wie Minestrone, Frittatensuppe oder Borschtsch. Da ihr Mann auf Reisen war, wollte sie eine Suppe zubereiten. Klare Gemüsesuppe mit frischem Schnittlauch und dazu Brot. Für ihren Mann kochte sie regelmäßig auch üppigere Speisen, von denen sie selbst nur geringe Mengen essen konnte. Sie alleine könnte sich fast ausschließlich von Suppe ernähren. Und das Brot aus der Bäckerei im Wohnpark war von hervorragender Qualität.

Mit dem Messer schob sie die gewürfelten Kartoffeln vom Schneidebrett auf den Teller und griff nach den Karotten. Sie freute sich auf das Essen.

Ihr Smartphone gab einen Ton von sich. Tuki erstarrte für einen Augenblick, dann legte sie das Messer zur Seite, wusch ihre Hände und trocknete diese, während sie ins Wohnzimmer eilte. Es gab nur eine Person, die ihre Telefonnummer kannte, sie anrief oder SMS schickte. Tuki legte das Handtuch auf den Wohnzimmertisch und wischte über die Anzeige. Wie erwartet war die SMS von ihrem Mann. Sie öffnete die Nachricht:

Stell dich vor die Kamera im Wohnzimmer.

Tuki wusste natürlich, wie der Blickwinkel ausgerichtet war. Sie schaute nicht über ihre Schulter zur Kamera, vielmehr legte sie das Smartphone langsam weg und trat mit zu Boden geschlagenem Blick in die Mitte des Raumes. Sie stand still. Eine Minute. Eine zweite.

Wieder eine SMS.

Tuki trat an den Tisch und las die Nachricht.

Zieh dich aus.

Sie zögerte ein wenig, kehrte aber wieder in die Mitte des Raumes zurück. Die Pulsfrequenz lag hoch. Was, wenn genau jetzt 1.000 Männer vor ihren Computern saßen und ihr zusahen? Die Scham würde sie töten. Nein, das würde ihr Mann nicht zulassen. Er liebte es zwar, in der Öffentlichkeit seine schöne junge Frau vorzuführen, aber er hasste es, wenn Männer auf der Straße oder im Supermarkt sie angafften. Niemals würde er die Aufnahmen der Kameras für andere zugänglich ins Internet stellen. Niemals.

Ohne den Blick vom Boden zu erheben, entledigte sie sich ihrer Kleidung. Regungslos und nackt stand sie da, die Arme um ihren Busen geschlungen. Sie verharrte. Eine Minute. Eine zweite.

Ihr Smartphone signalisierte den Eingang einer SMS. Sie eilte zum Tisch.

Gut gemacht. Du kannst jetzt weiterkochen. Guten Appetit. In Liebe.

Tuki rannte los, las ihre Kleidung vom Boden auf und verschwand im Badezimmer. Hier gab es keine Kamera. Mit fahrigen Bewegungen bekleidete sie sich.

Unklar, wie sie sich fühlen sollte.

6. Szene

Hoffmann stellte sich in den Schatten eines Kastanienbaumes im Vorgarten der Villa und schaute sich um. Das Grundstück hatte eine mittlere Lage am Hang des Schafbergs. Die Häuser noch ein paar Höhenmeter weiter oben boten einen tollen Blick über die Dachlandschaft Westwiens und über die Hügelkuppen des beginnenden Wienerwaldes. Penibel gepflegt wirkte der Garten nicht, aber gerade diese gewisse Natürlichkeit machte für Hoffmann den Reiz aus. Das Haus wirkte schon etwas angegraut. Der letzte Anstrich der Fassade war sicher ein paar Jährchen her. Wie er von seinem Kollegen am Telefon gehört hatte, wohnte hier ein alter Mann alleine. Verdammt viel außerordentlich kostbarer Wohnraum für einen Einzigen. So wirkten der Garten und die Villa auch auf ihn. Das Heim eines alten reichen Mannes. Links neben der Steintreppe befand sich ein Nebengebäude mit einer doppeltürigen Garage. Er tippte, dass darin ein Mercedes oder ein Volvo mit wenigen Kilometern auf dem Tacho stand, der kurz davor war, als Oldtimer eingestuft zu werden. Hoffmann sog die Atmosphäre des Gartens in sich auf, dann folgte er Körner in das Innere der Villa.

Körner und ein uniformierter Polizist standen in der Vorhalle. Hoffmann trat auf die beiden zu und reichte dem ihm flüchtig bekannten Kollegen die Hand zum Gruß.

»Hallo, Herr Leutgeb. Länger nicht gesehen.«

»Grüß Gott, Herr Hoffmann. Habe schon gehört, dass Sie in alter Frische wieder an Bord sind. Freut mich.«

Hoffmann wiegte den Kopf. »Na ja, alte Frische ist sportlich formuliert, aber ich habe alle sieben Zwetschgen halbwegs beieinander. Hat die Tatortgruppe schon ein paar Infos?«

»Am besten, Sie fragen gleich selbst nach. Da lang.«

Hoffmann nickte dem Mann zu, Körner und er gingen in ein Zimmer am linken Flügel des länglich gebauten Hauses. Sie traten in eine altertümlich eingerichtete Bibliothek. Schöne alte Möbel, ein ausladendes Bücherregal, eine Sitzgruppe mit Sofa, ein Ohrensessel und ein Tisch. Von der Decke hing ein schwerer Kristallluster. Der Raum war durchwühlt worden. Zwei Männer in weißen Overalls waren eben dabei, ihre Arbeit aufzunehmen. Hoffmann und Körner blieben im Türstock stehen.

»Guten Tag, die Herren«, rief Hoffmann.

Die zwei Männer blickten hoch. Einer kam auf Hoffmann und Körner zu. Karl Sattler reichte den Kollegen vom Kriminaldienst nicht die Hand zur Begrüßung, er trug längst Latexhandschuhe.

»Servus, Wolfgang. Hallo, Sigrid.«

Körner erwiderte die Begrüßung mit einem Nicken.

»Servus, Karl. Lagebericht bitte.«

»Wir fangen ja erst mit der Arbeit an, also gibt es noch keine Details.«

»Schon klar.«

»Im Großen und Ganzen schaut das Szenario folgendermaßen aus: Der oder die Täter sind durch die Hintertür eingedrungen. Mit schwerem Werkzeug. Türen und Fenster sind zwar nicht mehr auf dem neuesten Stand, aber vor 20 Jahren war das, was wir hier sehen, erste Qualität im Bereich Sicherheitstechnik. Die haben mindestens mit einem Maurerfäustel oder gleich mit einem Vorschlaghammer gearbeitet. Eher nicht die feinen Profis, sondern eine schnelle Truppe mit viel Kraft.«

»Sie haben also Lärm gemacht.«

»Das ganz sicher.«

Hoffmann wandte sich an Körner. »Da wird eine Befragung der Nachbarn nötig sein.«

»Gibt es im Haus eine Alarmanlage?«, fragte Körner.

»Ja, aber die war entweder außer Betrieb oder nicht eingeschaltet. Müssen wir erst prüfen.«

Hoffmann ließ den Blick über das Durcheinander im Raum streifen. »Die haben methodisch gesucht.«

Sattler nickte zustimmend. »Den Eindruck habe ich auch. Ich habe die anderen Zimmer schnell durchgesehen. Der oder die Täter haben keinen Wert auf besondere Vorsicht gelegt, aber sie haben sich mit System durch das Haus gearbeitet. Also schon Profis, mindestens gut geführte Halbprofis. Allerdings muss man sagen, einigermaßen vernünftige Anfänger würden in so eine Villa nicht einsteigen, und Junkies oder Volltrottel scheitern schon am Gartenzaun.«

»Glaubst du, dass es ein Einzeltäter war?«

Karl Sattler verzog den Mund. »Derzeit kann ich einen Einzeltäter nicht ausschließen, aber ich glaube, dass da zwei oder drei Mann am Werk waren. Und bezüglich Beute kann ich auch noch nicht viel sagen, in jedem Fall dürften sie im Raum dahinter ein paar recht interessante Dinge gefunden haben.«

Hoffmann lugte durch die offen stehende Tür in den direkt an die Bibliothek anschließenden Raum. Viel konnte er nicht erkennen. »Was ist das für ein Raum?«

»Das Büro des Hauseigentümers. Ein riesiger Schreibtisch, eine kleine Bar in einem Globus, Aktenschränke und ein Tresor. Der Tresor ist ein zwar altes, aber massives Ding. Vollprofis mit Maschinen hätten den mit ein bisschen Geduld knacken können, aber dafür war die Truppe offenbar nicht ausgerüstet. Der Tresor zeigt keine Kratz- oder sonstigen Spuren. Den haben die Täter offenbar ganz bewusst nicht angerührt. Was auf Disziplin und gute Selbsteinschätzung schließen lässt. Dafür haben wir eine aufgebrochene Geldkassette gefunden. Zwei mittelformatige Bilder hängen nicht mehr an der Wand. Ich glaube, im Büro haben sie eine Menge Zeug gefunden und mitgenommen.«

»Kann ich mir das Büro mal ansehen?«

Sattler winkte ab. »So sicher nicht. Wenn, dann musst du Schutzkleidung überziehen.«

»Wo liegt die Leiche?«

»Einen Stock höher im Badezimmer. Treppe hoch, dann links. Die Paula und der Kevin sind oben an der Arbeit. Nehmt euch bitte gleich die Schutzkleidung aus unserem Gepäck. Dr. Winkler kommt in den nächsten Minuten. Er hat nicht gleich losfahren können.«

»Besten Dank, Karl.«

Körner und Hoffmann langten in einen der Koffer des Tatortteams, stiegen in die weißen Ganzkörperanzüge und streiften Latexhandschuhe über.

»Na, dann schauen wir mal«, brummte Hoffmann.

Körners Miene war hart, verschlossen und konzentriert. Wahrscheinlich sah seine ganz ähnlich aus, in jedem Fall fühlte er die Anspannung vor der Besichtigung eines Gewaltopfers. Sie stapften nebeneinander die breite Treppe hoch. Im Obergeschoss lagen mehrere Räume. Sie wandten sich nach links und gingen zum Ende des Ganges. Im Bad brannte Licht.

»Hallo, ihr beiden«, rief Hoffmann zur Begrüßung.

Paula Weigl kniete neben der Leiche, ihr jüngerer Kollege Kevin Rauter war mit dem Badezimmerschrank beschäftigt. Der Tote lag in seinem Blut rücklings auf dem Boden. Das Hemd war im Bereich des Bauches dunkel eingefärbt, am Hals klaffte eine Wunde. Hoffmann hielt für ein paar Augenblicke seinen Atem an.

»Hallo«, erwiderte Weigl.

Die Polizistin war ein paar Jahre älter als Hoffmann. 15 Jahre war sie im Streifendienst gewesen, dann hatte sie die nötige Ausbildung zur Kriminaltechnikerin mit Erfolg durchlaufen. Die robuste Endvierzigerin hatte in ihrem Dienst so ziemlich alles gesehen, was man im Polizeidienst zu sehen bekam. Sie war Karl Sattlers rechte Hand im Team. Körner kniete sich neben Weigl zu Boden, Hoffmann hielt lieber etwas Abstand ein.

»Hast du schon ein paar Infos?«

»Ein paar schon«, hob Weigl an. »Der Mann heißt Friedrich Asperger, 80 Jahre alt, mittlere Größe, etwa 75 Kilogramm. Er scheint noch recht rüstig gewesen zu sein, wir haben keine Gehhilfen irgendwelcher Art gefunden. Kein Gehstock, keine Krücken, kein Rollator. Stiegen steigen scheint für ihn kein Problem gewesen zu sein. Wie schaut es mit Medikamenten aus, Kevin?«

Der jüngere Kriminaltechniker blickte zu Weigl hinüber. »Keine Auffälligkeiten. Mittel gegen hohen Blutdruck, Schlaftabletten, Vitamin-C-Tabletten und Salben gegen Gelenkschmerzen. Für sein Alter dürfte er gut in Form gewesen sein.«

»Wie du siehst, hat er mehrere Stichwunden«, setzte Weigl fort. »Drei am Bauch, eine am Hals. Ohne jetzt der Medizin vorgreifen zu wollen, tippe ich auf tödlichen Blutverlust durch die Halswunde. Gewaltige Sauerei hier.« Sie wies mit einer knappen Handbewegung auf die Blutpfütze.

»Ein Messer?«

Weigl nickte zustimmend und zeigte auf die Wunde am Hals. »Ich denke, ja. Da sieht man es genau. Glatte Wundränder, keine offensichtlichen Hautfetzen. Schaut nach einem scharfen Messer aus. Die Obduktion wird Genaueres liefern.«

Körner deutete auf den Kopf der Leiche. »Die Nase ist gebrochen.«

»Korrekt. Ihr seht auch das Hämatom rund um die Nase. Er hat ziemlich sicher prämortal einen Schlag darauf gekriegt. Im Speisezimmer einen Stock tiefer haben wir Blutspuren gefunden. Dort könnte der Mann auch gelegen haben. Anhand der Spuren halte ich das für sehr wahrscheinlich. Auf der Treppe haben wir ein paar kleine Bluttropfen gefunden.«

Hoffmann überdachte die Informationen und formte im Kopf ein Szenario. »Was meint ihr zu diesem Ablauf? Die Einbrecher waren an der Arbeit, Asperger hat sie gehört und wollte sie entweder stellen oder vor ihnen fliehen, ist im Esszimmer auf mindestens einen von ihnen gestoßen, wurde ins Gesicht geschlagen und ist zu Boden gegangen. Die Einbrecher haben ihren Krempel gepackt und wollten abhauen. Asperger hat sich hochgerafft und wollte sich im Obergeschoss in Sicherheit bringen. Das haben die Täter bemerkt, sind ihm gefolgt und haben ihm hier im Badezimmer mit einem Messer den Rest gegeben.«

Kevin Rauter schaute zu Hoffmann und hob zustimmend den Daumen.

»Ich könnte mir vorstellen, dass die Geschichte sich ungefähr so abgespielt hat«, meinte Weigl.

»Also Raubmord.«

»Schaut schwer danach aus.«

»Habt ihr irgendwo ein Handy gefunden?«

»Noch nicht.«

Hoffmann trat zum Badezimmerfenster und blickte zur Straße hinunter. Eben fuhr ein ihm bekannter Wagen vor. Die Rechtsmedizin war also auch schon vor Ort. Er schnappte nach Luft. So viel Blut. Nach all den Jahren war der Anblick einer Leiche, vor allem einer Leiche mit derart viel Blut, für ihn nach wie vor schwer erträglich. Sigrid Körner trat neben Hoffmann. Sie schien mit dem Anblick des Toten keine Probleme zu haben.

»Wenn das wirklich Profis waren, dann werden wir die nie finden. Die sind sicher schon über alle Berge.«

Hoffmann wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht. Lassen echte Profis den Tresor unberührt? Lassen sich echte Profis vom Hausbesitzer überraschen und ermorden ihn dann? Das passt nicht ganz.«

»Also eher Halbprofis.«

Hoffmann zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Komm, schauen wir uns das Haus genauer an.«

7. Szene

Die Morgensonne stand schon ziemlich hoch. Hannes schlug die Augen auf und streckte sich. Wieder gut geschlafen. Die dritte Nacht im Zelt. Er hatte einfach Riesenglück gehabt, dass gerade, als er hier angekommen war, einer der im Dickicht versteckten Stellplätze frei geworden war. Die meisten Stellplätze in dieser Bucht der Insel Murter lagen rund um die Sanitäranlagen und das Strandcafé. Nicht alle Plätze waren schattig, aber die echten Camper mit ihren Bussen waren gut ausgerüstet und konnten mit Planen, Stangen und Seilen in Nullkommanichts für Schatten sorgen. Und dann gab es noch eine Handvoll Stellplätze, von denen man nicht genau wusste, ob sie zum Campingplatz gehörten oder schon im Unterholz der Hügel lagen. Einen dieser Plätze hatte Hannes gekriegt. Als er angekommen war, hatte er einen ausgedehnten Spaziergang unternommen, dabei hatte er entdeckt, dass ein junges Ehepaar mit Kleinkind ihre Sachen packte. Hannes war mit dem Paar ins Gespräch gekommen. Die beiden Slowenen hatten erstaunlich gut Deutsch gesprochen. Kein Wunder, Maribor lag einen Steinwurf von der Grenze zu Österreich entfernt, viele Slowenen beherrschten nicht nur ihre Muttersprache, sondern auch Deutsch und Englisch. Schließlich hatte Hannes noch geholfen, die Ausrüstung des Ehepaars zu deren Auto zu tragen, dann hatte er sein Zelt aufgebaut.

Es war irgendwie seltsam gewesen. Frühmorgens war er von Wien losgefahren, hatte den ganzen Tag am Steuer seines Autos verbracht, am späten Nachmittag hatte er den Campingplatz auf Murter erreicht und bei Sonnenuntergang war er auf einem Felsen am Meer gesessen und hatte am Firmament nach Sternen gespäht.

Wer die Enge einer Gefängniszelle von innen kannte, der musste einfach die Offenheit des Meeres lieben.

Die Pinien spendeten gerade in der Morgenstunde kühlenden Schatten. Hannes öffnete den Reißverschluss des Zeltes und trat hinaus. Er hatte nur ein kleines Zelt gekauft. Ein Iglu. Ausgelegt für drei Personen, aber wenn wirklich drei Männer von Hannes’ Größe in diesem Zelt schlafen wollten, mussten sie sich schon gut organisieren. Er schlüpfte in seine Sandalen und verschwand für ein Weilchen im Wald. Für das kleine Morgengeschäft marschierte er nicht extra zum Toilettenhäuschen.

Sein Frühstück bestand aus Wasser, Brot, Käse, Paprika und Tomaten. Täglich nach Sonnenaufgang wurde ein etwa 14-jähriger Junge von seinem Vater oder Onkel zum Campingplatz gebracht. Der Junge stand dann den ganzen Vormittag über hinter zwei Ladentischen unter freiem Himmel und verkaufte Obst und Gemüse. Im Laufe des Vormittags fuhr ein mobiler Bäckerladen vor, der nicht nur Brot und Gebäck, sondern auch Milch, Käse, Wurst und Konserven verkaufte. Hannes hatte sich reichlich mit Vorräten eingedeckt. Auch zwei Flaschen kroatischen Rotwein hatte er gekauft. Und eine davon hatte er bereits in langsamen Zügen geleert.

Er genoss jeden Augenblick der Ruhe.

Ein Plan für den Vormittag war schnell gefasst. Er würde die paar Schritte zum Ufer gehen, sich auf die Steine legen, sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, dann würde er die knapp 200 Meter zum Eiland vor der Küste schwimmen, dort rasten, wieder zurückschwimmen, danach noch ein wenig schnorcheln, aus dem Wasser steigen, um sich wieder die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Irgendwann würde er beim Zelt etwas essen und im Schatten lesen. Es gab keinen besseren Plan für einen Tag wie diesen.

Hannes schmunzelte und packte seine Vorräte wieder sorgsam ein. Ameisen wollte er keine anlocken. Am Strand und am Campingplatz waren die Sitten sehr locker, wer wollte, zog sich Badekleidung an, wer das nicht wollte, badete nackt. Kroatien eben. Die Menschen hier zeigten in Alltagsdingen eine gewisse Lässigkeit, die Hannes einfach mochte. Kein Vergleich zu den Sitten, die er in Arabien kennengelernt hatte. An einem der seltenen freien Wochenenden war er mit Kollegen an einem Badestrand am Roten Meer gewesen. Das war eine komplett andere Welt gewesen.

Hannes schlüpfte vor dem Zelt aus seinen Shorts und dem T-Shirt, putzte unbekleidet seine Zähne, unterzog sich einer Rasur, zog seine Badehose an, packte die Badesachen und ging zum Strand.

Am ersten Tag hatte er sich nackt in die Sonne gelegt. Dann aber hatte er bemerkt, dass ihn ein bestenfalls 16-jähriges Mädchen immer wieder angestarrt hatte. Den Eltern des Mädchens war das noch nicht aufgefallen. In jedem Fall war Hannes die Situation unangenehm gewesen, also hatte er die Badehose angezogen. Seitdem lag er nicht mehr nackt auf den Felsen. Und das Mädchen hatte sich wohl damit abgefunden, dass der groß gewachsene Wiener mit den Tätowierungen auf dem Oberkörper für sie unerreichbar war.

Hannes breitete das Badetuch auf dem Felsen aus. Noch waren nicht so viele Menschen am Ufer, es war sehr früh. Die Gäste des Campingplatzes stammten aus nahezu allen Staaten Mitteleuropas. Hannes traf auf Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Serben, Slowenen, Italiener, Deutsche, Österreicher und sogar ein paar Holländer, die mit ihren großen Campingbussen angereist waren. Und natürlich auch Kroaten. Die Einheimischen aus dem Landesinnern, aus Zagreb oder Karlovac, verbrachten auch gerne den Urlaub am Meer.

Wie die Familie, die eben den Trampelpfad an der Grenze zwischen Küste und Wald entlangmarschierte. Hannes war mehrmals am großen Stellplatz der Familie vorbeigekommen. Der Campingbus und der Kombi, mit dem die fünf Erwachsenen und drei Kinder angereist waren, trugen Zagreber Kennzeichen. Die Familie war ihm schon am ersten Abend aufgefallen. Der ältere Mann hatte am Grill gestanden, die ältere Frau hatte Getränke serviert, die zwei jüngeren Frauen hatten Salate zubereitet, während der jüngere Mann mit den beiden Buben im Teenageralter und dem kleinen Mädchen Fußball gespielt hatte. Hannes war von der offensichtlichen familiären Harmonie irgendwie peinlich berührt gewesen. Ja, da war auch eine Portion Neid dabei. Warum hatte er nie einen Vater gehabt, der mit ihm zum Campen gefahren war und mit ihm Fußball gespielt hatte? Warum hatte er keinen Großvater gehabt, der, ein Bierchen trinkend, am Grill stand, Koteletts, Fisch und Kartoffeln wendete und lachend mit der Grillzange drohte, wenn der Ball in Richtung Grill rollte?

Die beiden Frauen um die 30 schienen Schwestern zu sein. Die ältere war die Ehefrau des Mannes und Mutter der beiden Burschen. Die jüngere Schwester schien die Mutter des etwa dreijährigen Mädchens zu sein. Zwei attraktive Frauen, vor allem die jüngere. Es war leicht zu beobachten, dass praktisch alle Männer auf dem Campingplatz den beiden hinterherschauten.

Die Großeltern waren wohl am Stellplatz geblieben, aber das junge Volk suchte nach einem geeigneten Badeplatz. Die zwei Buben verließen den Trampelpfad und hüpften von Felsen zu Felsen. Das kleine Mädchen verfolgte neugierig die riskanten Sprünge der Buben, traute sich aber nicht, ihnen zu folgen, und ließ sich von ihrer Mutter an die Hand nehmen. Hannes schaute der Gruppe hinterher. Etwa 50 Meter weiter fanden sie ein geeignetes Plätzchen und breiteten ihre Badetücher aus.

Für einen Moment blickten die jüngere Frau und Hannes einander an. Dann beugte sie sich zu dem Mädchen hinunter und zog Schwimmflügel über dessen Oberarme. Die zwei Burschen sprangen ins Wasser, planschten und schwammen am Ufer entlang.

Hannes erhob sich, stieg über die Felsen ins Wasser, tauchte unter. Mit kräftigen Zügen schwamm er weit hinaus und steuerte schließlich das Eiland an. Kurz vor dem Ufer forcierte er das Tempo.

8. Szene

Während Hoffmann das Auto durch die Straßen lenkte, wischte Körner auf ihrem Smartphone herum. Sie fuhren in gemächlichem Tempo vom Schafberg in Richtung Nussdorf. Von einem Villenviertel in das andere. Körner pfiff durch die Zähne.

»Na superklasse, jetzt das.«

Hoffmann zog die Augenbrauen hoch. »Was gefunden?«

Körner schaute Hoffmann von der Seite an. Hoffmann hatte mehrfach bewundernd festgestellt, dass seine junge Kollegin auf ihrem Smartphone sehr effizient recherchieren konnte. Er verwendete sein Smartphone nur zum Telefonieren, zum Tippen von SMS und E-Mails, aber echte Datenbankrecherche verrichtete er lieber auf einem für ihn übersichtlichen PC-Bildschirm.

»Katharina Tobler ist die Ehefrau von Oskar Tobler.« Körner sprach den Namen Oskar Tobler aus, als schmecke er nach Ameisensäure.

»Der Oskar Tobler?«

»Ganz genau, der Herr Superjournalist, die geschissene Arschwarze.«

Hoffmann musste unwillkürlich schmunzeln. »Sigrid, so starke Wörter aus deinem Mund? Das kenne ich gar nicht von dir.«

Körner wurde übellaunig. »Na, weil es wahr ist! Der Ungustl schreibt mindestens einmal pro Woche einen Hassartikel gegen die Radfahrer, die Emanzen und gegen die Ökos im Allgemeinen. Das ist ein chauvinistischer Vollwappler, korrupt, verlogen und vertrottelt bis zum Abwinken!«

»Du musst seine Artikel ja nicht lesen.«

»Mache ich aber immer wieder.«

»Aus Masochismus?«

»Um zu wissen, wer meine Gegner sind und was sie so denken.«

»Willst du am Ende gegen den Tobler und sein Schmieren­blatt kämpfen? Weil du eine Rad fahrende Ökoemanze bist?«

Körner warf Hoffmann einen streitbaren Blick zu. »Haha, sehr witzig! Mach dich nur lustig über mich. Das ändert nichts an der Tatsache, dass sich Tobler für positive Berichterstattung über manche Firmen oder Bauprojekte fürstlich bezahlen lässt. Das wissen alle, aber niemand unternimmt etwas dagegen.«

»So läuft das freie Spiel der Meinungsbildung, so funktioniert Propaganda im Kapitalismus eben. Man kauft nicht nur große Plakatflächen auf Hauptstraßen oder Werbezeit im Fernsehen, sondern auch die Gedanken der Menschen. Das nennt man Content-Marketing. Habe ich zuletzt wo gelesen.«

»Und das ist in Ordnung für dich, oder was?«

»Habe ich nicht behauptet.«

»Aber du verteidigst diese Art von Journalismus?«

»Fällt mir doch nicht ein.«

»Was soll das für ein blöder Begriff von Marketing sein? Ist es okay, wenn die Gedanken der Menschen gekauft werden? Und wenn Journalisten wie Tobler sich damit eine goldene Nase verdienen.«

»Ich habe nur andeuten wollen, dass ich Leute wie Tobler gar nicht als Journalisten sehe und seine Zeitung nicht als Informationsmedium wahrnehme. Deswegen rege ich mich über den Blödsinn auch nicht auf.«

»Ja, weil du ein mit allen Wassern gewaschener Kieberer bist, der alles schon mal erlebt hat und den gar nichts mehr aufregen kann. Voll der coole Superbulle.«

Hoffmann konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Bitte, Sigrid, jetzt nur nicht persönlich und untergriffig werden.«

Körner war sichtlich verärgert. »Verarschst du mich, Wolfgang?«

Hoffmann ließ sich mit der Antwort Zeit. Das Auto näherte sich der Zieladresse. »Nein. Ich nehme deine Haltung sehr ernst, aber mir ist lieber, du lässt den Dampf, der sich bei der Nennung des Namens Oskar Tobler schlagartig aufstaut, mir gegenüber ab, als dass du ihn in das kommende Gespräch mitnimmst.«

Sigrid Körners Ärger war mit einem Mal verflogen. Sie starrte Hoffmann überrascht an. Mit einer solchen Antwort hatte sie nicht gerechnet.

»Immerhin müssen wir der Frau mitteilen, dass ihr Vater ermordet worden ist. Und der alte Asperger ist nun mal der Schwiegervater von Oskar Tobler. Vorteilhaft, wenn wir die Sache ruhig und sachlich über die Bühne bringen könnten.«

9. Szene