Caffè in Triest - Günter Neuwirth - E-Book

Caffè in Triest E-Book

Günter Neuwirth

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Beschreibung

In der Stadt an der Adria gelingt Jure Kuzmin der Aufstieg vom einfachen Seemann zum Kaffeeimporteur. Als er sich in die Tochter eines Triester Großhändlers verliebt, macht er sich den Dandy Dario Mosetti zum Feind. Um seinen Nebenbuhler loszuwerden, ersinnt Dario einen perfiden Plan. Doch sein Vorhaben entfesselt einen Bandenkrieg und Inspector Bruno Zabini muss einschreiten. Dabei gestaltet sich sein Privatleben dieser Tage äußerst turbulent.

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Günter Neuwirth

Caffè in Triest

Roman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Imagno

ISBN 978-3-8392-7062-2

Personenverzeichnis

Brunos privates Umfeld

Bruno Zabini, 37, Inspector I. Klasse, Triest

Heidemarie Zabini, geb. Bogensberger in Wien, 59, Brunos Mutter

Salvatore Zabini (1836–1899), Brunos Vater

Maria Barbieri, geb. Zabini, 32, Brunos Schwester, Triest

Fedora Cherini, 34, Hausfrau, Triest

Luise Dorothea Freifrau von Callenhoff, 27, Schriftstellerin, Sistiana und Triest

Lionello Ventura, 39, Schiffsbauingenieur, Brunos langjähriger Freund

Die Triester Polizei

Dr. Stephan Rathkolb, 59, Polizeidirektor

Johann Ernst Gellner, 52, Oberinspector

Emilio Pittoni, 40, Inspector I. Klasse

Vinzenz Jaunig, 47, Polizeiagent I. Klasse

Luigi Bosovich, 26, Polizeiagent II. Klasse

Ivana Zupan, 41, Bürokraft

Die wichtigsten Akteure

Jure Kuzmin, 25, Maschinist, aufstrebender Geschäftsmann

Franc, 50, und Alojzija, 47, Kuzmin, Jures Eltern

Anton, 27, Jože, 24, Amalija, 22, und Miško, 20, Kuzmin, Jures Geschwister

Rolando Cohn, 63, Reeder

Giovanni Pasqualini, 49, kosmopolitisch gesinnter Kaufmann

Elena Pasqualini, 21, Sprachstudentin

Milan Leskovar, 32, Polizist

Dario Mosetti, 27, Sohn eines Kleinfabrikanten

Pietro Panfili, 27, Sohn eines Großfabrikanten

Ludovico Antozzi, 26, Irredentist

Andrea Sgrazutti, 28, Steinmetz

Arrigo Franceschini, 26, Hafenarbeiter

Dienstag, 10. September 1907

Nicht mehr lange. Sie hatten es fast geschafft.

Im Osten war bereits ein Silberstreif am Horizont zu erkennen, in einer Stunde würde sich der Golf von Triest mit dem Rot der Morgensonne füllen. Die letzte Nacht auf See ging zu Ende. Jure hielt das Steuerrad der Argo in Händen und ließ, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, den Kompass nicht aus den Augen. Es war leicht, einen Dampfer auf offener See zu steuern, fand Jure, doch bei der Hafeneinfahrt würde wieder sein Vater am Steuer stehen.

Jure dachte zurück, wie lange es gedauert hatte, seinen Vater zu überzeugen, die nautische Schule zu besuchen. »Ich bin viel zu alt dafür. Wie schaut denn das aus, wenn ich Esel mich unter die jungen Männer mische? Das sind Flausen, schlag dir das aus dem Kopf!«, hatte sein Vater gesagt, aber Jure war hartnäckig geblieben. Und als Mutter nach einiger Zeit Jure in seinem Vorhaben unterstützt hatte, hatte sich Vater doch in der Schule einschreiben lassen. In Wahrheit hatte Franc Kuzmin nicht viel pauken müssen, nach zwanzig Jahren auf See hatte er längst alles Nötige gewusst, um einen Dampfer zu steuern. Natürlich hatte er das Seerecht und sonstige gesetzliche Regelungen auswendig lernen müssen, aber auf die Navigation oder die technische Wartung eines Dampfer verstand er sich als Bootsmann bestens. So hatte er nach und nach seine Scheu vor den Prüfungen abgelegt und schließlich das Kapitänspatent erlangt. Dieser Tag war für Franc Kuzmin und seine Familie ein großer gewesen.

Vater hatte Verwandte und Freunde zu einem Fest eingeladen, Jures Mutter, Schwester und Tante hatten groß aufgekocht, er und seine Brüder hatten die Tische und Stühle aufgestellt sowie Wein und Bier ausgeschenkt, Onkel Ivan hatte auf der Ziehharmonika gespielt. Es war ein schönes Fest. Und Jure hatte eine Rede gehalten. Die Verwandten hatten gestaunt, wie wortgewandt Jure vor ihnen sprechen konnte. Ja, Vater war auch erstaunt gewesen, und natürlich hatte er seinem Sohn vor allen dafür gedankt, dass er ihm so lange mit Forderungen auf die Nerven gegangen war, zur Schule zu gehen, bis er, Franc, sie erfolgreich absolvierte hatte.

Franc und Alojzija Kuzmin hatten fünf Kinder, Anton war ihr Ältester, er hatte selbst schon zwei Kinder, dann kamen Jure und Jože, die nur durch ein Jahr getrennt und seit der Kindheit praktisch unzertrennlich waren, das vierte Kind des Ehepaares war deren einzige Tochter Amalija und schließlich war da noch der jüngste Sohn, Miško, der sich als so gelehrig erwiesen hatte, dass er an der Universität zu studieren begonnen hatte. Ja, in stillen Momenten waren Franc und Alojzija auf ihre Kinder stolz, selbst wenn sich Jože wieder einmal auf eine Prügelei eingelassen hatte. Aber das mit den Raufereien hatte sich zum Glück gelegt, seit er Mitglied im neu gegründeten Boxverein war.

Alle hatten gesagt, dass Jure spinne, dass er sich verrannt habe, dass er es niemals schaffen würde. Sein ältester Bruder Anton hatte es gesagt, ebenso Onkel Ivan, seine Mutter, alle hatten Jures Pläne für unrealistisch gehalten, ja, sein Vater hatte mehrfach die Befürchtung geäußert, dass er sich in Teufels Küche begebe und entweder im Armenhaus oder im Gefängnis landen würde. Nur Jože hatte stets an Jures Seite gestanden. »Regt euch nicht auf«, hatte Jože achselzuckend gesagt, »Jure schafft das, es gibt nichts, was Jure nicht schafft.«

Drei Stunden noch bis zur Hafeneinfahrt.

Jure hatte alles riskiert, zum einen hatte er das gesamte Geld der Familie gesammelt, zum anderen hatte er ein beträchtliches Darlehen aufgenommen. Die großen Triester Banken und Versicherungsgesellschaften lagen in den Händen der Italiener und Deutschen. Jure hatte gar nicht erst versucht, bei ihnen Geld zu leihen, weil es kein Geheimnis war, dass die finanzstarken Institute die Slowenen zwar als tüchtige Arbeitskräfte schätzten, nicht aber als Geschäftspartner. Man blieb lieber unter sich. Deshalb hatten sich bereits Ende des vorigen Jahrhunderts slowenische Genossenschafts- und Konsumvereine gebildet, die es der Volksgruppe erlaubten, in bescheidenem Rahmen selbstständige Geschäfte zu betreiben. Doch erst 1905 gelang es mit der Gründung der Jadranska banka, der Adriatischen Bank, ein Bankhaus zu eröffnen, das konkurrenzfähige slowenische Unternehmen stützen konnte. Der Bankdirektor persönlich hatte sich viel Zeit genommen, um mit Jure, seinem Vater und Signor Cohn über das geplante Geschäft zu sprechen. Ohne das Darlehen wären Jures Pläne bloß abenteuerliche Ideen eines Träumers geblieben.

Sein Vater war der Kapitän, sein Bruder Anton war Matrose und Jože gehört zu den Heizern. Jure selbst arbeitete in seinem erlernten Beruf als Maschinist. Mit weiteren sieben Mann waren sie in Richtung Aden in See gestochen. Die Argo war das größte Schiff der Società Marittima R. Cohn Trieste. Die kleine Schifffahrtsgesellschaft gehörte Rolando Cohn, der in vierzig Jahren Arbeit seine Firma aufgebaut und solide geführt hatte und der schon längere Zeit daran dachte, die drei Trabakel, die kleine Dampfbarkasse und den mittlerweile betagten Hochseedampfer Argo zu verkaufen. Er wollte endlich den wohlverdienten Ruhestand antreten. Signor Cohn hatte sich in Triest umgesehen, wem er seine Firma übergeben konnte, hatte aber niemanden gefunden, dem er wirklich vertraute, bis er schließlich auf Jure getroffen war. Rolando Cohn war von der Tatkraft und der praktischen Vernunft des jungen Mannes sofort angetan gewesen. Cohn fand Jures Idee zum einen umsetzbar, zum anderen auf längere Sicht gesehen einträglich.

Jure kannte die Geschichte des Schraubendampfers genau. Die Argo war 1877 im Lloydarsenal für den Österreichischen Lloyd gebaut worden, ein mit rund eintausendvierhundert Tonnen Verdrängung eher kleiner Dampfer, der bis 1897 vor allem die adriatischen Linien befahren hatte. Danach hatte die Reederei Hadji Daout Farkouh aus Smyrna den Dampfer auf Vermittlung Rolando Cohns übernommen, ihn umbenannt und das Schiff in der Ägäis und im Schwarzen Meer eingesetzt. Doch 1902 war die Reederei in schwere finanzielle Not geraten und Cohn hatte den Dampfer zurückgekauft, ihn wieder Argo genannt und in Triest in das Schifffahrtsregister eintragen lassen. 1906 war der Dampfer in keinem guten Zustand, der Rost nagte an ihm und die Maschine benötigte eine Überholung. Cohn, so hatte er es Jure berichtet, hatte befürchtet, das Schiff verschrotten lassen zu müssen, was einen beträchtlichen Verlust bedeutet hätte. Und dann war er, Jure, aufgetaucht. Er hatte Cohn überredet, ihn und seine Brüder mit der Überholung des Schiffes zu betrauen. Jure hatte die Farbe für die neue Lackierung gekauft, seine Brüder und die weiteren Arbeiter entlohnt, während Cohn die Überholung der Maschine bezahlte.

Jures Plan war der Import von Kaffee. Er war als blutjunger Seemann des Österreichischen Lloyds mehrmals in Arabien gewesen und hatte in Aden mit verschiedenen Kaufmännern Kontakt aufgenommen, die mit Kaffee aus Ostafrika handelten. Weiters hatte er es geschafft, mit dem britischen Generalkonsulat in Triest einen Kontrakt für den Transport von Kohle zu schließen. In Aden unterhielten die Briten einen großen Seestützpunkt, der die Stadt zu einem der bedeutendsten Häfen im Indischen Ozean gemacht hatte. Die Kohledepots in Aden versorgten unzählige Schiffe der südlichen Hemisphäre.

Der Österreichische Lloyd stand zwar seit der Eröffnung des Suezkanals in scharfer wirtschaftlicher Konkurrenz zu den britischen Schifffahrtsgesellschaften auf dem Weg zwischen Europa und Indien, doch die Seebehörden in Triest zeigten lebhaftes Interesse, dass die Kriegsschiffe der Royal Navy im Roten Meer und im Indischen Ozean auf den Schifffahrtslinien für Sicherheit gegen Piraterie sorgten. Also billigte man, dass Triester Reeder Kohle für die Royal Navy nach Aden und andere britische Stützpunkte verschifften.

Jures Absicht war, mit der Argo zwischen Triest und Aden zu pendeln, auf dem Weg in den Süden war der Dampfer mit Steinkohle beladen, auf dem Weg nach Norden mit Kaffee. Während die Kohle Eigentum der Royal Navy war, war der Kaffee seiner.

Gegenwärtig war die Argo mit arabischem Kaffee und indischem Tee beladen, wofür Jure jeden Heller ausgegeben hatte, den er und seine Familie hatten zusammenkratzen können. Jure rechnete, dass noch sieben Fahrten nötig sein würden, um seine Schulden zu tilgen.

Die Tür zur Brücke öffnete sich und Franc Kuzmin trat ein.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Vater.«

»Meldungen?«

»Keine Meldungen.«

»Die Maschine?«

»Läuft gut geschmiert.«

Franc trat nahe an die Scheibe und hob das Fernglas. »Ich sehe schon die Leuchtfeuer.«

»Höchstens noch drei Stunden.«

»Zwei. Wecke deine Brüder. Die gesamte Mannschaft. Ich übernehme das Steuer. Und leg dich für ein Weilchen aufs Ohr.«

Jure lächelte bis über beide Ohren. »Unmöglich, Papa, ich kann jetzt nicht schlafen.«

»Wie du meinst.«

»Wir haben es geschafft!«

»Warte, bis wir am Molo liegen.«

»Was soll jetzt noch schiefgehen?«

»Und warte ab, ob Signor Pasqualini zu seinem Wort steht.«

»Signor Pasqualini ist ein Ehrenmann. Und er wird gute Geschäfte machen.«

Franc Kuzmin schaute seinen Sohn von der Seite an. »Du platzt ja fast.«

»Glaubst du, dass Signorina Elena mit mir einen Spaziergang unternehmen wird?«

Franc Kuzmin lachte. »Wenn du Narr so weitermachst, wird sie dich am Ende heiraten. Und jetzt wecke die Mannschaft und mach Kaffee.«

*

»Mein Mann hat nie bei mir gelegen.«

Bruno war dabei, in süßem Schlummer zu versinken. Er blinzelte. »Nie?«

»Nicht ein einziges Mal.«

Bruno drehte den Kopf. Luise lag neben ihm bäuchlings im Bett, ihr blondes Haar bedeckte ihre Schultern. Sie schaute ihn mit halb geschlossenen Augen an. Bruno wandte sich ihr mit einer halben Drehung zu und berührte mit seiner nackten Haut die ihre. Er strich ihr Haar nach hinten.

»Weder vor, noch nach dem Geschlechtsakt hat er sich Zeit genommen. Der Gedanke, zumindest für eine kleine Weile bei seiner Ehefrau zu liegen, ist ihm schlicht und einfach nicht in den Sinn gekommen.«

»Derartig schlechtes Benehmen finde ich inakzeptabel.«

»In den ersten Monaten der Ehe habe ich versucht, ihm zu vermitteln, dass ich mich nach Nähe sehne. Ich wusste nicht, wie ich dies zur Sprache hätte bringen sollen, ich war jung, sprach- und hilflos. Später habe ich begriffen, dass jedes Gespräch über meine Wünsche und Sehnsüchte ohnedies vergeblich gewesen wäre.«

Bruno legte sein Bein auf ihr Gesäß und schmiegte sich noch enger an sie. Mit den Fingerkuppen strich er ihr über Nacken und Schultern.

»Er hat mich geküsst und berührt, er hat seine Haut an der meinen gerieben. Er hat sich mittels meines Körpers für den Geschlechtsakt in Bereitschaft gebracht.«

Bruno pfiff leise durch die Zähne. »Diese Formulierung! In Bereitschaft bringen? Es klingt so, als ob sich ein Feuerwehrmann in Bereitschaft bringt, in ein brennendes Haus zu stürmen, um ein Großmütterchen aus den Flammen zu retten.«

Luise lächelte. »Nun, die Flammen sind bald erloschen, damit war auch die Bereitschaft nicht mehr nötig. Kratz mich bitte an der Schulter. Weiter links, Ja, genau da. Danke.«

Bruno küsste die Stelle, die er eben gekratzt hatte. »Wäre es denkbar, nicht über deinen Mann zu sprechen?«

»Langweilt dich das?«

»Langeweile ist es nicht.«

»Ich habe es nur gesagt, um herauszustreichen, wie sehr es mich mit Glück erfüllt, dass du sowohl vor, als auch nach dem Geschlechtsakt bei mir liegst, und mich mit deiner Wärme, Nähe und Zärtlichkeit verwöhnst.«

Bruno schmunzelte. »Nun, erstens finde ich das Wort Geschlechtsakt allzu technisch deskriptiv, und zweitens gehört zum Akt der Liebe alles wohl zusammen. Ohne Wärme, Nähe und Zärtlichkeit könnte ich mich niemals in Bereitschaft bringen.«

»Das ist gewiss auch der Grund, weswegen du nicht in Bordelle gehst, mein Mann hingegen in derartigen Etablissements die Hälfte seines Lebens verplempert.«

Bruno atmete tief durch. »Du bist heute grüblerisch.«

»Ist das so?«

»So wirkt es auf mich.«

»Mich beschäftigen viele Dinge.«

»Soll ich gehen?«

»Um Himmels willen, nein, bitte bleib! Je länger du an meiner Seite liegst, desto besser der Abend. Kannst du über Nacht bleiben?«

»Über Nacht? Hm, warum eigentlich nicht? Ich muss nicht vor acht im Bureau sein, also könnten wir gemeinsam frühstücken.«

»Was für ein wundervoller Gedanke.«

Es war fünf Tage her, seit Baron Callenhoff seine Villa in Sistiana mit gepackten Reisekoffern verlassen hatte. Er hatte frühmorgens die Dienstboten angetrieben, das Gepäck eilig auf den Wagen zu verladen, er hatte noch eine Inspektion rund um das Haus unternommen und sich kurz und sachlich von seiner Gemahlin verabschiedet, dann war er zum Hafen gefahren und hatte den Dampfer nach Santos genommen. Mindestens drei Monate würde er in Brasilien verweilen, er würde sowohl seinen Geschäften nachgehen, als auch einen Jagdausflug auf dem Hochplateau der Provinz São Paulo unternehmen. Luise hatte in der Villa noch einiges zu erledigen gehabt, die Gartenarbeiten waren abzuschließen gewesen und im Haus hatte sie die Spuren der Anwesenheit ihres Gemahls beseitigen müssen, dann hatte sie den Dienstboten für zwei Wochen freigegeben und war in ihre Wohnung im Borgo Teresiano gezogen.

Noch immer hatte Helmbrecht Engelbert Franz Freiherr von Callenhoff keine Ahnung, dass sein Eheweib eine Wohnung in Triest besaß und dort an ihren Gedichten, Erzählungen und Romanen arbeitete. Und sich während dieses Aufenthalts mit ihrem Geliebten traf. Seit seine zwar sehr schöne, aber aus seiner Sicht furchtbar überspannte Frau dem Hause Callenhoff einen standesgemäßen Erben geboren hatte, interessierte er sich nicht für sie. Das Einzige, was Baron Callenhoff von Zeit zu Zeit an seine Frau denken ließ, war der Gedanke, dass ein einzelner männlicher Nachfahre ein gewisses familiäres Risiko barg. Was, wenn der Sohn dereinst als junger Mann sich auf ein allzu gewagtes Duell einließe? Oder was, wenn er bei einem Jagdunfall sein Leben verlöre? Wenn in seiner Militärzeit ein Krieg ausbräche und er im Gefecht fiele? Bestimmt wäre es im Sinne der Familie umsichtig, einen Reserveerben zu zeugen. Dazu allerdings stand Baron Callenhoff derzeit nicht der Sinn. Tröstlich war, dass die Baronin erst siebenundzwanzig Jahre alt war, da hatte er wohl noch ein paar Jahre Zeit, sich der Prozedur einer weiteren Zeugung zu unterziehen. Und Gerwin, der junge Stammhalter des Hauses Callenhoff, war bei seiner Großmutter fern von den schädlichen Einflüssen seiner exzentrischen Mutter in guter Obhut. So wie der Baron es verfügt hatte.

Die Sonne war am Horizont bereits in den Golf von Triest getaucht, der Abend brachte lebhaften Wind und damit Abkühlung. Tagsüber war es wieder sommerlich warm gewesen, Bruno hatte bei offenem Fenster und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln am Schreibtisch gearbeitet. An diesem Tag war er zu keinem aktuellen Fall gerufen worden, also hatte er die Zeit genutzt und bislang liegen gebliebene Berichte geschrieben, er hatte Telephonate geführt sowie mit seinem Kollegen Vinzenz Jaunig im Gasthaus Zum Kleeblatt in der Via Belvedere geschmorten Schweinebauch mit Kraut und Knödeln gegessen und dazu Pilsener Bier getrunken. Nirgendwo, so Vinzenz’ unerschütterliche Meinung, konnte man in Triest derart gut und üppig die böhmische Küche genießen. Bruno war nach dem deftigen Mahl zurück im Büro beinahe am Schreibtisch eingeschlafen. Frau Ivana hatte ihm ungefragt starken Kaffee serviert, sie wisse ja, hatte sie gesagt, wie es dem Herrn Inspector gehe, wenn er mit Polizeiagent Jaunig an einem so warmen Tag beim Böhmen war. Der Kaffee hatte ihn durch den Nachmittag getragen. Nach Dienstschluss hatte Bruno einen ausgedehnten Spaziergang am Hafen unternommen und schließlich pünktlich um sieben Uhr an Luises Tür geklopft.

Sie hatten klare Gemüsesuppe zu Abend gegessen. Bruno mochte Luises Suppen, gerade weil sie immer irgendwie ungewöhnlich schmeckten. Natürlich kochte die Baronin in ihrem Haus nicht selbst, dafür hatte sie Personal, in ihrer Wohnung in Triest dagegen schon, und da vor allem Suppe. Mal mit Fisch, mal nur mit Gemüse, nie mit Fleisch. Da sie selbst wenig Fleisch aß, klammerte sie Fleischspeisen bei ihren Kochversuchen aus. Die jüngste der vier Töchter des Barons Kreutberg hatte als Mädchen wie ihre Schwestern natürlich nicht kochen gelernt, sondern Theologie, Philosophie, Klavier, Sprachen, Sticken und Reiten. Nachdem sie ihre Triester Wohnung von ihrem eigenen Geld gekauft hatte, hatte sie sich Kochbücher angeschafft und diese eingehend studiert. Und wenn sich eine passende Gelegenheit ergab, kochte sie. So wie an diesem Spätsommertag.

»Erzähl mir von ihr«, forderte Luise Bruno flüsternd auf.

Bruno zog die Augenbrauen hoch. »Von wem?«

»Von ihr.«

»Ihr?«

»Von der anderen Frau in deinem Leben.«

»Was willst du wissen?«

»Wie sie so ist.«

Bruno rollte sich zur Seite, schaute zur Decke und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. »Sie ist anders als du.«

Luise sagte nichts, sie lauschte in die Stille und wartete. »Ich erzähle dir auch von meinem Mann.«

»Zum Glück nur selten.«

»Willst du es für dich behalten?«

»Eigentlich ja.«

»Dann ziehe ich meine Aufforderung zurück.«

Eine Weile lagen sie schweigend nebeneinander.

»Du bist ein Stück größer als sie«, sagte Bruno schließlich. »Eine Handbreit. Sie ist rundlicher als du.«

»Ach, und welche Schuhgröße hat sie?«

Bruno lachte und schaute Luise an. »Dir gefallen meine Angaben nicht?«

»Was für ein Mensch ist sie? Das will ich wissen, nicht die Körpergröße oder -fülle.«

Bruno biss sich auf die Unterlippe und dachte an Fedora. »Wenn du Wasser bist, dann ist sie Feuer.«

Luise ließ sich den Satz durch den Kopf gehen. »Findest du, dass ich Wasser bin?«

»Oh ja! Ohne Wasser gibt es kein Leben. Du bist das Leben.«

»Ein Regentropfen oder das Meer?«

»Alles Wasser dieser Welt. Du bist die flüsternde Quelle im Hochgebirge, der Bach im Wald, der Fluss in der Ebene und der Strom, der den Kontinent durchquert, du bist ein Tümpel nach einem Regenschauer und ein kristallklarer Alpensee, du bist die Adria, das Mittelmeer und alle Ozeane der Welt.«

»Das klingt poetisch.«

»So meine ich das auch.«

»Sie ist also Feuer.«

»Ja. Feuer wärmt, Feuer schafft Helligkeit und Behaglichkeit im Winter, mit Feuer wird gekocht und geschmiedet. Feuer kann einen auch verbrennen, eine kleine Brandblase an den Fingern verursachen, aber auch als Feuersbrunst über eine Stadt fegen.«

»Ist sie also gefährlich?«

»Manchmal ja.«

»Fährt ihr Mann zur See?«

»Wie kommst du auf den Gedanken?«

»Wir leben in Triest. Die Hälfte aller Männer dieser Stadt fährt zur See. Und die verheirateten Seeleute lassen ihre Ehefrauen an Land. So fern liegt der Gedanke doch nicht.«

»Er ist Offizier der Handelsmarine.«

»Und ist er dieser Tage auf See?«

»Nein, sein Schiff wird noch für die Jungfernfahrt vorbereitet. Du hast bestimmt davon gehört, dass es bald einen großen Festakt im Hafen geben wird.«

»Das stand in allen Zeitungen. Der Lloyd nimmt gleichzeitig zwei neue Dampfer in Betrieb. Er ist also bei seiner Frau.«

»Schon den ganzen Sommer über.«

»Du Pechvogel! Da hast du zwei Geliebte, deren Männer in der Regel alle Länder der Welt bereisen, diesmal aber gleichzeitig argwöhnisch die Schritte ihrer Ehefrauen belauern.«

»Nun, es war ein Sommer der Enthaltsamkeit für mich.«

»Du bist so tugendhaft.«

»Necke mich nur weiter, meine Teure.«

»Das heißt, du gehörst für eine Weile mir allein?«

»Wenn meine Anwesenheit erwünscht ist, Euer Gnaden, dann ja.«

Luise schob die Decke zur Seite und setzte sich im Bett auf ihre Unterschenkel. Sie blickte Bruno ruhig an. Wie schön sie war, geisterte es durch Brunos Kopf, was für ein Glück er doch hatte, mit einer so klugen und seelenvollen Frau zusammen zu sein. Er setzte sich ebenfalls auf seine Unterschenkel und begegnete ihrem Blick.

»Vielleicht bitte ich dich eines Tages, ihr vorgestellt zu werden.«

Bruno überdachte die Möglichkeit. »Ich weiß nicht, ob das gut wäre.«

»Das weiß ich auch nicht.«

*

Jože rieb das Streichholz und schützte die Flamme mit der Hand, Jure entzündete seine Zigarette, danach auch Jože. Schweigend standen die Brüder nebeneinander, sogen an den Zigaretten und schauten in die Ferne.

»Wie spät ist es?«

»Vielleicht elf. Vielleicht zwölf.«

»Ich bin hundemüde.«

»Kein Wunder.«

»Morgen muss ich zum Zollamt.«

»Die Blutsauger.«

Die Argo verfügte über Kabinen für sechzig Passagiere, da sie aber in Zukunft nicht im üblichen Liniendienst der großen Schifffahrtsgesellschaften unterwegs sein würde, also sowohl Fracht als auch Passagiere befördern sollte, hatte Jure mehrere Kabinen leer geräumt, um sie als Frachträume nutzen zu können. Nicht für die Kohle, das war klar, die Kohle wurde als Schüttgut in den eigentlichen Frachträumen transportiert. Die ehemaligen Kabinen hatten sie mit Kaffee- und Tee­säcken vollgepackt, und zwar mit den edelsten und teuersten Sorten. In den großen Frachträumen waren die handelsüblichen Kaffeesorten gestapelt gewesen. Die teure Ware hatten Jure und seine Brüder mit Schubkarren von Bord gebracht, die anderen waren mithilfe der Ladebäume entladen worden. Ein Dutzend Hafenarbeiter hatte angepackt, so hatten sie es geschafft, die Fracht in nur sechs Stunden ins Lagerhaus zu transportieren. Jure und Jože würden in den nächsten Tagen die Ware weder bei Tag noch bei Nacht aus den Augen lassen. Es schlich sich viel Diebesgesindel im Hafen umher, und frische Kaffeebohnen aus Arabien waren ein sehr gefragtes Gut auf dem Schwarzmarkt.

»Ich übernehme die erste Wache«, sagte Jože.

»Kann ich doch tun.«

»Nein, kannst du nicht.«

»Und wieso nicht?«

»Weil du schon an Bord Wache geschoben hast, den ganzen Tag Säcke geschleppt hast und weil du gar nicht mehr richtig stehen kannst vor Müdigkeit.«

»Ich fürchte, du hast recht.«

»Klar habe ich recht. Leg dich nieder.«

Jures Vater war nach Erledigung aller Formalitäten nach Hause gegangen, denn er musste im Morgengrauen die Argo aus dem Hafen fahren und auf der Reede vor Muggia vor Anker gehen. Die Plätze im Porto Nuovo waren gezählt, kein Schiff durfte länger als nötig an den Moli liegen. Anton hatte bei der Entladung mitgeholfen, war aber bei Einbruch der Dunkelheit zu seiner Frau und den beiden Kindern gegangen.

Jure und Jože traten ihre abgerauchten Zigaretten aus, verschwanden im Lagerhaus und versperrten die Tür von innen. Nur wenig später warf sich Jure auf das Feldbett und ohne sich noch einmal umzudrehen, schlief er ein.

Jože ging mit einer Laterne in der Hand durch das Magazin, stellte sich an einen Sack und schnupperte daran.

Großartiger Kaffee, erstklassige Ware, die Kassa würde klingeln. Jože hatte es immer schon gewusst, sein Bruder Jure würde es schaffen.

*

Wie so oft, hatte Dario Mosetti auch heute mit seinen Freunden gelacht und getrunken, Karten und Billard gespielt. Er war Stammgast im Caffè Tommaseo, doch er besuchte auch andere Kaffeehäuser. Solange dort Italiener verkehrten. Die Lokale der Vorstädte reizten ihn nicht, auch nicht das Bierhaus Dreher. Da fanden zu viele Raufereien mit den Slawen oder Deutschen statt. Slowenen, Kroaten, Kärntner oder Steirer, diese Leute konnten ihm gestohlen bleiben. Die jungen Deutschösterreicher strömten in die Schänken oder Osmize in der Nähe der Kasernen, in denen sie stationiert waren, betranken sich mit Bier, Terrano oder Grappa, sangen lautstark ihre dummen Lieder und nutzten jede Gelegenheit, sich mit den Einheimischen zu prügeln. Die Slawen waren noch schlimmer, denn die besiedelten die terra irredenta, die unerlösten Gebiete des italienischen Volkes. Die deutschsprachigen Soldaten verschwanden nach Ende ihrer Dienstzeit wenigstens wieder in ihre Berge, zwar kamen immer wieder neue, aber sie breiteten sich nicht aus, die Slowenen und Kroaten hingegen bauten auf italienischem Boden Häuser, gründeten Familien und bestellten Felder.

Deshalb besuchte Dario am liebsten Kaffeehäuser, in denen die bessere Gesellschaft unter sich blieb. Und das waren selbstverständlich die Italiener. Zu den höchsten Kreisen hatte er keinen Zutritt, denn die vornehmlich deutschösterreichische Oberschicht verkehrte nur selten in den Kaffeehäusern. Der Adel, die hohen Militärs und die reichen Kaufleute trafen sich bei Empfängen in den Villen und Landhäusern oder dinierten in den Grand Hotels.

Im Caffè Tommaseo tauchten immer wieder Eiferer auf, die den anderen politische Haltungen aufschwatzen wollten, die versuchten, Stimmung für den großen italienischen Staat zu machen, wozu nun einmal Istria, der Quarnero und Dalmazia gehörten. Man müsse die terra irredenta den Habsburgern entreißen, man müsse mit einem scharfen Messer heiliges italienisches Land aus der fauligen Masse des Vielvölkerstaates schneiden. Ja, es würde ein blutiger Schnitt werden, aber auf dem blutgetränkten Feld des befreiten Volkes würde eine edle italienische Zukunft gedeihen.

So einleuchtend Dario diese Worte auch fand, hatte er doch mit Politik wenig am Hut. Er traf sich mit seinen Freunden, um Spaß zu haben, um beim Billard gefinkelte Stöße zu machen und beim Kartenspiel Geld zu gewinnen und die anderen auf eine Runde Schnaps einzuladen – oder um Geld zu verlieren und auf eine Runde eingeladen zu werden. Die Politik war ihm zuwider, weil Politik hieß doch auch Verantwortung. Und das war etwas, was Dario herzlich wenig interessierte. Wie oft hatte sein Vater sich schon über ihn beschwert, weil dieser in der Firma keine Verantwortung übernehmen wollte?

Noch öfter forderte sein Vater, dass Dario für seine Familie Verantwortungsbewusstsein zeigte, indem er heiratete. Sein Vater verzieh es Dario selbst nach drei Jahren nicht, dass er die Verlobung mit Magdalena hatte platzen lassen. Ja, Magdalena war die Tochter eines angesehenen Geschäftsmannes, sie war im richtigen Alter für eine Heirat und die Väter hatten die Verbindung der beiden längst ausgehandelt, die Verlobung war in der Zeitung annonciert worden, da hatte sich Dario von Magdalena losgesagt. Sie war eine Nervensäge, die ihm hatte verbieten wollen, ins Kaffeehaus zu seinen Freunden zu gehen. Und besonders hübsch war sie auch nicht. Die Vorstellung, ein Leben lang diese Frau an seiner Seite ertragen zu müssen, war ihm unerträglich geworden, und in einem Streit mit Magdalena hatte er, ohne lange zu überlegen, die Verlobung gelöst. Natürlich war das ein veritabler Skandal. Aber was scherte es Dario, wenn die Leute über ihn tratschten?

Sein Vater hatte zwar getobt, doch was hätte er tun können? Dario war sein einziger Sohn, sein Stammhalter und Erbe. So musste eben eine andere Braut gefunden werden.

Dario hingegen hatte keine Lust, irgendeine Braut zu ehelichen, die sein Vater für ihn aussuchte, er hatte nämlich längst eine Kandidatin gefunden.

Deswegen stand er hier in der Finsternis auf der Straße und starrte seit einer halben Stunde zu einem dunklen Fenster hinüber, von dem er wusste, dass dahinter seine Braut schlief. Und ja, sie war die Tochter eines erfolgreichen und wohlhabenden Geschäftsmannes, also auf den ersten Blick eine exzellente Partie. Allerdings war der Vater der Braut niemand geringerer als der Erzfeind seines Vaters. Die beiden hatten vor über elf Jahren einen erbitterten Streit vor Gericht ausgefochten. Wegen einer Firmenübernahme, die beide Männer für sich verbuchen wollten. Darios Vater hatte den Streit und dabei sein halbes Vermögen verloren, während das Geschäft des Vaters seiner auserwählten Braut schnell gewachsen war. Außerdem war ihr Vater ein bekennender Monarchist, ein Freund der Habsburger, ein Leccapiatti, ein Tellerschlecker, obwohl er Italiener war. Darios Vater würde einer Ehe niemals zustimmen.

Vielleicht sollte er mit Elena einfach durchbrennen. Nach Mailand, Florenz oder Rom gehen. Seine Braut! Wie sehr er sie anbetete!

Noch wusste Elena nichts von seiner Liebe, seiner Absicht, sie zu heiraten und mit ihr Triest zu verlassen.

Er musste sie wiedersehen. So bald wie möglich. Morgen schon. Er würde sie wie zufällig im Park treffen. Wie schon zuletzt.

Um hier im Dunklen zu stehen, hatte er heute seine Freunde im Kaffeehaus früher verlassen. »Schlaf gut«, geliebte Braut, »morgen sehen wir uns wieder«, flüsterte er, »ich werde dir Blumen schenken, Schweizer Schokolade, einen goldenen Ring mit einem blauen Diamanten.«

Mittwoch, 11. September 1907

Bruno las in der Zeitung und aß ein Butterbrot dabei. Wie so häufig hatte er gestern Abend am Kiosk die Edinost gekauft, Triests slowenische Tageszeitung. Das Blatt war heute nicht mehr tagesaktuell, aber so viel Weltbewegendes war wohl in der letzten Nacht nicht geschehen. Einerseits schätzte Bruno die Arbeit der Redakteure und andererseits übte er auf diese Weise sein eher mangelhaftes Slowenisch. Frau Ivana meinte zwar, Bruno würde die Sprache sehr gut beherrschen, Bruno selbst aber fühlte sich nach all den Jahren immer noch nicht wirklich sattelfest. Er war zweisprachig aufgewachsen, sein Vater hatte ihm das Triestiner Italienisch gelernt, seine Mutter das wienerische Deutsch, von den Handwerkern, die das Haus seiner Eltern renoviert hatten, und von einigen seiner Freunde auf der Gasse und in den Hinterhöfen hatte er Furlanisch gelernt, aber erst als Oberstufenschüler hatte er sich genauer mit dem Slowenischen beschäftigt. Dem hohen Beamten Salvatore Zabini hatten Furlanisch und Slowenisch als die Sprachen der Proletarier und Bauern gegolten, das Triester Bürgertum sprach selbstverständlich Italienisch und Deutsch, in weiterer Folge je nach den geschäftlichen oder gesellschaftlichen Erfordernissen Französisch, Englisch oder Griechisch. Bruno hatte sich erst nach und nach über Jahre hinweg von der strengen Erziehung und dominanten Geisteshaltung seines Vaters emanzipieren können. Die regelmäßige Lektüre der Edinost gehörte in gewisser Weise zur Selbstbehauptung Brunos gegenüber dem langen Schatten des hoch aufragenden Denkmals seines verstorbenen Vaters.

»Hast du gewusst, dass Carolina im Herbst wieder nach Triest kommen wird?«, fragte Luise und stellte ihre Kaffeetasse ab.

Bruno schaute über den Rand der Zeitung. »Carolina gibt Triest wieder die Ehre? Nein, davon habe ich nichts gewusst.«

»Sie hat es mir im letzten Brief mitgeteilt.«

»Wann hast du diesen Brief erhalten?«

»Vorgestern.«

»Wie hätte ich es dann wissen können?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie dir auch geschrieben?«

»Hat sie nicht.«

»Hat sie je?«

Bruno war ein bisschen verwundert. »Ich habe nie einen Brief von Carolina erhalten.«

Luise wiegte den Kopf. »Ach so. Nun, sie hat sich, als sie bei mir im Haus zu Gast war, deine Adresse geben lassen.«

Bruno schüttelte den Kopf. »Davon hast du mir nichts erzählt, und die Komtess Urbanau hat mir noch nie einen Brief geschrieben. Hat sie mittlerweile ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert?«

»Noch nicht. In zwei Wochen wird sie volljährig sein.«

»Dieses liebe Kind«, sagte Bruno seufzend. »Ihre Schicksalsschläge sind mir sehr nahe gegangen.«

»Mir auch.«

»Danke für den Hinweis mit dem Geburtstag. Ich werde eine Grußkarte schreiben.«

»Das wird sie bestimmt freuen.«

»Ich bin voll der Bewunderung für dich, dass du dich nach der vermaledeiten Fahrt der Thalia so rührend um Carolina gekümmert hast.«

»Nicht nur ich habe mich um sie gekümmert. Mir kommt es vor, als habe sich ganz Triest um Carolina gesorgt.«

»Der Fall war wochenlang Gesprächsstoff in der Stadt.«

»Sie hat sich wirklich gut gefangen. Dr. Samigli hat Wunder an Carolina vollbracht.«

Bruno verzog den Mund. »Ich hege leise Zweifel, dass medizinische Methoden Wunder bewirken können.«

»Dr. Samigli hat bei einem Besuch in Sistiana Carolina und mir von einer völlig neuen Therapie psychischer Erkrankungen berichtet. Bei einer Tagung in Wien hat er den Arzt Dr. Freud und dessen revolutionäre Psychoanalyse kennengelernt. Dr. Samigli ist überzeugt, dass dieser Methode die Zukunft gehören wird.«

»Meiner bescheidenen Meinung nach sind im Falle Carolinas nicht Dr. Samiglis Heilkunst, irgendeine Wiener Therapie oder sonst eine medizinische Kur für ihre Genesung verantwortlich.«

»Sondern?«

»Es waren die vielen Wanderungen an der Steilküste und im Karst, die du mit ihr unternommen hast. Und das Bad im Meer.«

»Mens sana in corpore sano. Ich hätte mir denken können, dass ein Frischluftfanatiker und passionierter Fußgänger wie du allein auf die heilsame Kraft des Gehens setzt.«

»Irre ich mich?«

Luise lachte. »Das Bemerkenswerte an deinen mitunter prosaischen Anschauungen ist, dass du in fast allen Fällen recht hast. Wahrscheinlich auch, was Carolina betrifft. Dennoch hat ihr die Kur bei Dr. Samigli sehr gut getan.«

»Keine Frage, der Doktor ist eine Koryphäe.«

»Carolina hat mir geschrieben, dass sie im November die Beletage in einem Haus auf der Piazza Goldoni gemietet hat.«

»Nun, da kommt sie genau zur rechten Zeit für die erste winterliche Bora.«

»Wer Triest kennenlernen will, muss mindestens einmal die Bora erleben.«

»Offenbar kriegt sie gar nicht genug von Triest, wenn sie ihrer Heimatstadt Graz nach wenigen Monaten bereits den Rücken kehrt«, mutmaßte Bruno.

»Ich hege die leise Vermutung, dass sie sich hier mit jemandem treffen will.«

»Mit einem Mann?«

»Möglicherweise.«

»Wäre das nicht großartig? Es würde bedeuten, dass sie wenige Monate nach den tragischen Verlusten ein neues Leben begonnen hat.«

»Nein, das ist es nicht. Carolina hat mir geschrieben, dass sie in Graz einen Spaziergang mit Arthur von Brendelberg unternommen hat.«

Bruno zuckte mit den Schultern »Ich kenne mich mit den Andeutungen, die du machst, immer weniger aus.«

»Du musst mir zuhören, Geliebter.«

Bruno legte die Zeitung weg. »Also gut, ich höre.«

»Du weißt ja, dass Graf Urbanau die Ehe seiner Tochter mit dem Enkelsohn des Grafen Brendelberg arrangiert hat, mit Arthur von Brendelberg. Und du weißt auch, dass Carolina diese Ehe nicht eingehen wollte, weil sie mit dem Poeten und Schauspieler Friedrich Grüner im Geheimen längst verlobt war.«

Bruno nickte zustimmend. »Ich sehe Friedrichs lachendes Gesicht noch vor meinen Augen. Einen derart pfiffigen, lebenslustigen und einfallsreichen jungen Mann muss man einfach verehren.«

»Graf Urbanau hat ihn nicht verehrt.«

»Dafür aber seine Tochter Carolina umso inniger.«

»Als Carolina nach ihrem schweren Nervenzusammenbruch bei mir zu Gast war, habe ich vorsichtig auf sie eingewirkt, sich eine Verbindung mit Arthur von Brendelberg noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Und ich habe dem jungen Mann einen Brief geschrieben und ihn angeregt, sich behutsam und geduldig um Carolinas Aufmerksamkeit zu bemühen. Er hat ihr daraufhin drei Briefe geschrieben, die Carolina mir zu lesen gegeben hat. Eines muss ich dir sagen, lieber Bruno, Arthur von Brendelberg mag vielleicht kein schneidiger Soldat, schussfreudiger Waidmann oder verwegener Reiter sein, aber er ist intelligent und äußerst höflich. Seine Briefe haben mich ehrlich beeindruckt. Und tatsächlich hat Carolina knapp vor ihrer Abreise nach Graz dem jungen Mann in einem Brief ihr Kommen angekündigt und seiner Bitte nach einem gemeinsamen Spaziergang im Grazer Stadtpark zugestimmt.«

»Willst du die beiden verbandeln?«

»Ich will Carolina die Gelegenheit geben, wieder im Leben der Menschen Fuß zu fassen.«

»Ich bewundere, wie sehr du dich für Carolina aufopferst.«

»Den ironischen Tonfall in deiner Stimme überhöre ich geflissentlich. Und nein, ich habe nicht nur lautere und reine Beweggründe, für Carolina eine standesgemäße Verbindung einzufädeln.«

»Luise, ich finde deine Äußerungen dunkel, undurchschaubar und rätselhaft.«

»Ich glaube, Carolina kommt deinetwegen wieder nach Triest.«

Bruno starrte Luise perplex an. »Wie bitte?«

»Ich glaube, Carolina weiß es selbst noch nicht, gewiss ist ihr Geist von den Schicksalsschlägen noch in großer Verwirrung, und wahrscheinlich würde sie den Gedanken jetzt nicht verstehen und ihn noch viel weniger aussprechen können, wahrscheinlich ist alles viel zu weit von ihr entfernt und zweifelsfrei hat sie noch lange nicht festen Boden unter den Füßen, aber ich glaube, sie hat sich in dich verliebt.«

Bruno räusperte sich. »Geliebte Luise, jetzt geht deine literarische Phantasie mit dir durch. Ich habe Carolina im Sommer, als sie bei dir gewohnt hat, genau zweimal getroffen. Einmal zufällig in der Città Vecchia und einmal mit dir und ihrem Halbbruder Georg im Kaffeehaus. Wir haben jeweils nur ein paar höfliche Worte gewechselt. Nein, ich kann deinem Gedanken nicht folgen.«

»Kannst du mir nicht folgen oder willst du es nicht?«

»Ich bin mir sicher, dass du irrst«, stellte Bruno kategorisch fest. »Außerdem bin ich viel zu alt für Carolina.«

Luise goss noch etwas Kaffee in ihre Tasse. »Vielleicht hast du recht, vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen, vielleicht wird Carolina dich mir nicht wegschnappen.«

Bruno lachte, erhob sich, ging um den Tisch herum auf Luise zu und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Er küsste sie. »Keine Frau kann mich dir wegschnappen. Das ist schlicht unmöglich!«

»Ich muss dich mit einer Frau teilen. Warum nicht bald mit zwei?«

»Ich muss dich auch teilen.«

»Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Seit meiner Niederkunft habe ich nicht mehr mit meinem Ehemann verkehrt.«

»Das mag so sein, aber ich kann nicht mit dir auf der Piazza Grande promenieren, wir können nicht gemeinsam das Theater besuchen, wenn wir in die Berge zum Wandern fahren, sitzt du im Waggon erster Klasse, ich in der zweiten Klasse. Unser gemeinsames Leben besteht in Heimlichkeit. Das meine ich mit teilen.«

»Das Leben ist ein Mummenschanz.«

Bruno trat einen Schritt zurück und schaute auf die Pendeluhr. »Ich muss jetzt ins Bureau.«

Luise stellte die Kaffeetasse ab und erhob sich. »Ich begleite dich zur Tür.«

Bruno schlüpfte in sein Sakko. Er schaute zu Luises Schreibtisch. »Wirst du heute wieder schreiben?«

»Selbstverständlich. Ich konnte mich in den letzten Monaten wegen der Anwesenheit meines Mannes in Sistiana nicht auf die Arbeit konzentrieren, aber jetzt, wo er wieder fort ist und ich mich in mein kleines Refugium der Literatur zurückziehen kann, muss ich einfach schreiben. Gestern habe ich eine Novelle begonnen. Heute werde ich mich ihr wieder widmen.«

»Lässt du mich die Novelle lesen?«

»Wenn sie fertig ist.«

»Ich liebe es, deine Geschichten als Erster zu lesen. Das bedeutet mir sehr viel. Du bedeutest mir sehr viel. Die Stunden hier in deinem Refugium bedeuten mir sehr viel. Ich will, dass du dir das immer vor Augen hältst.«

Luise lächelte versonnen. »Ich sehe direkt in dein Herz, mein Lieber, und das stimmt mich glücklich. Kommst du heute Abend?«

»Soll ich kommen?«

»Zwei Monate habe ich dich schmerzlich vermisst, und endlich ist der Baron Callenhoff wieder dort, wo der Pfeffer wächst. Selbstverständlich sollst du kommen. Ich erwarte dich.«

Bruno küsste Luise, dann marschierte er los.

Der Wind über dem Borgo Teresiano war kühl und lebhaft. Was würde der Tag bringen? Mord und Totschlag? Die Bösartigkeit der Menschen? Polizeiliche Routine? Bruno lachte in sich hinein. Erstaunlich. Die Komtess sollte in ihn verliebt sein? Über welch lebhafte Phantasie Luise doch verfügte. Eine wahre Literatin. Für die schönen Künste war Bruno zu untalentiert, er musste sich an die Erkenntnisse der Wissenschaften und die Regeln der Gesetze halten. Aber fasziniert war er von den Künsten allemal. Er las gerne die in deutscher Sprache geschriebenen Novellen und Erzählungen Luises, noch lieber mochte er die Musikalität ihrer Gedichte in italienischer Sprache.

Vom Hafen tönte ein Schiffshorn. Es war knapp vor acht, der Dampfer der dalmatinischen Linie würde bald ablegen und die Häfen Zara, Sebenico, Spalato, Ragusa und Cattaro anlaufen. Bruno war froh, nicht an Bord eines Schiffes zu müssen. So richtig wohl fühlte er sich nur, wenn er festen Boden unter den Füßen hatte.

Er näherte sich der Ponte Rosso. Auf dem Canal Grande legten eben mehrere Schiffe ab, weswegen die Brücke gedreht wurde. Drei Brücken überspannten den Canal Grande, auf dem kleinere oder mittelgroße Schiffe mitten in die Stadt bis zur Chiesa di Sant’Antonio Nuovo fahren und anlegen konnten. Die Hochseedampfer waren für den Canal Grande natürlich zu groß, diese lagen im Hafen. Wenn die Brücken gehoben oder gedreht wurden, herrschte immer viel Verkehr auf dem Kanal, zuerst bewegten sich die ablegenden Schiffe hinaus in das Hafenbecken, dann fuhren die anlegenden Schiffe ein. Bruno zählte einen mittelgroßen Schoner, drei Trabakel und zwei Brazzera, die ablegten. Da würde die Brücke längere Zeit unpassierbar sein, also wollte Bruno den Kanal umgehen.

Auf der Piazza del Ponto Rosso ging es lebhaft zu, Triest war beschäftigt und betriebsam wie eh und je, und genau das liebte Bruno an seiner Heimatstadt.

*

Luise spülte in Gedanken versunken das Frühstücksgeschirr. Sie hatte im Salon beide Fenster geöffnet. Es gehörte zu ihren Ritualen, morgens die Wohnräume zu lüften. Die frische Luft brachte sie auf neue Gedanken, und die Stunden am Vormittag waren die beste Zeit für die literarische Arbeit. Warum Bruno immer wieder fragte, ob seine Anwesenheit erwünscht sei oder ob er sie auch wirklich besuchen dürfe? Für Luise Dorothea Freifrau von Callenhoff gab es nur zwei Gründe, weswegen sie noch unter den Lebenden weilte. Zum einen wegen der Literatur, zum anderen wegen Bruno.

Ihr Mann hatte ihr den Sohn entrissen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er verfügt, dass Gerwin bis zu seiner Volljährigkeit nicht im Haus seiner Mutter, sondern im Haus der Großmutter aufwachsen müsse. Wie Luise die alte Hexe hasste, denn natürlich war das nicht Helmbrechts Idee gewesen, sondern die von Luises Schwiegermutter. Sie war ein Scheusal, eine Frau, deren Starrsinn nur von ihrer Kaltherzigkeit überboten wurde. Was dabei herauskam, wenn diese Frau einen Knaben erzog, konnte Luise an ihrem Ehemann aus nächster Nähe studieren. Wahrscheinlich war aus dem sechsjährigen Gerwin bereits ein kleiner Tyrann geworden. Und sie, Luise, war von Anfang an außerstande gewesen, gegen den Einfluss ihrer Schwiegermutter anzukämpfen, sie war zu schwach gewesen, zu wehrlos, zu hilflos und dumm.

Als der kleine Wurm an ihrer Brust gelegen hatte, hatte sie ihn geliebt, hatte ihn beschützen wollen, hatte sie ihm eine gute Mutter sein wollen. Und ja, sie hatte in der Zeit der Schwangerschaft hart an sich gearbeitet und es wirklich geschafft, zu vergessen, dass Gerwin die Frucht einer Gewalttat war. Sie hatte sich in jener Nacht ihrem Mann nicht freiwillig hingegeben, Helmbrecht war betrunken gewesen, hatte sie geschlagen und rüde genommen. Dr. Samigli hatte ihr geholfen, diese Gewalttat hinter sich zu lassen und sich auf das Kind zu freuen, doch als es geboren war und seine ersten selbstständigen Atemzüge tat, war die Angst vor weiteren Gewalttaten wie ein schweres Gewitter über sie hereingebrochen.

Sie hatte den Boden unter den Füßen verloren, sie hatte sich mit ihrem Sohn wochenlang in ihrem Zimmer eingesperrt, hatte kaum gegessen, jeden Kontakt mit anderen Menschen gescheut, die Vorhänge zugezogen und in der Dunkelheit ausgeharrt. Ja, sie hatte zusehends Gewicht verloren, und auch die Milch ihrer Brüste war weniger geworden, und ja, auch Gerwin hatte darunter zu leiden gehabt, einen Monat lang hatte er nicht zugenommen.

Daraufhin hatte der Arzt Alarm geschlagen, und der Hausherr war zur Tat geschritten. Baron Callenhoff hatte vier Männer formiert, die die Tür zu ihrem Zimmer aufgebrochen und die Luise gefasst und festgehalten hatten, der Baron selbst hatte den Sohn der Mutter entrissen und das Kind im Nebenzimmer der Großmutter und der bereitstehenden Amme übergeben. Luise hatte noch gesehen, wie die Amme, ein dralle Bauerntochter im besten Mutteralter, ihren Sohn an die Brust gelegt hatte und wie ihr Bub, der Spross ihres Schoßes, ihr Ein und Alles, gierig die Milch aufgesogen hatte. Und sie hatte den Blick ihrer Schwiegermutter gesehen, der ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie Gerwin auf Lebenszeit verloren hatte. Luise war dann auf direktem Wege in die Nervenheilanstalt gebracht worden. Mehrere Wochen hatte man sie dort verwahrt, später war sie nach Karlsbad in Böhmen in ein Sanatorium gebracht worden. Zweimal hatte sie versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen, zweimal hatten die Krankenschwestern dies verhindert.

Die Monate nach dem Aufenthalt im Sanatorium hatte sie in der Stille der Villa ihres Mannes in Sistiana mit Gartenarbeit verbracht. Ihr Ehemann war wie meist auf Reisen gewesen, war seinen Geschäften nachgegangen, hatte am gesellschaftlichen Leben in der Hauptstadt Wien teilgehabt, hatte die Trabrennbahn besucht, war zur Jagd gegangen, hatte mal mit dieser Kurtisane sein Bett geteilt, mal mit einer anderen. Er hatte sich nicht um seine Frau gekümmert, und seinen Sohn wusste er in der bedingungslosen Obhut seiner Mutter.

Luise hatte sich damals nur deswegen nicht von den Klippen ins Meer gestürzt, weil sie zu schwach dafür gewesen war. Und weil sie begonnen hatte, ihre verworrenen Gedanken zu sortieren und aufzuschreiben. Und erstaunlich, dieses Unterfangen hatte sehr schnell Erfolg gezeitigt. Ja, aus wirren Sätzen und konfusen Ideen waren Gedichte und Novellen geworden. Dr. Samigli hatte sie ermuntert, mehr zu schreiben, er hatte manche ihrer Texte gelesen und war begeistert gewesen, wie sie es schaffte, durch Sprache ihrem Leben eine Ordnung zu geben.

Eines Sommerabends hatte sie einen Spaziergang in der Bucht von Sistiana unternommen, sie hatte aus der Ferne zugesehen, wie ein Fischerboot angelegt hatte und die Männer gut gelaunt mehrere Kisten mit reichem Fang an Land gebracht hatten. Da war ein Sportboot herangekommen, ein Vierer, zwei Ruder links, zwei Ruder rechts. Die Männer in diesem Boot trugen Sportkleidung und ihre Bewegungen waren von einer so erstaunlichen Präzision und Harmonie gewesen, dass es Luise den Atem verschlagen hatte. Die Männer legten das Sportboot an und gingen an Land. Sie waren schweißüberströmt und atmeten schwer, sie standen lachend beieinander und tranken Wasser. In diesem Moment hatte Luise begriffen, wie ausgehungert sie nach Berührung und Zärtlichkeit war, wie sehr sie sich nach der Nähe eines Mannes verzehrte. Die aus der Ferne erblickten nackten Waden und die breiten Schultern dieser vier Sportsmänner hatten in ihr ein Gefühl ausgelöst, das sie sofort in ein einziges klares Wort fassen konnte: Verlangen.

Als einer der Männer sie entdeckt und zu ihr herübergeblickt hatte, hatten sich ihre Blicke gekreuzt. Sie hatte ihn gesehen, er hatte sie gesehen. Und auch in seinen Augen lag etwas, das an ihre Gefühle heranreichte. Luise würde diesen Moment nie vergessen. Niemals!

Später hatte sich herausgestellt, dass die vier Männer die ganze Strecke von Triest nach Sistiana gerudert waren, im Gasthof am Hafen übernachten wollten, um am nächsten Tag wieder zurückzurudern. Sie bereiteten sich auf einen Wettkampf vor. Luise nahm in jenem Gasthof Platz, der Wirt servierte – über den hohen Besuch sehr erfreut – der Baronessa auf dem Rost gegarte und mit Salbei gewürzte Goldbrasse und exzellenten Weißwein.

Irgendwie ergab sich, dass dieser eine Sportsmann sich nach dem Essen von seinen Kameraden löste und mit Luise ins Gespräch kam. Es stellte sich heraus, dass der Mann überaus belesen und höflich war, dass er genauso wie Luise zweisprachig war, also jederzeit vom Deutschen ins Italienische wechseln konnte, dass er unverheiratet war, dass er seit seiner Jugend Rudersport betrieb und sich brennend für die Erkenntnisse der Naturwissenschaften interessierte.

Eine Weile später, die Nacht war längst über den Golf von Triest gesunken, hatten sie einen Spaziergang unternommen. Auf einem Felsen am Ufer stehend hatte er sie umarmt und sie hatte sich an ihn geschmiegt. Sie hatten sich geküsst. Für eine schier unendliche Weile und doch nur für einen Augenblick war Luise glücklich gewesen.

Der Mann war dann zu seinen Kameraden zurückgekehrt und Luise hatte eine Kutsche genommen, die sie in ihre Villa gebracht hatte. Wie verzaubert war sie mit seinem Namen auf den Lippen ins Bett gefallen.

Bruno.

Luise war in das Leben der Menschen zurückgekehrt.

*

Jože sah den sich nähernden Wagen schon von Weitem. Er blickte hinter sich in das Magazin Nummer drei und pfiff laut. Jure, der gerade mit drei anderen Männern die abgeladenen Säcke in die Regale hob, blickte hoch.

»Sie kommen!«, rief Jože.

Jure eilte los. Da hielt der Kutscher den offenen Wagen an, vier Männer stiegen aus. Zum einen Signor Cohn, zum anderen Signor Pasqualini und zwei seiner Mitarbeiter. Das Bureau der Handelsagentur Pasqualinis befand sich im dritten Stock des Palazzo del Tergesteo, dem Tergesteum, einem der bedeutendsten Bureaugebäude der Stadt, in dem auch die Geschäftsräume der Literarsch-artistischen Abteilung des Österreichischen Lloyds, der Unionbank und weitere Betriebe lagen. Die Männer schüttelten einander die Hand.

»Signor Kuzmin, es ist mir eine außerordentliche Freude, Sie, Ihren Vater und Ihre Brüder sowie mein Schiff wohlbehalten zurück in Triest begrüßen zu dürfen«, hob Cohn an. »Ich hatte bereits gestern das Vergnügen, mit Ihrem Vater sprechen zu können, und habe vernommen, dass die gute alte Argo treue Dienste geleistet hat und es auf See zu keinen Schwierigkeiten gekommen ist.«

»Ja, Signor Cohn, das Schiff hat sich hervorragend bewährt. Wir haben die Maschine auf Volllast laufen lassen und im Durchschnitt elf Knoten erreicht. Aber kommen Sie doch herein und sehen Sie sich die Ware an.«

Jure führte die Männer in das Magazin. Pasqualini trat an ein Regal heran und tätschelte einen Sack.

»Sehr gut, lieber Jure, Sie haben das Magazin bis zur Decke gefüllt. Geben Sie uns einen Überblick.«

»Sehr gerne, Signor Pasqualini. Das Regal, vor dem Sie stehen, ist mit Robusta erster Klasse aus Madagaskar geladen. Achtzig Säcke. Daneben ist Robusta zweiter Klasse. Hier drüben ist Arabica zweiter Klasse aus Abessinien, der Hauptteil unserer Lieferung. Hier die kostbare Vorzugsware, zweihundertfünf Säcke Arabica erster Klasse. Und in der Ecke ist Tee, ein Drittel Darjeeling und zwei Drittel Ceylon.«

»Sie haben die Lagerhäuser in Aden wohl bis auf den letzten Krümel geplündert«, witzelte Pasqualini.

»Ich habe in der Tat so viel gekauft, wie ich kriegen und bezahlen konnte.«

»Hat das Zollamt Probleme gemacht?«

»Oh ja.«

»Bakschisch?«

»Mir ist nicht ein Heller geblieben.«

»Das alte Spiel in Aden.«

Pasqualini und seine Mitarbeiter schauten sich genau um. »Die Säcke zeigen keine Verunreinigung durch Kohlestaub.«

Jure nickte. »Wir haben in Aden eine ganze Nacht durchgearbeitet, um den Staub zu beseitigen. Bei der nächsten Fahrt müssen wir etwas ändern. Die Kohle einfach so in den Laderaum zu schütten, ist nicht sinnvoll.«

»Wenn Sie Kohlekisten verwenden, können Sie weniger laden«, wandte Pasqualini ein.

»Dafür geht die Entladung sehr viel schneller. Wir haben zwei Tage ohne Pause geschaufelt und eine Nacht geputzt. Das will ich meiner Mannschaft nicht noch einmal zumuten.«

»Ich finde, Signor Kuzmin hat recht«, meinte Cohn. »Mit dem Kohletransport ist kaum etwas zu verdienen, ob da eine Tonne mehr oder weniger auf dem Schiff ist, spielt keine Rolle. Die Ware, für die sich die Fahrt lohnt, liegt hier.«

Pasqualini nickte und fasste Jure ins Auge. »Ich kann jetzt verstehen, dass mich Signor Cohn vor Monaten schon bat, Sie zu treffen und mit Ihnen in Geschäftsverbindung zu treten. Ich bin sehr zufrieden. Ich habe meinen Partnern in Wien, Salzburg und Prag gestern Abend telegraphiert, dass die Argo voll beladen in Triest eingelaufen ist. Sie können die Lieferung kaum erwarten.«

»Sie bleiben also bei Ihrer Absicht, die Hälfte der Ware zu kaufen?«

»Es gibt keinen Grund, von unserer Vereinbarung abzurücken. Im Gegenteil, jetzt, wo die Ware frachtfertig im Porto Nuovo liegt, ärgere ich mich sogar ein bisschen, nicht mehr zu erhalten.«

»Signor Pasqualini, Sie sind mein wichtigster Handelspartner. Wir können gerne über weitere Absatzmengen sprechen.«

Pasqualini überlegte kurz, dann winkte er ab. »Wir wollen nichts überstürzen, bleiben wir bei unseren Vereinbarungen.«

»Wann wollen Sie Ihre Ware abholen?«

»Gar nicht. Wozu die Ware mehrmals in die Hand nehmen. Wir zählen die Säcke genau durch. Diejenigen, die ich übernehme, werden markiert, und wenn die Lieferungen rausgehen, beladen Sie mit Ihren Leuten die Fuhrwerke. Ich kümmere mich, dass die Säcke in die Waggons verladen werden. Ich glaube, das ist der einfachste Weg.«

Jure wiegte den Kopf. »Ich möchte, das Magazin so bald wie möglich leeren und eine zweite Fahrt unternehmen.«

»Eben deshalb hat es keinen Sinn, die Säcke aus Ihrem Magazin in meines zu packen. Die Lieferungen nach Wien, Salzburg und Prag gehen in dieser Woche noch auf Schiene.«

Jure war überrascht. »So schnell?«

Pasqualini und Cohn lachten. »Was glauben Sie, Jure, wie mein Geschäft läuft? Tempo ist das Zauberwort der Gegenwart. Von mir aus können Sie nächste Woche wieder in See stechen.«

Jetzt lachte Jure. »Nun, so bald wird das nicht möglich sein. Ich habe in Triest noch viel zu erledigen.«

Pasqualini strich sich über den Schnurrbart und musterte Jure wohlwollend. »Signor Kuzmin, wollen Sie nicht am Donnerstag mein allwöchentliches Kaffeekränzchen mit Ihrer Aufwartung beehren?«

Jure schnappte nach Luft. Eine Einladung zum Kaffee von Signor Pasqualini? Das kam einer Aufnahme in den Kreis Triester Geschäftsleute gleich. Und er würde Elena treffen!

»Mit dem allergrößten Vergnügen, Signor Pasqualini.«

»Gut. Um vier Uhr. Meine Mitarbeiter gehen mit Ihnen die Liste durch und bestimmen meinen Anteil. Ich empfehle mich mit den besten Grüßen.«

Jure begleitete Pasqualini zur Kutsche und verabschiedete sich mit Händedruck. Er sah dem Wagen hinterher. Cohn trat neben Jure.

»Ihr Stern steigt, Signor Kuzmin, es ist offenkundig. Ich habe von Anfang an gewusst, dass nur Schiffbruch in einem schweren Sturm ihren Weg in die Geschäftswelt verhindern kann.«

»Irgendwie fühlt sich mein Leben gerade wie ein Traum an, aus dem ich hoffentlich nicht aufwachen werde.«

»Die ersten Erfolge im Leben können einen berauschen. Ich weiß das noch aus meiner Zeit. Lassen Sie sich davon aber nicht überwältigen, sehen Sie weiterhin die Realität.«

»Danke für Ihre Ratschläge, Signor Cohn. Sie sind mir sehr wertvoll.«

»Einen habe ich noch.«

Jure schaute Cohn fragend an. »Ein weiterer Ratschlag?«

»Ja.«

»Und zwar?«

»Überlegen Sie sorgfältig, bevor Sie mein Angebot zurückweisen.«

»Welches Angebot?«

»Signor Kuzmin, ich biete Ihnen hiermit die Stelle als Prokurist der Società Marittima R. Cohn Trieste an.«

*

Bruno näherte sich der Kanzlei. Aus der Ferne sah er zwei uniformierte Polizisten die Straße entlangmarschierten. Eine Kutsche rumpelte an ihm vorbei. Zwei elegante Herren saßen auf dem Wagen, rauchten und waren in eine offenbar wichtige Unterredung vertieft. Bruno vernahm zwar nur Wortfetzen, aber die Mienen der Männer waren gespannt.

Das Gespräch mit Luise hallte in ihm nach. Sie hatte sich noch nie direkt nach Fedora erkundigt, nach der anderen Frau, wie sie gesagt hatte. Seit drei Jahren unterhielten Luise und er eine Beziehung, und fast so lange wusste sie, dass sie nicht die einzige verheiratete Frau war, mit der er sich traf. Luise wusste auch, dass die Beziehung zu Fedora schon bestanden hatte, als er sie getroffen hatte. Fedora hatte Brunos Leben lange vor Luise betreten.

Bruno und Fedora kannten sich seit fünfzehn Jahren. Wenige Monate nachdem sie als neunzehnjähriges Mädchen aus einem Dorf am Unterlauf des Isonzo in die Stadt gekommen war, um hier Arbeit zu finden, und Bruno als zweiundzwanzigjähriger Jungpolizist auf Streife gegangen war, waren sie einander bei einem Tanzvergnügen in der Vorstadt begegnet. Die jungen Männer waren beim Tanz hitzig geworden und es war zu einer Rauferei gekommen. Bruno war mit einem Trupp von Polizisten zum Ort des Geschehens gelaufen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Aber als die Polizei eingetroffen war, waren die Raufbolde schnell verschwunden und die Musikanten spielten bald wieder. Bruno war bis zum Ende des Tanzes als Wache vor Ort abgestellt worden. Das überaus attraktive Mädchen mit den wunderschönen dunklen Zöpfen war ihm sofort aufgefallen, nun, sie war allen Burschen aufgefallen. Nur die Mutigsten von ihnen wagten, ein derart hübsches Mädchen zum Tanz aufzufordern, doch einer war dabei, der allzu eifrig war. Bruno hatte es aus der Distanz mitverfolgt, der Bursche hatte das Mädchen regelrecht bedrängt. Als sie drauf und dran war, die Flucht zu ergreifen, wurde der Bursche handgreiflich, daraufhin war Bruno eingeschritten und hatte ihm eine Tracht Prügel verpasst. Anschließend hatte er Fedora bis zu ihrem Quartier begleitet, in dem sie mit zwei anderen jungen Frauen aus der Provinz ein Zimmer bewohnt hatte.

Danach hatten sie sich mehrmals getroffen und zu Brunos unendlichem Glück waren sie auch intim miteinander geworden. Sieben Monate lang währte die Beziehung, doch dann bekam Bruno die Möglichkeit, für ein Jahr an der Universität in Graz Rechtswissenschaften zu studieren. Diese Chance konnte er sich nicht entgehen lassen, zu gern wäre er überhaupt Student geworden, ihm wäre es sogar egal gewesen, was er hätte studieren sollen. Am liebsten hätte er natürlich ein technisches oder naturwissenschaftliches Fach belegt, aber auch Rechtswissenschaften oder Alte Sprachen wären ihm genehm gewesen. Doch Brunos Vater hatte ein Studium für seinen Sohn ausgeschlossen und ihn bei der Polizei untergebracht. Und jede Widerrede gegen eine Entscheidung von Salvatore Zabini war undenkbar.

Aufgrund Brunos Gelehrigkeit waren seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam geworden. Der damalige Polizeidirektor hatte persönlich in die Wege geleitet, dass der junge Polizist ein für ihn kostenfreies Studierzimmer in Graz bekam, um als außerordentlicher Hörer Strafrecht zu studieren. Dem hatte auch Salvatore Zabini sofort zugestimmt, weil eine solche Möglichkeit natürlich für die Beamtenkarriere seines Sohnes mehr als förderlich war, also hatte er eine kleine monatliche Apanage für den Lebensunterhalt bereitgestellt. So konnte Bruno bescheiden, aber ohne finanzielle Sorgen ein Jahr an der Universität Graz studieren. Und ja, anfangs hatte er Fedora Briefe geschrieben, und sie hatte auch geschrieben. Aber eines Sonntags hatte er beim Spazieren am Hilmteich in Graz Anneliese kennengelernt, und alles war anders geworden. Als er nach Ablauf des Jahres und dem unglücklichen Ende der Beziehung zu Anneliese nach Triest zurückgekehrt war, war Fedora bereits mit einem Absolventen der nautischen Schule verlobt. Wenig später heiratete sie den Offizier zur See Carlo Cherini und gebar ihm in Jahresfrist eine Tochter. Leider war der kleinen Clara kein langes Leben beschieden gewesen, zweijährig war sie an einem bösen Fieber gestorben. Die beiden Söhne des Ehepaares waren nun zehn und acht Jahre alt.

Mehrere Jahre waren Bruno und Fedora einander nicht begegnet, bis Fedora vor vier Jahren erneut in seinen Gesichtskreis getreten war. Seine Mutter hatte über die Jahre einen Zirkel lesefreudiger Damen um sich versammelt, die sich regelmäßig in der gut ausgestatteten Bibliothek Heidemarie Zabinis trafen und bei Kaffee und Kuchen über Bücher debattierten. Brunos Mutter war als junges Fräulein von Wien nach Triest gekommen und lebte seit vierzig Jahre hier. Manche Schätze ihrer alten Heimat hatte sie in die Hafenstadt mitgenommen, so etwa Rezepte der Wiener Küche. Nicht zuletzt Heidemaries geradezu legendäre Apfel- und Topfenstrudel sorgten dafür, dass die Zirkel gut besucht wurden. Salvatore Zabini hatte, als er die Hierarchie im Zollamt nach oben gestiegen war, ein kleines Bauernhaus am Stadtrand gekauft und als Wohnhaus herrichten lassen, so war die Familie aus der Città Vecchia nach Cologna gezogen.

Vor vier Jahren hatte eine der durchwegs älteren Damen die junge Ehefrau eines Offiziers der Handelsmarine in den Zirkel eingeführt, dessen Haus ein gutes Stück weiter stadtauswärts in Gretta lag. Da Bruno im Haus seiner Mutter über eigene Räume mit eigener Eingangstür verfügte und er wegen seines Berufes ohnedies sehr viel unterwegs war, begegneten Mutter und Sohn einander nicht besonders oft, und an den Lesezirkeln seiner Mutter nahm er nicht teil. An einem Frühlingstag hatte Bruno Ausbesserungsarbeiten im Garten durchgeführt, als plötzlich Fedora vor ihm gestanden hatte. Bruno hatte sie sofort wiedererkannt und war sehr überrascht, dass sie nun zum Bücherzirkel seiner Mutter gehörte. In den nächsten Tagen hatten sich Bruno und Fedora wiederholt getroffen und bald schon das Bett miteinander geteilt.

Nicht viel später hatte Bruno erfahren, dass Fedora sich dem Bücherzirkel gezielt angeschlossen hatte, zum einen wollte sie ihre Bildung aufbessern und suchte daher Kontakt zu belesenen Damen, zum anderen hatte sie Bruno nie ganz vergessen. Auch er hatte Fedora nie ganz vergessen. Fedora litt darunter, in der Enge ihres kleinbürgerlichen Lebens wochenlang ohne Mann ausharren zu müssen. Carlo Cherini stieg die Karriereleiter im Österreichischen Lloyd Schritt für Schritt nach oben, und sein Beruf war es, Dampfer über die hohe See zu steuern. Immer wieder befuhr er auch die Fernlinien nach Indien, China oder Japan, war also wochenlang fern der Heimat. So lag es für Fedora nahe, sich an ihren ehemaligen Geliebten aus den Jugendjahren zu erinnern, der nach wie vor nicht verheiratet war, wechselnde Beziehungen pflegte und als ranghoher Polizist erstens gute Gründe und zweitens auch die Fähigkeit hatte, eine Liaison zu einer verheiraten Frau zu verheimlichen.

Ja, Bruno fand die Benennung für Fedora, die er gestern Abend Luise gegenüber ausgesprochen hatte, ganz und gar zutreffend: Fedora war Feuer. Ein Feuer, das ihn wärmte.

Und Luise war das Wasser, das er trank.

Warum sollte es unmoralisch sein, zwei Frauen zu lieben? Er hatte sich das nicht in berechnender oder niederträchtiger Absicht ausgesucht, er spielte weder Fedora noch Luise etwas vor. Das Versteckspiel galt allein der öffentlichen Meinung, die es nicht ertragen konnte, wenn Menschen so fühlten und lebten, wie es ihnen das Schicksal auftrug. Und in seinem Leben hatte es nur eine Frau gegeben, mit der er Hochzeit halten, einen Hausstand gründen und Kinder großziehen hätte wollen. Nämlich Anneliese aus Graz. Auch das hatte er weder Fedora noch Luise je verheimlicht.

Luise war so nachdenklich, fand Bruno, und ihre Stimmung nicht die Beste. Auch diese Idee, die Komtess Urbanau, Carolina, könnte sich in ihn verliebt haben, fand Bruno geradezu grotesk. Carolina und Friedrich Grüner hatten sich wahrhaft geliebt, Bruno fand es völlig aus der Luft gegriffen, zu meinen, dass Carolina sich so kurz nach den tragischen Ereignissen erneut verlieben würde. Ja, Bruno hatte in seinem Beruf manche tragische Schicksale kennengelernt und er hatte gesehen, dass Menschen nach solchen Verlusten Jahre, manche gar Jahrzehnte brauchten, um sich zu erholen. Und manche schafften es nie. Es musste einen anderen Grund für Luises getrübte Stimmung geben.

Bruno hatte einen sehr konkreten Verdacht.