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Der international bekannte Bildhauer Gottfried Moorhammer lädt zu seinem Geburtstag ins Traunviertler Stodertal. Am Tag nach der Feier wird Adna, die Muse des Künstlers, tot in einem Wasserfall aufgefunden. Kriminalpolizistin Christina Kayserling übernimmt die Ermittlungen, auch wenn zunächst nichts auf ein Verbrechen hindeutet. Kurz darauf wird Jens Tillmann mit einem Jagdgewehr getötet. Das Fatale: Tillmann hatte ein Verhältnis mit Adna. Kayserling stößt in ein tödliches Nest aus Eifersucht und Täuschung.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Günter Neuwirth
Moorhammers Fest
Kriminalroman
Mord ist keine Kunst Der international bekannte Bildhauer Gottfried Moorhammer lädt zu seinem 55. Geburtstag ein. Unter den Gästen sind Förderer seiner Kunst, Bewunderer und Gottfrieds Freund, der Kunstmäzen Heiner Schweiger. Auch Gottfrieds Ex-Frau, die Wiener Kunstfotografin Elvira Altmann, reist mit der gemeinsamen Tochter und deren Freund in die Bergwelt der Kalkalpen. Doch es kommt anders als geplant. Nach dem rauschenden Fest wird die Leiche von Adna, Moorhammers Muse, gefunden. Kriminalpolizistin Christina Kayserling übernimmt die Ermittlungen. Zunächst deutet nichts auf ein Fremdverschulden hin. Doch kurz darauf wird eine zweite Leiche entdeckt. Jemand hat den Komponisten Jens Tillmann aus großer Distanz getötet. Kayserling glaubt nicht an Zufälle. Sie findet heraus, dass aus Schweigers Jagdhaus Waffen gestohlen wurden und Tillmann angeblich eine Affäre mit Adna hatte. Hat Moorhammer von der Affäre erfahren und beide getötet?
Günter Neuwirth wuchs in Wien auf. Nach einer Ausbildung zum Ingenieur und dem Studium der Philosophie und Germanistik zog es ihn für mehrere Jahre nach Graz. Der Autor verdient seine Brötchen als Informationsarchitekt an der TU Graz. Er wohnt in der Weststeiermark und Wien. Günter Neuwirth ist Autodidakt am Piano und trat in jungen Jahren in Wiener Jazzclubs auf. Eine Schaffensphase führte ihn als Solokabarettist auf zahlreiche Kleinkunstbühnen. Seit 2008 publiziert er Romane, vornehmlich im Bereich Krimi.
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Alle Rechte vorbehalten
(Originalausgabe erschienen 2014 bei Styria Premium)
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © bbsferrari / iStock.com
ISBN 978-3-7349-3452-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Ist jemand zu Hause?«
Gottfried Moorhammer pochte erneut gegen die Tür. Nur der Gesang einer Amsel und das entfernte Summen von Bienen waren zu hören, keine Schritte auf dem knarrenden Holzboden im Haus, kein Klappern von Geschirr oder Rumpeln der alten, schweren Stühle.
Er schaute sich um. Der Bergriederhof hatte sich in all den Jahrzehnten nicht verändert, so als ob hier oben auf dem Südhang des Tambergs Zeit keine Rolle spielte. Schon immer standen hier knorrige Apfel- und Birnbäume, schon immer sah der Stadel aus, als ob er beim nächsten Gewitter weggespült werden würde, und das Haus wirkte, als ob das mit roten Tonschindeln gedeckte Dach nur aus Höflichkeit nicht über den Leuten zusammenbrach, die hier an die Tür klopften. Gottfried Moorhammer ließ seinen Blick schweifen und atmete tief ein. Wer hielt heutzutage schon Ziegen, deren Stallgeruch in der Luft lag? Wer ließ das Gras wachsen, bis sich ein Schnitt mit der Sense lohnte? Wer brannte solch hervorragenden Schnaps und sammelte solch köstlichen Honig wie Katharina Moser? Wo war die alte Hexe bloß? Gottfried tat ein paar Schritte im noch taufeuchten Gras.
»Kathi, bist du da?«
»Was schreist du so herum, verflixt noch mal? Machst ja die Viecher scheu.«
Gottfried drehte sich um die eigene Achse und stemmte seine Fäuste in die Hüfte. Eine groß gewachsene Frau mit einem kunstvoll geflochtenen grauen Zopf und einer auf der Schulter getragenen Harke kam um die Ecke.
»Meine Güte, Kathi«, rief er aus, »du bist ja seit unserem letzten Treffen noch schöner geworden!«
»Du Rabenbraten, du elender, dir werde ich geben. Da so herumzupöbeln. Willst du meine Tür einschlagen?«
Gottfried trat an Kathi heran, umarmte sie stürmisch und drückte ihr eine ganze Serie von Küssen auf Wangen und Hals. Er grapschte nach ihrem Gesäß. »Dein Hintern wird auch immer knackiger. Und das mit sechzig Jahren! Wie machst du das bloß?«
Kathi schubste Gottfried zur Seite und schüttelte den Kopf. »Nichts als Unfug im Kopf. Und ich bin dreiundsechzig, du Esel.«
»Dein Küchengarten ist ein Traum. Jedes Mal wieder bin ich begeistert.« Gottfried wies mit weiter Geste über die eingezäunten Gemüsebeete.
»Ich habe schon gehört, dass du wieder im Land bist. Bleibst du diesmal länger?«
Gottfried nickte. »Zu Hause ist es halt doch am schönsten. Was brauche ich New York, Warschau, Tokio und Barcelona, wenn ich im Stodertal sein kann? Wenn alles gut geht, werde ich bis in den Winter hierbleiben.«
Der breitschultrige Mann mit den kräftigen Händen, dem dichten, grau durchzogenen Bart und den unergründlich blauen Augen holte tief Luft. Für einen Bauernsohn aus den Bergen hatte Gottfried Moorhammers Leben einen erstaunlichen Lauf genommen. Seine Steinskulpturen standen auf vielen Plätzen in den Metropolen der Welt, andere Arbeiten fanden sich in bedeutenden Museen und Sammlungen. Auch Professuren hatte man ihm angeboten, diese aber hatte er von sich gewiesen. Er war Künstler, kein Lehrer, er arbeitete hart und verkaufte viel und teuer. Gottfrieds älterer Bruder war in jungen Jahren tödlich verunglückt, so war der elterliche Hof an ihn gefallen, als er in Wien an der Akademie der bildenden Künste studiert hatte. Gottfried hatte nicht ein Joch Wiese oder Wald verkauft, er hatte auch in den Jahren als bettelarmer Jungkünstler den Hof behalten, doch nach dem Tod seiner Eltern und während seiner Wanderjahre war der Hof verwildert und verfallen. Knapp nach seinem vierundvierzigsten Geburtstag, als er wegen einer gescheiterten Liebe eine tiefe seelische Krise durchlitten hatte, war er zurück in das Stodertal gekommen, hatte in seine da schon prall gefüllte Goldtruhe gegriffen und sein Geburtshaus vollständig sanieren lassen. Nach seinen Vorstellungen natürlich. So war aus dem ehemaligen Bauernhof ein Refugium der Kunst geworden, entlegen vom Dorf, umringt von Wiesen und Wäldern, auf denen keine Land- oder Forstwirtschaft mehr betrieben wurde, sondern die nach dem erklärten Willen ihres Besitzers Horte der Stille und des Wildlebens sein sollten. Der Wald und die verwilderten Wiesen schützten ihn, so Gottfrieds mehrfach geäußerte Anschauung, vor den vielen nervigen Touristen, die es im Sommer zum Wandern und im Winter zum Skifahren in die Berge rund um Hinterstoder zog.
»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Kathi.
»Nur eine Tasse Kaffee.«
»Dann komm rein. Ich schmiere dir ein Butterbrot und brate ein paar Eier. Erzähl mir eine von deinen verrückten Geschichten.«
Gottfried lächelte ihr zu. »Du musst mir aber einen von deinen mystischen Tees kochen.«
»Das sowieso.«
Elvira Altmann griff zum Autoschlüssel und startete den Motor. Kurz blickte sie über die Schulter.
»Seid ihr angeschnallt?«
»Na klar.«
Elvira stieg auf das Gaspedal und reihte sich in den Verkehr auf der Gersthofer Straße. Sie hatte immer in diesem Teil von Wien gelebt und konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass sich das irgendwann ändern würde. Warum auch? Man brauchte Ankerplätze in einem bewegten Leben, anderenfalls würden einen die Wogen der Zeit allzu leicht in fremde und vielleicht gefährliche Gewässer spülen, würden einen im äußersten Fall gegen die schroffen Klippen des Lebens werfen. Sie war im Bezirk Währing aufgewachsen, hatte in ihrer Studienzeit in einer kleinen Bude in Gürtelnähe gewohnt, die sie selbst während der vier Jahre in Paris nicht aufgegeben hatte. Und danach, als sie wieder nach Wien zurückgekommen war und in ihrer Heimatstadt beruflich schnell beachtliche Erfolge erzielt hatte, hatte sie sich eine sehr geräumige und helle Dachgeschosswohnung im Bezirksteil Gersthof gekauft. Mit Blick ins Grüne. Natürlich hatte ihr Vater beim Ankauf der Wohnung eines seiner Sparbücher aufgelöst. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, besuchte sie ihn, kochte für ihn, schaute nach dem Rechten. Sie liebte ihren achtzigjährigen Vater über alles, auch wenn er schon sehr vergesslich war und manchmal die beiden Töchter Elvira und Franziska miteinander verwechselte. Nach dem Tod seiner Ehefrau hatte er sich aufopfernd um seine halbwüchsigen Mädchen gekümmert, hatte ihnen auf seine ruhige und bedachte Weise all ihre Wünsche zu erfüllen versucht. Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Fleiß, das hatte er seinen Töchtern beigebracht, mit dem Ergebnis, dass er jetzt im Winter seines Lebens auf deren Hilfe und Beistand bauen konnte. Elvira kümmerte sich um die Heimhilfe und die Putzfrau, während Franziska alle medizinischen Belange ihres alten Vaters im Auge behielt. Natürlich, Elviras um zwei Jahre jüngere Schwester war Ärztin. So konnte der alte Mann nach wie vor in seiner Wohnung leben.
»Wie lang dauert die Fahrt?«
Elvira tauchte aus ihren Gedanken hoch und schaute in den Rückspiegel zu ihrer Tochter Jasmina. »Mindestens zwei Stunden. Wahrscheinlich sogar zweieinhalb.«
»Wir werden unterwegs mal eine Pause einlegen müssen.«
»Musst du schon wieder auf das Klo?«
»Jetzt noch nicht, aber bald.«
»Schauen wir, dass wir erst einmal auf die Autobahn kommen.«
Elvira lenkte ihren VW Passat Kombi routiniert durch den lebhaften Stadtverkehr in Richtung Westautobahn. Berufsbedingt war sie viel mit dem Auto unterwegs, immer wieder fuhr sie auch längere Strecken und führte viel Ausrüstung mit, daher hatte sie einen gut motorisierten, komfortablen Wagen mit geräumigem Kofferraum gekauft. Auch jetzt hatte sie einiges an Ausrüstung dabei, sie hatte ein paar Tage konzentrierter Arbeit vor sich. Vorausgesetzt natürlich, sie würde sich konzentrieren können. Zusätzlich befanden sich auch ihr Gepäck und das ihrer zwei Fahrgäste im Wagen. Jasmina war wie in letzter Zeit stets in schwarze Kleidung gehüllt und ihren Freund Clemens hatte Elvira noch nie anders als in Schwarz gesehen.
Manchmal machte sich Elvira um ihre achtzehnjährige Tochter Sorgen, manchmal wirkte sie ein bisschen weltfremd, allzu verträumt und einzelgängerisch, und Clemens war auch nicht unbedingt die Art von Mann, die sie sich als Mutter für ihre Tochter wünschte, dann aber wieder musste sich Elvira eingestehen, dass sie sich zu viele Sorgen machte. Jasmina hatte in der letzten Woche die Matura mit Auszeichnung abgelegt, und sie schien sich bei den Vorbereitungen zur großen Abschlussprüfung ihrer Schullaufbahn gar nicht besonders verausgabt zu haben. Ja, sie war immer eine gute Schülerin gewesen, in Deutsch, Englisch und Französisch hatte sie nie eine andere Note als »sehr gut« gehabt, aber in manchen Dingen des Lebens schien Jasmina sehr dünnhäutig zu sein. Immerhin, und das hatte Elvira stets als beruhigend empfunden, hatte Jasmina keinerlei künstlerische Ambitionen entwickelt, weder mit dem Zeichenstift noch an der Klaviertastatur oder sonst wie. Sie las ausgesprochen viel, aber sie schien nie den Gedanken erwogen zu haben, selbst zu schreiben. Das fand Elvira erleichternd. Nicht auszudenken, sie hätte die künstlerische Ader ihres Vaters geerbt. Der blanke Irrsinn!
Sie hatten lange darüber debattiert, was die augenfällig lernfreudige Tochter studieren sollte. Ein Sprachenstudium lag bei Jasminas Talenten wirklich nahe und Elvira war es gelungen, ihr ein derartiges Studium schmackhaft zu machen. Sie würde im Oktober an der Uni Wien mit Germanistik und Romanistik beginnen.
»Ich habe für Papa ein Geburtstagsgeschenk besorgt. Also, eigentlich haben Clemens und ich das Geschenk gemeinsam besorgt.«
Elvira Altmann zog ihre Augenbrauen hoch und schaute wieder durch den Rückspiegel zu den beiden jungen Leuten nach hinten. »Und was ist es?«
»Ein Buch.«
»Schön.«
»Ein altes Buch.«
»Welches Buch?«
»Ein Exemplar der ersten Ausgabe von Maxim Gorkis Roman Das Werk der Artamanows.«
»Der deutschen Übersetzung oder des russischen Originals?«
»Des russischen Originals.«
»Oho, eine echte Rarität also.«
»Clemens hat es im Internet gekauft. War gar nicht so billig. Du weißt schon, Papa steht ja auf revolutionäre Künstler.«
»Er wird sich bestimmt freuen. Auch wenn er Russisch nicht lesen kann.«
»Ist für seine Sammlung gedacht. Er hat ja auch japanische Bücher.«
»Schon klar. Gute Wahl.«
Kaum auf der Autobahn betätigte Elvira Altmann den Blinker und fuhr zügig an einem schwer beladenen Lieferwagen vorbei. Wirklich eilig hatten sie es nicht, sie würden zu dritt ein paar Tage, maximal eine Woche, in Hinterstoder bleiben und Gottfrieds Geburtstagsfest war für Freitagabend angesetzt, aber am Beginn einer längeren Autofahrt drückte Elvira immer einmal auf die Tube. Später würden sie in einer Raststätte eine Kaffeepause einlegen und danach gemütlicher unterwegs sein.
Jens packte das Fernglas in den Rucksack und zog die Sturmhaube über. Zum Glück war es nicht sehr heiß, so würde er trotz Haube und Handschuhen nicht allzu sehr schwitzen. Immerhin hatte er hier keine Stacheldrahtzäune oder hohe Mauern zu überwinden. Und im Gebäude war keine Alarmanlage installiert, das wusste er. Eigentlich ein leichtes Spiel, aber er war kein professioneller Einbrecher, er war überhaupt kein Einbrecher, weder ein Profi noch ein Amateur. Es gab keine Alternative, er musste es tun. Absolut keine Alternative! Jens fluchte still in sich hinein.
Er spähte um sich, konnte aber weit und breit niemanden entdecken. Über eine Stunde hatte er im Versteck gewartet, dann war Moorhammer mit seinem Geländewagen abgefahren und hatte den ehemaligen Bauernhof still hinter sich gelassen. Jens hatte wie geplant eine Viertelstunde gewartet, ob Moorhammer eventuell schnell zurückkehren würde, etwa weil er seine Geldbörse oder sein Handy oder weiß der Teufel was vergessen hatte, aber der Toyota Hilux war nicht wieder auf den Hof gerollt. Moorhammer würde also frühestens in zwei Stunden hier wieder auftauchen.
Jens lief los, überquerte die Wiese, duckte sich im Schatten der ehemaligen Scheune. Vorteilhaft, dass der Hof so weit abseits lag, keine Nachbarn hielten hier neugierig Maulaffen feil und hatten nichts Besseres zu tun, als vermummte Schatten, die über den Nachbarhof schlichen, bei der Polizei zu melden. Leichtes Spiel eigentlich, dennoch schnappte Jens nach Luft.
Er wusste, wo der Reserveschlüssel lag. Ein Lohn seiner Mühen, tagelang mit dem Fernglas das Haus beobachtet zu haben. Moorhammers Haushälterin Barbara Satzberger hatte einmal ihren Schlüssel vergessen und war zielgerichtet zum Holzstapel hinter das Haus marschiert. Für Jens war es danach ein Kinderspiel gewesen, das Versteck ausfindig zu machen.
Jens steckte den Schlüssel an und drehte ihn im Schloss. Er öffnete die Hintertür nur einen Spalt und schlüpfte hinein. Vorsichtig lauschte er in das große alte Haus. Mehrere Generationen an Bauersleuten, Gottfried Moorhammers Vorfahren, und das Gesinde hatten hier gelebt und die Mauern mit Leben erfüllt, nun aber umgab den ungebetenen Gast völlige Stille. Jens putzte sorgsam seine Sportschuhe ab. Er schaute auf seine Armbanduhr. Und eilte los.
Vorsichtig öffnete er die Schubladen des Schreibtisches. Er durfte keine Spuren hinterlassen, nichts durfte darauf hindeuten, dass er hier herumschnüffelte. Die Situation kam Jens grotesk vor. Er war weder Einbrecher noch Detektiv, er war Komponist! Was tat er hier eigentlich? Er biss auf seine Lippen. Keine Selbstzweifel, jetzt war er schon mittendrin, jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen, jetzt musste er an das Ziel denken.
Über eine halbe Stunde verbrachte er damit, Moorhammers Büro zu durchsuchen. Zum Glück legte der große Mann keinen Wert auf penible Ordnung, Bücher, Papiere und allerlei Krimskrams lagen in wilden Haufen umher. Moorhammer würde bestimmt nicht bemerken, dass sein Büro durchsucht worden war.
Jens fluchte. Nichts, keine Spur von den Dokumenten. Wo war ihr Reisepass? Adna hatte doch gesagt, dass er hier irgendwo verwahrt sein musste. Hatte sie ihn getäuscht? War hier irgendwo im Haus ein versteckter Tresor in die Mauer eingelassen?
Vielleicht im Atelier!
Jens verließ das Wohngebäude, versperrte die Hintertür, huschte zum Atelier im hinteren Teil des Anwesens und betrat die Arbeitsräume des Bildhauers. Die Tür war nicht versperrt. Große Nordfenster, massige Steinblöcke, teilweise in rohem Zustand, teilweise behauen, eine wuchtige, mehrere Meter breite Werkbank mit dem Werkzeug, vom einfachen Steinmetzhammer bis zu Präzisionsschleifmaschinen. Jens war beeindruckt. War er von Moorhammers Arbeit immer gewesen. Darin machte er sich nichts vor, er bewunderte den bärbeißigen Mittfünfziger. Jens’ Metier waren Töne, Melodien, Klänge, luftige und flüchtige Momente des Hörens, hier aber arbeitete ein Mann mit nacktem Stein, Marmor, Granit, Kalk, gleichsam dem Gegenteil von Musik. Und dieser Mann arbeitete gut, verdammt gut sogar. Jens’ Handschuh strich über die steinerne Oberfläche eines weiblichen Gesäßes. Er wusste, wessen Gesäß für diese halbfertige Skulptur als Vorbild gedient hatte, er wusste es zu gut. Jens war eigentümlich erregt. Sein Blick fiel auf den Zeichentisch. Von unentrinnbarer Gravitation angezogen trat er näher. Er schnappte nach Luft. Moorhammers Skizzen. Jens schüttelte den Kopf. War es möglich, dass ein Mann mit derartig breitem Korpus und massigen Händen Bleistiftzeichnungen von solch feinsinniger und filigraner Schönheit anlegen konnte? Unglaublich, aber wahr. Nur mit wenigen Strichen und Schattierungen hatte Moorhammer Adnas Schönheit auf Papier gebannt.
Jens klappte eine großformatige Mappe auf. Seine Augen öffneten sich weit. Aktfotos. Er blätterte atemlos durch die Bilder. Im A3-Format ausgedruckte Fotos, die Moorhammer mit seiner Digitalkamera von Adna geschossen hatte. Die Erotik der Bilder ließ Jens beinahe die Luft vor den Augen flirren. Das waren keine aufreizenden Pin-up-Bilderchen oder aufdringlichen Pornos, das waren Studien weiblicher Schönheit in klassischen Posen. Dieser Teufelskerl Moorhammer hatte einfach einen begnadeten Blick für den Moment der optischen Sensation.
Jens schüttelte die Begeisterung von sich. Er durfte sich hier nicht der Kunstbetrachtung hingeben, er musste an sein Ziel denken. Wo war der verfluchte Reisepass?
Jens hörte ein Auto. Seine Pulsfrequenz beschleunigte sich schlagartig. Er eilte an das Fenster und lugte hinaus. Ein roter Peugeot Kombi, Barbara Satzbergers Auto. Sie durfte ihn um keinen Preis entdecken. Jens beobachtete, wie Barbara den Kofferraum ihres Wagens öffnete, einen Karton heraushob und in die vordere Scheune trug. Was für ein Glück! Jens lief sofort los. Wenn Barbara den Einkauf, wahrscheinlich Geschirr, Getränke oder sonstige Dinge für Moorhammers Fest, in die vordere Scheune lud, dann würde sie ihn bei genügender Vorsicht nicht entdecken. Mit schnellen Bewegungen legte Jens den Schlüssel in sein Versteck zurück.
Wenig später hockte er im Gebüsch und lugte durch das Fernglas. Moorhammers Haushälterin hatte ganz offensichtlich nichts von seiner Anwesenheit in Haus und Atelier bemerkt. Immerhin das war geglückt. Aber bei seiner Suche war er nicht ans Ziel gekommen. Jens zog die HK P10 aus dem Gurt und packte die Waffe wieder in den Rucksack. Fluchend lief er in den Wald.
Katharina lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Kräutertee. »Dass du dich mit solchen Leuten abgibst.«
Gottfried zuckte mit den Schultern. »Jeder Beruf hat so seine Härten. Solche Leute sind die Härte meines Berufs. Besserwisser, Klugscheißer, Karrieristen, Arschkriecher und Beutelschneider, die Kunstszene besteht fast ausnahmslos aus diesen Leuten.«
»Da sind mir meine Bienen lieber. Die stechen nur, wenn es nicht anders geht.«
»Danke für das exzellente Frühstück. Magst du morgen Abend zu meinem Geburtstagsfest kommen?«, fragte Gottfried mit schiefem Grinsen.
Katharina Moser verzog die Miene. »Nur mit der Heugabel. Dann kann ich ein paar von der Bande aufspießen.«
»Solange du sie nicht auf den Grill schmeißt und mit scharfem Senf als lokale Spezialität servierst, wäre das schon in Ordnung.«
»Nein, nein, feier du ruhig mit deinen Freunden, ich werde ein Gläschen auf dein Wohl trinken, hier, auf meinem Hof, bei meinen Tieren.«
»Das wäre aber eine tolle Sache. Ich würde dich mit großem Pomp als die wunderbare Frau vorstellen, die mich in die Kunst der Liebe eingeführt hat, die mir den Weg in die Herzen und Betten von tausend Frauen gewiesen hat.«
»Angeber.«
»Na hallo, Kathi«, empörte sich Gottfried, »das ist keine Angeberei! In Hunderten Zeitungsartikeln und Kunstbüchern sind meine amourösen Heldentaten als Beweis meiner immensen künstlerischen Leidenschaft bejubelt oder verspottet worden.«
Katharina erhob sich und räumte das Geschirr vom Tisch.
Gottfried schaute träumerisch zum Fenster hinaus. »Das waren Zeiten, nicht wahr? Die Jugend. Lang ist es her. Lange habe ich dich umgarnt, habe um deine Gunst geworben, sie geradezu erfleht.«
»Du warst schon als Bub eine Nervensäge.«
»Die sagenumwobene Moser Kathi, die schönste und wildeste Frau, die jemals das Stodertal bewohnt hat. Die Wilderin, die Berghexe, das salige Weib in der schönsten Gestalt fraulicher Vollkommenheit. Hinter vorgehaltener Hand haben wir Buben von nichts anderem geredet als von einer Liebesnacht mit dir. Ich habe nächtelang auf der Lauer gelegen, mit der Axt in der Hand, und war bereit, jedem Kerl, der in dein Fenster gestiegen ist, den Schädel zu spalten.«
»Ein paar hätten es durchaus verdient.«
»Hast du jemals Geld genommen?«
»Spinnst du? Wenn einer mit Geld gekommen ist, habe ich den Hund auf ihn gehetzt. Ich habe mich nie für Geld interessiert.«
»Du hast dich für Männer interessiert.«
Katharina Moser wiegte den Kopf. »Mal mehr, mal weniger.«
»Und für Frauen. Das haben alle gewusst.«
»Ich nehme das Leben, wie es kommt.«
»In deinen Armen bin ich zum Mann geworden. Monatelang habe ich darauf gewartet, habe dich mit Blumenkränzen, Liebesgedichten und frivolen Zeichnungen beschenkt.«
»Du warst ein furchtbarer Quälgeist.«
»Warum hast du mich so lange darben lassen?«
»Na, weil du noch keine sechzehn warst. Glaubst du, ich lasse mir von der Meute den Hof niederbrennen, nur weil ich einen Minderjährigen in mein Bett lasse? Außerdem fand ich deine Geschenke charmant. Habe gleich gewusst, dass du keiner von den Schwachköpfen mit dicken Waden und prallen Hoden bist.«
Gottfried schaute an sich herab. »Obwohl, dicke Waden und pralle Hoden habe ich schon immer gehabt.«
»Du warst aber kein Schwachkopf.«
»Vielen Dank für das Kompliment. Das zählt mehr als die wortreichste Lobhudelei der Frau Kunstminister oder des Herrn Universitätsprofessor.«
»Jajaja, ist schon genug Schmeichelei. Ich lass mich auf keinen Fall dazu überreden, bei deiner Orgie als lustiges Original des Landlebens aufzutreten. Das kannst du vergessen.«
Gottfried nickte und erhob sich. »Wie laufen deine Geschäfte?«
»Ich bleibe auf meiner Ware nicht sitzen.«
»Das höre ich gern.«
Kathi lehnte sich an den Herd und verschränkte die Arme. »Vor allem der Schnaps geht weg wie warmes Brot.«
»Dein Schnaps ist halt der beste, den man kriegen kann.«
»Dein verrückter Freund hat mir letztens, ich war gerade nicht im Haus, einen Zettel in die Tür gesteckt. Eine Bestellung über zwanzig Flaschen. Wenn ich Zeit und Lust habe, werde ich ihm die Lieferung vorbeibringen. Unersättlich, der Mann. Dass der so viel säuft, schaut man ihm gar nicht an.«
»Heiner säuft nicht so viel. Er verschenkt die meisten deiner Flaschen.«
Kathi schmunzelte. »Im Gegensatz zu dir, nicht wahr? Du säufst meinen Schnaps schon.«
»Ich würde mir lieber mitten ins Herz stechen, als deinen Schnaps an irgendwelche Banausen zu verschenken.«
Die beiden lachten.
»Also, was willst du?«
»Drei Flaschen Zwetschke, fünf Flaschen Birne, fünf Flaschen Obstler. Und Most sowieso, drei Doppler.«
»Ich habe auch Honigwein.«
»Drei Flaschen.«
»Honig auch?«
»Hm, ich nehme zwei Kilo Waldhonig.«
»Den Frühlingsblütenhonig solltest du probieren.«
»Ist er gut?«
»Mein bester Honig. Nicht billig, aber gut.«
»Zwei Kilo. Hast du Ziegenfleisch?«
»Nein.«
»Verkaufst du mir eine?«
»Heuer nicht. Vielleicht nächstes Jahr. Käse kannst du haben.«
»Pack mir ein schönes Stück ein.«
Katharina stellte eine halb volle Flasche und zwei Schnapsgläser auf den Tisch.
»Du, Kathi, aber nur ein Stamperl. Ich muss heute noch Auto fahren.«
Sie füllte die Gläser randvoll. »Seit wann bist gerade du so ein Braver?«
»Seit alle paar Kilometer ein Polizist mit einem Alkomat steht.«
Die beiden hoben ihre Gläser und stießen an.
»Ach, die Polizisten, unsere Freunde und Helfer. Gibst ihnen halt eine von den Flaschen ab, und dann hast du deine Ruhe.«
Stühlerücken.
Christina warf einen Blick auf die Zeitanzeige ihres Handys, packte die Handtasche und erhob sich. Vier Uhr Nachmittag, die Besprechung in der Polizeidirektion Linz hatte sich, wie üblich bei Besprechungen in großem Kreis, über den ganzen Tag dahingezogen. Das Thema der Besprechung war durchaus relevant: Mehrere Städte in Oberösterreich waren in den Fokus von professionellen Betrügern geraten, auch in Christinas Heimatstadt Steyr waren Fälle aktenkundig geworden.
Der Enkeltrick zog immer noch, drei ältere Damen aus Steyr waren die Opfer. Zwei waren Frauen aus dem einfachen Volk, denen die kargen Ersparnisse der Witwenpension aus der Tasche gezogen worden waren, eine Frau war die Witwe eines ehemals leitenden Ingenieurs der Motorenfabrik, und ihr hatten die Betrüger rund vierzigtausend Euro abgeluchst.
Das Schema funktionierte immer gleich. Alleinstehende alte Menschen wurden gezielt ausgeforscht, dann rief ein Profi an und gab sich als Enkel oder Neffe aus, entlockte in einem ganz alltäglichen Gespräch mit exakt ausgeführten rhetorischen Tricks die relevanten Informationen und bat die Oma oder den Opa dann um einen kleinen Vorschuss für einen Wohnungskauf oder für eine Ausbildung. Wenn dann die alten Leute das Geld besorgt hatten und der Enkel oder Neffe das Geld abholen sollte, hatte er irgendwelche Probleme, etwa eine Autopanne oder Zugverspätung, weswegen er einen Freund oder eine Freundin schickte. Die Springer im System waren Leute vor Ort, die gar nicht wussten, von wem sie die Aufträge erhielten, sie holten das Geld und lieferten es ab, bezogen ihr ausgemachtes Honorar und verschwanden.
Christina hatte einen dieser Springer ausfindig gemacht, mit dem mäßigen Erfolg, dass dieser wegen Teilnahme an einer kriminellen Handlung auf freiem Fuß angezeigt worden war. Das Verfahren stand noch aus, aber seine Strafe würde nicht hoch sein, schließlich hatte man es nur mit einem unbedeutenden Laufburschen zu tun, der das bisschen Geld, kaum erhalten, innerhalb einer Stunde in einer Spielhalle in den Automaten versenkt hatte. Christina hatte dem Mann eine Therapie wegen seiner Spielsucht nahegelegt, ein Vorschlag, den dieser brüsk von sich gewiesen hatte. Ein bisschen Zocken in der Spielhalle könne man doch nicht als Krankheit bezeichnen!
Christina schüttelte einige Hände, der Besprechungsraum leerte sich. Sie verließ den Raum und schaute in das Gesicht ihres jungen Kollegen Friedel Holzmann.
»Deiner Miene zufolge tippe ich auf schwerwiegende Müdigkeitserscheinungen nach überlangem Vortrag mit wenig interessantem Inhalt.«
Friedel blickte sich gehetzt um. »Bin ich negativ aufgefallen?«
»Nicht wirklich«, flüsterte Christina verschwörerisch. »Du warst nicht der Einzige, der sich Mühe geben musste, den Vortrag unseres hochgeschätzten Wiener Kollegen zu überstehen. Na ja, zwei Stunden für ein paar Fakten, die man in einer halben Stunde bequem zusammenfassen kann, ist natürlich schon eine bemerkenswerte Leistung.«
Sie gingen nebeneinander den Gang entlang. Friedel Holzmann hatte sich, das war Christina von mehreren Seiten zugetragen worden, nicht nur gut in den Alltag in der Polizeidirektion eingelebt, er war in den letzten Monaten sogar zu einer regelrechten Stütze des Kriminaldienstes geworden. Kaum ein Kriminalist in Oberösterreich rief nicht bei Friedel an, wenn es darum ging, Hintergrundinformationen in verschiedensten IT-Systemen zu recherchieren. Da nahm ihm selbst sein ansonsten trockener und fast militärisch strenger Vorgesetzter nicht krumm, dass Friedel mit einem kecken Spitzbart, einem Piercing und, sobald die Sonne sich auch nur ein paar Minuten pro Tag zeigte, mit halblangen Hosen und Sandalen zur Arbeit erschien. Und dass sich Friedel sein Haar auf Länge eines Bürstenschnittes trimmen würde, war sowieso undenkbar.
»Gott sei Dank. Ich will nicht noch negativer auffallen als sonst auch immer.«
Christina drückte auf ihren knurrenden Magen.
»Ich hätte in der Mittagspause doch mit den Kollegen essen gehen sollen.«
»Du wärst dann nachmittags garantiert eingeschlafen.«
»Wahrscheinlich. Jetzt brummt halt der Magen.«
Eine Idee erhellte Friedels Miene. »Was hältst du von Paprikahuhn?«
Christina zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Wie kommst du auf Paprikahuhn?«
»Vesna hat heute ihren freien Tag. Und es ist ausgemacht, dass gegen fünf das Essen auf dem Tisch steht.«
Christina hatte mehrmals Geschichten über Friedels Lebensgefährtin Vesna gehört und einmal sogar dienstlich mit ihr telefoniert. Die junge Frau arbeitete als Sozialarbeiterin in der Bewährungshilfe. »Du lädst mich zum Essen ein?«
Friedel blieb stehen und legte seine rechte Hand auf Christinas linken Unterarm. »Wenn du einmal Vesnas Paprikahuhn gegessen hast, gehst du nur mehr mit einem Flammenwerfer in Gasthäuser, bei denen der Koch sich an diesem Gericht versucht. Du weißt ja, seit unserem ersten gemeinsamen Fall bin ich ja eher Pflanzenfresser, aber wenn Vesna Paprikahuhn zubereitet, hilft alles nichts, da muss man essen, bis man bewusstlos vom Sessel kippt. Bio-Huhn übrigens, eh klar. Das macht ihre Erblinie, Mutter Bosnierin, Vater Bosnier, Großeltern Bosnier, seit dem fünfzehnten Jahrhundert lauter Bosnier. Sei mir nicht böse, ich bin sicher, es gibt ein paar wirklich gute Köche in Österreich, aber Paprikahuhn kann eigentlich nur von einer Ungarin oder einer Bosnierin zubereitet werden. Alles andere wirkt hilflos.«
Christina runzelte die Stirn. »Friedel, hör auf, mir rinnt das Wasser im Mund zusammen.«
»Du bist hiermit eingeladen.«
Christina wiegte den Kopf. Ihr Ehemann Wilhelm hatte schon beim Frühstück angekündigt, er würde kaum vor neun Uhr abends nach Hause kommen und unterwegs essen. Sie hatte nicht vor, heute noch in ihrem Büro in Steyr vorbeizuschauen, also sprach eigentlich nichts dagegen, noch ein Stündchen in Linz zu bleiben. »Na, ich weiß nicht. Kommt das nicht ein bisschen spontan? Was wird deine Freundin sagen?«
»Sie wird sagen: Christina, lass es dir schmecken.«
»Und wenn sie gar nicht für drei Personen gekocht hat?«
»Wenn Vesna Paprikahuhn kocht, dann immer im großen Topf, sodass wir drei Tage davon essen können. Die drei oder vier Teller, die du runterfetzen wirst, fallen nicht ins Gewicht.«
Christina lachte. »Drei oder vier Teller?«, wiederholte sie fragend mit einem Seitenblick auf Friedels ein wenig füllige Konstitution. »Das ist eher deine Spielklasse.«
Er zog sein Handy aus der Hosentasche. »Ich rufe gleich an.«
Es geschah in Wahrheit selten, dass Christina Menschen traf, die sich von ihrer in der Regel distanzierten, manchmal sogar unnahbaren Art völlig unbeeindruckt zeigten. Friedel war so ein Mensch. Während andere sich vor ihrem apart-sportlichen, häufig eleganten, kühlen und wenn nötig streitbaren Auftreten abschrecken ließen und lieber einen Sicherheitsabstand zur Frau Abteilungsinspektor hielten, hatte Friedel von Anfang an genau darauf gepfiffen und die um sieben Jahre ältere, im Dienstgrad weit über ihm stehende Polizistin wie eine gute alte Freundin angesprochen. Friedel redete alle und jeden so an, und zwar so lange, bis der oder die Betreffende unmissverständlich zu erkennen gab, nicht jovial und auf gleicher Höhe angesprochen werden zu wollen. Genau das hatte Christina nicht getan. Sie hatte zugelassen, dass er nicht nur ein Kollege war, sondern jemand, der sie aus dem Stegreif zum Essen in seine Wohnung einladen wollte und auch durfte.
»Hallo Vesna, Folgendes …«
Christina lauschte dem Telefonat mit einem Schmunzeln.
Heiner Schweiger öffnete die Tür zu seiner Salzburger Wohnung und ließ Adna eintreten. Er hob die Einkaufstüten und zog mit der Fußspitze hinter sich die Türe zu.
Adna streifte durch die Räume und schaute sich neugierig um. »Was für eine schöne Wohnung! Wunderbare Möbel. Ein toller Ausblick.«
Heiner stellte sich neben seinen Gast und ließ den Blick auf die Salzach und die gegenüberliegenden Dächer der Altstadt schweifen. Verstohlen musterte er Adna von der Seite. Der Ausblick aus dem Fenster war ihm lange vertraut, aber so schönen Besuch hatte er selten in seinem Domizil.
»Danke, Heiner, dass du mir diese großartige Stadt gezeigt hast. Ab heute liebe ich Salzburg!«
Er verfolgte aufgewühlt, wie die junge Frau durch den Salon wehte, die Bilder betrachtete, an den offenen Kamin trat und ein Glas Wasser aus der bereitstehenden Karaffe füllte. Frühmorgens waren sie von Hinterstoder aufgebrochen und hatten zwei Stunden später den Wagen auf Heiners Stellplatz in der Tiefgarage abgestellt. Danach hatten sie in einem Kaffeehaus ausgiebig gefrühstückt und waren von Boutique zu Boutique gezogen. Heiner hatte Adna alle Wünsche erfüllt, von robusten Wanderschuhen über schicke Sommerkleider bis zur Spitzenunterwäsche hatte er alles gekauft, was ihr ins Auge gesprungen war. Mittags hatten sie in einem vornehmen Restaurant eine Kleinigkeit zu sich genommen, um hernach die hiesigen Museen zu besuchen. Adna hatte darauf bestanden. Sie könne nicht in eine neue Stadt kommen, ohne durch die dortigen Museen zu laufen, hatte sie gesagt. Heiner selbst liebte das Salzburg Museum, doch mit der jungen Tunesierin an seiner Seite war der Besuch in der Neuen Residenz ein ungleich lebendigeres Vergnügen als sonst gewesen. Nun lief es auf den Abend zu und die beiden waren in seine Stadtwohnung gekommen.
Heiner trat an die Bar und goss Whiskey in ein Glas. Er setzte sich auf das ausladende Sofa und streckte die Beine von sich. Die Strapazen des Tages machten sich bemerkbar. Immer auf den Beinen, immer unterwegs, quer durch die Altstadt in diese und dann in jene Richtung. Heiner war gut zu Fuß, das machten die regelmäßigen Bergtouren und Jagdausflüge, aber er war nicht mehr der Jüngste. Im letzten Winter hatte er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert, in diesem Alter musste man sich die Kräfte gut einteilen, um mit einer quicklebendigen, jungen Frau Schritt halten zu können.
Adna setzte sich Heiner gegenüber, ihr Lächeln war von bezaubernder Leichtigkeit. Ein gnädiger Wüstenwind hatte diese Perle des Morgenlandes in seine Wohnung geweht.
»Lieber Heiner, ich danke dir für all die schönen Dinge.«
Heiner winkte ab und stellte das geleerte Glas auf den Couchtisch. »Meine teure Adna, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite. Ich habe einen höchst erfreulichen Tag mit dir verbracht.«
Dann redete sie munter darauf los. Sie beschrieb wort- und gestenreich ihre Eindrücke von den Ausstellungsstücken im Museum. Heiner lehnte sich zurück und genoss einfach ihre Anwesenheit. Sie hatte in den Monaten, seit sie bei Gottfried Moorhammer wohnte, ihre Deutschkenntnisse merklich vertieft, die Regeln der Grammatik flossen leicht über ihre Lippen, nur da und dort tauchte eine falsche Flexion oder eine verwechselte Präposition auf, und der Klang ihres Akzents war schlicht und ergreifend schön. Alles an dieser jungen Frau war schön. Ausnahmslos alles.
Heiner hatte mit wachsender Begeisterung verfolgt, wie die Schläge des Meisters nach und nach ihre Körperlinien aus dem Marmor holten. An drei Skulpturen arbeitete Gottfried Moorhammer gleichzeitig, Figuren von geradezu antiker Würde und Gestalt, und für diese drei Skulpturen stand die junge Tunesierin Modell. Alleine dafür würde Heiner Schweiger morgen wieder mit ihr durch die Altstadt laufen und ihr jeden Wunsch erfüllen.
Ein Leben lang hatte er sich dem Diktat der Familie gefügt und getan, was von ihm verlangt worden war. Er hatte auf das Studium der Kunstgeschichte verzichtet und Wirtschaft studiert, er hatte nicht eine junge, wilde Künstlerin geheiratet, sondern die wohlerzogene Tochter eines Industriellen, er hatte Jahrzehnte emsig für den Fortbestand der Fabriken und Warenhäuser gearbeitet und insgesamt siebzehn Jahre lang als oberster Leiter der Firma neuntausend Arbeitern und Angestellten vorgestanden. Unter seiner Ägide waren die Produktionsstraßen modernisiert, die Geschäftsprozesse den Anforderungen der Gegenwart angepasst und das Familienvermögen gemehrt worden. Nun aber leitete sein Neffe als Generaldirektor die Firma und Heiners Tochter war dessen rechte Hand im Vorstand. Die junge Generation hatte sich bewähren wollen, also hatte Heiner vor drei Jahren seinen Rückzug aus den Geschäften vollzogen und konnte sich seither vollends seiner Liebhaberei widmen, nämlich der Kunst.
»Ich möchte die Kleider probieren.«
Heiner erhob sich und wies zu einer offen stehenden Tür. »Aber ja, meine Liebe, nur zu. Das Gästezimmer ist für dich vorbereitet. Darin kannst du dich nach Belieben ausbreiten. Der Tisch für das Abendessen ist für sieben Uhr reserviert, da bleibt noch genug Zeit.«
Adna packte die Einkaufstüten und verschwand im Gästezimmer. Heiner bemerkte, dass sie die Tür nicht schloss. Er trat an die Stereoanlage und legte eine CD ein. Ein Streichquintett von Luigi Boccherini erfüllte in dezenter Lautstärke den Salon. Heiner goss sich noch etwas Whiskey ein, er brauchte heute nicht mehr mit dem Auto zu fahren, sein junger Gast und er würden hier übernachten und morgen wieder aufbrechen. Am frühen Nachmittag würden sie in Hinterstoder sein, sodass alle Vorbereitungen für Gottfrieds Fest noch bequem erledigt werden konnten. Adna hatte ein wunderbares kleines Geschenk für Gottfried ausgesucht, einen höchst geschmackvoll geschnittenen chinesischen Jadedrachen. Heiner hatte natürlich auch ein Geschenk für ihn. Etwas Besonderes.
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Heiners Mund klappte auf. Adna tanzte in ein hauchdünnes Seidenkleidchen gehüllt zur Musik durch den Raum, drehte sich mehrmals um die eigene Achse, wirbelte dabei ihr langes pechschwarzes Haar durch die Luft, warf ihre Beine hoch. Heiner musste das Whiskeyglas abstellen.
Adna schwebte auf ihn zu und schmiegte sich an ihn. Er schnappte nach Luft.
»Ich möchte mich für deine Gastfreundschaft bedanken«, hauchte sie ihm ins Ohr.
Heiner schluckte schwer. »Aber, meine Teure, aber … das geht doch nicht.«
»Gefalle ich dir nicht?«
»Doch, doch! Du bist wunderschön, ich bin geradezu geblendet von deiner Schönheit, aber das geht doch nicht.«
»Bitte, bereite mir auch diese Freude.«
»Adna, du bist doch Gottfrieds Gefährtin. Ich kann ihn doch nicht derart hintergehen.«
Sie schlang ihre Arme um Heiners Hals und strich mit ihrer Nasenspitze über die seine. »Gottfried muss es nicht erfahren.«
»Ich kann ihn nicht belügen!«
»Schweigen ist keine Lüge.«
Heiner sah in Adnas Augen, in zwei grüne Oasen, verlor sich darin und fand sich in einer neuen, wunderbaren Welt wieder, in ihrer Welt. Er schlang seine Arme um ihre Hüften, hob sich hoch und drehte sich mit ihr im Kreis zu der Musik. Ein Leben lang hatte er immer an morgen gedacht, immer das Richtige getan, alle Erwartungen erfüllt, erst Gottfried Moorhammer hatte Heiner beigebracht, die Freiheit zu spüren. Er war frei. Jetzt. In diesem Augenblick. Und Gottfried würde es verstehen. Vielleicht nicht gleich. Später. Das Schweigen ist keine Lüge. Die Liebe ist keine Lüge. Wie glücklich er war.
Christina tauchte in den köstlichen Duft. Ihr Magen knurrte.
»Darf ich vorstellen? Das ist Vesna, das ist Christina.«
Ein offenes, freundliches Lächeln, ein apartes Gesicht und tiefgründige dunkle Augen begegneten Christina. Die beiden Frauen schüttelten einander die Hände.
»Lässig, dass wir uns mal kennenlernen«, sagte Vesna.
Christina wusste von diesem einen Telefonat mit der Frau, dass sie völlig akzentfreies Deutsch im Klang der oberösterreichischen Landeshauptstadt sprach. Natürlich, die junge Frau war in Linz aufgewachsen und zur Schule gegangen, sie besaß die österreichische Staatsbürgerschaft, nur mehr ihr Name und dass sie mit ihren Eltern bosnisch sprach, deuteten darauf hin, dass sie als Kleinkind vor den Kriegswirren beim Zerfall Jugoslawiens in Sicherheit gebracht worden war.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
»Nehmt euch etwas zu trinken. Ich bin in der Küche noch nicht ganz fertig. In fünfzehn Minuten können wir essen.«
Die junge Frau wirkte ebenso robust wie feminin, die Tätowierung ihres rechten Oberarms und die flotte Kurzhaarfrisur wirkten authentisch. Zweifellos war sie eine Sozialarbeiterin, die sich im schwierigen Geschäft der Bewährungshilfe durchzusetzen verstand. Christina fand, Friedel und Vesna passten gut zusammen, sie waren zwei unkomplizierte, kontaktfreudige, unprätentiöse Menschen, die sich auch in einem gewissen Hang zur Schlampigkeit trafen. Friedel räumte schnell einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl und bot ihr einen Sitzplatz an.
»Wer von euch beiden spielt Gitarre?«, fragte Christina mit einem Blick auf eine makellos polierte Westerngitarre auf einem Ständer neben dem Sofa.
»Sag bloß, du hast nicht gewusst, dass ich als Liedermacher der wahre Nachfolger von Bob Dylan bin? Ich bin von Unwissenden umgeben!«
Christina zog schmunzelnd die Augenbrauen hoch. »Sieh an. Du verfügst also über verborgene Talente.«
»Keine Sorge, Christina, ich komme bald ganz groß raus. Drei Songs habe ich schon geschrieben und in puncto Gitarrenspiel bin ich demnächst auf internationalem Niveau. Schätze mal, noch dreißig oder vierzig Jahre knallhartes Üben und ich wäre dann so weit für die Weltkarriere.«
Christina lachte. Zum Glück hatte sie die Einladung angenommen. In letzter Zeit mochte sie die Stille ihrer Wohnung nicht, wenn Wilhelm wieder einmal endlos lange arbeitete oder auf Dienstreise war.
Gottfried eilte mit ausgebreiteten Armen auf Jasmina zu, umarmte sie und küsste ihr gleich ein halbes dutzend Mal links, rechts die Wangen. »Tochterherz, du wirst immer schöner! Wie geht es dir, mein Lieb?«
»Eh gut.«
Gottfried ließ seine Hände noch eine Weile auf ihren Schultern ruhen und schaute sie mit leuchtenden Augen an. »Es tut so gut, dich wiederzusehen. Und gratuliere zur Matura! Deine Mutter hat am Telefon gesagt, du hättest mit Auszeichnung abgeschlossen.«
»Es lief ganz gut.«
»Meine Tochter! Ich bin stolz auf dich.«
Gottfried wandte sich nun Elvira zu, die schmunzelnd die emotionsgeladene Begrüßung verfolgt hatte. »Elvira, meine Liebe, du siehst hinreißend aus. Willkommen in meinem Haus.«
Elvira wusste, dass man Gottfried, wenn er denn begonnen hatte, Küsse um sich zu werfen, nicht entgehen konnte. Die beiden umarmten einander und tauschten Wangenküsse aus.
»Du bist also Clemens«, sagte Gottfried dann und reichte dem jungen Mann seine Hand.
Dieser erwiderte reichlich verschämt den Gruß, nun, man stand auch nicht jeden Tag einem so berühmten Mann gegenüber.
»Schön, dass ihr gekommen seid. Ich freue mich. Jetzt rein in die gute Stube, ich habe das Abendessen für euch vorbereitet.«
Gottfried führte seinen Besuch aus Wien in die rustikal mit rohen Naturholzmöbeln eingerichtete Bauernstube. Auf dem Tisch fanden sich vier Gedecke, eine Platte mit Speck, Wurst- und Käseaufschnitt, eine Schüssel mit Radieschen, Paprika und Tomaten, eine Schale Liptauer, ein Korb mit Brot, ein Krug Wasser, Apfelsaft und eine Flasche Birnenbrand.
Gottfried füllte vier Schnapsgläser. »Ich erhebe das Glas auf die bestandene Reifeprüfung. Zum Wohl!«
Die Gläser wurden geleert, dann nahmen sie Platz.
»Greift zu! Ich hoffe, ihr habt Hunger. Keine falsche Bescheidenheit, bei mir muss gegessen werden.«
Gottfried schmierte Liptauer auf ein Brot und belegte es zusätzlich dick mit Wurst. Die vier aßen.
»Jasmina, hast du dein Gepäck noch im Auto?«
»Nein, es ist im Hotel.«
»Im Hotel? Ihr werdet doch bei mir übernachten.«
Jasmina schüttelte den Kopf. »Mama hat in Hinterstoder Zimmer für uns gebucht.«
»Ja, was soll denn das? Ich habe im Haus zwei vollständig eingerichtete Gästezimmer. Wozu wollt ihr dann im Hotel logieren?«
Gottfrieds Blick wanderte zu Elvira. Drei Jahre lang waren sie zusammen gewesen, drei wunderbare, tolldreiste, verrückte Jahre. Anfangs war Gottfried noch ein mäßig bekannter Künstler gewesen, der um seine ersten Ausstellungen wie ein Tiger gekämpft hatte. Die ersten Monate ihrer Beziehung waren Gottfried, der wahrlich viele Frauen gekannt hatte, nach wie vor als eine der hellsten Zeiten seines Lebens in Erinnerung. Und dass in dieser wunderbaren Zeit Jasmina ins Leben gefunden hatte, erfüllte ihn noch heute mit Freude und Stolz. Aber das Familienleben mit einem kleinen Würmchen in den Armen der jungen Mutter hatte nicht so geklappt, wie sie sich das vorgestellt hatten. Gottfried hatte eine äußerst karriereförderliche Auftragsarbeit in New York erhalten, während Elvira gerade eben in der Wiener Kunstszene Fuß gefasst hatte. Eine Zeit lang hatten sie vermittels vieler Interkontinentalflüge das Familienleben intakt zu halten versucht, aber die Schwierigkeiten hatten sich gehäuft. Und als dann Gottfried für zwei Jahre nach Tokio gegangen war, war die Beziehung zerbrochen.
»Wir wollen dir nicht zur Last fallen«, sagte Elvira kühler als beabsichtigt.
»Ihr seid doch keine Last! Im Gegenteil, ich freue mich schon seit Tagen auf euren Besuch.«
Elvira setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Aber Gottfried, wir sind ja da. Du wirst die Zimmer wahrscheinlich für die anderen Gäste deines Festes benötigen.«
Gottfried nickte mit verzwickter Miene. »Ja, schon, ich habe allen möglichen Leuten versprochen, dass sie hier bei mir übernachten können. Aber wenn ihr die Zimmer wollt, schmeiße ich die anderen einfach raus!«
Elvira lachte nun. Das war typisch Gottfried. Ordnung konnte er einfach nicht halten und Planung war ihm überhaupt ein Fremdwort. »Du brauchst niemanden rauszuschmeißen. Wir haben unsere Zimmer im Hotel.«
Gottfried brach in schallendes Gelächter aus. »Und ob ich jemanden rausschmeißen werde! Ein Fest bei Gottfried Moorhammer ohne drei Schwerverletzte, fünf Rausschmisse und neun Monate später sieben uneheliche Kinder kann es gar nicht geben!«
Die Sonne näherte sich dem Horizont, der Himmel über ihr füllte sich schnell mit Helligkeit. Die Nacht war kühl gewesen und es würde wohl weit in den Vormittag hinein dauern, bis die Quecksilbersäule im Thermometer hochkletterte. Kathi hob die Werkzeugkiste auf die Ladefläche des Wagens und setzte sich hinter das Steuer. Ihr alter Iveco Daily leistete nach wie vor gute Dienste. Zum Glück hatte sie einen Mechaniker bei der Hand, der wirklich etwas von Motoren verstand und bei der Vergabe von Prüfplaketten nicht allzu pingelig war. Der Pritschenwagen war für das Wandern der Stöcke unverzichtbar, und nur für diesen Zweck besaß sie den Wagen, sie legte keine großen Strecken auf der Autobahn zurück, transportierte keine schweren Lasten, sie fuhr damit nur zu den Weideplätzen und alle paar Monate zum Einkaufen in den Großmarkt. Ihr Mechaniker zeigte Verständnis, dass eine alleinstehende Bäuerin und unabhängige Imkerin nicht über die finanziellen Mittel für einen hochmodernen Fahrzeugpark verfügte, also machte er ihr immer wieder gute Preise für die Servicearbeiten und bemängelte kaum, dass die Kupplung nicht mehr taufrisch war und der Rost dem Wagen gehörig zusetzte. Immerhin bezahlte Kathi ihn mit dem wahrscheinlich besten Obstler, den man in den Alpen überhaupt kriegen konnte. Manchmal nahm er auch Honig oder von ihr eingemachtes Gemüse. Geld eher selten.
Kathi hatte schon vor Jahren Geschäftspartner gesucht, deren Rechnungen in Naturalien beglichen werden konnten. Sie misstraute dem Geld. Und wenn sie die Zeitung durchblätterte, wusste sie nur zu gut warum. Kaum eine Woche verging, da nicht irgendein politischer Wichtigtuer dem Fluch des Geldes erlegen war, für diese oder jene an den Haaren herbeigezogenen Scheinleistungen utopische Geldbeträge entgegengenommen hatte und sich für eine Weile ein Lotterleben als ökonomischer Siegertyp hatte leisten können. Mit dem üblichen Ergebnis, früher oder später ein Fall für die Staatsanwaltschaft zu werden. Ihr Garten, ihr Hof, ihre Bienen brachten immense Erträge, immerhin wusste Kathi nach vierzig Jahren Berufspraxis sehr genau, wie sie zu arbeiten hatte, aber diese Erträge waren allesamt landwirtschaftlicher, nicht pekuniärer Natur.
Sie startete den Wagen und fuhr in Richtung der Stellplätze los. Heute hatte sie noch einige Vorbereitungsarbeiten zu erledigen, doch morgen schon wollte sie mit den ersten zwölf Stöcken wandern. Die Tracht auf der Streuobstwiese musste eingebracht werden, der Frühlingsblütenhonig bot fast alle Jahre wieder erste Qualität, und die alten robusten Apfel- und Birnbäume auf dem Westhang lieferten dann im Herbst reiches Fallobst für die Brände. Kathi war heilfroh, mit dreiundsechzig Jahren noch so ausdauernd und beweglich zu sein, dass ihr die Arbeit keine Probleme verursachte. Nun, ein Leben lang erstklassige Nahrung, unermüdliche Bewegung in freier Natur, treue Tiere als Begleiter und selbstgebrannter Schnaps, da brauchte man keine Angst vor ein paar Lebensjährchen zu haben.
Katharina Moser kurbelte das Fenster runter und ließ sich den kühlen Fahrtwind ins Gesicht streichen. Schon tauchte die Sonne über dem Berghang auf. Sie lächelte. Ein guter Tag für die Arbeit.
Gottfried hatte abends nur eine kleine Kostprobe genommen. Der Birnenbrand war von erlesener Qualität. Er wusste, wenn er denn eines Tages seines Leben überdrüssig sein sollte und ebenjenes in die Versenkung tauchen lassen wollte, so würde Schnaps dieser Güte einen sinnvollen Weg ergeben, aber gestern hatte er wirklich nur gekostet, sich an der Wärme des Getränks erfreut und dann den Korken zum richtigen Zeitpunkt wieder in den Flaschenhals gestöpselt. So war er nach erholsamem Schlaf erwacht und nach dem Frühstück voller Tatkraft in den Tag gestartet. Gottfried bestückte eben die Bar mit den von Kathi gekauften Flaschen, als er ein auf den Hof fahrendes Auto hörte. Er lugte durch das Fenster.
Barbara packte einen Einkaufskorb, warf hinter sich die Autotür zu und stapfte in das Haus.
»Ah, Gottfried, du bist schon wach!«
»Natürlich. Es ist acht Uhr. Die vereinbarte Zeit.«
Barbara Satzberger warf ihre Augenbrauen in Wellen. Mit Gottfried etwas auszumachen, war immer auch ein Glücksspiel. Vergaß er die Abmachung oder vergaß er die Abmachung nicht, das war die permanente Frage. Er hatte ihr schon vor ein paar Jahren sämtliche Schlüssel zu seinem Haus gegeben, in all der Zeit hatte sie ihre Arbeit als Haushälterin vorbildlich erledigt. Hier würden blankes Chaos und heillose Destruktion herrschen, wenn Barbara nicht mit tüchtiger Hand Ordnung hielte. Sie erhielt dafür auch ein respektables Gehalt, und zwar so respektabel, dass sie keiner anderen Tätigkeit nachzugehen brauchte. Und manchmal kommunizierten Gottfried und Barbara so, als ob sie ein altes Ehepaar wären, ein bisschen zänkisch, ein bisschen misstrauisch, aber von einer untrüglichen Gemeinsamkeit und Vertrautheit im Alltag erfüllt. Das waren Barbaras schönste Momente, die ihr auch über die manchmal monatelangen Reisen von Gottfried hinweghalfen. Immer dann, wenn sie an langen Winterabenden alleine in seinem Haus saß und Tee trank, weil Gottfried von Stadt zu Stadt, von Ausstellung zu Ausstellung zog und hier kaum Hausarbeit anfiel, pendelte sie zwischen Trübsinn über ihre Einsamkeit und Vorfreude auf den Moment, wenn er wieder heimkehrte und sein Haus und ihr Leben mit Lachen, Schimpfen und manchmal auch Küssen erfüllte.
Gottfried schaute in den Einkaufskorb. »Hast du das Brot gekauft?«
»Ja.«
Zu zweit traten sie in die Küche.
Gottfried entnahm dem Korb große, dunkle, nach der Backstube duftende Brotlaibe. Er lächelte breit. »Wunderbar! Das beste Brot der Welt. Ich kriege gleich Hunger.«