Totentrank - Günter Neuwirth - E-Book

Totentrank E-Book

Günter Neuwirth

4,9

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Nach dem Tod ihres Ehemannes quittiert Christina Kayserling den Polizeidienst und wagt im steirischen Weinland einen Neuanfang. Dort trifft sie Edgar, einen jungen Mann, der sich trotz des Altersunterschieds für sie zu interessieren scheint. Als in der Gegend mehrere Giftmorde geschehen, kann sich Christina der dunklen Faszination nicht entziehen. Sie beginnt auf eigene Faust zu recherchieren und ist sich schnell sicher: Hier will jemand Rache nehmen. Eine aufwühlende Mörderjagd beginnt.

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Seitenzahl: 319

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Günter Neuwirth

Totentrank

Kriminalroman

Zum Buch

Rache ist süß Nach dem Tod ihres Ehemannes quittiert Christina Kayserling den Polizeidienst und widmet sich der Renovierung eines alten Winzerhofes in der Südsteiermark. Dabei begegnet sie dem jungen Handwerker Edgar. Sie schließt mit der Trauer ab und wagt einen Neuanfang.Doch dann geschehen in der Gegend zwei Giftmorde. Zuerst will Christina nichts von den Fällen wissen, doch die Verbrechen üben eine dunkle Faszination auf sie aus. Christina wendet sich an eine Quelle aus ihrer Zeit als Kriminalistin, den IT-Experten Friedel Holzmann. Er soll Informationen beschaffen. Wie besessen sucht sie nach Spuren und geht dabei unkonventionelle Wege. Die Ermittlungen der Grazer Polizei stocken. Wann passiert der nächste Anschlag? Klar scheint nur, dass jemand einen Rachefeldzug führt. Doch Rache wofür? Eine emotional aufwühlende Mörderjagd beginnt.

Günter Neuwirth wuchs in Wien auf. Nach einer Ausbildung zum Ingenieur und dem Studium der Philosophie und Germanistik zog es ihn für mehrere Jahre nach Graz. Der Autor verdient seine Brötchen als Informationsarchitekt an der TU Graz. Er wohnt in der Weststeiermark und Wien. Günter Neuwirth ist Autodidakt am Piano und trat in jungen Jahren in Wiener Jazzclubs auf. Eine Schaffensphase führte ihn als Solokabarettist auf zahlreiche Kleinkunstbühnen. Seit 2008 publiziert er Romane, vornehmlich im Bereich Krimi.

Mehr Informationen zum Autor unter: www.guenterneuwirth.at

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2024

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lunghammer / shutterstock.com 

ISBN 978-3-8392-5370-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Gegenwart

Sie tauchten erst in dünne Schleier, bald aber sahen sie kaum die Hände vor Augen. Im Steilhang hing der Nebel. Ein feiner Sprühregen schlug ihnen entgegen. Immerhin war es nicht kalt. Rita stieg hinter David den Bergpfad hinauf. An manchen Stellen lagen noch Schneeinseln. In ein paar Tagen würden sie geschmolzen sein. Hinter Rita schritten Astrid und Bernd, alle vier waren schwer bepackt. Material genug für Davids Camp. Der Aufstieg war nicht weit, selbst mit 20 Kilogramm am Rücken würden sie in nicht einmal einer Stunde auf dem Hochplateau sein.

Der Mann mit dem dunkelblonden Vollbart hielt inne und schaute hinter sich.

»Wir sind gleich da.«

Bei der Waldbesetzung an der Schwarzen Sulm hatten sie sich kennengelernt. David und seine Ehefrau Astrid waren Biologen, Veganer und kategorische Umweltschützer. Die Öko-Task-Force. So hatte sich David einmal selbst bezeichnet. Fand Rita okay. Davids Fachgebiet war die alpine Vogelwelt. Astrid war eine ausgewiesene Kennerin der heimischen Insekten. Sie hatte ihre Doktorarbeit über die ökologischen Leistungen verschiedener Ameisenarten in naturbelassenen Wäldern geschrieben. Rita hatte zu den beiden innerhalb kurzer Zeit Vertrauen gefasst. Mit ihrem Wissen und ihren Vorschlägen waren sie schnell die informellen Anführer der Besetzungsgruppe geworden. Ganz selbstverständlich hatten alle bei David und Astrid um Rat oder um eine Entscheidung angefragt.

Und Rita machte sich da gar nichts vor, sie fand David einfach sexy. Schlank, tiefe blaue Augen, kräftig gebaut, von unerschütterlicher innerer Ruhe und fabelhafter Kondition. David hatte einfach das Zeug, bei Frauen Anfang 20 Schmetterlinge im Bauch aufzuscheuchen. Sofern natürlich die jungen Frauen darauf abfuhren, monatelang in einem Camp tief im Wald zu leben, das Essen am Lagerfeuer zu braten und in eiskalten Bächen zu baden. Aber David hatte Ritas Blicke kaum bemerkt oder übersehen, er hatte nur Augen für Astrid. Üblicherweise jedenfalls.

Als sie sich dem Hochplateau näherten, lichtete sich der Nebel. Auffrischender Wind schlug ihnen entgegen. Die Sonne ließ sich blicken. In maximal zwei Stunden würde der Morgennebel verschwunden und die Höhenzüge der Koralpe in prächtiges Frühlingslicht getaucht sein.

»Hier ist die Stelle!«, rief David und warf den Rucksack in die Wiese.

Sie waren mit dem Auto bis zum Parkplatz auf die Weinebene gefahren und dann zur Handalm hochgestiegen. Für erfahrene Bergwanderer ein kleiner Fußmarsch, ein kurzer steiler Anstieg, mehr war da nicht. Sie bauten im Windschatten einer hervorspringenden Felsformation das Camp auf. Der weite Rundrücken der Handalm auf 1.800 Metern Seehöhe war als Ort für Windräder in den Fokus der Energiewirtschaft gekommen. Das hatte die Gruppe von Umweltschützern, die seit vielen Monaten für die Erhaltung der letzten Reste natürlicher Räume auf der Koralpe kämpfte, auf den Plan gerufen. David war es dank seiner hervorragenden Kontakte im Wissenschaftsbetrieb der Steiermark gelungen, für den gesamten Frühling ein Projekt zu starten. Die Wanderbewegungen der Zugvögel über die Nord-Süd-Achse der Koralpe würden beobachtet werden. Die Handalm war für die nächsten Wochen Davids Wohnzimmer.

Der Vogelschlag an Windrädern war relativ gering, in den Flugkorridoren von Zugvögeln konnte dieser aber problematische Ausmaße annehmen. Daher war es wichtig zu wissen, wann und wie verstärkte Bewegungen im Gang waren. Die Kraftwerkbetreiber konnten mit zeitweiligen Abschaltungen bei geringem Wind und hohen Wanderbewegungen den Vogelschlag deutlich minimieren. Und die Daten für diese Regelung lieferten die Biologen durch Beobachtung am jeweiligen Standort.

Bald war das Camp eingerichtet. Die beiden Männer marschierten zu einer Inspektionsrunde los. Astrid packte Brot, Tofu und Paprika für das Mittagessen aus. Rita trat an das Stativ und ließ den Blick durch das Fernglas schweifen. Ein absolutes Hochleistungsglas, gebaut für wissenschaftliche Vogelbeobachtung. Die ferne, noch vollständig mit Schnee bedeckte Wand des Hohen Speiks schien zum Greifen nahe. Die Fernsicht war optimal, die letzten Nebelfetzen hingen in den Baumwipfeln der Senken.

»Und, taugt das Gerät auch etwas?«

Rita blickte hoch. Astrid war neben sie getreten und schaute in die Ferne.

»Es ist riesig. Man sieht kristallklar.«

»War auch nicht gerade billig.«

Rita drückte wieder ihre Augen an das Okular.

»Wird dir David nicht abgehen, wenn er drei Monate hier oben im Zelt haust?«

Astrid lachte.

»Ich komme klar. Ist ja nicht das erste Mal, dass wir ein paar Wochen getrennt sind.«

Das stimmte. Im Vorjahr hatte Astrid sechs Wochen an der Uni Innsbruck zu tun gehabt, während er im Lager an der Schwarzen Sulm geblieben war. In der Zeit war Rita dreimal mit David zusammen gewesen. Bei Wanderungen tief im Wald hatten sie miteinander geschlafen. Sie hatte ihn herumgekriegt.

»Kann mich noch erinnern.«

»Und du? Wird das jetzt etwas mit Bernd?«

Rita starrte Astrid mit ungläubigen Augen an.

»Mit Bernd?«

»Na ja, so wie er dich die ganze Zeit anschaut. Das ist doch ziemlich eindeutig.«

Rita blickte um sich, ob David und Bernd außer Hörweite waren. Rita verdrehte die Augen.

»Bernd ist gruselig. Findest du nicht auch?«

»Na ja, schon irgendwie, aber er hat doch auch seine guten Seiten.«

Rita schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, echt nicht. Es genügt vollkommen, dass er mir andauernd über den Weg läuft.«

»Aber ist das nicht ein Zeichen dafür, dass er auf dich steht?«

»Bernd ist ein Psycho. Ich fange da sicher nichts an.«

»Ich finde, du tust ihm unrecht.«

»Dann lass du dich mit ihm ein.«

Astrid lachte. Das souveräne Lachen einer klugen und attraktiven Mittdreißigerin mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Für dieses Lachen liebte und bewunderte Rita ihre ältere Freundin.

»Ich habe schon einen Kindskopf zu versorgen.«

Jetzt lachte auch Rita.

»Und, schon die ersten Sichtungen gemacht?«, rief David aus der Ferne.

Rita schaute wieder durch das Okular. Sie schwenkte das Fernglas in Richtung des nicht allzu fernen Glashüttenkogels.

»Ein paar Felsen hab ich entdeckt. Vögel leider noch nicht.«

David trat an das Fernglas, Rita machte ihm Platz.

»Lass mal sehen, ob die Einstellungen passen.«

David schaute durch die Linsen und sah die Felsformation gestochen scharf.

»Perfekt. Rita, du hast Talent zur Vogelbeobachtung.«

»Na ja, ich könnte von dir bestimmt noch viel lernen.«

David bewegte das Fernglas ein wenig. Er stockte.

»Da liegt einer!«

Der Tonfall war alarmierend. Sie schauten mit verkniffenen Augen hinüber zum Glashüttenkogel, konnten aber mit freiem Auge auf die Entfernung nichts erkennen.

»Was ist?«

»Da liegt ein Mann. Ein Stück unterhalb des Gipfels. Was ist mit dem?«

»Lass mich schauen.«

Astrid lugte durch das Fernglas.

»Siehst du ihn?«

»Na klar. Schaut ernst aus. Wahrscheinlich ist er gestürzt und verletzt.«

»Scheiße!«

David rannte zu seinem Rucksack und holte das Telefon. Er setzte sofort einen Notruf ab. Nun drückte sich Bernd an das Okular.

»Er rührt sich nicht«, sagte Bernd mit merkwürdig unbeteiligtem Tonfall. »Der Mann ist tot.«

»Red keinen Blödsinn! Los jetzt!«

David rannte los, Astrid und Rita hetzten hinter ihm her. Bernd blieb zurück am Fernglas und hielt seinen Blick auf den Mann gerichtet. Er war sich sicher, dass der Mann tot war. Völlig sicher.

Ein Jahr zuvor

Er hielt inne und spitzte die Ohren. Das Klavier. Wie lange hatte er schon das Klavier nicht mehr gehört?

Anna war mit ihrem Spiel nie zufrieden gewesen, hatte diese oder jene Passage bemäkelt, hatte stets an der Schnelligkeit und Sicherheit ihrer Finger gearbeitet. Er hingegen hatte ihr Spiel immer genossen, die angeblichen Fehler in Annas Spiel hatte er kaum gehört. Curd war als Musiker untalentiert, verstand wenig von der spieltechnischen Präzision und lauschte in Wahrheit nur den Empfindungen der Musik. Vor allem liebte er die »Morgenstimmung« von Edvard Grieg in einer Transkription für Klavier. Er hatte Anna immer wieder gebeten, dieses Stück zu spielen.

Und jetzt? Ein paar wahllos angeschlagene Töne.

Curd Brendelberg ließ den Trolley stehen und schritt bedächtig in den Salon. Anna saß im durch die Fenster brechenden Morgenlicht am Flügel, ihr Blick verlor sich auf den 88 Tasten. Curd wartete. Ein bitterer Abschied. Er sah es seiner Frau nur allzu klar an.

»Anna.«

Sie war nicht anwesend. Wahrscheinlich hörte sie noch den längst verklungenen Nachhall der angeschlagenen Saiten, wahrscheinlich lauschte sie einer Sonate, einer Serenade oder einer jener Etüden, mit denen sie ihre Übungsstunden eingeleitet hatte. Sie hatte nie den Ehrgeiz entwickelt, Konzertpianistin zu werden. Das Klavierspiel hatte ihr immer nur als Vergnügen gedient. Für professionelles Spiel war ihr die Musik zu wertvoll gewesen.

»Wir sollten langsam aufbrechen.«

Sie tauchte aus ihrer Versenkung hoch.

»Wie bitte?«

»Es ist acht Uhr. Wir sollten losfahren.«

»Schon acht Uhr?«

Curd schob den Rollator auf den Klavierhocker zu und half Anna beim Aufstehen.

»Halte dich fest.«

Vor einem Jahr war die Amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert worden. Damals hatte sie bei Wanderungen eine nachlassende Sicherheit im Schritt festgestellt und war zum Arzt gegangen. Erst nach einigen Untersuchungen hatte der Arzt die Diagnose als gesichert bezeichnet. Sie hatte sich viele Monate gut gehalten, aber zuletzt war die Krankheit substanziell schlimmer geworden. Nicht nur die Bewegungssicherheit der Beine hatte gelitten, auch die der Arme und Hände. Der Hände! Innerhalb weniger Wochen hatte sich ihr Klavierspiel drastisch verschlechtert. Und Anna wollte es scheinbar nicht wahrhaben, aber Curd hatte es eindeutig bemerkt, auch ihre Sprechweise litt unter der Nervenkrankheit. Für Außenstehende weitgehend unauffällig, nicht aber für ihn als Ehemann. Dabei hatte sie eine so schöne Sprechweise. Ihre kultivierte Wortwahl und präzise Artikulation waren ihm sofort aufgefallen, damals, als sie sich in der Tanzschule kennengelernt hatten.

»Hast du das Gepäck?«

»Natürlich. Und den Wagen habe ich vorgefahren.«

Er begleitete sie durch den Salon in die Vorhalle. Anna hielt inne und schaute Curd von der Seite an.

»Vier Wochen. So lange waren wir noch nie getrennt.«

»Ich werde dich so oft wie möglich besuchen.«

Anna schaute ihren Ehemann voller Dankbarkeit an.

»Lass dich küssen.«

Curd lächelte und beugte sich näher. Sie hauchte ihm ein Küsschen auf die Lippen.

»Jetzt aber los. Um zehn Uhr müssen wir in der Klinik sein.«

Der Weg nach Bad Radkersburg war nicht allzu weit, ungefähr eine Stunde Fahrzeit mussten sie einplanen. Die Reha-Klinik war auf Patienten mit neurologischen oder orthopädischen Erkrankungen spezialisiert, Anna hatte von ihrem Hausarzt die Empfehlung erhalten, dorthin zu gehen. Anfangs war Curd skeptisch gewesen, immerhin war das eine allgemeine Klinik, aber Anna hatte mit ihm geschimpft, er solle kein Snob sein, vier Wochen im Kreise von normalen Menschen aus dem Volk würden ihr nicht schaden, im Gegenteil, sie freue sich, nicht in einer dieser überteuerten Privatkliniken unterzukommen, in denen die Neureichen ihre Wehwehchen kurierten. Dann schon lieber alte Bäuerinnen, denen ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt worden war, oder Sekretärinnen mit Multipler Sklerose, die einen Krankheitsschub hinter sich hatten.

»Hilf mir bitte mit dem Sicherheitsgurt.«

»Natürlich. Komm her. So, fertig, wir können starten.«

Curd setzte sich hinter das Steuer. Vier Wochen würde Anna in guter Pflege sein. Vier Wochen musste er sich keine Sorgen um sie machen. Vier Wochen würde er in der Villa alleine sein. Vier Wochen Einsamkeit und Stille. Die Stille hatte er immer gemocht, nicht aber die Einsamkeit. In der Einsamkeit lauerten die dunklen Träume. Anna hatte sie mit ihrer Anwesenheit fern gehalten. Curd wusste jetzt schon, dass er in diesen vier Wochen viel arbeiten würde. Im Büro war immer etwas zu tun.

Der Wagen rollte in gemächlichem Tempo die kurvenreiche Strecke talwärts.

*

Curd speicherte und schloss die Excel-Datei. Er ließ sich in die Lehne des Schreibtischstuhls sinken und den Blick aus dem Fenster schweifen. Eben fuhr ein Laster mit einer neuen Ladung aus dem Steinbruch ein. Das günstige Wetter musste ausgenutzt werden, also hatte der Sprengmeister um neun Uhr Vormittag eine Ladung gezündet. Den ganzen Tag schon rollten die zwei Laster vom Steinbruch in das Firmenareal, der Bagger kam nie zum Stillstand, der Betrieb lief heute wie geschmiert. Curds Großvater hatte mit dem Steinhandel begonnen, die Firma Brendelberg & Söhne war seit Jahrzehnten eine fixe Größe in der Wirtschaft des steirischen Koralpengebiets. Die Stainzer Platte sicherte nicht nur seiner Firma das Auskommen, auch andere kleinere Unternehmen brachen und verkauften den Hartgneis aus den Bergen. Der Stein nahm durch Verwitterung häufig eine angenehm rötliche Färbung an, eine Folge des Eisengehalts im Material. Daher rührte seine Beliebtheit als Baumaterial für Außenanlagen.

Curd hatte sich schon als Kind von der Begeisterung seines Großvaters für Mineralien mitreißen lassen, und daher auch Angewandte Geowissenschaften an der Montanuniversität in Leoben studiert. Sein Vater teilte diese Leidenschaft für Erdkunde nicht, er hatte sich vor allem für die wirtschaftlichen Belange des Unternehmens interessiert, mit der Folge, dass er nach seinem zweiten Herzinfarkt Curd ein gut organisiertes und einträgliches Geschäft übergeben hatte können. Curd war 40 Jahre alt, seit vier Jahren leitete er die Firma, und niemand in seiner Familie, auch nicht in der sehr anspruchsvollen Familie seiner Frau, fand an der Führung des Unternehmens Anlass zu Kritik. Curd ließ einfach die betriebswirtschaftlichen Strategien seines Vaters weiterlaufen und holte sich von Mal zu Mal von ihm einen Tipp. Die Belegschaft arbeitete gern für Curd, weil der Junior, wie er genannt wurde, etwas vom Fach verstand, seine Arbeit liebte und sich über besonders schöne Platten aus dem Steinbruch wirklich freuen konnte. So hatte er sich Respekt verschafft. Auch bei seinen Kunden.

Das Handy klingelte. Er schaute auf die Anzeige.

»Hallo, Alexander.«

»Hallo. Störe ich gerade eine Besprechung? Sitzt du im Auto?«

»Nein, ich bin im Büro und erledige das Organisatorische.«

»Gut. Wie laufen die Geschäfte?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Na toll. Du, Curd, warum ich anrufe. Hast du am Wochenende schon etwas vor?«

Curd dachte an die vor ihm liegenden stillen Tage in seinem Haus. Kein sehr angenehmer Gedanke.

»Nun, ich werde am Sonntag nach Bad Radkersburg fahren und meine Frau besuchen.«

»Ach ja, sie ist ja jetzt auf Reha. Wie geht es ihr?«

»Danke der Nachfrage, recht gut. Sie hat sich in den Kurbetrieb schnell eingefunden und lobt die Freundlichkeit des therapeutischen Personals.«

»Höre ich gerne.«

»Wieso fragst du? Hast du etwas vor?«

»Na ja, du kannst dich bestimmt erinnern, im letzten Herbst haben wir doch mal beiläufig über eine Motorradtour gesprochen.«

»Ich kann mich erinnern.«

»Der Frühling ist da! Zeit, die Öfen aus dem Schuppen zu holen. Am Samstag machen wir eine Tour. Der Wetterbericht hört sich gut an.«

»Ich verstehe.«

»Herwig steht zu seinem Angebot. Er würde dir eine seiner Maschinen leihen.«

Curd ließ sich den Gedanken durch den Kopf gehen. Er besaß kein eigenes Motorrad, eigentlich interessierte er sich nicht besonders für Motorräder, er hatte als 18-Jähriger den Führerschein ohne bestimmte Ambitionen gemacht. Aber warum eigentlich nicht? Besser, als zu Hause zu sitzen und den Flügel im Salon anzustarren.

»Tja, ich bin lange nicht gefahren.«

Alexander Stadler lachte ins Telefon.

»Kein Problem. Wir machen eine komplette Einschulung und fahren extra langsam. Wir müssen ja auch erst aus dem Winterschlaf erwachen.«

Curd gab sich einen Ruck.

»Also gut, ich bin dabei.«

»Das hört sich toll an. Wir treffen uns um zehn Uhr Vormittag bei Herwig. Weißt du, wo er wohnt?«

»Ja.«

»Okay, also bis Samstag.«

»Bis Samstag. Schönen Tag noch.«

Curd legte lächelnd das Telefon zur Seite. Ein sympathischer Mann, obwohl er ein Anwalt war. Curd mied Anwälte, so gut es ging. Als Unternehmer konnte er nicht umhin, immer wieder einmal Rechtsbeistand zu suchen, aber da vertraute er auf die Kanzlei in Leibnitz, die schon seit 30 Jahren das Unternehmen im Fall des Falles vertrat. Aber er musste Alexander ja nicht beruflich konsultieren. Wie und wann hatte er den Mann eigentlich kennengelernt? Curd wusste es gar nicht mehr. Es musste irgendwann im letzten Herbst gewesen sein.

Eine Motorradtour! Mal etwas ganz Neues. Was würde Anna dazu sagen?

*

Aus der Kurve heraus gab er Gas. Er hatte den Bogen mittlerweile heraus, konnte die Geschwindigkeit, die Kurvenlagen und Bremswege vollständig einschätzen, und er fand allmählich Spaß an der Sache. Das Tempo und der ihm entgegenschlagende Fahrtwind, die Beschleunigung und Kurvenlagen versetzten ihn unweigerlich in einen Rauschzustand. Schnelligkeit setzte Adrenalin frei. Seine Arterien waren voll davon. Die Honda 500 war ein für Einsteiger optimales Gefährt, nicht zu schwer, nicht zu stark, nicht zu schnell. Herwig Poschauer hatte das Motorrad für seine Frau gekauft, das Ehepaar Poschauer hatte zu zweit auch einige Touren unternommen. Dann war Herwigs Frau bei schlechter Sicht und nasser Fahrbahn von der Straße abgekommen und in einem Maisfeld gelandet. Der Sturz war glimpflich ausgegangen, die Lenkerin hatte nur ein paar Prellungen und das Motorrad lediglich ein paar Kratzer und Dellen davongetragen, aber sie war nie wieder auf ein Motorrad gestiegen. Herwig selbst fuhr eine wesentlich schwerere Maschine.

Curd sah die drei Bikes auf dem Parkplatz am höchsten Punkt der Passstraße, er betätigte den Blinker und bremste. Die drei Männer zogen ihre Helme von den Köpfen und grinsten Curd an. Auch er nahm den Helm ab.

»Na, du hast ja richtig Feuer gefangen!«

Curd lachte und stellte das Fahrzeug ab.

»Ich komme ganz gut zurecht.«

»Das sieht man. Das waren jetzt vielleicht 30 Sekunden Verspätung. Wenn man bedenkt, dass die Honda nur halb so viel PS hat wie mein Renner, dann ist das toll.«

Alexander klopfte Curd anerkennend auf die Schulter. Die Skilifte hatten ihren Betrieb bereits eingestellt, der Schnee war auch hier oben weitgehend verschwunden, und Temperaturen deutlich im Plusbereich machten den Einsatz der Schneekanonen unmöglich, dennoch war das Gasthaus beim Parkplatz geöffnet.

»Ich lade euch auf einen Espresso ein«, rief Herwig Poschauer.

Die vier Männer betraten das Gasthaus und suchten einen freien Tisch. Sie waren nicht die einzigen Motorradfahrer, die die Passstraße über die Koralpe für die erste Ausfahrt im Frühling nutzten. Die Biker begrüßten einander. Der Kellner servierte den Kaffee, die vier Männer besprachen ihre Tour. Seit drei Stunden waren sie unterwegs. Die erste Stunde hatte Curd Blut und Wasser geschwitzt, danach war er immer sicherer geworden. Alexander Stadler, Herwig Poschauer und Albin Ninaus trafen sich seit einigen Jahren regelmäßig zu Touren. Einmal waren sie gemeinsam nach Schweden gefahren, ein andermal in die Provence. Anfangs hatte sich Curd in diesem Kreis wie ein Fremdkörper gefühlt. Nun, er war kein besonders attraktiver Mann, weder hatte er ein kantiges Kinn noch breite Schultern, er war nicht besonders draufgängerisch und schon gar kein Frauenheld, er hielt sich in Gesellschaften in der Regel im Hintergrund und drängte sich nie in ein Gespräch. Die drei Männer, mit denen er hier unterwegs war, waren auf die eine oder andere Art genau das Gegenteil von ihm. Alexander etwa, der Anwalt, gut aussehend, schlagfertig und scharfzüngig, oder Herwig, groß gewachsen und athletisch, ein sehr erfolgreicher Bauunternehmer, und dann Albin, der sowohl im Krankenhaus als auch in seiner Privatpraxis nicht über mangelnde Anerkennung als Chirurg zu klagen brauchte. Der stets gut gelaunte Marathonläufer war der Schwarm vieler seiner Patientinnen. Drei Siegertypen. Und die drei hatten Curd in ihren Kreis aufgenommen. Wie anders war zu erklären, dass Herwig ihm ein Motorrad, Albin eine Lederkluft und Alexander ihm einen Sturzhelm geliehen hatte? War er auch ein Siegertyp? Nun, er war ein gut situierter Geschäftsmann, aber als Siegertyp hatte er sich nie gesehen. Das Selbstbewusstsein, das die drei Männer ausstrahlten, griff auf Curd über. Es fühlte sich gut an.

Herwig fasste Curd ins Auge.

»Du bist hoffentlich am Abend auch dabei.«

Curd zog die Augenbrauen hoch.

»Am Abend?«

»Hat dir Alex nichts gesagt?«

»Was gesagt?«

Albin stieß Alexander mit großem Hallo an die Schulter. Alexander winkte ab.

»Hab ich vergessen. Sorry.«

»Du und etwas vergessen! Ihr Anwälte vergesst doch nichts. Man weiß ja nie, was man einmal vor Gericht gegen jemanden gebrauchen kann.«

Die vier Männer lachten lautstark.

»Also jetzt im Klartext«, setzte Herwig fort. »Ich gebe heute Abend eine Party. Nur in kleinem Rahmen, 15 bis 20 Gäste, ein paar Drinks, ein paar Happen, Small Talk und lockeres Ambiente. Du bist herzlich eingeladen.«

Curd schluckte betreten. Sollte er auf eine Party gehen? Ohne Anna? Oder sollte er alleine in seinem großen Haus sitzen?

»Und wann?«

»Nicht so genau. Wie gesagt, alles total easy. 18, 19 Uhr, offenes Haus für geladene Gäste.«

Albin lehnte sich zu Curd hinüber.

»Herwig bestellt das Catering im Steirergarten. Nur vom Feinsten. Solltest du dir nicht entgehen lassen.«

*

Unmöglich. Er konnte seine Augen nicht abwenden. Fiel sein Gaffen auf? Curd leerte das Cocktailglas. Wenn er noch mehr trank, würde er das Auto stehen lassen und ein Taxi rufen müssen. Was für eine attraktive Frau. Und wie sie tanzte! Atemberaubend.

Curd stand neben einer kleinen Palme am Rand des riesigen Wohnzimmers und schaute der kleinen Gruppe beim Tanzen zu. Die Musik lief in erträglicher Lautstärke, präsent genug für ein Tänzchen, nicht so laut, dass man sich gar nicht mehr unterhalten konnte. Drei Frauen und zwei Männer tanzten in freiem Stil.

Er hatte eine Stunde gebraucht, um sich einzukleiden. Zuerst hatte er den Smoking probiert. Vor dem Spiegel hatte er sich wie ein dressierter Pinguin gefühlt. Der Smoking passte zu einem Ball, nicht aber für eine Cocktailparty. Der helle Anzug war dann zu sommerlich, Bluejeans und T-Shirt waren zu beiläufig gewesen. Irgendwann hatte er sich für eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und ein hellbraunes Cordjackett entschieden. Salopp und doch einigermaßen distinguiert. Curd war in Fragen der Mode immer irgendwie überfordert. Anna hatte stets den richtigen Tipp für den jeweiligen Anlass parat gehabt. Mit großer Erleichterung hatte er festgestellt, dass sein Auftreten sich gut in das Ensemble fügte.

Herwigs Haus spielte alle Stücke. Nagelneu, weiträumig, auf unaufdringliche Art luxuriös, eine prächtige Villa mit schönem Garten. Und auch die Schwimmhalle war nicht ohne. Ein paar Gäste hatten sich gleich nach ihrem Eintreffen ins Wasser gestürzt. Curd hatte beobachtet, wie Albin mit ein paar erstaunlich schnell gezogenen Längen die Aufmerksamkeit der Damen auf sich gezogen hatte. Eine echte Sportskanone. Curd hatte kein Badezeug dabei, und auf das Angebot, sich von Herwig eine Badehose auszuborgen, war er nicht eingegangen. Das wäre ihm peinlich gewesen.

Er hatte sich nicht alle Namen gemerkt, die ihm bei der Vorstellungsrunde genannt worden waren, aber ein Name hatte sich in sein Gedächtnis förmlich eingebrannt.

Luise.

Ihr Blick beim Händeschütteln hatte ihm Schauer über den Rücken gejagt. Seit drei Jahren waren sie und Alexander verheiratet. Ihr Haar war vom Schwimmen noch nass, sie trug ihren Bikini und hatte sich ein Tuch um die Hüften geschlungen, so tanzte sie. Barfuß. Sexy. Der Musik in fließenden Bewegungen ihrer Arme und Beine völlig hingegeben. Curd konnte kaum seinen Blick von ihren Hüften und Schultern abwenden.

Alexander kam mit zwei Cocktailgläsern auf Curd zu.

»Ich sehe, du sitzt auf dem Trockenen.«

Curd gestikulierte ausweichend.

»Entschuldige, aber ich sollte jetzt nichts mehr trinken. Ich muss noch zu meinem Auto finden.«

»Der Abend ist viel zu angenehm, um Groschen oder Promille zu zählen. Nimm ein Taxi, wenn es zu viel wird. Herwig kann einem seiner Leute sagen, deinen Wagen am Montag zu bringen.«

»Ich brauche den Wagen morgen für die Fahrt nach Bad Radkersburg.«

»Okay, dann diesen Drink und danach ist Schluss. In den nächsten zehn Minuten wirst du ja hoffentlich nicht aufbrechen.«

»Das nicht.«

Die beiden Männer stießen an, nippten und standen Schulter an Schulter neben der Palme.

»Sieh dir nur den Hintern an. Wahnsinn. Und wie sie tanzt.«

Curd lächelte betreten.

»Wenn ich nicht schon mit ihr verheiratet wäre, würde ich ohne zu zögern rüber gehen und ihr einen Antrag machen. Aus dem Stegreif. Ist sie nicht eine total sexy Frau?«

Curd kicherte verlegen.

»Nun, sie fällt auf. Selbst unter den schönen Frauen in diesem Haus.«

»Ich habe Luise in einem Nachtclub in Wien kennengelernt.«

»In einem Nachtclub?«

»Ein Klasseladen in der Innenstadt. Freizügige Tänzerinnen, perfekt gemixte Cocktails, ein Barpianist. Und mit Glück kann man auch die eine oder andere Schöne der Nacht kennenlernen. Ich kann dir einen Besuch dieses Etablissements nur empfehlen.«

»Luise war … sie war eine …«

»Tänzerin. Ja, sie war Tänzerin in diesem Laden. Das ist kein schäbiges Bordell, das ist ein nobler Nachtclub. Luise hat während ihrer Studienzeit eine Zeit lang als Escortgirl gearbeitet, dann als Tänzerin. Schau, wie sie sich bewegt. Eine Königin. Ich habe sie gekriegt. Was für ein Glückspilz ich doch bin.«

Veränderte sich Curds Einstellung der Frau gegenüber, weil er jetzt wusste, dass sie früher im Rotlichtgewerbe gearbeitet hatte? Nun, wer konnte sich sein Schicksal schon aussuchen? Wer wusste, was sie dazu bewegt hatte?

»Willst du sie kennenlernen?«

»Herwig hat uns einander schon vorgestellt. Als ich angekommen bin.«

Alexander wandte sich Curd zu und musterte ihn halb amüsiert, halb überrascht.

»Deine Frau ist doch jetzt vier Wochen außer Haus. Du wirst doch hoffentlich nicht asketisch leben.«

Curd hüstelte in seine Faust. »Was meinst du damit?«

Alexander führte mit einer souveränen Handbewegung sein Glas an die Lippen.

»Du weißt noch nicht viel von uns.«

»Klär mich bitte auf.«

»Siehst du die blonde schlanke Frau, die sich bei Albin eingehakt hat?«

»Heike. Die Freundin von Albin. Auch sie ist mir vorgestellt worden.«

»Ich war mit ihr über Neujahr drei Tage in einer Therme. Massagen, Sauna, Baden im Thermalwasser, Schwitzen im Fitnessstudio, Spaziergänge im Schnee und viel Sex. Sehr viel Sex. Zur gleichen Zeit war Luise mit Albin in Zell am See zum Skifahren. Na, bist du wirklich so überrascht? Wir sind erwachsene Leute, wir können tun, was uns gefällt. Albin hat Luise ein paar Tage für sich haben wollen, also war ich mit Heike unterwegs. Hat uns allen Spaß gemacht. Auch Herwig war dann und wann mit Luise zusammen. Aber bitte behalte das unbedingt für dich. Seine Frau Edith ist nicht sehr flexibel in diesen Dingen, sie ist ein Heimchen und neigt zur Eifersucht. Nun, sie und Herwig haben zwei Kinder. Kinder machen viele Frauen prüde. Das ist meine Meinung, aber vielleicht täusche ich mich ja auch. Oder Magda, die Frau mit den dunklen Haaren. Siehst du sie? Die im blauen Kleid. Mit ihr habe ich vor einem Jahr eine süße, leider viel zu kurze Affäre gehabt. Irgendwann muss ich sie wieder ins Bett kriegen. Sie ziert sich noch.«

Alexander leerte sein Glas. »Bist du prüde?«

Curd schnappte nach Luft. »Ich … nun, wie soll ich sagen …«

Alexander lachte und deutete einen Kinnhaken an.

»Finde ich toll, dass du deine Frau so liebst und ihr treu bist. Vor allem jetzt, wo sie unheilbar krank ist. Wirklich, ich kann das respektieren. Für seine Lieben da zu sein, ist großartig. Aber beschränkt das deine Freiheit? Ich bin ein freier Mensch. Ich will das auch sein. Manche sagen, ich wäre ein egoistisches Arschloch. Habe ich da und dort gehört. Ist das so? Wenn ich die schönste Frau des Abends mit meinen Freunden teile, bin ich da egoistisch? Ich weiß es nicht. Ich bin, wie ich bin.«

Curd kaute hart an diesen Worten. Dieses Selbstbewusstsein. Unglaublich. Alexander lachte und drehte sein leeres Glas in den Fingern.

»Also ich muss heute nicht mehr Autofahren und werde aus diesem Grund noch einen Drink nehmen. Wir sehen uns.«

Damit ließ er Curd irritiert stehen. Curd schaute wieder hinüber zur improvisierten Tanzfläche. Eben endete ein Lied. Luise und eine andere Frau traten ab, sie lachten glücklich und waren einfach nur schön. Luise warf wie aus dem Nichts Curd einen Blick zu. Was für ein Blick! Ihm wurde heiß und kalt in einem. Ein freier Mensch? War er das? Was bedeutete das schöne Wort »Freiheit« überhaupt?

Gegenwart

Christina verteilte in gleichmäßigem Tempo die weiße Farbe auf der Wand. Seit vier Tagen tat sie nichts anderes. Sie liebte diese Arbeit, versank dabei in eine Art Meditation. Vielleicht hatte sie schlicht und einfach den Beruf verfehlt. Vielleicht hätte sie Anstreicherin werden sollen. Und nicht Kriminalpolizistin. Aber der Job war jetzt weit fort, sie konnte sich an ihre Dienstzeit gar nicht mehr richtig erinnern. Es war, als ob sie vor Jahren einen guten Roman gelesen hätte, an dessen entscheidende Stellen sie sich noch erinnerte, der aber mit ihrem Leben nichts zu tun hatte. Eine Menge guter Romane waren in den Bücherkartons verpackt. Wann immer sie dazu gekommen war, hatte sie ihre Nase in Bücher gesteckt, in zeitgenössische Romane, in esoterisch angehauchte Bücher über keltische Mythologie und in Fachbücher über wissenschaftliche Forensik.

Als junge Frau hatte sie auch viele Krimis gelesen. Das vermied sie jetzt. Teilweise, um sich nicht über die Recherchefehler der Krimiautoren zu ärgern, vor allem aber, um sich nicht auch noch in der Freizeit mit Mord und Totschlag auseinandersetzen zu müssen. Viel lieber tauchte sie die Rolle in den Farbeimer und färbte die Wände ihres neuen Hauses weiß. Sie hatte da eine neue Seite an sich entdeckt. Christina, die fleißige Handwerkerin. Bei den Ausbesserungsarbeiten an der Scheune hatte sie mit der Kreissäge Bretter zugeschnitten, beim Betonieren hatte sie drei Tage Zement und Sand in die Mischmaschine geschaufelt, und beim Dachdecken hatte sie mit den Zimmermännern im Dachstuhl Balancekunststücke vollführt. Anfangs hatten die Männer ihr gut zugeredet, vielleicht doch wieder abzusteigen und lieber das Gulasch für die Mittagspause zu kochen. Christina hatte sich nicht beirren lassen, und schließlich hatten die Männer eingesehen, dass gegen ihre Sturheit kein Kraut gewachsen war. Nach ein paar Stunden hatten sie Christina ohne viel Aufhebens in die Arbeit eingebunden.

Die Arbeit hatte ihr Leben gerettet.

Sie ließ die Farbrolle sinken und besah die Arbeit des heutigen Tages. Zum Glück hatte sie den Boden gut ausgelegt, echte Profis hätten wohl weniger Farbe verspritzt und bestimmt da und dort die eine oder andere Stelle sauberer ausgearbeitet. Für ihr Verständnis war die Arbeit ausreichend. Damit war auch das Hinterzimmer ausgemalt. Morgen würde sie mit der Reinigung beginnen. Die Renovierung des alten Bauernhauses lag im Zeitplan.

»Frau Kayserling.«

Christina schaute über die Schulter zur offenstehenden Tür zum Elektriker.

»Ja?«

»Ich bin jetzt fertig.«

»Die Leitungen sind drinnen?«

Der junge Mann lächelte.

»So ist es.«

Die beiden Elektriker hatten die Stromleitungen im Kellerstöckl verlegt.

»Toll. Ihr Kollege holt Sie also jetzt ab?«

Christina hatte durch das Fenster gesehen, dass der ältere Elektriker vor einer halben Stunde mit dem Firmenwagen abgefahren war.

»Nein. Der Josef hat heute einen Termin. Irgendetwas Familiäres.«

Christina stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Interessant. Wie kommen Sie jetzt wieder nach Hause?«

Der junge Mann winkte ab.

»Ach, ich geh ein Stückchen. Unten auf der Straße mache ich dann Autostopp.«

»Und Sie glauben, dass irgendjemand Sie einsteigen lässt? In dreckiger Arbeitsmontur.«

»Ich habe saubere Sachen im Rucksack. Das geht schon.«

Christina lachte verwundert. Ihr Haus lag abseits der Straße mitten im südsteirischen Weinland, die nächste Ortschaft war vier Kilometer entfernt.

»Das klingt aber recht optimistisch. In ein paar Minuten ist es stockdunkel. Ich fürchte, Sie werden kaum jemanden finden, der Sie mitnimmt. Also ich würde bei Dunkelheit keinen verirrten Mann von der Straße sammeln.«

»Ich finde immer jemand. Hab ich schon oft gemacht.«

»Und warum sind Sie nicht mit Ihrem Kollegen aufgebrochen? Morgen sind Sie ohnedies wieder hier.«

Der Elektriker zuckte mit den Schultern.

»Ich wollte die Arbeit noch abschließen.«

Christina warf die bekleckste Mütze in die Ecke.

»Dann werde ich Sie zur nächsten Busstation fahren.«

»Echt jetzt?«

»Eine bessere Möglichkeit sehe ich nicht.«

»Na ja, ich könnte auch in der Scheune übernachten. Wenn Sie eine Decke haben. Und morgen Früh kann ich dann gleich mit der Montage der Steckdosen beginnen. Ich könnte heute Abend noch zwei, drei Überstunden anhängen.«

Christina kniff die Augen zusammen und maß den Mann.

»Ihr Diensteifer überrascht mich ein bisschen. Und irgendwie klingt der Vorschlag so, als wäre er Ihnen nicht gerade in diesem Moment eingefallen.«

Der Mann winkte betreten ab.

»Nein, nein! Ich will auf keinen Fall aufdringlich sein! Packe mein Zeug und marschiere los. Kein Thema.«

Christina überlegte kurz.

»Sie wissen, dass ich Polizistin war?«

»Ja, der Josef hat mir das gesagt.«

»Ich besitze eine Schusswaffe, habe mehrere Selbstverteidigungskurse absolviert, bin geprüfte Scharfschützin und kann kratzen und beißen.«

»Ich bin schon so gut wie unterwegs. Entschuldigen Sie bitte. Und morgen machen der Josef und ich mit den Steckdosen weiter.«

»Wie heißen Sie?«

»Edgar.«

»Also Edgar, mein Name ist Christina. Wir hängen noch eine Überstunde an, ich suche eine Decke für dich raus und am Abend schmiere ich ein paar Butterbrote und entkorke eine Weinflasche. Wie klingt das?«

Edgar grinste übers ganze Gesicht.

»Klingt super.«

*

Christina kaute versonnen das Brot, nahm dann und wann einen Schluck Welschriesling und lauschte der Erzählung. Sie hatte das Malerwerkzeug gesäubert und sortiert, die Farbeimer verstaut und das Hinterzimmer einer groben Reinigung unterzogen. Bei Tageslicht würde sie den Rest erledigen. Sie war dann auch zum Kellerstöckl hinübergegangen und hatte die Arbeit von Edgar in Augenschein genommen. Auch er war gut vorangekommen, die Hälfte der Steckdosen und Lichtschalter war montiert. Jetzt saßen sie in der spartanisch eingerichteten Stube beisammen und genossen das Abendessen.

»Und nach der Zeit als Zivildiener habe ich beschlossen, die HTL-Matura nachzuholen.«

»Ein ehrgeiziges Projekt. Den ganzen Tag über die Arbeit auf der Baustelle und dann noch die Schulbank drücken. Da bleibt nicht viel Freizeit.«

»Mein Chef ist eh total lässig. Ich habe einen Teilzeitjob. Vier Tage in der Woche am Bau, drei Tage zum Lernen. Ich komme gut klar.«

»Und wie weit bist du schon?«

»Im Mai trete ich zur Matura an.«

Christina drückte die Daumen.

»Toitoitoi. Ein gelernter Elektriker, der dann auch noch eine Ingenieursausbildung als Elektrotechniker absolviert hat, wird sich um einen Job nicht lange anstellen müssen.«

»Mich interessiert die Branche. Ich mache das nicht nur, weil ich dann einen besseren Job haben kann, sondern weil mich Strom immer schon fasziniert hat. Schon als Bub habe ich kaputte Elektrogeräte zerlegt und manchmal auch repariert. Den Mixer meiner Oma habe ich dreimal wieder in Gang gesetzt. Aber irgendwann war er dann einfach hin.«

Flirtete der junge Mann mit ihr? Flirtete sie mit ihm?

»Wie alt bist du eigentlich?«

»25.«

Christina griff zum Glas und schwenkte den Wein darin. Ihr Blick verlor sich. Die Glühbirne in der Mitte des Raumes hing lose am Kabel, im Raum lag trotz der gekippten Fenster der Geruch feuchter Farbe, an der Wand neben dem Holzofen standen eine Werkzeugkiste, Kartons mit Kabelrollen und ein alter Pappkoffer mit Arbeitskleidung. Ihr Haus nahm nach und nach einen bewohnbaren Zustand an. Wenn sie sich zurückerinnerte, in welchem Zustand der alte Bauernhof noch vor einem halben Jahr gewesen war, konnte sie zufrieden sein.

»Wohnst du da wirklich alleine?«

Christina tauchte aus ihrer Grübelei hoch.

»Ja.«

»Du bist Witwe, stimmt das?«

»Ja.«

»Wann ist er gestorben?«

Christina hörte Wilhelms Lachen, hörte seine angenehme Stimme, spürte seine kratzenden Bartstoppeln auf ihrer Wange, schaute in seine klugen Augen.

»Vor zehn Monaten.«

»Krebs? Ein Verkehrsunfall?«

»Zwei Gehirnschläge innerhalb weniger Tage.«

»Das tut mir leid.«

»Mir auch.«

»War er reich?«

Christina zuckte mit den Achseln.

»Was ist schon reich?«

»Na ja, du warst Polizistin. Also ich weiß nicht, was man bei der Polizei verdient, aber so viel wird das auch nicht sein. Sich mitten in den Weinbergen ein altes Bauernhaus zu kaufen und von Grund auf zu renovieren, muss man sich wahrscheinlich auch als Polizistin gut überlegen.«

»Wilhelm war Unternehmer. Ja, er war wohlhabend, ja, Martin und ich haben einiges geerbt. Martin ist Wilhelms Sohn aus erster Ehe. Ich habe das Haus in Molln verkauft und dieses gekauft. Der alte Hof ist ja nicht so groß und war auch nicht sehr teuer.«

»Teuer ist eher die Renovierung.«

»Das ja.«

»Molln? Wo liegt denn das?«

»In Oberösterreich. Im Steyrtal.«

»Ein völliger Tapetenwechsel also.«

»Manchmal ist ein Neuanfang die einzige Möglichkeit.«

Die beiden saßen eine Weile schweigend beisammen.

»Ich weiß, wie das ist, wenn man plötzlich ganz alleine ist.«

Christina schaute Edgar an, dessen Blick sich im Weinglas verlor.

»Das weißt du also.«

»Ganz alleine ist nicht richtig, ich habe eine jüngere Schwester. Als ich zwölf war, sind meine Eltern tödlich verunglückt. Rita und ich sind dann bei meinen Großeltern untergekommen. Das war schon hart.«

Wollte sie seine Geschichte hören? Christina war sich nicht schlüssig. Nicht heute Abend. Draußen am Waldrand, auf der Wiese, bei den alten Obstbäumen und drinnen im Weinglas waren schon zu viele Gespenster aufgescheucht worden. Nicht mehr davon. Christina leerte das Glas und erhob sich.

»In der Scheune ist es bestimmt kalt, da wird die Decke nicht reichen. Du kannst hier auf der Ofenbank übernachten. Ich ziehe mich jetzt zurück. Gute Nacht.«

*

Den ganzen Vormittag über hatte Josef ein merkwürdiges Gesicht gezogen. Als er morgens mit dem Firmenauto angekommen war und seinen jungen Kollegen schon bei der Arbeit vorgefunden hatte, hatte er seine Stirn in Falten geworfen und Christina misstrauisch beäugt. Sie hatte die Blicke geflissentlich ignoriert. Was andere über sie dachten, war ihr nie sehr wichtig gewesen. Und dass in den letzten Monaten manche der Handwerker ein bisschen verwundert über die ehemalige Frau Inspektor waren, die da mitten in den Weinbergen ein altes Bauernhaus beziehen wollte, war für Christina kaum zu übersehen gewesen. Irritieren hatte sie sich davon nicht lassen. Auch Josef, der ältere Elektriker, hatte im Laufe des Tages einfach nur seine Arbeit erledigt. Sie bezahlte die Rechnungen pünktlich, war in Gesprächen höflich, aber distanziert, arbeitete hart, damit konnten oder mussten sich die Leute der Montagetrupps abfinden.