In jedem Krieg steckt bereits der Keim des nächsten Krieges - Dietrich Stahlbaum - E-Book

In jedem Krieg steckt bereits der Keim des nächsten Krieges E-Book

Dietrich Stahlbaum

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In diesem neunten eBook, das mit einem Kriegsbericht aus Vietnam (1953) beginnt, werden ganz aktuelle Fragen erörtert und zum Teil kontrovers diskutiert: die Bundeswehreinsätze im Ausland, Bellizismus und Pazifismus, Flüchtlinge und Integration, Fluchtursachen, PEGIDA. Außerdem: Zeitkritische Beiträge zur aktuellen Politik, zu Geschichte, Sprache, Kultur. Religionskritik, (Bibel, Judentum, Christentum, Islam). Philosophische Betrachtungen, Buddhismus und Theismus, Buddha und Kant. Krankheitserreger ANGST. Satiren, Aphorismen. Und eine Foto-Textreportage über eine Hochgebirgstour.

Der Autor: geboren 1926, aufgewachsen in einem völkisch deutsch-nationalen Milieu, militaristisch erzogen, faschistisch indoktriniert. "Hitlerjugend", Militär, I944-45 an zerbröckelnden Fronten, 1949-54 bei der Fallschirmtruppe der französischen Legion in Algerien und Vietnam. Heimkehr als Kriegsgegner. Engagement in Bürgerinitiativen und in der Friedens- und Ökologiebewegung. Berufe: u. a. Fabrikarbeiter, Buchhändler, Verlagsangestellter, Bibliothekar. Publikationen: Prosa, Lyrik, Essays, Reportagen etc. Ein Roman, ein "Lesebuch", Print- und eBooks.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dietrich Stahlbaum

In jedem Krieg steckt bereits der Keim des nächsten Krieges

Zeitkritische Beiträge

Allen Menschen, die sich für eine gerechte und friedliche Welt einsetzen.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

I. Vor der Schlacht in Điện Biên Phủ. Dezember 1953

 

Im November 1953 landeten 2 200 Fallschirmjäger der französischen Kolonialtruppe 300 km nordwestlich von Hanoi in einem Tal bei Điện Biên Phủ. Hier sollte die den Krieg entscheidende Schlacht stattfinden. Dazu wurde das Gelände um einen Flugplatz zu einer Festung ausgebaut. Die Schlacht endete am 7. Mai 1954 mit einem Sieg der Viet Minh und großen Verlusten auf beiden Seiten. Frankreich musste seine Kolonialherrschaft in Ostasien aufgeben. 1955 begannen die USA den nächsten Vietnamkrieg und verloren ihn.

 

Der Fremdenlegionär und Parachutist Miros war im Dezember 1953 dabei und berichtet:

 

»Wir sollten wieder einmal Artilleriestellungen erkunden, denn es war immer noch nicht gelungen, sie [die Viet Minh] genau zu orten. Die meisten der wenigen Granaten, die einzeln abgeschossen wurden, trafen ihre Ziele. Ein Bunker stürzte ein. Granatwerfer und Geschütze fielen aus. Auch der Flugplatz wurde getroffen. Und jedes Mal, wenn danach Todesstille eintrat, trugen wir Verwundete zum Chirurgen und sammelten auf, was von Verstümmelten und Zerfetzten übrig geblieben war.Wenn wir den Abschuss hörten, war es zu spät, in Deckung zu gehen. Das machte uns alle unsicher und nervös. Es waren offensichtlich Probeschüsse. Ihre Artillerie war dabei, sich einzuschießen: ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartete. Dies war uns allen klar. Aber keiner sagte es. Wir wussten also, dass sich die Viet Minh-Artillerie ringsherum in den nächsten Bergen befindet; sie blieb unsichtbar. Unsere Luftaufklärung war ebenso erfolglos, wie wir es mit unseren Spähtrupps waren. Wir sind bis zu den Punkten, wo nachts Mündungsfeuer gesichtet worden war, vorgedrungen − vergeblich. Die Felsen, Bäume und Sträucher, die wir akribisch abgesucht haben, gaben das Geheimnis nicht preis. Nirgendwo eine Spur, nirgendwo heruntergetretenes Gras, ein abgesägter Ast, eine vergessene Granathülse, eine Zigarettenschachtel oder Konservendose − nichts als scheinbar unberührte Natur.

Die Viet Minh-Kanonen wurden in unterirdischen, bombensicheren Felsenbunkern vermutet. Deshalb sollten sie, sobald sie aufgespürt waren, von Pionierkommandos gesprengt werden. Wir haben sie nicht entdecken können. Bei einer dieser − nächtlichen − Unternehmungen bin ich verwundet worden. Wir waren auf dem Rückweg, erleichtert, gelöst, unachtsam. Es wurden sogar wieder Witze gemacht. Etwa 300 Meter vor unserem Stützpunkt prasselte es auf uns herab. Ich verspürte einen harten Schlag an meinem linken Arm und warf mich hin. Neben mir stürzte einer zu Boden. Er blieb regungslos liegen. Ich robbte zu ihm. Er war tot. Ein Verwundeter saß, an einen Stein gelehnt, und starrte mich an. Vor ihm lagen zwei Tote. Einige von uns schossen blind zurück. Der Gegner war längst über alle Berge.

Der Feuerüberfall hatte höchstens ein, zwei Minuten gedauert. Jetzt erst kamen die Schmerzen. Ich betastete meinen Oberarm und leckte warmes Blut von meinen Fingern. Im Jackenärmel war hinten ein kleines und vorn ein großes Loch. Vom Stützpunkt kamen mit einem Sergent zwölf Legionäre und brachten uns zurück. Die Wunde schmerzte. Sie blutete nicht mehr. Sanitäter versorgten die anderen, offenbar Schwerverwundeten, dann mich."Glatter Durchschuss," sagte einer, "reicht nicht für den Dampfer. Kriegst ein bisschen Urlaub in Hanoi. In drei Wochen bist wieder hier.""In drei Wochen werde ich repatriiert. Der Vertrag ist dann abgelaufen.""Na, da hast aber Schwein gehabt!"

 

Der Chirurg, in blutiger Gummischürze, hatte keine Zeit, um sich meine Wunde anzuschauen. Er hörte sich den Bericht des Sanitäters an, hob segnend seinen Arm und rief mir zu: "Grüß mir alle Huren von Hanoi, Sergent! In vier Wochen brauchen wir dich wieder hier."Da habe ich lieber nichts gesagt.

 

Die große Schlacht hat noch nicht begonnen, dennoch ist der kleine Lazarettbunker bereits überfüllt. Es werden mit jeder Maschine, die hier landet, Verwundete nach Hanoi geflogen, aber es kommen zu viele nach. Kaum einer unserer Spähtrupps, die das Umfeld der "Festung" Điện Biên Phủ erkunden sollen, kehrt vollzählig zurück. Fast alle werden zusammengeschossen. Der Gegner taucht aus dem Nichts auf und verschwindet wieder im Nichts.

Die Verwundeten werden auf Tragbahren zum Flugplatz gebracht.

 

 

 

Wer gehen kann, wie ich, geht oder humpelt hinterher. Wir warteten am Rande der Rollbahn auf eine Maschine: drei lange Reihen Schwerverwundeter und ein Dutzend Leichtverwundete. Wir waren darauf gefasst, dass jeden Augenblick Granaten einschlagen. Da lagen auch vierzig oder fünfzig Pakete: Leichen, in Zeltbahnen eingewickelt. Die Toten werden hier bald in Massengräber gelegt werden müssen.

 

Die ersten Flugzeuge sind spät gekommen. Bodennebel hinderte sie am Landen. Dann ging es wie am Schnürchen. Eine Maschine landete, eine andere startete, im Wechsel. Sie brachten den Nachschub und nahmen die "kampfunfähigen" Männer mit, zuerst die Schwerverwundeten und, wo noch Platz war, die Leichtverwundeten. Ich habe Yang gesehen! Er stand mit einem Legionär bei einem Beinamputierten, der auf einer Bahre lag."Yang!"Er hatte mich gehört. Er winkte zurück. Er bückte sich, beide bückten sich, hoben die Bahre auf und trugen sie im Laufschritt zu der nächsten Maschine, die eben gelandet und entladen worden war. Sie musste gleich wieder starten. Acht Verwundete wurden auf Tragbahren ins Flugzeug gebracht. Der Legionär stieg aus und Yang...? Yang stand in der offenen Luke und winkte. Fliegt er mit?

Die beiden Motoren der Dakota wurden hochgefahren. Die Luke wurde geschlossen. Das Flugzeug rollte davon und hob ab. Yang war mitgeflogen!

Schon landete die nächste Maschine, und bis zum Nachmittag lichteten sich die Reihen der Tragbahren mit den Verwundeten. Die Toten werden warten müssen!

Endlich war ich an der Reihe. Yang war noch nicht wieder zurück. Eine Granate schlug mitten zwischen den Zeltbahnenbündeln ein. Die Toten wurden ein zweites Mal getroffen. Das Flugzeug, das auch mich mitnehmen sollte, ist nicht beschädigt worden. In der Luke stand schreiend und gestikulierend der Pilot. Er trieb zur Eile und half, die Schwerverwundeten hineinzuheben. Sie lagen apathisch auf ihren Tragbahren und hatten offenbar keine Schmerzen. Sicherlich hatte man ihnen eine starke Dosis Morphium eingespritzt. Als letzter bestieg ich die Maschine. Wir starteten. Tiens, bien fou! − Adieu!«

 

[Aus meinem autobiografischen Roman Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000, S. 213 ff. Printausgabe vergriffen, jetzt als eBook]

 

 

II. Zum Jahreswechsel 2015 / 2016

 

Vollgestopft mit Informationen gehen wir ins neue Jahr und können dennoch die Ereignisse auf der „Weltbühne“ kaum durchschauen und die ständig wechselnden Situationen beurteilen, weil es fast unmöglich ist, aus der Masse dieser größtenteils gegensätzlichen Informationen Authentisches, Wahres herauszufiltern. Außerdem ist unsere Wahrnehmungsfähigkeit begrenzt. Das verleitet uns zu Fehleinschätzungen und Widersprüchen. Deshalb sollten wir nicht unsern Bauch reden lassen, unser zweites Gehirn, sondern das, welches im Kopf seinen Sitz hat, für Logik, Skepsis und Vernunft zuständig ist und uns befähigt, Verhältnisse zu schaffen, in denen alle Menschen zufrieden sein und friedlich miteinander leben können.

 

Was Not tut, sagt uns Jean Ziegler in seinem neusten Buch Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen, C. Bertelsmann-Verlag 2015, 288 S.

III. In jedem Krieg steckt bereits der Keim des nächsten Krieges

 

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, und an die Frankfurter Rundschau zum Kriegseinsatz der Bundeswehr in Syrien:

 

Jetzt ist es schon wieder einmal so weit: Die Bundeswehr soll sich an einem Krieg beteiligen, und fast alle Medien helfen mit, die Zivilbevölkerung darauf einzustimmen. Sollen wir „das Denken den Pferden überlassen“, wie es uns jungen Rekruten ein Feldwebel befahl, im Jahre 1944?

Wenn ich nicht etwas übersehen habe, sind durch alle Kriege, die seit 1945 von den USA und von europäischen Staaten, Russland einbegriffen, geführt wurden, die geopolitischen Verhältnisse und die Lebensbedingungen der Menschen in den betroffenen Regionen verschlimmert worden, am meisten seit dem Zweiten Golfkrieg (begonnen am 16. Januar 1991).

Frieden ist nirgends in Sicht, Frieden im Sinne von Liberté – Égalité – Fraternité, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Es werden Menschen massenhaft getötet und große Teile der Natur vergiftet und zerstört. Sie werden unbewohnbar gemacht.

Dabei sind noch nicht einmal alle Bomben und Minen aus dem 2. Weltkrieg gefunden und geräumt worden. Zum Beispiel war das Ausmaß der heute in der Ostsee verrottenden und das Meer vergiftenden Munition nur Wenigen bekannt, als ich um 1946 auf dem Flaggschiff der deutschen Minensuchflottille, die mein Vetter kommandiert hat, mitfahren durfte. Er hat bis 1945 im Mittelmeer und nach 45 in der Ostsee Minen gesucht.

Meine Begeisterung für das Militär und alle Kriegstechnik schwand erst im zweiten Krieg, den ich als Soldat erfahren habe: in Vietnam 1951-54. Diejenigen, die jetzt für einen Kriegseinsatz gegen den „IS“ votiert haben werden, können dann vom bequemen Fernsehsessel aus das mörderische Spektakel als spannendes Event erleben und dabei Kartoffelchips knabbern und ein kühles Pils schlucken.

Krieg ist keine Lösung der Probleme, auch nicht der innenpolitischen, sozialen, von denen abgelenkt wird. Und in jedem Krieg steckt bereits der Keim des nächsten Krieges. Profiteure sind – wie eh und je – die Rüstungsproduzenten, Waffenhändler und Aktionäre.

Ich empfehle Claude AnShin Thomas: Krieg beenden, Frieden leben. Ein Soldat überwindet Hass und Gewalt, Berlin 2003.

 

Am 04. 12. 2015 leicht gekürzt in der Frankfurter Rundschau und am 08. 12. in den Zeitungen des Medienhauses Bauer veröffentlicht.

 

*  Rezension

 

 

IV. Die Grünen, die Kriegsgräberfürsorge und der Kleine Mann

 

Gestern war ein Grüner mit einer Sammelbüchse unterwegs. Am Kaiserwall begegnete ihm der Kleine Mann. Ihm hielt er die Büchse unter die Nase und sagte: „Eine Spende für die Kriegsgräberfürsorge?“

Beide kennen sich. Denn auch der Kleine Mann war bei den Grünen und ist 1999 aus der bislang pazifistischen Partei ausgetreten, als sie für die NATO und den Kosovokrieg gestimmt hat. 

Jetzt steckte der Kleine Mann den EURO, den er nicht auszugeben brauchte, weil ihm ein noch nicht abgelaufener Parkschein in die Hand gedrückt worden war, in die Spendenbüchse und fragte: „Für die Gräber deutscher Soldaten, die in Mali und Syrien sterben werden?“  

V. Replik auf »Der größte Feind des Friedens...«

 

Lieber Herr ...,

 

mit Ihrer Schlagzeile „Der größte Feind des Friedens sind die Friedensbewegten“ desavouieren Sie alle Pazifisten, die sich über die – jeweils gegebenen – Möglichkeiten hinaus darüber Gedanken gemacht haben oder machen, wie Krieg und andere gewaltträchtige Konflikte entstehen, vermieden, verhindert, beendet werden können. Sie diffamieren Gautama Buddha, Konfuzius, Laotse, Immanuel Kant, Gandhi, Bertrand Russell, Ossietzky, Karl Kraus, Kurt Hiller und viele unserer Zeitgenossen.

Ich selber war anfangs, noch völlig unter dem Eindruck zweier grauenvoller Kriege, ein dezidierter Pazifist, bis ich einsah, dass, wo Menschen von Gewalt bedroht, wo Völkerrecht und Menschenrechte missachtet werden, das Recht auf Notwehr, auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung anerkannt und Gewalt notfalls mit angemessener Gewalt verhindert werden muss. Dennoch lehne ich den Bellizismus ab und habe mich hierzu immer wieder kritisch geäußert.

 

Siehe Seite PAZIFISMUS auf dieser Homepage → www.dietrichstahlbaum.de

 

 

 

 

VI. Silvio Gesell und der Pazifismus

 

Silvio Gesell hatte in vielem recht. Mit seinem Urteil über DIE PAZIFISTEN jedoch wurde er ihnen und ihrer Sache nicht gerecht. Gandhi z. B. hat seinen Pazifismus nicht nur gelehrt oder: weniger gelehrt als vorgelebt und damit Friedfertigkeit realisiert. Vorher schon Gautama Buddha. Andere haben den Bellizismus publizistisch bekämpft und kamen, wie Carl von Ossietzky, deshalb ins KZ. Ein anderer, zeitgenössischer Pazifist hat wie ich den Krieg als Soldat erlebt: Claude AnShin Thomas, ein zen-buddhistischer Mönch.

Die wenigen aktiven Pazifisten konnten und können keinen Frieden erwirken. Denn sie haben kein Meinungsmonopol und nicht die nötigen Mittel, um die sozialen, psychologischen und realpolitischen Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz von Menschen und Staaten zu schaffen. Die Friedensbewegung des 20. Jh. hat immerhin partielle Erfolge gehabt. Mehr ist wohl nicht zu erreichen. Denn die Menschheit ist nicht fähig, aus ihrer Geschichte zu lernen und Konflikte, die als existenziell wahrgenommen werden und es meistens auch sind, gewaltfrei zu lösen. Im Gegenteil − dies ist mein Eindruck: Die individuelle und die kollektive Gewaltbereitschaft nimmt weltweit zu.

Die EU bekam 2012 den Friedensnobelpreis dafür, dass sie „und ihre Vorgänger“ „über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen“ hätten. Nun, europäische Staaten haben seit 1945 Kriege außerhalb Europas geführt und für ihre Interessen führen lassen. Ausnahme: der Kosovokrieg 1998/99. So hat es schon immer Koalitionen und Zusammenschlüsse zu größeren Staatengemeinschaften gegeben, die gemeinsam Kriege geführt und Kriege außerhalb ihrer Grenzen sozusagen organisiert haben.

 

Wir haben eine gewalttätige Gesellschaft errichtet, und wir sind gewalttätig.

Unsere Umgebung und die Kultur, in der wir leben, sind das Produkt unserer Kämpfe, unseres Schmerzes und unserer entsetzlichen Grausamkeiten. Die wichtigste Frage lautet also: Ist es möglich, dieser Gewalt in einem selbst ein Ende zu setzen?

 

Ein zen-buddhistischer Mönch in dem koreanischen Film »Warum Bodhi Dharma nach Osten aufbrach«

 

VII. Fragen zur Integration unserer muslimischen MitbürgerInnen

 Lieber B. T. aus meiner Nachbarstadt Marl,    

die Definitionen von »Integration« und »Segregation«, die Sie aus Wikipedia zitieren, sind zu abstrakt, um damit etwas anfangen zu können. Wir hätten es gern konkret:   

Was zeichnet einen in Deutschland integrierten Muslim aus? Sie deuten es an: Stichwort: Sprachkurse. Also die Fähigkeit, sich auf Deutsch zu verständigen. Denn Sprache ist bekanntlich „der Schlüssel zur Bildung und zur Integration“.    

Wenn Sie mal mit offenen Ohren durch Marl und Recklinghausen gehen würden, müsste Ihnen auffallen, wie viele Menschen, die offensichtlich aus anderen Kulturkreisen stammen, so gut deutsch sprechen, dass Sie sie verstehen. Viele von ihnen beherrschen unsere Sprache besser als manch Alteingesessener, als ein „Biodeutscher“, wie man heute sagt. Und wenn Sie dazu noch die Augen aufmachen, können Sie zum Beispiel auf Ämtern, bei Ärzten und in Geschäften sehen, dass viele dieser Menschen, auch Thilo Sarrazins „Kopftuchmädchen“, ebenso gut deutsch schreiben können wie Sie.   

Vor etlichen Jahrzehnten konnte man beobachten, wie türkische Schulmädchen, selten auch Jungs, ihren Müttern beim Einkaufen im Supermarkt halfen und für sie dolmetschten. Vor allem die Frauen der ersten Immigrantengeneration konnten kein oder zu wenig deutsch, um sich mit uns verständigen können. Heute sprechen und schreiben alle Nachkommen der Einwanderer aus der Türkei und dem Morgenland deutsch.

 

Sprachkompetenz, Beherrschung der Sprache des Landes, in dem man lebt, ist jedoch kein Beweis dafür, dass man integriert ist. Auch Salafisten, nicht nur deutschstämmige Konvertiten, können deutsch.   

„Wann ist ein Zuwanderer eigentlich integriert?“ fragt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und antwortet: "wenn die durchschnittliche wirtschaftliche und soziale Lebenslage der Migranten beim Mittelwert der Gesellschaft angekommen ist". Ich meine, es gehört mehr dazu, nämlich: sich an die Gesetze und die Regeln des freundlichen, wenigstens    einvernehmlichen Umgangs miteinander zu halten, einander zu achten. Eine Frage der Selbstachtung, Rücksicht und Toleranz.

 

B. T., Sie schreiben: „Die zentrale Frage bleibt, wie man jemanden integrieren will, der darauf gar keine Lust hat und sich dem verweigert.“   

Ich würde mich auch weigern, mich integrieren zu lassen, zumal in eine Gesellschaft, in der ich überall auf Ablehnung stoße. Die Integration von Immigranten kann nur durch Kommunikation und Interaktion beider Seiten gelingen: wenn Einheimische und Einwanderer auf einander zugehen, einander kennen lernen (PEGIDA hat oder hatte die meisten Anhänger dort, wo die wenigsten Muslime leben!?) und einander Erfahrungen und Wissen austauschen. Im Ruhrgebiet, wo die meisten Immigranten und ihre Nachkommen leben, klappt das am besten.    

Die ersten Muslime, die in den 60er Jahren in großer Zahl hierher kamen, waren türkische Bergarbeiter. Die schwere und nicht ungefährliche Maloche unter Tage erwies sich hier als integrierender Faktor, der alle nationalen und rassischen Unterschiede bei den Bergleuten aus vielen europäischen und außereuropäischen Ländern verschwinden ließ. Da musste sich einer auf den anderen verlassen können. Sie fühlten sich als Kumpel und waren es auch.   

Als sich herausstellte, dass sie keine „Gastarbeiter“ mehr waren, sondern weiterhin im Bergbau gebraucht wurden, holten sie ihre Familien nach Deutschland. Die meisten kamen aus den ärmsten, patriarchalisch geprägten und kulturell rückständischen Regionen der Türkei, wo Kinder arbeiten mussten und an Schule und Bildung kaum zu denken war. Deshalb blieben die türkischen Familien in ihren Wohngebieten nahe der Bergwerke weitgehend von der übrigen Bevölkerung isoliert. Sie kapselten sich in der ihnen fremden Welt ab, hörten auf ihren Imam und pflegten um so intensiver die alten, ihnen vertrauten Sitten und Gebräuche. Dadurch bewahrten Sie ihre ethnische Identität. In den Zechenkolonien, wo auch Deutsche wohnten, kamen sich die Familien verschiedener Herkunft näher, lebten und feierten miteinander.   

Aber sie wurden auch schon damals angefeindet, nicht nur sie, auch Griechen, Spanier und Italiener: von Kleinbürgern und Neonazis, die sich aus dem Kleinbürgertum rekrutierten. Das Kleinbürgertum ist heute fast verschwunden, aber seine Mentalität ist geblieben: im Mittelstand.  

Soweit ich mich erinnere, gab es noch keine Integrationsprogramme. Um die Arbeitsimmigranten und ihre Familien kümmerten sich Gewerkschaften, „Arbeitgeber“ und Volkshochschulen. So lag es nahe, dass der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt die Probleme der „Gastarbeiter“ thematisierte und sie selber zu Wort kommen ließ, auch in unserer Recklinghäuser WLA-Werkstatt, die ich in den 70er Jahren mitgegründet habe. 

Zur gleichen Zeit entstand in Recklinghausen ein deutsch-türkischer Verein. Mitglieder waren Deutsche und Bergbauingenieure, LehrerInnen, KünstlerInnen, AutorInnen und andere Intellektuelle aus der Türkei. Sie mieteten eine kleine ehemalige Schule, machten sie zu einem interkulturellen Treffpunkt und bereicherten durch öffentliche Veranstaltungen unsere Stadt. Einige von ihnen haben deutsche Frauen geheiratet und sich völlig assimiliert.