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Freya hat in der kleinen Stadt ihren neuen Lebensmittelpunkt gefunden. Sie fühlt sich wohl im örtlichen Polizeirevier und lebt mit Erik in einer WG. Ihr Gespür für Tatorte und ungelöste Fälle haben die Kollegen sehr schnell zu schätzen und zu nutzen gelernt. So ist auch niemand verwundert, als Freya einer merkwürdigen Verkehrsunfallserie mit mehreren Toten auf die Spur kommt. Hilft da jemand nach? Aber wie? Und warum? Es stellt sie vor Rätsel. Unterstützung erhält Freya von ihrer Freundin und Kollegin Sandra, die sich nach einer katastrophalen Trennung von ihrem Freund zu Freya flüchtet. Gemeinsam beginnen sie, die Hintergründe der Taten zu erforschen – und werden dabei selbst zum Ziel der Täter. Freyas zweiter Fall in der kleinen Stadt
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Katas Ellie
In unserer
kleinen Stadt
…
fliegt allerlei herum
Impressum
Texte: © 2025 Copyright by Katas Ellie
Umschlag: © 2025 Copyright by Katas Ellie
https://www.facebook.com/Katas.Ellie
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie
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Dort hinten fuhren sie. Es war bereits dunkel, ein schöner, warmer Herbstabend. Ideal für Ausflüge. Die Gestalt beobachtete, wie die Fahrzeuge auf der Bundesstraße rasch näherkamen, und lehnte sich gemütlich auf das Geländer der Brücke. Zu schnell und immer wieder einer auf der Gegenspur, zu gefährlichen Überholmanövern ansetzend und die vielen PS ihrer Gefährte bis zum Letzten ausreizend. Es dröhnte in der Luft, die schöne Herbststimmung war erfüllt von aggressiver Gewalt.
Im Netz war der Ort ganz eindeutig gewesen, da brauchte es nur noch einen Blick auf die Karte, um den idealen Posten zu erwischen. Jetzt wartete er, und als die beiden heran waren, öffnete er einfach nur seine Hand. Nichts weiter. Dann war es vorbei.
»Das passt irgendwie nicht«, sagte Freya und schritt noch einmal die Unfallstelle ab, sämtliche Markierungen auf der Straße genau musternd. Vor und hinter ihnen, in sicherer Entfernung und abgesperrt von den Kollegen, staute sich der Feierabendverkehr auf der kurvigen Strecke. Immerhin, das nervige Hupkonzert, sonst fast immer Begleiter bei Unfällen, weil die Leute zu ungeduldig wurden, war in dem Moment verstummt, da der Rettungshubschrauber gelandet war. Nun, der war längst weg, aber die Krankenwagen waren noch dort, versorgten die Verletzten. Acht Motorradfahrer plus derjenige, der jetzt in die Uniklinik geflogen wurde, Ausgang ungewiss. Der Unfallverursacher vermutlich. Der Rest der zwei Combos, die sich heute Abend hier begegnet waren, parkte ein Stückchen weiter und machte Aussage, alle ziemlich bleich um die Nase und geschockt.
Die Scheinwerfer der Feuerwehr warfen lange Streifen durch die nebelige Herbstluft auf die Fahrbahn, wo Freya noch einmal die Markierungen abging. Die Fahrbahn sah aus wie ein Schlachtfeld. Trümmer, Motorradteile hauptsächlich, ausgelaufenes Benzin und Motoröl überall. Aber immerhin, die dicke Kleidung hatte verhindert, dass noch andere unschöne Dinge auf der Fahrbahn verstreut lagen. Eine kleine Gnade zumindest und Glück für die meisten verunglückten Fahrer.
»Siehst du, hier ist Blut auf diesen Teilen, und hier auch. Wo kommt das her? Der Fahrer dieser Maschine sagte, der andere hätte einfach das Lenkrad verrissen. Aber warum dann das Blut?« Freya sah sich um. Es war eine Waldstrecke, sehr beliebt in Bikerkreisen und zum Leidwesen der Anwohner selbst jetzt, Anfang November, noch stark befahren. Zwei Motorradgruppen waren ineinander gerast, wie auch immer sie das hinbekommen hatten.
»Hm..«, machte ihr Kollege Kalle, oder vielmehr Karl-Heinz Preußler, und spähte genauso wie sie in die Dunkelheit. Immerhin, er rollte nicht mit den Augen wie manch einer der jüngeren Kollegen zu Anfang, wenn Freya mit ihnen die ersten Male hinausgefahren war.
Detailversessen und Dinge spürend, die andere nicht spürten. Wenn sie sagte, da sei etwas faul, dann war da meistens etwas dran. Ihr Chef Olsen vertraute ihr vollkommen in der Richtung. Den Kollegen war das ein wenig suspekt, man behandelte sie mit Vorsicht, das wusste Freya. Wegen ihres guten Kontaktes zum Chef, aber vielleicht war sie ihnen einfach nur unheimlich, wie sie Dinge las, die andere nicht sahen. Sie wusste es nicht. Kalle jedoch nicht. Er behandelte sie ganz normal.
Kalle hob seine Taschenlampe, leuchtete in den Randstreifen, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. »Moment Mal«, sagte er und schritt auf die Talseite, stieg vorsichtig und ziemlich ächzend über die Leitplanke. Er hatte etwas erspäht, etwas Helles. Gleich darauf kam er wieder zurück, in der behandschuhten Hand ein undefinierbares Etwas. »Missetäter gefunden, würde ich sagen«, rief er und hielt einen zermatschten Vogel, ein ziemlich großes Tier, hoch.
»Na lecker«, schnaubte einer der Verkehrspolizisten und machte sich auf Freyas gerunzelte Stirn hin schleunigst wieder an die Arbeit.
Am Abend ging Freya zu Fuß nach Hause. Das tat sie immer, wenn sie spät dran war, sie hatte Erik versprochen, nicht alleine das Fahrrad zu benutzen. Sunnys Tod hallte immer noch in ihnen beiden nach, es war ja kaum neun Monate her. Freya störte diese quasi Verordnung nicht. Der ruhige Spaziergang durch die historische Innenstadt befreite stets ihren Kopf und ließ sie an ganz andere Sachen denken als an den Job.
Dass sie so viel arbeitete, fand Freya nicht schlimm. Da das hiesige Revier immer noch ziemlich unterbesetzt war, sprangen sie alle mehr oder weniger hin und her wie die Ping Pong Bälle. Eigentlich war so eine Polizeidirektion in strikte Abteilungen getrennt. Der reguläre Streifen- oder Schutzdienst, die Verkehrspolizei, Kriminalkommissariat, Wirtschaftsdelikte und noch viele andere mehr und eben solche Spezialisten wie Freya. Der Streifendienst und die Verkehrspolizei rotierte in einem Dreischichtsystem, von sechs bis vierzehn Uhr, vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr und die Nachtschicht. Die Direktion hatte keinen Kriminaldauerdienst wie in den großen Städten, dafür lag sie einfach zu weit draußen und war zu dünn besiedelt, obwohl sie ein riesiges Gebiet abdeckte. Weshalb Spezialisten wie Freya zwar reguläre Tagesschichten zu normalen Bürozeiten hatten, aber auch gerufen wurden, wenn es einen akuten Fall aufzunehmen gab außerhalb dieser Dienste. Und in der heißen Phase der Ermittlung einer schweren Straftat arbeiteten sie beinahe rund um die Uhr. Die waren jedoch nicht so häufig in ihrer kleinen Stadt wie in der Großstadt, und das nutzte der Chef.
Olsen hatte ein rotierendes System eingeführt, sodass jeder der höheren Dienstgrade und Spezialisten einmal dran war, die Routinejobs während der Tagesschicht zu unterstützen, und zwar von 8 bis 20 Uhr, halb und halb. Das schloss auch die Kriminaltechniker und solche Sonderermittler wie Freya mit ein. Die Nachtschicht arbeitete dann morgens etwas länger und die Spätschicht auch, während die Tagesschicht aussetzen konnte.
Damit waren alle fein, denn es verhalf allen, wirklich allen zu etwas mehr Freizeit, was über Monate nicht mehr vorgekommen war. Die Freischichten waren regelmäßig entfallen. Und, es verbesserte den Informationsfluss zwischen den einzelnen Abteilungen, das hatten sie alle schon festgestellt.
Für Freya hatte das noch einen ganz anderen Effekt. Während sich manch einer der höheren Dienstgrade anfangs darüber beschwert hatte – nicht laut, aber hinter vorgehaltener Hand – den Job eines niederen Dienstranges erledigen zu müssen, war es für Freya eine echte Abwechslung und mentale Entlastung, sich nicht nur um Missbrauchsfälle und Vergewaltigungsopfer zu kümmern, sondern auch mal einen Einbruch, Vandalismus oder wie heute einen Verkehrsunfall aufnehmen zu müssen. Ganz besonders gerne tat sie das mit Kalle, der aufgrund eines Bandscheibenvorfalls in der Wiedereingliederung war und vielleicht nie mehr für den regulären Dienst taugte. Derzeit diente er als Springer, welcher den Kollegen Papierkram und Nachforschungen abnahm. Eigentlich war er Kontaktbeamter, Polizeimeister. So jemand, den man beim Einkaufen in der Innenstadt auf Streife antraf und den jeder in der Stadt kannte, von den Kindern bis zu den Alten. Derzeit half er im Kriminalkommissariat aus und war Freya zugeteilt, die als Polizeihauptkommissarin einen höheren Dienstrang hatte als er. Aber darauf hatte sie noch nie Wert gelegt, sie machte einfach ihren Job, und er auch.
Sie beide dachten dabei in ähnlichen Mustern und waren ein eingespieltes Team geworden, was auch ihr Chef schnell bemerkt und sie entsprechend eingeteilt hatte. Die meisten ihrer Jobs waren Routine, aber nichts desto trotz tat Freya sie gründlich und mit Akribie. Was wohl auch einen Teil ihres Rufes ausmachte.
Alle hatten anfangs dazu geneigt, Freya zu unterschätzen, bis sie dann scharfsichtig die Lösung eines Falles herbeiführte, bis ins Letzte dokumentiert. Sie würde ums Verrecken nicht zulassen, dass wegen einer durch sie durchgeführten schlampigen Beweisaufnahme oder eines Protokollfehlers ein Verbrecher freikam oder ein Prozess platzte.
Aber noch mehr in ihren Ruf spielte die Tatsache hinein, dass sie einen Kollegen ans Messer geliefert hatte. Mit einer Aussage natürlich, aber dennoch. Sicherlich, Tick war ein Schwein gewesen und ein Vergewaltiger, Beihelfer von Mördern. Aber immer noch einer von ihnen. Und sie war diejenige, die ihn hatte auffliegen lassen. Das wäre in ihrem alten Revier zu einer Katastrophe für sie geworden, die schiefen Blicke, das Geflüster. Hier war das nicht so zu merken, denn Tick hatte in den wenigen Tagen, in denen er bei den Ermittlungen zu den tödlichen Pflegefällen hier gewesen war, kaum jemand zu Gesicht bekommen, und selbst wenn, hatte man über ihn eher die Nase gerümpft als alles andere. Von daher gab es nur ein paar Spekulationen und Erzählungen, dass sie hinter der zarten äußeren Schale ziemlich hart im Nehmen sei.
Das alles hatte Marita ihr gesteckt, deren Bäckerei der Dreh- und Angelpunkt der örtlichen Klatschbörse war. Aber das war es dann auch. Worüber Freya sehr dankbar war. Nicht umsonst hatte sie sich hierher versetzen lassen, und zwar ohne Frist. Mit der Androhung einer längerfristigen Krankschreibung, sollte das nicht umgehend erfolgen. Auch Untergebene verfügten über Druckmittel, und diesmal hatte sie diese ohne Rücksicht auf die Kollegen im anderen Revier ausgenutzt.
Die Luft war schon kühl, und Freya zog fröstelnd ihre leichte Übergangsjacke enger um sich. Es war ein goldener Oktober gewesen, wie er im Buche stand, tagsüber noch warm, nachts mit den ersten Frösten. Doch nun kehrten die ersten, nebeligen Novembertage ein, und in den Geschäften warb man kräftig für Winterkleidung. Mit einem Blick streifte sie die ausgestellte Ware. Selten genug, dass sie mal zu Öffnungszeiten hier vorbeikam, und selbst wenn, gekauft hatte sie noch nie etwas. Das war einfach in ihr drin, sich nie etwas zu gönnen, nur die Dinge für den täglichen Bedarf. Sie konnte sich nicht helfen. Ihre wenigen Besitztümer hatte ihre Freundin und Kollegin Sandra per Paketdienst hierhergeschickt. Nur Kleidung, ein paar Dokumente, Laptop. Sonst nichts. Das hatte bei Erik und seinen Freunden für echtes Erstaunen gesorgt, dass sie sogar noch weniger besaß als ihre Schwester Sunny. Unfassbar für sie. Und es passte alles bestens in das winzige Zimmer im Dachgeschoss von Eriks Häuschen. Wie auch immer es dazu gekommen war, dass sie dort eingezogen war. Selbst Monate später rieb sich Freya darüber immer noch staunend die Augen. Es war einfach so passiert.
Bei dem Gedanken atmete Freya tief durch und bog in ihre Wohnstraße ein. Bis zu Eriks Haus – ihrem, verbesserte sie sich still, denn so betrachtete er es – waren es nur wenige Schritte. Was würde Freya heute erwarten? Ein düster vor sich hinbrütender Erik, gefangen in den Ereignissen der vergangenen Monate? Oder ein entspannter Erik, auf dem Sofa mit Chips und Bier eine Sendung schauend oder mit seinen Kumpels im Netz chattend? Sicherlich, erstere Momente waren in den letzten Wochen seltener geworden, je stärker er wieder genas. Aber manchmal schaffte er es nicht, sich aus dem Sumpf zu befreien, genauso wenig wie sie das vermochte, wenn die Erinnerungen sie überrollten. Dann war es nur gut, wenn der jeweils andere in der Nähe war und einen festhalten konnte.
Als erstes spähte sie in den Torgang. Ah, Fahrrad und Rollstuhl waren da, also war er zu Hause und nicht bei Hardi und Marita. Erik und sie hatten das schöne Wetter und die Wärme am Wochenende für eine Fahrradtour genutzt, wie fast jedes, seit seine Beine wieder kräftiger wurden. Sie fuhren ein Tandem Liegedreirad mit E-Antrieb, eine Spezialanfertigung der hiesigen Fahrradmanufaktur, damit sie notfalls auch Eriks Krücken oder seinen Rollstuhl mitnehmen konnten. Denn seine Nerven waren wetterfühlig, und wie! Regentage waren stets Rollstuhltage, er schaffte es dann einfach nicht mit dem Laufen, manchmal auch nicht mit dem Handbetrieb. Je kälter es wurde, desto schlimmer wurde es. Weshalb sie auch immer noch den Monsterrollstuhl in der E-Version besaßen, während er für drinnen und die Firma einen normalen hatte. Heute Abend aber war er allein von der Baufirma, die ja ganz in der Nähe des Reviers lag, mit dem Fahrrad nach Hause aufgebrochen, als klar wurde, dass Freya wieder ausrücken musste. Das hatte er ihr geschrieben. Sie ließen einander stets wissen, wenn sie aufbrachen.
Drinnen war es still, nur leises Klackern einer Tastatur. »Hey«, sagte Freya, die Eingangstür hinter sich schließend.
»Hey«, erwiderte Erik, sah auf und lächelte ihr zu. Gute Laune also. »Wie war’s? Da war ja einiges an Blaulicht unterwegs heute Abend.«
Er wusste, dass sie ihm keine Details zu den Fällen, in denen sie richtig ermittelte, erzählen durfte. Aber diesmal war es okay, denn das meiste würde morgen eh in der Zeitung stehen. »Oh je«, seufzte sie und hängte ihre Jacke auf. Dann ging sie zu ihm, ihm kurz über die Schulter streichend, und ließ sich aufs Sofa fallen. Das war ihre übliche Begrüßung. Zu mehr mochte sie sich nicht durchringen, und das wusste er und erwartete auch nicht mehr. »Massenkarambolage zweier Motorradclubs. Was für ein Blechhaufen, das kann ich dir sagen! Schuldiger: ein Vogel.«
»Ein Vogel.« Erik hob die Augenbraue, und Freya musste lachen.
»Tja, willkommen auf dem Land«, schnaubte sie und griff in die Schale mit Nüssen, die Erik auf dem Tisch stehen hatte. »Häng’s aber noch nicht an die große Glocke. Die finalen Ergebnisse der Untersuchung stehen noch aus.«
Später, als sie in ihrem Bett lag, dachte Freya über ihre seltsame Beziehung nach. Sie hatten eine, so viel stand fest. Aus der Not geboren, weil sie einander brauchten. Und mochten, das natürlich auch. Inzwischen war es mehr geworden, viel mehr. Nur zu dem letzten, finalen Schritt mochte Freya sich immer noch nicht durchringen, sie konnte sich einfach nicht überwinden, war dann wie gefangen in den Erinnerungen. Ihren Opfern hätte sie längst einen Psychologen empfohlen, Therapie. Manch ein Kollege und viele ihrer Freunde fragten sich gewiss, warum sie das nicht tat. Einige ihrer Freunde drängten sie dazu. Sandra zum Beispiel, mit der sie gerade chattete. Das taten sie täglich. Sandra war ihre Versetzung gar nicht recht gewesen. Auch Sandra hatte nicht viele Freunde, was zum Teil an den unregelmäßigen Dienstzeiten lag, zum Teil aber auch an ihr selber. Sie waren nur drei Personen gewesen, die sich um die Missbrauchsfälle in der großen Stadt kümmerten, und seit Freyas Weggang sah es ganz düster aus. Zudem steckte Sandra gerade in einer ziemlich problematischen Beziehung mit einem Kollegen fest. Mal zusammen, mal auch nicht. Freya hatte längst den Überblick verloren. Ein ständiger Gegenstand des Tratsches im anderen Revier. Freya hatte sie gewarnt. Sie mochte den Kerl nicht, der war ihr zu dominant, zu Alpha, und diese Blöße hätte sie sich vor den Kollegen auch nie gegeben, etwas mit einem von ihnen anzufangen.
Doch das musste nichts heißen, denn sie selber hatte ja die Blaupausen der Alphatiere um sich herum, nämlich Erik und seine Freunde. Wobei, die Ereignisse des letzten Jahres hatten ihnen allen einen gehörigen Dämpfer verpasst. Man merkte es immer noch. Sie waren ruhiger geworden, nachdenklicher, und damit kam auch Freya besser mit ihnen klar. Ging mit ihnen aus, gemeinsam mit Erik. Hardi, Timo und Wolle hatten ihr das Tanzen beigebracht, mit viel Gelächter und etlichem Spott von Eriks Seite und Anfeuerung von Marita, die ihr mittlerweile eine gute Freundin geworden war. Freya lebte, stellte sie erstaunt fest, und sie genoss es. Wenn nur nicht diese eine Sache wäre…
Mit halbem Ohr lauschte sie auf die Geräusche von unten, ob Erik klarkam, denn er rumorte noch im Bad herum. Das hatte sie sich so angewöhnt. Am Anfang hatte sie ihm viel helfen müssen. Nach dem Überfall waren die Krankenpfleger nur noch kurz permanent anwesend gewesen, dann hatten sie das Schritt für Schritt reduziert, je mehr Erik alleine klarkam. Er hatte trainiert, und wie! Seine Armmuskeln zunächst, damit er sich allein aus dem Bett stemmen konnte, in den Rollstuhl, im Bad aufs Klo, aufs Sofa und so weiter. Auf einmal war es ganz schnell gegangen. Bald hatte er angefangen, das Laufen zu üben, auf einem Laufband mit Körperstütze. Auch heute noch erhielt er Physiotherapie, und die Versicherung zahlte ihm eine mobile Kur in der Klinik. Aber den Rest machte Freya. Gefährtin, Krankenbetreuerin, Haushaltshilfe und Seelenklempnerin in einem, so kam sie sich manchmal vor, und sie fühlte sich wohl damit. Denn er war auch für sie da, wenn sie Not litt und die Erinnerungen sie überkamen. Wenn nur diese eine Sache nicht wäre… verdammt!
Jetzt kreisten ihre Gedanken schon wieder darum! Das taten sie in letzter Zeit immer öfter. Sie wusste, dass Erik auf sie wartete. Sie spürte es wie eine unsichtbare Strömung. Wusste, dass die Freunde darüber spekulierten, ob sie schon oder nicht… Je gesünder Erik wurde, desto deutlicher war es zu merken. Freya spürte durchaus, dass er versuchte, sich ihr anzunähern. Ganz subtil, kaum zu erkennen, aber sie war ja die Psychotante, von daher machte er ihr nichts vor. Er wollte sie. Und bei dem Gedanken schoss regelmäßig das Eis durch ihre Adern. Selbst jetzt, nur beim Nachdenken, merkte sie es. Ihr Mund wurde ganz trocken, ihr wurde schwummrig. Nein, nicht! Sie rollte sich zusammen und presste sich die Faust auf den Mund, damit er unten ja nichts hörte, denn das Dachgeschoss hatte nach wie vor keine Tür. Warum nur, warum konnte sie das nicht endlich trennen? Sie fand keine Antwort darauf.
Nach einer ziemlich schlecht durchschlafenen Nacht und einem turbulenten Vormittag im Revier, denn beide Bikerclubs waren aufgeschlagen und hatten noch einmal ihre Aussagen gemacht, schaffte Freya es tatsächlich pünktlich um zwölf rüber in Maritas Bäckerei zum Mittagstisch. Das war auch so etwas, das sie an ihrem neuen Kollegen- und Freundeskreis schätze. Alle achteten mit Argusaugen darauf, dass sie vernünftig aß und trank. Freya ging es körperlich so gut wie noch nie, sie machte sogar Sport in einem Fitnessstudio nur für Frauen, sonst immer ein Problem für sie. Wenn das so weiterging, dachte sie, würde sie sich neue Klamotten zulegen müssen. Die alten wurden langsam ziemlich eng. Nicht, dass sie dick wurde. Aber kräftiger.
»Hi«, rief sie über den Tresen nach hinten in die Backstube und ging hinüber in die Nische, die stets für die Freunde zwischen zwölf und eins freigehalten wurde, und setzte sich an den zerschrammten Tisch. Da sie noch alleine war, packte sie ihren Laptop aus, den sie stets mit hierher nahm. Die Arbeitszeiten der Freunde waren unregelmäßig, wie ihre eigenen auch. Hardi hatte einen Kundentermin und wusste nicht, ob er es schaffen würde. Ob Wolle seine Praxis pünktlich würde schließen können, stand in den Sternen. Er hatte mehr denn je zu tun, denn sein Vater bereitete sich langsam auf den Ruhestand vor, und sie suchten händeringend einen weiteren Juniorpartner. Timo wollte kommen, aber wer weiß. Auch er wurde immer mal wieder aufgehalten. Erik war auf einer Baustelle, und das konnte dauern. Also machte Freya es sich gemütlich und nahm dankbar einen Tee von Marita entgegen, die sie mit einer Umarmung begrüßte.
»War ja viel los bei euch, hab ich gehört«, sagte sie.
Freya nahm grinsend einen ersten, vorsichtigen Schluck. »Oh ja. Bikers Paradiese. Oder Nightmare. So viel getippt an einem Vormittag habe ich selten.« Sie schnaubte, und Marita lachte ihre durchdringende, fröhliche Lache, die sie alle so sehr mochten, aber ganz besonders Hardi. Marita würde in Kürze die Meisterprüfung ablegen und dann das Café übernehmen. Es war alles schon in Sack und Tüten. Die Verträge – Timo hatte die ausgearbeitet -, die Finanzierung – von Hardi in die Wege geleitet -, die Übernahme, alles geregelt. Marita konnte es kaum erwarten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Marita besorgt. »Du siehst müde aus.«
Freya winkte ab. »Schlecht geschlafen, das ist alles.«
»Na, dann bringe ich dir schon mal etwas, okay? Wann die anderen kommen, steht ja in den Sternen.« Marita kehrte hinter den Tresen zurück und bediente den nächsten Kunden.
Freya ging konzentriert die Emails durch, die über den Vormittag liegengeblieben waren, und schob sich gedankenverloren einen Löffel des leckeren Chilis nach dem anderen in den Mund. Daher fuhr sie förmlich zusammen, als sich jemand ihr gegenüber aufs zerschlissene Sofa fallen ließ.
»Buh! Sollst du in deiner Pause arbeiten?«, schnalzte Wolle mit der Zunge.
»Ist der Strom bei euch ausgefallen oder warum bist du schon hier?«, gab sie mit einem feinen Lächeln zurück und klappte den Laptop zu.
Er erwiderte es. »Bewerbungsgespräche. Die Praxis hat heute nur Notbetrieb. Ist das zu fassen?! Was für Forderungen die alle stellen! Die sollen sich erstmal ihre Sporen verdienen. Aber so ist der Markt. Fachkräftemangel.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Tja, so was gibt es bei uns nicht. Dienstvorschrift ist Dienstvorschrift«, kommentierte Freya trocken und aß weiter.
Wolle schnaubte. »Ein Paradies, schon klar. Weshalb Olsen seine Leute bis zum Abwinken scheucht. Dich auch. Du siehst müde aus.« Er betrachtete sie besorgt.
»Ja doch.« Freya rollte innerlich mit den Augen und kommentierte das nicht weiter. Seine Sorge um Erik hatte er irgendwie auf sie übertragen, von Anfang an. In den vergangenen Monaten waren sie Freunde geworden, sicherlich. Aber manchmal war ihr seine Art zu eng. Nicht aufdringlich, aber emotional zu dicht. Sie hatte viel über Wolle nachgedacht, viel mehr als über die anderen Freunde, und einige Erkenntnisse gewonnen, die ihm selber wohl kaum bewusst waren. Oder vielleicht doch.
»Hey, was gibt’s heute?« Mit den Worten schneite Timo herein, wie immer im schicken Anzug und mit einer Aktentasche aus edlem Leder. Herr Anwalt, stets gut gestylt.
»Chili«, sagte Freya, erwiderte seine kurze Umarmung und rückte ein wenig ihr Zeug beiseite, damit er Platz hatte. »Ist lecker.« So, Ende der Befragung, dachte sie erleichtert, und der Rest der Mittagspause verging mit lockerer Plauderei, was auch an Timo lag. Mit dem hatte Freya ein ganz unkompliziertes Verhältnis, was wohl damit zu tun hatte, dass er überhaupt nicht ihr Typ war und sie auch nicht seiner. Von daher waren sie einfach nur gute Freunde, und damit kam Freya bestens klar. Wie mit Hardi auch, der es am Ende ebenfalls schnaufend in die Mittagspause schaffte. Hardi musste aufpassen, er hatte gehörig zugelegt in den letzten Monaten. Weshalb ihm Doc Wolle ein Fitnessprogramm und andere Essensregeln auferlegt hatte. Ihm und Marita auch. Keine schweren Mahlzeiten mehr am Abend, und wenn der Tag noch so anstrengend gewesen war. Ein wenig sah man das bereits, bei Hardi und Marita, befand Freya. Ein gutes Zeichen.
Als Freya am Abend nach Hause kam, sich unterwegs immer wieder die verkrampften Handgelenke dehnend, denn sie hatte auch am Nachmittag getippt ohne Ende, wusste sie gleich, dass die Stimmung diesmal grundlegend anders war. Erik saß im Rollstuhl, regungslos und düster aus dem Gartenfenster in die Dunkelheit starrend.
»Hey, was ist los?«, fragte Freya, ihm die Hand auf die Schulter legend.
Er fuhr spürbar zusammen, hatte sie anscheinend nicht gehört. »Hey. Ach nichts. Anstrengender Tag.«
Das war gelogen, spürte Freya, aber sie drängte ihn nicht. Früher oder später würde er damit rausrücken. »Morgen ist Regen angesagt.« Ein Seufzer war die Antwort. Nichts weiter. Daher ließ Freya ihn in Ruhe und ging in die Küche, ihnen beiden etwas zu Essen zu machen. Fertige Schnittchen, ein paar Gemüsesticks, Tomaten, Gurken, Fingerfood. Erik hatte nach solchen Tagen immer noch Mühe, seine Hände ruhig zu halten und die Bewegungen zu koordinieren. Daher war das genau richtig.
»Also?«, fragte sie nach einiger Zeit. Erik hatte kaum etwas angerührt, nur lustlos geknabbert.
»Maik ist gestorben«, sagte er plötzlich. »Sein Betreuer Horst Müller hat mich vorhin angerufen. Multiples Organversagen.«
»Oh nein!« Freya konnte gar nicht anders, sie stand auf, trat an seinen Rollstuhl und umarmte ihn. Der Zustand seines Freundes, der seit dem Mordanschlag von IT-Ermittler Tick im Wachkoma lag, war für Erik kaum zu ertragen gewesen. Er hatte stets gesagt, dass Maik alles um sich herum hören könne, auch wenn Wolle und die anderen Ärzte ihn für verrückt erklärt hatten. Das war geboren aus seinen eigenen Erfahrungen, Freya wusste es wohl. Erik hatte Maik stets am Samstag besucht. Hatte eine Onlinesession mit ihren Chatfreunden aufgebaut und deren Worte per Lautsprecher übertragen lassen, damit Maik das hören konnte. Damit war es jetzt vorbei.
»Verdammt!«, schniefte Erik und klammerte sich an ihr fest, den Kopf an sie lehnend.
»Ist schon gut«, flüsterte Freya, ihn festhaltend. Wegen so etwas waren sie füreinander da, genau deswegen.
Schließlich schob Erik sie zurück, sich die Tränen aus den Augenwinkeln reiben. »Entschuldige.« Er wusste, dass es ihr immer noch unangenehm war, angefasst zu werden. Selbst von ihm. Daher rechnete er es ihr hoch an, dass sie ihm Trost bot.
»Nicht. Es ist okay«, sagte sie, setzte sich wieder hin und griff nach seiner Hand. »Wann ist die Beerdigung?«
»Samstag, eine Urnenbeisetzung. Horst Müller organsiert das. Ich habe mir gedacht, dass ich die Grabplatte spendiere. Ansonsten wäre er anonym beigesetzt worden, und das geht gar nicht, finde ich. Ein paar der Jungs wollen kommen, alle, die in der Nähe wohnen. Dann lerne ich sie endlich mal kennen.« Jetzt lächelte er traurig.
»Das ist doch schön. Willst du sie hinterher hierher einladen?«, fragte Freya nicht ohne Hintergedanken. Denn bei einer vom Sozialamt finanzierten Beerdigung war mit Sicherheit kein Budget da für einen Leichenschmaus.
Erik schaute verblüfft. »Das… ja, warum nicht? Ein toller Einfall! Da hätte ich selber darauf kommen können. Dann können wir die anderen hinzuschalten. Das sollten wir eh tun, finde ich.«
»Na, dann wird das doch ein richtiges Event. Das fände Maik ganz cool, könnte ich mir vorstellen, nicht?«
»Du schaffst es immer wieder, mich aus dem Sumpf zu ziehen«, sagte er leise und schaute sie an, sehr, sehr intensiv diesmal. Beinahe, aber nur beinahe hätte er noch etwas gesagt, aber das hätte sie wohl verschreckt und diesem Abend ein ziemlich abruptes Ende beschert.
»Damit du dich nicht so quälst«, erwiderte sie leise und wich seinem Blick aus.
Ja, genau deshalb, dachte er. »Lass mich mit Müller und Hardis Kumpel Seb sprechen wegen der Technik, und Marita kann ja was zu Essen organisieren, nicht?«
Freya schüttelte den Kopf. »Lass Marita außen vor, der steht die Arbeit und die Lernerei bis zur Halskrause. Ums Essen kümmere ich mich. Muss ich etwas bei deinen Freunden beachten? Spezielle Unverträglichkeiten, Darreichungsformen?« Über so etwas hätte sie sich früher nie Gedanken gemacht, warum auch? Aber das Zusammensein mit Erik und sein spezieller Freundeskreis hatte ihr einiges an Erkenntnissen beschert.
»Ich frage sie einfach«, sagte er und schaltete mit einem Lächeln seinen Rechner ein.
Die Organisation des Events lenkte sie beide ab, und das war auch gut so, befand Freya. So hatten sie etwas zu tun und kreisten nicht nur umeinander. Es war eine Gemeinschaftsarbeit, jeder spendierte etwas zum Leichenschmaus dazu. Die Nachbarn buken Kuchen, die Freunde schmierten Schnittchen. Smoothies und Shakes wurden organisiert für Eriks Freunde, die keine feste Nahrung vertrugen. Überraschend viele kamen zur Beerdigung, neben den Freunden aus dem Netz auch ein paar Nachbarn, Therapeuten und anderweitige Bekannte von Maik aus der Stadt. So war der Raum mit den Rollstühlen und den vielen Menschen fast brechend voll, schon erstaunlich, fand Freya. Es war ein trüber Regentag Anfang November, passend zur Stimmung. Aber der Pfarrer fand trotzdem ein paar fröhliche Worte, sodass die Trauerfreier ziemlich locker vonstattenging. Durch das schlechte Wetter war auch Erik an den Rollstuhl gefesselt, was ihm gar nicht passte. Aber so lernte er die Freunde von Maik, die ja mittlerweile auch seine eigenen waren, auf Augenhöhe persönlich kennen.
Was für eine Bande, dachte Freya am Ende dieses langen, langen Tages mit einem kopfschüttelnden Schmunzeln, während sie und Marita die Reste der Feier zusammenräumten. Die waren alle keine Kinder von Traurigkeit, selbst auf der Feier waren die deftigen Scherze hin und her geflogen. Für Eriks Kumpel eine Lektion, dass andere es noch bunter trieben, als sie selber es getan hatten.
Die vier Freunde saßen noch auf ein Bier beisammen, während der Rest längst gegangen war, und ließen sich darüber aus. Allenthalben Gelächter und eine Menge Selbstironie. »Na, das war ja ein voller Erfolg«, raunte Marita Freya zu und zwinkerte.
Die kicherte. »Oh ja, und wie! Besser, als heulend in der Ecke zu sitzen. Ich denke, Maik hätte das gefallen, sehr sogar.«
Marita seufzte. »Ein schöner Abschluss von einem miserablen Leben. Wir können alle von Glück sagen, wenn uns jemand am Ende auch so eine Feier ausrichtet. Die meisten haben das nicht. Danke übrigens, dass du mir das mit der Essensorganisierung abgenommen hast. Ich weiß momentan gar nicht, wo mir der Kopf steht.«
»Weiß ich doch, genau deshalb. Also lass es stehen und geh zu deinem Schatz, na los, mach schon. Den Rest schaffe ich selber.« Sanft, aber bestimmt nahm Freya ihr das Trockentuch aus der Hand.
»Na gut, wenn du…« Marita hob den Kopf, denn vor der Haustür war ein Schatten erschienen, gut zu sehen durch das milchige Glas. »Nanu? Wer kann das sein?« Da Freya die Hände bereits voll hatte, ging sie nachsehen, als es zaghaft klopfte.
»Ja bitte?« Marita öffnete die Tür ein wenig, vorsichtig hindurchspähend, doch das endete in einem erschrockenen Aufschrei. »Um Himmels… Freya!!!«
Die Männer sprangen auf. Freya fuhr herum und sah aus den Augenwinkeln eine dunkle Gestalt durch die Tür kippen. Marita fing sie gerade noch auf.
Freya rannte zu ihr, sich hastig die Abwaschhandschuhe abstreifend. »Was zum… mein Gott, Sandi!« Fassungslos erkannte sie ihre Freundin und Kollegin aus dem anderen Revier, doch wie sah sie nur aus?! Prellungen im Gesicht, ein blaues Auge, sodass die Sommersprossen fast nicht mehr zu sehen waren. Die roten Haare wirkten fast schwarz, so nass waren sie, und sie klapperte sichtlich mit den Zähnen und stützte ihren linken Arm mit der rechten Hand. Freya hockte sich zu ihr und schaute in tränenblinde Augen. »Was ist passiert?«
»Lass mich sehen!« Wolle kniete sich neben sie, doch bei der männlichen Stimme zuckte Freyas Freundin wie gestochen zurück. Verdammt, dachte Freya, das sagte ja schon alles.
»Nein, nicht«, hielt sie Wolle auf. »Marita, hilf mir mal. Bringen wir sie zum Sofa. Und ihr bleibt ein wenig zurück, nun macht schon«, scheuchte sie die Freunde zur Seite. Sandra schienen die Kräfte endgültig verlassen zu haben, Marita und Freya mussten sie beinahe tragen. Doch schließlich lag sie, und Freya konnte sie sachte aus ihrem durchnässten Mantel befreien. Sandra stöhnte leise dabei, es war ihr anzusehen, sie hatte Schmerzen. »Komm schon, Sandi, rede mit mir. Was ist passiert?«
»Danilo«, stöhnte Sandra und brach in Schluchzen aus.
Freya unterdrückte einen Fluch. Dieser Arsch von Freund, bei dem sie von Anfang an den Verdacht gehabt hatte, dass er ein Bastard war, Kollege hin oder her. Die anderen schauten fragend. »Ihr Ex-Freund. Immer mal wieder. Sandi, lass Wolle einmal nach dir schauen, ja? Ich bleibe bei dir, versprochen. Du erinnerst dich doch an Wolle, nicht?«
»N…nein…«, schniefte Sandra, ihm einen misstrauischen Blick zuwerfend.
»Nein?« Freya sah Wolle fragend an, und der hob die Schultern.
»Wir haben uns immer irgendwie knapp verpasst. Keine Ahnung. Hey, lass mich mal schauen, ja? Ich bin ein Freund von Erik. Den kennst du ja, nicht wahr?«
»Hmm…«, machte Sandra, lehnte sich an Freya und verlor das Bewusstsein.
Das zumindest ersparte es Freya, die Freundin irgendwie dazu zu bewegen, sich untersuchen zu lassen. »Das Handgelenk sieht nicht gut aus, und auch ihre Augen gefallen mir nicht. Sie hat einen Schock, mindestens, wenn nicht gar eine Gehirnerschütterung. Sie muss ins Krankenhaus«, insistierte Wolle.
»Ich weiß.« Freya kniff die Lippen zusammen. Nicht nur deswegen. »Können wir sie so dorthin bringen, ohne einen Krankenwagen? Ich weiß, das wäre ihr gar nicht recht.«
Alle sahen Timo an. »Ich hole den Wagen.«
Eine Stunde später war Sandra immer noch nicht wieder wach. Völlig entkräftet, meinte der Notarzt und bestätigte Wolles Einschätzung, dass sie wohl auch eine Gehirnerschütterung hatte. Geprellte Rippen, ein gebrochenes Handgelenk und, um das Maß voll zu machen, sie war vergewaltigt worden. Das bekam Freya von Claudia bestätigt, der Ärztin, die für gewöhnlich die Protokolle schrieb, wenn Freya mit einem ihrer Opfer ins Krankenhaus ging. Eine Frau war für eine solche Untersuchung wesentlich besser geeignet als ein Mann, denn nichts konnte eine Frau in einem solchen Zustand weniger ertragen, als von einem Mann angefasst und untersucht zu werden, vor allem im Intimbereich. Weshalb Freya ausdrücklich Claudia angefordert hatte. Die war zwar keine Rechtsmedizinerin, aber sie besaß eine Zulassung für solche Untersuchungen und die Gutachten, weshalb sie immer Freyas erste Wahl war. Nur bei ganz, ganz schwierigen Fällen wurde ein richtiger Rechtsmediziner hinzugezogen. Aber in diesem Fall waren die Untersuchungsergebnisse mehr als eindeutig. Nicht, dass Sandra davon aufgewacht wäre. Trotzdem wollte Freya ihrer Freundin diesen Dienst erweisen.
»Aber warum nur hat sie diesen weiten Weg auf sich genommen, um zu dir zu kommen? Anderthalb Stunden Zugfahrt in dem Zustand?«, fragte Claudia kopfschüttelnd, während sie hinter dem Tresen der Notaufnahme das vorläufige Protokoll schrieb. Das wollte Freya unbedingt gleich haben, Munition für die Auseinandersetzung mit ihrem ehemaligen Chef. Ein ausführlicheres Schriftstück mit den Fotos und so weiter würde es später geben.
»Das kann ich dir sagen: Weil ihr Ex ein Kollege ist. Wäre sie dort zur Polizei gegangen, wäre es unter Garantie einer seiner Kumpels gewesen, der das aufgenommen hätte. Nein, das konnte sie nicht. Sie musste zu mir. Und ich könnte wetten, dass er fest damit rechnet, dass sie sich nur zuhause verkriecht und dann so tut, als wäre nichts gewesen. Huch, ich hatte einen Unfall, ein paar Tage krank, und dann wieder alles normal. Aber damit ist es jetzt vorbei.«
»Gut so«, erwiderte Claudia grimmig und reichte Freya die Ausdrucke über den Tresen. »Soll ich Olsen gleich eine Kopie schicken?«
Freya überlegte kurz. »Nein, den informiere ich lieber persönlich. Danke, Claudia.«
»Kein Problem. Ruf mich, falls du noch etwas brauchst. Ich haue mich im Schwesternzimmer hin, meine Schicht beginnt eh in ein paar Stunden. Falls was ist, wecke mich einfach auf.«
Mit dem Protokoll in der Hand ging Freya raus aus der Station in den Wartebereich, wo die Freunde eine Ecke in Beschlag belegt hatten, Erik nach wie vor im Rollstuhl. Stumm sahen alle ihr entgegen. »Fahrt nach Hause, die Ärzte haben sie ruhiggestellt, das heißt, sie wird noch eine ganze Weile schlafen. Das ist gewiss besser«, sagte sie, sich neben Erik setzend.
»Und…« Marita mochte es nicht aussprechen, und Freyas knappes Nicken unterband alle weiteren Fragen.
»Ich muss ein paar Telefonate führen. Mit Olsen, und auch mit meinem ehemaligen Chef. Mit Sandis Nachbarin habe ich schon gesprochen. Sie passt auf die Wohnung auf, denn wir wissen nicht, ob der Arsch einen Schlüssel hat. Sie sagt, sie habe die beiden heute Abend streiten hören, nur dass er dann irgendwann weggegangen sei. Dann wäre sie einige Zeit mit Freunden außer Haus gewesen, und als sie wiederkam, sei Sandra weg gewesen. Einer der anderen Nachbarn sagt, dass es nochmal Streit gegeben hätte, diesmal richtig schlimm. Er hätte sie schreien gehört und ist an die Tür, hat geklopft. Da muss der Arsch abgehauen sein. Sandi wohnt im Erdgeschoss, sie hat eine Terrasse. Aber aufgemacht hat sie nicht.«
»Oh Mann«, sagte Hardi, Marita fest an sich drückend.
Freya kniff die Lippen zusammen, Erik kurz anblickend. Seine Sorge um sie war ihm deutlich anzusehen. Er wusste, dass ihr solche Fälle nahegingen, von ihrer besten Freundin mal ganz abgesehen. »Solange sie nicht offiziell Anzeige erstattet, kann ich eigentlich nichts machen. Ich finde aber trotzdem, dass die Oberen Bescheid wissen sollten. Daher, lasst mich ein paar Dinge von hier regeln. Ich komme später nach«, sagte sie zu Erik, drückte ihm kurz die Schulter und stand dann auf.
Kaum war sie fort, rieb sich Erik fassungslos über das Gesicht. »Shit.«
»Du sagst es«, kam es grimmig von Wolle. Er stand seufzend auf. »Na los, gehen wir. Mehr können wir nicht tun.«
Gefühlte Stunden später taumelte Freya beinahe vor Müdigkeit in Sandras Krankenzimmer. Es war weit nach Mitternacht, Freya hatte erst das Telefonat mit Olsen, dann eine Konferenzschaltung mit ihrem ehemaligen Chef und Olsen hinter sich gebracht. Das Ding war ein ganz, ganz heißes Eisen, dachte sie und setzte sich zu Sandra ans Bett. Sie hatte Erik und die anderen angelogen, sie würde heute Nacht nicht nach Hause kommen, denn sie wollte unbedingt an Sandras Seite sein, wenn diese aufwachte und anfing zu reden. Denn das würde sie. Sandra war nicht auf den Mund gefallen, und sie machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube, zeigte stets offen, was sie dachte und fühlte. Eine bestechende Eigenschaft, fand Freya, die ja eher dazu neigte, alles in sich hineinzufressen.
Leise rückte Freya zwei Stühle ans Bett, sodass sie die Beine ausstrecken konnte und versuchen, wenigstens etwas Schlaf zu finden.
Das Summen einer eingehenden Nachricht auf ihrem Handy weckte sie wieder auf. Gähnend las sie, was Olsen ihr geschrieben hatte. Oh, sehr gut! Sie hatten Danilo einkassiert, volltrunken in einer Kneipe, wo er bereits dabei gewesen war, richtig Ärger zu machen. Ha, da würde er erstmal in eine Ausnüchterungszelle kommen, so viel war klar, und die waren mitten im Brennpunkt der Großstadt keine angenehmen Orte. Grimmig die Zähne fletschend drückte Freya die Nachricht weg.
Am Morgen war Sandra immer noch nicht wach. Es war Sonntag, wenig los in der Notaufnahme. Freya stand am Fenster und schaute hinaus auf das trübe Dämmerlicht am Himmel, als sie hinter sich jemanden hörte.
»Hey, warst du gar nicht zuhause?«, fragte Wolle.
»Nein, bin lieber bei ihr geblieben. Was tust du denn schon wieder hier?«, wunderte sie sich. Er sah nicht aus, als hätte er allzu lange geschlafen.
»Einer unserer Patienten wurde eingewiesen. Ich bin im Krankenwagen mitgefahren. Ein Freund von meinem Vater.«
»Herrje, also auch eine kurze Nacht.« Freya seufzte.
»Tja, nicht zu ändern.« Er trat näher und musterte sie besorgt. »Und wie geht es dir mit…« Mit dem Daumen wies er auf Sandra.
Innerlich wurde ihr kalt, doch das wollte sie ihn auf keinen Fall sehen lassen. Daher seufzte sie wieder und hob die Schultern. »Das werde ich wissen, wenn ich ihre Aussage aufgenommen habe. Keine Ahnung.«
»Sag Bescheid, wenn ich dich irgendwie unterstützen kann.«
Als Mann?!, hätte sie beinahe geschnaubt. Sie wich ein wenig zurück, und das merkte er. Sie konnte sich einfach nicht helfen. »Sollte sich die Stationsleitung bei etwas querstellen, sage ich dir Bescheid. Danke, Wolle.« Sie warf ihm ein leichtes, bitteres Lächeln zu und setzte sich wieder an Sandras Bett. Mit halbem Ohr lauschte sie, was er jetzt tun würde, aber wie es schien, hatte er ihre Zurückweisung durchaus verstanden. Gleich darauf war sie wieder allein.
Bis Sandra wach wurde, verging einige Zeit, sodass Freya noch ein wenig dösen konnte, doch als es soweit war, benötigte sie all ihre Kraft und Überzeugungsfähigkeit, um Sandra dazu zu bewegen, eine offizielle Aussage zu machen. Die war völlig verschreckt, sich im Krankenhaus wiederzufinden und auch von der Tatsache, dass Freya den Vorfall bereits gemeldet hat.
»Hör doch auf, dir etwas vorzumachen!«, erwiderte Freya heftig, da war ihre Geduld bald am Ende. »Du bist doch wohl kaum den weiten Weg zu mir geflüchtet, um dann zu erwarten, dass wir das unter den Teppich kehren. Warum sonst hast du dich in ein anderes Revier, zu uns, in Sicherheit gebracht?«
Daraufhin schwieg Sandra, die Augen geschlossen und in sich gehend. Die Tränen liefen ihr dabei herunter in einem fort. Schließlich seufzte sie, die gesunde Faust geballt. »Du hast vermutlich recht. Ich habe schließlich nicht umsonst vor einiger Zeit mit ihm Schluss gemacht…«
»Ja klar…«, schnaubte Freya dazwischen, und Sandra presste kurz die Lippen zusammen.
»…aber er hat das nicht gelten lassen. Kam immer wieder an, gestern Abend auch. Er war so komisch, als wenn er irgendwie was genommen hatte. Vielleicht war er auch in der Asservatenkammer gewesen. Den Verdacht hatte ich ja schon öfter.«
»Oh ja.«
»Er kam doch tatsächlich bei mir an und wollte nochmal von vorne anfangen und auch gleich bei mir einziehen. Mutti will ihn offenbar nicht mehr oder ihren Riesenkasten verkaufen oder was weiß ich. Da habe ich ihn ausgelacht.« Sandra holte zitternd Luft. »Worauf er ausgerastet ist und anfing, Sachen herumzuwerfen. Ich habe ihn rausgeschmissen, aber er kam zurück. Und diesmal volltrunken.« Jetzt schluckte sie hart. »Er hat am Türsummer seine Stimme verstellt und sich für meinen Nachbarn von oben ausgegeben. Angeblich hätte er seinen Schlüssel vergessen. Ich dumme Kuh bin drauf reingefallen, ich habe ja den Schlüssel von oben. Habe ihm aufgemacht, als er klopfte, und dann ist er über mich hergefallen. Bis dann die Nachbarn an die Tür gewummert haben, da ist er getürmt.«
Detail für Detail, unter vielen Tränen, machte Sandra schließlich ihre Aussage. Hinterher schlief sie erschöpft ein. Freya schickte das Dokument gleich ans Revier, damit die offizielle Anzeige eingetütet werden konnte. Dann rief sie Olsen an.
»Ist er noch in Verwahrung?«, fragte sie ohne eine Begrüßung.
»Oh ja. Der war völlig zugedröhnt. Wir haben mittlerweile die Blutergebnisse vorliegen. Drogentest positiv und über 2 Promille. Dass der überhaupt noch gerade gehen konnte… sehr gut. Er ist jetzt vorläufig vom Dienst suspendiert. Dein ehemaliger Chef hat die Durchsuchung seines Hauses – oder besser das der Mutter – angeordnet. Das schlägt gerade ein wie eine Bombe auf dem Revier. Wie geht es ihr damit?«
»Weiß nicht.« Freya lief unruhig auf und ab. »Ich denke, im Grunde ist sie erleichtert. Nur fiel ihr der Schritt sehr schwer. Du weißt ja, wie das ist.«
»Oh ja.« Olsen brummte verächtlich. »Ich musste auch schon gegen Kollegen ermitteln. Das ist verdammt hart, selbst wenn man selber nicht betroffen ist. Das allerdings packt noch eine zusätzliche Last auf die Schultern. Nun, es gibt auf jeden Fall genügend Zeugen, die den Vorfall bestätigen. Abstriche habt ihr gemacht?«
In Freya zog sich alles zusammen. »Ja, Claudia war in der Nacht da und hat sie untersucht. Ich glaube nicht, dass der in seinem Zustand so schlau war, sich zu schützen, auch wenn sie dazu nichts gesagt hat.«
»Okay. Warten wir die Ergebnisse ab. Fahr nach Hause, Freya, schlaf ein wenig.«
»Hmhm«, machte sie nur und legte auf. Als nächstes suchte sie Claudia auf, jetzt auch offiziell diensthabende Ärztin in der Notaufnahme.
»Ich würde sie gerne noch eine Nacht hierbehalten zur Beobachtung, sie ist noch sehr schwach. Aber dann kann sie gehen. Wirst du sie bei dir aufnehmen?« Claudia wusste, wo und mit wem sie zusammenwohnte, wie vermutlich die halbe Stadt das wusste.
Darüber hatte Freya sich noch keine Gedanken gemacht, wie denn auch? »Lass mich mit Erik sprechen. Kannst du sie wieder ruhigstellen, damit ich eine Weile fortkann? Das ist gewiss besser. Die Aussage hat sie ziemlich angestrengt.«
»Mach ich. Und Freya, sieh zu, dass du selber ein wenig Schlaf bekommst, ja? Nicht, dass du auch noch zusammenklappst. Das hatten wir ja schon.«
»Jaja«, winkte sie ab, klemmte sich die Unterlagen unter den Arm und verließ die Station. Draußen stand sie zögernd in der kalten grauen Morgenluft. Sollte sie rüber ins Revier gehen? Doch wozu, Olsen hatte das im Griff. Nein, entschied sie, sie brauchte eine Pause. Also ging sie nach Hause.
Dieses Wort war für sie immer noch ungewohnt, aber das war das kleine Altstadthäuschen in den vergangenen Monaten irgendwie für sie geworden. Oder vielmehr der Inhalt. Freya merkte erst jetzt, wie sehr sie sich nach jemandem zum Anlehnen sehnte, nein, nach ihm, als sie die Haustür erreichte. Nur, dass sie drinnen auf Wolle stieß, der in der Küche stand und etwas zum Frühstücken vorbereitete.
Er wandte den Kopf zur Tür. »Oh, Freya, was…«
Ihre knapp erhobene Hand ließ ihn verstummen. Nicht jetzt. Ihre Kehle schnürte sich zu, sie flüchtete geradezu die Treppe hinauf. Vorbei an Eriks Schlafzimmer, das leer war, sie hörte ihn im Bad, hinauf ins Dachgeschoss. Was wünschte sie sich jetzt, eine Tür zu haben! Stattdessen stürzte sie in das kleine Bad, die Schiebetür hinter sich zumachend. Keinen Moment später hockte sie über der Kloschüssel, es war wie ein Reflex. Nur, dass nichts kam. Weshalb hockst du hier, Freya?, fragte sie sich und zwang sich, die Frage zu beantworten. Sie suchte Schutz. Einen Ort zum Verweilen, um erstmal zu sich zu kommen.
Mühsam stemmte sie sich hoch. Zog ihre Kleidung aus, ging unter die Dusche. Nach einer Weile fühlte sie sich besser, aber das beklemmende Gefühl blieb. Schließlich wickelte sie sich in den Bademantel, der an der Tür hing. Weich und flauschig. So etwas hatte sie noch nie besessen, Erik hatte ihn ihr geschenkt, damit sie sich auch im Nachthemd durchs Haus bewegen konnte. Erik… Jetzt, merkte sie, kamen die Tränen. Sie schlich sich hinüber zum Bett, ließ sich darauf sinken. Doch ein Geräusch hielt sie davon ab, in Tränen auszubrechen. Sie hörte ein leises Keuchen, gefolgt von einem Klong. Der Boden unter ihren bloßen Füßen zitterte leicht. Dann wieder ein Keuchen, ein erneutes Klong, dichter dran diesmal. Erik kam die Treppe hinauf ins Dachgeschoss. Auf dem Hosenboden, sich mit den Armen auf die nächste Stufe stemmend. Natürlich, es war ein trüber, nebeliger Tag, ein Rollstuhltag.
Oh nein, nicht doch, dachte Freya, das musste ihm Schmerzen bereiten. Doch da schob sich schon sein Kopf durch die Öffnung im Fußboden. Drei weitere Anläufe, und er war oben. Freya konnte nur noch dasitzen und schlucken, ihre Sicht verschwamm. Helfen konnte sie ihm nicht. Gleich darauf war er bei ihr, stemmte sich aufs Bett und schloss sie in die Arme. Das ließ in Freya alle Dämme brechen. Sie weinte und weinte, um ihre Freundin, um ihre Schwester und sich und alle anderen Frauen und auch Mädchen und Jungen, die das hatten erleiden müssen.
Sie wusste gar nicht mehr, wie das gekommen war, aber schließlich lag sie, die Arme fest um ihn geschlungen, auf dem Bett. »Besser jetzt?«, flüsterte er und biss innerlich die Zähne zusammen. So dicht beieinander und sie nur im Bademantel und mit Sicherheit nichts darunter und nach ihrer ganz eigenen Seife duftend… das brachte ihn an den Rand seiner Beherrschung. Doch es wäre ein Fehler gewesen, diese gerade jetzt fahren zu lassen.
»Ja, geht wieder«, antwortete sie genauso leise und ließ sich zurücksinken, fort von ihm. »Ich glaube, ich würde gerne ein wenig schlafen. Lässt du mich?«
»Ist gut. Schlaf«, sagte er und strich ihr sanft über die Wange. Das merkte sie schon gar nicht mehr, sie war sofort weg. Verdammt, warum war Wolle ausgerechnet jetzt da und wartete unten mit dem Frühstück? Sonst hätte er sich neben sie legen können, und wer weiß… Zähneknirschend trat Erik den mühsamen Rückweg ins Zwischengeschoss an.
An Regentagen war es mit Eriks Beherrschung nicht weit her und schon gar nicht, wenn sie soeben an ein absolutes Limit gebracht worden war. Von daher merkte Wolle durchaus, wie es um seinen Freund bestellt war. Er war selber ziemlich übermüdet nach dem gestrigen Tag und dem Fall am Morgen, weshalb er seine gewohnte Zurückhaltung nicht wirklich im Griff hatte. »Meine Güte, wie hältst du das nur aus?«, meinte er kopfschüttelnd.
»Fast gar nicht mehr«, kam es gepresst von Erik, und er starrte düster hinaus in den herbstlichen Garten, die Hände um die Armstützen des Rollstuhles geklammert.
»Oh Mann.« Mehr sagte Wolle nicht.
Am späten Nachmittag lief Wolle Freya in der Klinik wieder über den Weg, und er sah gleich, dass etwas passiert war. Aber sie wich seinem fragenden Blick aus und verschwand wortlos im Krankenzimmer ihrer Freundin. Da beschloss er, auf sie zu warten, anstatt nach Hause zu gehen.
Sandra war wach und sah schon etwas besser aus, stellte Freya erleichtert fest. »Du wirst heute Nacht noch zur Beobachtung hierbleiben, aber morgen kannst du gehen. Du kannst erstmal mit zu uns kommen, bis sich die Wogen etwas geglättet haben, okay?«
»Aber… aber bei euch ist doch gar kein Platz für mich«, erwiderte Sandra verzagt. Sie wusste genau, wie das bei Freya und Erik lief oder halt nicht lief.
»Doch, doch«, beruhigte Freya sie. »Wir kriegen das schon hin. Deine Nachbarin schickt dir ein paar Sachen her, ich habe vorhin mit ihr telefoniert. Ruh dich aus, schlaf, so viel du kannst, ja?« Derart überzeugt, schlief Sandra tatsächlich bald wieder ein, und Freya konnte sie guten Gewissens allein lassen. Tief durchatmend lief sie den Gang hinab, nur um gleich darauf wieder in Wolle hineinzulaufen. Der hatte auf sie gewartet, wie es schien.
»Hey, was ist los? Gab’s Zoff?«
Unter seinem Blick musste Freya schlucken. Die Sorge stand ihm diesmal deutlich ins Gesicht geschrieben, viel mehr als sonst. In der Regel beherrschte er sich fast perfekt, doch ihr machte er nichts vor, das hatte er noch nie vermocht. Geschlagen nickte sie auf seine Frage, und sie ließ es auch zu, dass er sie beim Arm nahm und in die Besucherecke führte, wo jetzt, am späten Sonntagnachmittag, niemand mehr war.
»Also, was ist los?« Er setzte sich ihr gegenüber, stützte die Arme auf die Knie und schaute sie forschend an.
Freya biss sich auf die Lippen. »Wir hatten Streit. Er will nicht, dass ich mein Bett an Sandra abtrete, und ich will nicht, dass sie auf dem Sofa schlafen muss. Das ist nicht sehr bequem. Aber er will auch nicht, dass ich unten schlafe. Da ist er beinahe ausgerastet. Was ist nur los mit ihm? Je düsterer das Wetter wird, desto schlimmer wird seine Laune.«
»Herrje.« Wolle überlegte angestrengt, was er sagen sollte. Aber es half wohl nichts. Sie fest ansehend, sagte er: »Na, du bist los. Das ist doch ganz offensichtlich. Du bringst ihn immer mehr an den Rand seiner Beherrschung. Es quält ihn regelrecht. Merkst du das denn nicht?« Die letzten Worte waren viel, viel heftiger herausgekommen als beabsichtigt.
Entsprechend fuhr Freya zurück, als hätte er sie geschlagen. Sie wurde totenbleich, sprang auf und lief ans Fenster. Dort stand sie schwer atmend an die Scheibe gelehnt und starrte hinaus in die Dunkelheit. Ihr Atem schlug sich auf dem Glas nieder, und so sah sie nicht, wie er sich langsam erhob und nähertrat. Sie zuckte zusammen, als sie ihn dicht hinter sich hörte: »Es tut mir leid. Ich will dich gewiss nicht quälen, aber denk auch mal an ihn, wie es ihm ergehen muss. Es geht hier nicht nur um dich Freya, sondern auch um ihn. Er hat auch gelitten, zwar anders, aber er hat es, und er kämpft immer noch damit.«
»Ich weiß«, hörte sie sich flüstern. Sie boxte mit der Faust in die Scheibe, ganz leicht nur, aber das genügte, ihn zurücktreten zu lassen. »Glaube mir, ich weiß es!«
»Dann tu endlich etwas, überwinde dich! Er ist doch keines von diesen Ungeheuern, sondern nur Erik. Unser Erik. Du hast nichts zu befürchten von ihm. Oh Himmel!« Er konnte gar nicht glauben, dass er das sagte, rieb sich fassungslos über das Gesicht.
»Ich weiß«, flüsterte Freya.
Wolle war zurückgewichen. »Vielleicht… magst du ja mal darüber nachdenken.«
Ich tue nichts anderes, dachte Freya. Aber Wolle war noch nicht fertig. »Ich möchte nur, dass du weißt… falls es gar nicht mehr geht, dann kannst du… ich meine…« Er geriet doch tatsächlich ins Stottern.
Freya schloss die Augen und schluckte. »Ich weiß.« Natürlich, sie wusste das alles. Zitternd atmete sie ein. Aber umdrehen tat sie sich nicht. »Es… es tut mir leid. Es ist bestimmt nicht leicht, immer das fünfte Rad am Wagen zu sein. Aber ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht. Das möchte ich dir nicht erklären.« Still stand sie da und wartete, dass er etwas sagte. Doch es kam nichts, und als sie sich nach langer Zeit endlich umdrehte, stellte sie fest, dass er gegangen war.
