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Vorweihnachtszeit in der kleinen Stadt. Für Freya und ihre Kollegen bedeutet der alljährliche Wahnsinn der Feiertagssaison jede Menge Überstunden in einer Stadt vollgestopft mit mehr oder weniger betrunkenen Touristen. Doch eines Morgens findet Freyas Nachbarin eine Tote vor der Haustür. Sofort wird Freya klar, die junge Frau ist einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen. Freya nimmt sofort die Ermittlungen auf. Die Spuren führt geradewegs in das weihnachtliche Chaos der Altstadt. Schnell wird klar, die junge Frau war nicht das erste Opfer. Treibt ein Serienvergewaltiger sein Unwesen? Freyas dritter Fall in der kleinen Stadt
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Katas Ellie
In unserer
kleinen Stadt
…
kommt der Weihnachtsmann
Impressum
Texte: © 2025 Copyright by Katas Ellie
Umschlag: © 2025 Copyright by Katas Ellie
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Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie
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Es war eine ziemlich fröhliche Frauenrunde, die sich von der Firmenweihnachtsfeier auf zu einem der diversen Weihnachtsmärkte machte, um dort einen letzten Glühwein zu trinken und sich vielleicht noch ein paar Krapfen oder gebrannte Mandeln, die am nächsten Tag schwer im Fitnessstudio wieder abgebüßt werden mussten, einzuverleiben.
Die Mädels waren guter Dinge. Sie hatten phantastisch gegessen, dem Chef dabei zugesehen, wie er sich bei steigendem Pegel gehörig blamierte – aber nichts im Gegensatz zur Chef-Sekretärin, diesem alten Drachen, die hatte wirklich den Vogel abgeschossen! – und lästerten und kicherten frei darüber, während sie sich am besten Glühweinstand der Stadt noch einen einschenken ließen, natürlich mit Schuss.
Doch wie das so war bei Weihnachtsmärkten, irgendwann wurde ihnen kalt, denn es fing an zu nieseln. Zudem drückte die Blase, und die Mädels beschlossen, es für diese Nacht gut sein zu lassen. Aber bevor sie sich auf den Heimweg machten, gingen sie gemeinsam auf die öffentliche Toilette, besser war das im Dunkeln, auch wenn das so spätabends kein angenehmer Ort war. Die Erste war schon fertig und ging naserümpfend nach draußen, während die anderen noch anstanden. Dass es aber auch keine sauberen Klos geben konnte!, dachte sie und schüttelte sich, in die feuchten Hände blasend wegen der Kälte, denn die Papierhandtücher waren natürlich alle gewesen.
Eigentlich war dieser Weihnachtsmarkt sehr hübsch. Auf einem kleinen, gemütlichen Platz in der Altstadt gelegen, war er wie ein Winterwald aufgebaut, und so hieß er auch, Winterwald. Eine dicke Lage Hackschnitzel auf dem Boden, überall Tannen, die kleine Nischen bildeten. Darin gab es Stehtische, teilweise bestückt mit Tischfeuern, an denen man sich wärmen konnte, und jede Menge warme Lichter. Richtig kuschelig. Aber die Toiletten… igitt! Versifft wie überall.
Zitternd im eiskalten Nieselregen stehend, zog die junge Frau ihre Handschuhe wieder über und hielt einen Moment irritiert inne, als sie mit einem Mal einen roten Punkt auf dem Boden bemerkte. Der wechselte rasch von rot zu grün zu blau und gelb, bildete Formen einer Schneeflocke und lief von der Tür weg. Nanu?, dachte sie und schaute neugierig hinterher. War da jemand? Das Ganze entwickelte sich zu einem kleinen Lichterspiel in den mit Kunstschnee bestäubten Tannen und warf lange Streifen in den Nieselregen. Das sah toll aus. Sie machte ein paar schwankende Schritte, denn sie hatte schon tüchtig einen intus, auf die Lichter zu. War da jemand? Sie sah eine Gestalt, und sie lachte auf, als sie ein rot-weißes Kostüm erblickte.
»Hohoho!«, rief der Weihnachtsmann und kam grinsend auf sie zu. Er packte sie am Schal, hob die andere Hand. Sie fühlte einen Stich, ganz kurz nur. Instinktiv wollte sie sich wegdrehen, doch dann wurde ihr schwindelig und schließlich schwarz vor Augen.
»Du schaffst das«, sagte Freya zu Sandra. Sie standen mit Anwältin Vero vor dem Gerichtssaal des Amtsgerichtes im Bezirk Mitte ihres ehemaligen Arbeitgebers, der Großstadt. Beide im Kostüm, wie sie das immer machten, wenn sie vor Gericht zu einem ihrer Fälle aussagten. Doch diesmal ging es um mehr, sehr viel mehr. Es ging um Sandra. Sandra, deren Arm immer noch im Gips war und die ihn gut sichtbar mit einer Schlinge über dem Kostüm trug. Und um dieses Arschloch von Ex-Freund mit seiner reichen Mutter, der sie überfallen hatte. Es gab ein Strafverfahren wegen Drogenhandel, Amtsmissbrauch und Waffenschieberei gegen ihn, aber da der Überfall auf Sandra nicht direkte Folge dieser Straftat war, konnte Sandra nicht als Nebenklägerin auftreten, sondern es gab ein zweites Verfahren, das parallel stattfand. An sich schon erstaunlich, denn für gewöhnlich dauerte es lange, sehr lange, bis es überhaupt zur Verfahrenseröffnung kam angesichts der überlasteten Amtsgerichte.
Aber in diesem Fall war jede Menge Politik im Spiel, und das Ansehen der Polizei war in Gefahr. Weshalb man dieses Verfahren möglichst still und geräuschlos abwickeln wollte. Deshalb war bereits wenige Wochen nach Aufdeckung der Straftat von Danilo Anklage erhoben worden. Polizisten, welche sich aus der Asservatenkammer bedienten, beschädigten den Ruf der Truppe. Solche, die mit den Drogen und Waffen handelten, die sie eigentlich aus dem Verkehr ziehen sollten, umso mehr.
Sandras Verfahren schloss sich nahtlos an das eigentliche Strafverfahren an, das hatte Vero erreicht, wie auch immer sie das hinbekommen hatte. Sie hatte durchgesetzt, dass Sandra vom Staat eine finanzielle Opferunterstützung erhielt, auch Mittel, um ihre körperliche und psychologische Behandlung zu finanzieren, denn sie befand sich mittlerweile in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Der Bruch ihres Handgelenkes verheilte nur schlecht und würde sie noch einige Zeit ausfallen lassen. Psychologin Esther, die eigentlich nur einen Freundschaftsdienst mit ihrer Betreuung leistete, stellte nun Rechnungen für die Behandlung und bekam die auch bezahlt. Und spendete das Geld postwendend an ein Kinderheim. So wirkte es schwerwiegender, sagte Vero, und sie vertrauten ihr da vollkommen.
Vero hatte auch einen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit stellen wollen, um Sandra die Aussage im Beisein von Danilo und dessen Mutter zu ersparen. Sie wussten alle, wie schwer es eh schon für die Opfer einer Gewalttat war. In der Vergangenheit war es den Opfern häufig nicht erspart geblieben, den Tätern im Gerichtssaal gegenüberzusitzen und ihre Pein zu wiederholen. Retraumatisierung nannte man das, vor allem, weil die Verfahren oft Monate, wenn nicht gar Jahre später stattfanden. Das war für sämtliche Opfer, als würden sie das Erlittene noch einmal erleben müssen. Vor allem, weil nach so langer Zeit häufig Unstimmigkeiten auftraten, Gedächtnislücken. Umgekehrte Täter-Opferdarstellungen. Viele Richter – und Richterinnen – ließen zu, dass die Schuld auch bei den Opfern gesucht wurde. Freizügiges Verhalten, knappe Kleidung, Blicke, all dies.
Vero hatte sich auf solche Fälle spezialisiert, sie galt in Anwalts- und Richterkreisen als harte Gegnerin, die sich auch nicht davor scheute, die Justiz selber auf Schadensersatz zu verklagen, wenn es ihrer Meinung nach nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Sie war Mitglied in diversen Opferverbänden und half aktiv mit, die richtige Anwendung der Gesetze zum Schutz der Opfer, die es eigentlich schon seit Jahren gab, durchzusetzen, vor allem in den Köpfen. Mit Erfolg. Inzwischen setzte nach und nach in der jüngeren Richtergeneration ein Umdenken ein, und sie nahmen auf Opfer mehr Rücksicht.
Aber Sandras Fall war anders. Sie hatte sich ganz bewusst für eine Aussage in der Öffentlichkeit und im Beisein von ihrem Ex entschieden. Das war ihre Rache. Sie wollte, dass der Gerichtssaal brechend voll war mit all den Kollegen, seinen vor allem, aber auch ihren, mit den Pressevertretern, mit der Mutter von ihm und ihren Freunden. Alle sollten mitbekommen, was geschehen war. Und dann wollte sie ihn fertigmachen. Denn das würden sie, egal, was die gegnerische Seite über Sandra sagte, das war ihnen klar. In den vergangenen Wochen hatten sie eine Allianz geschmiedet, Sandra, Vero und Freya, eine, die auf einem gleichgelagerten Grundverständnis für Recht und Unrecht basierte. Hatten eine Opfergruppe innerhalb der Polizei gegründet, wegen Sandra und wegen ihres toten IT-Kollegen Tick, der so viele Kolleginnen gegen ihren Willen betäubt und missbraucht hatte. Eigentlich, so resümierte Freya, hätten sie mit Vero schon viel eher zusammenarbeiten müssen. Vero war jedoch selten in der Großstadt tätig, ihre Kanzlei lag ein Stück entfernt. Weshalb sie sich im Job nie begegnet waren.
Ein Polizist öffnete ihnen und nickte ihnen zu. Sie kannten sich, natürlich taten sie das. Der Gerichtssaal war bereits brechend voll, als die drei Frauen ihn betraten. Allenthalben bekannte Gesichter. Und, wie Freya mit leisem Amüsement feststellte, die meisten Wachen an den Wänden rings herum waren entweder Frauen oder Männer, die sie eindeutig ihrem Lager zuordnete. Ganz sicher aber nicht Danilos Kumpels. Ein eindeutiger Wink aus den oberen Etagen der Polizeiorganisation, das mochte Freya wetten.
Rasch ließ sie ihren Blick über die Zuschauerreihen schweifen. Ganz hinten in der Ecke entdeckte sie ihre Freunde. Alle waren da, Erik, Hardi und Marita, Timo und Wolle und dessen Vater Jürgen. Psychologin Esther saß bereits vorne in der Zeugenbank, genauso wie Claudia, Sandras behandelnde Ärztin aus der Notaufnahme. Freyas Chef Dirk Olsen war gekommen, und sie entdeckte die Kollegen aus der IT unter den Zuschauern.
Einen Moment lang hielt Freya Eriks Blick fest, stärkte sich auch damit. Er wirkte besorgt, natürlich war er das. Die Nervosität der Freunde war gut zu spüren, auch wenn ein Fremder ihnen das nicht angesehen hätte. Die sonst so fröhlichen, lebhaften Mienen regungslos, wie versteinert. Diese in sich geschlossene Gruppe in der Ecke fiel ein wenig auf, denn sonst saßen nur einzelne Journalisten und jede Menge Polizisten in Uniform im Saal, von daher drehte sich der eine oder andere auch mal zu ihnen um und fragte sich, wer das wohl war.
Dann gingen die Türen erneut auf und herein kamen zwei Polizisten, die Danilo zwischen sich führten. Auf Handschellen hatten sie verzichtet, aber er wurde bewacht, selbst, als er sich setzte. Dahinter kamen der Anwalt und die Mutter von ihm, eine sichtlich blond gefärbte, ziemlich überschminkt wirkende Frau mit harten Gesichtszügen und einer Menge Schmuck über dem edlen Kostüm. Sie setzte sich auf seiner Seite auf den Platz der Zeugen, die einzige Person, die dort saß. Ha, dachte Freya. Es hatte sich wohl kein anderer gefunden, der für ihn aussagte! Sehr gut! Während ihre Seite mit ihr selber, Esther, Claudia und weiteren Personen gut gefüllt war.
Sandra betrachtete ihn aus schmalen Augen. Er hatte abgenommen, hatte Schatten unter den Augen, weil er nicht richtig schlief und krank war. Keine Drogen mehr für Danilo. Und eine kaum verheilte Platzwunde auf der Oberlippe. Ha! Die stammte aus dem Knast, das mochte sie wetten und merkte, wie ihre Nervosität etwas schwand.
Alle möglichen Szenarien hatten sie vorab durchgespielt. Sandra würde sich viele Fragen gefallen lassen müssen zum Inhalt ihrer Beziehung, warum sie diese überhaupt eingegangen war. Das war der wunde Punkt an der ganzen Geschichte, und Vero war darauf herumgeritten, bis Sandra geheult hatte, unterstützt von Esther. Bis sie sattelfest in ihren Erwiderungen war, bis hin zu dem Vorwurf, dass der Überfall einem anderen zuzuschreiben war und sie Danilo nur die Schuld in die Schuhe schieben wollte.
Der Richter war eine Richterin, eine ältere, ziemlich erfahrene wirkende Frau. Die Beisitzer waren Männer, doch das störte in diesem Fall nicht. Das Verfahren wurde eröffnet, die Klageschrift verlesen. Danilo durfte eine Stellungnahme abgeben, was er jedoch nicht tat, er schwieg. Feigling, dachte Freya, aber sie ahnte, dass sein Anwalt ihm dazu geraten hatte.
Dann ging es los, und das war wie eine präzise Abfolge gezielter Schläge auf Sandras Gemüt. Das machte der Anwalt absichtlich. Die intimsten, perfidesten Fragen musste sie sich gefallen lassen. Unter anderem, ob sie es genossen hatte, mit ihm ins Bett zu gehen. Er wollte sie aus der Fassung bringen, und darin war er gut, keine Frage. Aber Sandra war vom Fach, und sie war von einem absoluten Profi vorbereitet worden. Weshalb sie keinen Zentimeter von ihrer Geschichte abwich, sich auch nicht die Worte im Mund herumdrehen ließ, was Vero durch entsprechende Einsprüche abwehrte. Sie blieb absolut bei der Wahrheit.
»Nein, ich habe es nicht genossen, mit ihm im Bett zu sein. Am Anfang war er ganz nett. Aufmerksam. Aber bereits beim ersten Mal ging mir auf, dass er rücksichtslos war. Er hat keine Rücksicht auf meine Bedürfnisse genommen. Weshalb ich ihn danach zurückgewiesen habe. Aber er kam immer wieder an und hat mich regelrecht erpresst mit der Geschichte, dass er mir Geld geliehen hat. Dass er allen von meiner Herkunft erzählen wollte, dass ich die Tochter einer Nutte bin. Ich bin darauf eingegangen, weil ich nicht wollte, dass er das unter den Kollegen breittritt. Und das war der größte Fehler meines Lebens.«
Das Ganze gipfelte darin, dass er vermutete, Sandra habe diese Geschichte nur fingiert, um an sein Geld heranzukommen. Das löste eine Welle von fassungslosem Gemurmel im Gerichtssaal aus, was die Richterin mit einer strengen Mahnung an alle unterband. Darauf erwiderte Sandra nur kühl: »Wie fingiert das war, wird Ihnen meine Anwältin gleich auseinandersetzen.«
Als er endlich von Sandra abließ, war die Spannung im Gerichtssaal kaum auszuhalten, denn jetzt kam Vero, und sie begann zur Überraschung aller nicht mit Sandra, sondern mit deren Nachbarn, die den Streit an jenem Abend mitbekommen hatten. Sie setzte es chronologisch fort. Wie Sandra unzureichend gekleidet aus ihrer Wohnung geflohen und stundenlang bei der Kälte durch die Gegend gelaufen und gefahren war, um sich zu ihrer Freundin in Sicherheit zu bringen. Sie bat Freya, ihr zu schildern, in welchem Zustand sie dort eingetroffen war. Claudia sagte aus, welche Verletzungen sie festgestellt hatte. Der DNA Abgleich hatte einen eindeutigen Treffer mit Danilos Abstrich ergeben. Das wollte der gegnerische Anwalt gleich zerlegen, weil sie ja vorher mit ihm intim gewesen war, doch Vero ließ ihm keine Chance, denn sie setzte die Aufzählung fort mit den Spurenergebnissen aus Sandras Wohnung, mit den Zerstörungen dort und Blut und Sperma, ersteres von beiden. Sie hatte außerdem eine Zeugin aufgetan, welche Danilo an jenem Abend hatte zurückkehren sehen. Das wurde so wasserdicht, dass dem generischen Anwalt bald nichts mehr einfiel, und Vero war noch nicht fertig. Denn jetzt rief sie wieder Freya auf und bat sie, ihr eine professionelle Einschätzung von Danilo darzulegen.
»Einspruch«, sagte der Anwalt sofort. »Diese Person ist als beste Freundin der Klägerin befangen.«
Doch Freya setzte sich in den Zeugenstand und ließ sich nicht beirren. »Was ich hier als Zeugin abgebe, ist nicht nur meine Einschätzung, sondern auch in Zusammenarbeit mit dem Polizeipsychologen des hiesigen Reviers entstanden. Er steht als Zeuge zur Verfügung. Alles in allem lässt sich zusammenfassen, dass der Beklagte niemals Polizist hätte werden dürfen und es auch nur geworden ist, weil sein Vater einst einen hohen Rang im Apparat bekleidet hat, wenn auch nur kurz, bevor er in die Politik gegangen ist. Das sind keine Gerüchte. Das haben wir in schriftlicher Form vorliegen. Lassen Sie mich nun darlegen, wie diese Einschätzung zustande gekommen ist.«
Was jetzt folgte, war das Ergebnis mühevoller Detailarbeit, und vor allem, eine kräftige Abwatsche an die Vorgesetzten. Alle Fälle von Danilo hatte sie sich in den vergangenen Wochen noch einmal vorgenommen, und sie war fassungslos darüber gewesen, wie viele Fehler sie in seinen Akten gefunden hatte. Schlampige Arbeit, durch und durch, teilweise mit fatalen Folgen, weil nicht nur ein Prozess geplatzt war. All dies listete sie nun auf, aber auch über ihn selber sprach sie, über seine Geltungssucht, darüber, dass er jemanden gebraucht hatte, den er unterdrücken konnte. Sandra war das perfekte Opfer für ihn gewesen.
»Sehen Sie«, sagte sie in einer etwas ruhigeren Stille, denn ihre harten Worte waren oft von Raunen und Geflüster begleitet gewesen, »als Polizistin, besonders solche wie wir mit einer psychologischen Ausbildung, denkt man, man sei gegen so etwas gefeit. Doch es ist wohl so, dass man im Bezug auf sich selber oft blind ist. Oder andere Maßstäbe anlegt. Ich kenne dies von mir selbst auch. Um es zusammenzufassen, er hat sie erpresst. Nicht direkt, aber indirekt. Sehr subtil, sehr perfide. Das Ganze eskalierte, als seine Mutter ihm ein Ultimatum gestellt hat, sich endlich eine eigene Wohnung zu suchen. Doch das konnte er nicht. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass er in den letzten Monaten so sehr über seine Verhältnisse gelebt hat, dass es kaum für das Nötigste gereicht hat. Sein Drogenkonsum fraß alles auf. Das hat er gut versteckt, sogar sehr gut. Er kannte das Milieu, er kannte die Mittel und Wege, dies vor den Kollegen zu verbergen. Aber als Frau Meurer ihn nach dem Ultimatum seiner Mutter zurückgewiesen hat, stand er plötzlich vor dem Nichts, einem unüberwindlichen Hindernis. Und für ihn gab es nur einen Weg da raus, und das war Gewalt. Meiner Meinung nach hat er nie Konsequenzen für sein Verhalten erfahren, weder als Kind, noch als Erwachsener, ob zuhause oder im Job, weshalb er so reagiert hat. Und das liegt ganz klar in seiner Vergangenheit begründet und damit in der Erziehung seiner Eltern.« Jetzt schaute Freya die Mutter an, eine Härte im Blick, da lief es nicht nur einem kalt den Rücken herunter. »Sie haben zu spät eingegriffen, und Frau Meurer trägt nun die Folgen davon.«
Einen Moment war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Danilo starrte stur auf die Tischplatte, aber die Mutter spießte Freya mit ihrem Blick förmlich auf. Sie kreischte los und sprang auf. »Das hat sie nur gemacht, damit sie an seine Kohle kommt, anders kann es nicht sein! Das sind infame Lügen, die du da erzählst, du Miststück! Nicht besser als sie bist du, diese Tochter einer Hure, na warte…« Sie machte einen Satz, den man einer solch fein gekleideten Person gar nicht zugetraut hätte, und stürzte sich auf Freya. Aber die hatte das schon kommen sehen und war im letzten Moment vom Stuhl heruntergewichen, sodass die ausgefahrenen Krallen der Frau sie nicht trafen. Stattdessen schlugen die Hände mit einem unangenehmen Knirschen auf die Tischplatte, und sie brach sich ein paar der sorgfältig lackierten Fingernägel ab.
Die Richterin war ebenfalls aufgesprungen. »Diese Frau wird aus dem Gerichtssaal entfernt. Sofort!«, ordnete sie an. Danilo schaute betreten zur Seite, während Freya und Sandra mit einiger Genugtuung zusahen, wie die Frau von zwei Polizistinnen an den Armen gepackt und unter einigem Kreischen aus dem Saal gebracht wurde. Nicht nur einer im Saal hatte sich erhoben, um besser zu sehen. Freya sah, wie Erik sich auf seine Krücke stützte, besorgt zu ihr spähend. Sie blinzelte ihm unmerklich zu, bevor sie sich wieder der Richterin zuwandte. »Da kommt eine Anzeige wegen Beleidigung und Angriffs auf eine Staatsbeamtin hinzu«, sagte sie gelassen, strich ihr Sakko glatt und setzte sich wieder. Einen Moment überlegte sie und fing Veros unmerkliches Nicken auf. Mach weiter, hieß das. Die Richterin rief alle dazu auf, sich wieder zu setzen.
Freya fuhr fort: »Es stehen noch viele weitere Details in dem Gutachten, das ich dem Gericht hiermit übereiche. Abschließend aber möchte ich sagen, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass er dachte, er würde über den Dingen stehen. Dass nichts und niemand ihm etwas würde anhaben können. Weil ihm immer der Weg bereitet worden ist.« Freya sah kurz zu Danilo. »Ich stehe jetzt für Fragen der Verteidigung zur Verfügung.«
Der Anwalt brauchte doch einen Moment, sich zu sammeln. Dann ritt er wieder auf der Tatsache herum, dass Sandra ja mit ihm eine Beziehung gehabt hatte. Doch da war Freya in ihrem Element. »Es gibt jede Menge Arten des Missbrauchs, körperliche wie seelische«, erwiderte sie scharf. »Und fast alle Opfer erleiden sie von Menschen, die mit ihnen in einer wie auch immer gearteten Beziehung stehen. Kinder von ihren Eltern. Von Betreuern. Frauen von ihren Männern. Männern von ihren Frauen. Pflegebedürftige von ihren Pflegern. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen bis hin zu solchen Menschen, die sich die Beziehung nur einbilden und sich dann mit Gewalt nehmen, was ihnen ihrer Meinung zusteht. Doch nur weil man eine Beziehung hat, gibt es einem noch lange nicht das Recht, sich an jemand anderem zu vergreifen, Gewalt anzuwenden. Und Frau Meurer ist Gewalt angetan worden, in mehr als einer Hinsicht. Ihr Fehler war nur, dass sie das nicht rechtzeitig unterbunden hat. Und zur Anzeige gebracht. Das liegt auch ein wenig in der Kultur unserer Behörde begründet. Solche Dinge werden immer noch totgeschwiegen. Die Opfer gemobbt, es wird ihnen nicht geglaubt. Versetzung, schlimmstenfalls Degradierung und eine Menge übler Nachrede sind die Folge, und damit spielen diese Menschen, ganz klar. Es liegt in der Verantwortung der Führung, dieses zu ändern, und genau deshalb findet dieses Verfahren auf Wunsch von Frau Meurer nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Damit sich etwas ändert. Auch wenn das schwer, sehr schwer für Frau Meurer ist, sie wollte damit ein Zeichen setzen«, schloss Freya und übergab die Akte dem Gericht, den gegnerischen Anwalt komplett ignorierend.
Dem hatte es die Sprache verschlagen, und das nutzte Vero für den Vernichtungsschlag. »Da der Beklagte sich über all die Jahre ja so hervorragend aus der Staatskasse bedient hat und damit so seine Sucht und viele andere Dinge seines Lebens finanziert hat, beantragen wir, dass die Ermessensgrundlage für die mögliche Entschädigungszahlung an Frau Meurer nicht nach dem Tagessatz seines Polizistengehaltes, sondern nach dem realen Einkommen, legalem wie illegalem, berechnet wird. Dazu rechnen wir die kostenfreie Wohnstätte im Haus der Mutter, das Fahrzeug, das sie ihm gestellt hat und noch ein paar andere Dinge. Eine Auflistung über die höchst wahrscheinlich erzielten Verkäufe aus der Asservatenkammer ist Ihnen bereits von den ermittelnden Beamten übergeben worden. Dazu möchte Frau Meurer noch etwas sagen.«
Die Richterin sah Sandra an. »Ja, bitte?«
»Danilo hat immer wieder auf meine kaputte Herkunft angespielt, dass ich kein Geld hätte, nichts zu bieten. Nun, das mag sein. Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Doch ich habe mich aus diesem Sumpf befreit, auch Dank der Hilfe meiner Freunde. Auch mit seiner. Meine Schulden habe ich längst bezahlt. Das hat er nicht begriffen. Er dachte wohl, ich hätte mich an ihn verkauft. Doch das habe ich nicht, und ich werde es auch künftig nicht. Von dem Geld, das er mir als Entschädigung in einem möglichen Urteil zahlen muss, möchte ich keinen Cent für mich selber verwenden. Ich werde alles spenden an das hiesige Frauenhaus, damit auch künftig Frauen eine Chance haben, sich aus solchen Lagen zu befreien. Denn das habe ich, in mehrfacher Hinsicht. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Normalerweise wurden in deutschen Gerichtsverfahren viele Verhandlungstage angesetzt, Kläger und die Gegenseite gehört, Zeugen befragt. Doch in diesem Fall war alles sehr komprimiert, die Beteiligten sich der Brisanz des Verfahrens wohl bewusst. Da spielte auch eine Menge Politik im Hintergrund mit, weshalb das Urteil noch am selben Tag gefällt wurde.
Danilo wurde für schuldig befunden und zu einer sehr hohen, beinahe sechststelligen Geldsumme verurteilt. Da spielte auch mit rein, was die Mutter ihm im Laufe der Zeit alles übertragen hatte. Auch zur Zahlung der gegnerischen Anwaltsgebühren und der Prozesskosten wurde er verurteilt, sodass Sandra keine Schulden machen musste. Wie auch immer er das alles bezahlen sollte. Das war nicht Sandras Problem.
Stumm zogen sich die drei Frauen nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal zurück, durch eine Seitentür, allen anderen, den Kollegen, der Presse, den Freunden ausweichend. Jetzt, da es vorbei war, spürte Freya, wie Sandra die Kräfte zu verlassen drohten, und das sollte keiner mitbekommen. Beim Hinausgehen sah sie zu ihren Freunden hinüber. Eriks Blick schimmerte, er wirkte stolz. Marita lächelte spöttisch, genauso wie Jürgen. Wolle dagegen hatte das Gesicht in den Händen vergraben, sichtlich fassungslos. Während Timo zu Vero hinüberstarrte mit einem Gesicht, das konnte Freya nur als versteinert bezeichnen.
Vero brachte sie zu ihrem Auto, sie fuhr sie nach Hause, es lag ja auf dem Weg. Freya schickte Erik eine Nachricht aufs Handy, wo sie abgeblieben waren. Während der Fahrt sagten sie keinen Ton. Freya saß hinten, Sandra im Arm, die nur noch am Zittern war. Kraft für Tränen hatte sie keine mehr. Diese würden später kommen, das wusste Freya, und sie taten es, als sie Sandra zu Bett gebracht hatte. Es waren vor allem Tränen der Erleichterung, dass dieser Schritt geschafft war. Jetzt konnte Sandras neue Zukunft beginnen, sie lag schon auf dem Nachtschrank in Form eines Versetzungsantrages in das hiesige Revier.
Schließlich schlief Sandra ein, völlig erschöpft, und das war auch gut so, denn draußen hielt ein Wagen. Jürgen und Wolle brachten Esther nach Hause. Freya schloss fest die Tür von Sandras Gästezimmer und ging nach unten. Sie hörte, wie sie draußen berieten, ob die beiden Männer nicht doch mit reinkommen sollten, um nach Sandra zu sehen, doch das beschied Esther abschlägig. Sie hatten klare Ansage gemacht, dass Sandra niemanden sehen wollte. Als Wolle dennoch aussteigen wollte, zählte Jürgen seinen Junior an, und auch Esther gab ihren Senf dazu. Wolle hatte keine Chance. Erleichtert sah Freya, wie sie davonfuhren. Nicht auszudenken, wenn sie Wolle davon hätten abhalten sollen, nach oben zu gehen. Das konnte Sandra im Moment nicht gebrauchen!
Freya machte Esther die Tür auf. »Puh! Was wünschte ich, Inge wäre da, ihren Wolle mal zurückzupfeifen! Der kann echt anstrengend sein, Jürgen hat ihn nicht wirklich im Griff.«
»Aber du hast es«, meinte Freya schmunzelnd, und Esther lachte.
»Jaja, die Männer!«, winkte sie ab. »Und? Tränen der Erleichterung? Schläft sie? Ihr beide wart toll, echt klasse, nein, was sage ich, einfach phantastisch! Komm, Kindchen, machen wir einen Champagner auf, darauf müssen wir anstoßen! Und wenn Sandi sich wieder etwas beruhigt hat, trinkt sie einen mit!«
Was sie auch tat, weshalb Freya ziemlich beschwipst war, als sie endlich mit dem Taxi zuhause eintraf und sich einer anderen Versammlung gegenüberfand. Alle stürzten sich sofort auf sie, kaum dass sie die Nasenspitze durch die Haustür gesteckt hatte.
»Wie geht es ihr?«
»Hat sie…?«
»Was ist…?«
»Leute, Leute, lasst mich doch erstmal reinkommen!«, rief Freya und musste ein wenig lachen. Sie umarmte Erik und gab ihm einen Kuss, und er hielt sie einen Moment ganz fest an sich gedrückt. »Es geht ihr den Umständen entsprechend«, sagte sie insbesondere zu Wolle, der schon wieder aussah, als würde er gleich die Wände hochgehen. »Sie hat sich ausgeheult, dann geschlafen, und dann haben wir einen Champagner mit Esther gekippt. Du siehst also«, sie legte Wolle die Hand auf den Arm und drückte ihn, »das wird schon wieder.«
»Puh!«, machte er, sich verlegen das Gesicht reibend.
»Ihr habt sie fertig gemacht. Große Klasse!«, sagte Timo breit grinsend. »Ich wette, der gegnerische Anwalt reibt sich immer noch die Augen.«
»Er hatte keine Chance«, beschied Marita knapp. »Los, das schreit geradezu nach einem Sekt, nicht?«
»Himmel, wenn ich noch mehr trinke, fange ich an, auf dem Tisch zu tanzen«, stöhnte Freya, was von allerlei anzüglichen Scherzen erwidert wurde.
Spät in der Nacht lag sie in Eriks Armen im Bett, völlig fertig. »Und nun?«, brummte er leise und streichelte sie.
»Schlafen. Mindestens einhundert Jahre«, murmelte sie und war weg.
Am Morgen, es war ein Mittwoch, saßen Freya und Erik beim Frühstück am Küchentresen. Die heutige Tüte von Eriks mobilem Adventskalender, den Freya und Sandra ihm geschenkt hatten, lehnte an einem Stützpfeiler, um den der Tresen herumgebaut war. Es war die Siebzehn. Noch sieben Tage bis Weihnachten, bis zu Neubauers Betriebsferien und hoffentlich auch Freyas Urlaub. Sie wollten wegfahren, ein paar Tage an die See. Wenn denn Freya den Urlaub genehmigt bekam. Das stand noch nicht fest. Beide waren sie ohne Familie, es gab daher keine Verpflichtungen, was sie ganz gut fanden, wenn sie so im Freundes- und Bekanntenkreis hörten, wie viel Stress die Planungen für die Festtage für die meisten bedeuteten. In ihrem Freundeskreis gab es dagegen untereinander eine ganz klare Regel: keine Geschenke. Geburtstage ja, aber Weihnachten, absolutes NOGO. Weshalb sie beschlossen hatten, am 23. Dezember ein Schrottjulklapp zu veranstalten, mit jeder Menge Erwachsenengetränken und Spaß.
Freyas Geschenk an Erik war da die große Ausnahme. Unwissend hatte sie die Vereinbarung gesprengt, und es war für Erik ein unfassbares Vergnügen, Tag für Tag die kleinen Schätze zu suchen und zu öffnen, welche Freya und Sandra in die Tüten gepackt hatten. Für Freya bedeutete es umso mehr Vergnügen, ihm dabei zuzusehen, wie er sich freute wie ein kleines Kind. Das würde sie künftig immer so machen, dachte sie, Jahr für Jahr, und ihr wurde auf einmal ganz anders. Das hatte sie noch nie getan. In die Zukunft geblickt, Pläne geschmiedet. Diese Erkenntnis schlug so unvermittelt zu ihr durch, dass ihr einen Moment regelrecht schwindelig wurde, und das sah man ihr auch an. Lag es an der kurzen Nacht oder dem gestern Abend noch reichlich geflossenen Alkohol, auf einmal wurde sie ganz blass.
Erik ließ sein Brötchen sinken. »Was ist? Was hast du?«
»Nichts.« Sie rang sich ein etwas mühsames Lächeln ab. »Mir wird nur gerade bewusst, wie sehr ich dies alles genieße. Wie du dich freust. Und dass ich das immer wieder machen möchte, Tag für Tag, jedes Jahr aufs Neue. Dir etwas schenken.«
Seine Miene wurde weich. »Das tust du doch längst«, erwiderte er, hob die Hand und strich ihr über die Wange. »Alleine dadurch, dass du da bist.« Sie sahen sich an, und ganz viel schwebte zwischen ihnen, Dinge, die sie nicht in Worte fassen konnten.
Weshalb Freya ablenkend sagte: »Dann freu dich doch noch mehr und mach endlich die Tüte auf. Ich bin gespannt, was da drin ist.« Denn es war stets er, der die Tüten öffnete, sie sah nur zu.
Erik grinste und zog die Siebzehn heran, gespannt hineinspähend. Gleich darauf holte er mit hochgezogenen Augenbrauen einen in Zellophan eingehüllten, nackten Weihnachtsmann heraus, einen mit ordentlich Bizeps, Sixpacks und einem amtlichen Prengel. »Uih«, machte er und musste lachen.
»Von Sandra, meiner ist das nicht«, prustete Freya los. »Wenn wir den schlachten, kriege ich aber sein bestes Stück. Den Rest kannst du essen.«
»Tst, nix da! Wolle sagt, du bist wieder dünner geworden, du musst mehr essen. Der Stress mit dem Prozess, möchte ich wetten. Nein, nein, ich nehme die Beine, und du den Rest. Inklusive des besten Stückes, klar?« Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss. Einen Moment lang hielten sie sich ganz fest, und Freya dachte gerade, Mist, warum mussten sie heute arbeiten, da klopfte es plötzlich an der Tür.
Sie fuhren auseinander, obschon vorne zur Straße die Vorhänge fest verschlossen waren. »Freya?! Bist du wach?!«, rief eine ihnen bekannte Stimme.
»Ja, bin ich. Moment«, antwortete Freya laut und glitt seufzend vom Hocker. Sie ging zur Tür, schloss auf und fand sich gleich darauf ihrer Nachbarin Hannelore gegenüber, die mit schreckgeweiteten Augen bibbernd in der Kälte stand, mit nichts anderem bekleidet als einer Jogginghose und einem Fleece. »Was ist passiert?! Komm rein, es ist kalt.«
»Nein, nein, komm du lieber mit. Ich wollte nur das Altpapier von gestern Abend wegbringen, da habe ich sie gesehen. Dort hinten im Glöcknerhof liegt eine Frau. Ich glaube, sie ist tot. Kannst du kommen?«
»Tot?!« Freya war sofort hellwach. Sie schnappte sich ihr Handy und nach kurzem Überlegen ein paar Einmalhandschuhe aus der Küchenschublade. Erik war zur Garderobe gehumpelt und reichte ihr die Winterjacke und nach einem Blick auch Hannelore einen seiner Baustellenparka. »Hier, Hannchen, zieh den an, sonst holst du dir selber den Tod.«
»Danke«, bibberte die. »Was ist, kommst du?«
»Ja, geht los.« Freya griff ihre Tasche und folgte Hannelore hinaus in die Dunkelheit. Beunruhigt sah Erik ihnen hinterher. Für ihn war klar, folgen konnte er ihnen nicht, nicht zu Fuß in der Kälte. Daher machte er die Tür wieder zu und bereitete sich darauf vor, heute allein in die Firma fahren zu müssen.
Freya lief mit Hannelore die wenigen Meter durch eine Hintergasse hin zum Glöcknerhof. Der hieß so, weil hier einst die Glöckner der zahlreichen Kirchen und Kapellen gewohnt hatten, eine eigene Zunft. In dem Hof war wie in so vielen ein kleiner, privater Weihnachtsmarkt untergebracht. Die rings herum wohnenden Rentner verkauften hier selbstgemachten Punsch, andere Getränke und Weihnachtsgebäck. Ein Insidertipp innerhalb der Stadt, auch Freya und Erik und Hardi und Marita kamen regelmäßig nach Feierabend her, um sich mit den Nachbarn zu treffen und ein paar fröhliche Stunden zu verbringen. Sie hatten Strohbunde ausgelegt und einige Dächer gespannt, Heizpilze aufgestellt. Lichterketten hingen von Haus zu Haus. Es war ein Gemeinschaftsprojekt, die erwirtschafteten Überschüsse wurden gespendet an einen Verein, der Menschen in Not half. Nicht irgendwo in Übersee, sondern in der Stadt selber.
Nun jedoch lag der Platz verwaist. Eine einzelne Laterne spendete nur unzureichend Licht. Dennoch sah Freya sie sofort. Die hochhackigen Winterstiefel ragten aus einem Verschlag, in dem die Mülltonnen untergebracht waren. Müllabfuhr war in diesen verwinkelten Gassen immer ein Platzproblem, weshalb die größeren Tonnen häufig in solchen Verschlägen auf den freien Plätzen standen, damit die Müllfahrzeuge besser an sie herankamen. So auch hier. Es waren die Altpapiercontainer, und zwischen ihnen lag die regungslose Gestalt einer Frau.
»Bleib zurück«, befahl Freya Hannelore über die Schulter und schaltete die Taschenlampen-App ihres Handys ein.
Freya ahnte sofort, dass jedwede Hilfe zu spät kam. Die Frau war regelrecht blaugefroren. Keine Jacke, keine Handtasche, kein Schmuck, registrierte sie als nächstes. Und eine zerrissene Strumpfhose und Fetzen von Unterwäsche, die unter dem Rock hervorschauten. Hätte noch eine Chance bestanden, dass die Frau am Leben wäre, Freya hätte sich die Handschuhe übergestreift und diese untersucht. So aber blieb sie stehen, um keine Spuren zu verwischen, und merkte sich genau, wo sie entlang gegangen war, denn diesen Korridor mussten die Kriminaltechniker später wissen. »Verdammt.« Sie schaltete die Lampe aus und rief die Leitstelle an.
Da war ihr so schön geplanter Vormittag mit Aktensichten und Berichteschreiben erst einmal im Eimer. Der Fundort wurde gesichert, die Kollegen von der kriminaltechnischen Abteilung führten die Spurensicherung durch. Freya erbat sich auch die Anwesenheit eines Rechtsmediziners vor Ort, denn sie wollte schnellstmöglich den ungefähren Todeszeitpunkt wissen, und das ging am besten, wenn noch vor Ort die Kernkörpertemperatur festgestellt und mit der Umgebungstemperatur in eine Berechnungstabelle eingegeben wurde. Eine Rechtsmedizinerin kam ziemlich zügig hinzu, sie wohnte fußläufig in der Innenstadt. Bald war der Platz abgesperrt und von in weiße Schutzanzüge gekleideten Gestalten bevölkert, inklusive Freya, wie Gespenster sahen sie in der nebeligen Morgenkälte aus. Ein Zelt wurde aufgebaut, die Tote entkleidet, untersucht, Abstriche gefertigt, Blut entnommen und alles Weitere, was dazugehörte. Freya war in dem hiesigen Revier erst einmal an einer Ermittlung zu einem Todesfall beteiligt gewesen. Deshalb nahm sie die Gelegenheit wahr, alles genau zu beobachten. Neue Leute, andere Methoden, auch für sie gab es immer etwas zu lernen oder ihr Wissen aufzufrischen. Von daher ließ sie sich alles akribisch zeigen. Schließlich tätigte sie den entscheidenden Anruf bei der Staatsanwaltschaft, der die gesamte Sache offiziell machte: Sie hatten es mit einem Tötungsdelikt zu tun. Wobei sie gleich um den Beschluss für eine sofortige Obduktion bat. Welcher Art das Verbrechen war und ob Mord oder nicht, das war jetzt ihre Aufgabe, es herauszufinden.
Irgendwann gelangte sie ziemlich durchgefroren in die Wache. Es war noch nicht spät, erst kurz nach Schichtbeginn. Olsen sah sie hereinkommen und winkte sie in sein Büro. Seufzend streifte Freya sich ihre Jacke ab und stutzte einen Moment, als sie diese aufhängen wollte. Auf ihrem Schreitisch stand ein Blumenstrauß, ein schönes Gesteck aus Winterblumen. Nanu? Woher kam der denn? Sie konnte keine Karte entdecken. Merkwürdig. Die Kollegen sagten nichts, alle waren konzentriert am Arbeiten.
»Hey Kalle, von wem stammt der?«, fragte sie ihr Gegenüber.
»Keine Ahnung«, meinte er, abwesend tippend. »Stand schon hier, als ich reinkam.«
Na gut, dachte Freya, und lief mit einem Umweg über die Kaffeeküche zu Olsens Büro. Den Wärmeschub brauchte sie jetzt einfach.
»Danke«, brummte er etwas ungehalten, als sie ihm den Becher hinstellte, mit ordentlich Milch und Zucker. Sie wusste, seine Frau erlegte ihm strenge Pläne auf, was er essen und trinken sollte und was nicht, und Kaffee stand definitiv auf der Negativliste. Doch der war für Polizisten so lebenswichtig wie das tägliche Brot. Ohne Kaffee lief gar nichts. »Mach bitte die Tür zu.«
Oh je, dachte Freya. Also ernste Dinge zu besprechen, nicht für die Ohren Dritter bestimmt. Sie setzte sich. »Also? Unsere Unbekannte ist auf dem Weg in die Forensik. Schätzungsweise knapp über zwanzig Jahre alt, ungefähr seit Mitternacht tot, meint die Rechtsmedizinerin. Vermutlich an Unterkühlung gestorben, aber das muss sie noch bestätigen. Ich teile ihre Einschätzung. Wir treffen uns gleich drüben im Institut, um die Obduktion vorzunehmen.«
»Sexualdelikt?«
Freya seufzte innerlich. »Ja, das habe ich schon vor der Untersuchung gesehen. Kein vernünftiger Mensch geht bei den Temperaturen mit zerrissener Unterwäsche nach draußen. Aber es gibt keine Abwehrspuren. Weshalb die Blutuntersuchung umso wichtiger ist. Der Fundort ist höchst wahrscheinlich nicht der Tatort. Dafür ist es dort zu eng.«
»Gut. Du hast dich ja quasi als Ermittlungsleiterin selbst initiiert, daher mach ruhig als solche weiter. Aber deswegen habe ich dich nicht hergerufen.« Olsen setzte seine Brille ab und rieb sich die Augen.
»Sondern? Ich muss eigentlich rüber.« Gespannt lehnte sie sich vor.
»Ich habe hier die Kopie von Sandras Versetzungsantrag vorliegen. Sie hat das gleich heute Morgen an ihren Chef geschickt. Er ist stinksauer, dass ich ihm schon wieder eine wertvolle Mitarbeiterin ausspanne, hat er mir gesagt. Aber eine Wahl hat er wohl nicht.«
»Nein.« Das kam entschieden von Freya. »Denn wenn sie dortbleibt, wird das für sie zum Desaster. Da kann sie nur verlieren, und wird es auch. Sie wird ausfallen, vielleicht für immer.« Das war derselbe Hebel, den sie selber auch angesetzt hatte, um ihre eigene Versetzung zu erreichen. »Er muss sie gehen lassen.«
»Zähneknirschend.« Olsen seufzte und verschränkte die Arme. »Eigentlich macht man so etwas nicht, einem anderen Revier die Leute auszuspannen. Aber jetzt hängt mir dieser Ruf nach.«
Freya schüttelte fassungslos den Kopf. »Das machst du doch gar nicht. Wenn hier einer dem anderen Revier die Leute ausspannt, dann sind es Erik und sein Freundeskreis. Erst durch sie habe ich… sie sind halt wie eine Familie für mich geworden. Wie sie es auch für meine Schwester waren. Das haben die dort drüben nicht begriffen. Bekommst du deswegen Ärger?«
»Sagen wir mal so…«, Olsen nahm die Arme herunter und verschob ein paar Unterlagen, »es wird nicht offiziell gerügt. Aber die inoffiziellen Sachen sind manchmal viel wichtiger für eine Beurteilung als die offenkundige Aktenlage. Ich werde Sandra bestimmt nicht ablehnen. Aber euch beide zusammenarbeiten lassen, das geht nicht, denn das wäre die Steilvorlage für die Leute, die mir das vorwerfen.«
Freya hatte ihm mit gerunzelter Stirn zugehört und ging nun in sich. »Hm. Das ist schon okay, denke ich. Mal ehrlich, mir tut es ziemlich gut, dass ich mich nicht nur mit den Missbrauchsfällen befassen muss, sondern auch die Routinefälle übernehme. Auch wenn ich jetzt wieder einen aufgegriffen habe. Und es wird auch Sandra guttun. Deine Truppe kann mehr Durchmischung vertragen. Ja, mach das. Gerade jetzt am Anfang wäre es gut für sie, wenn sie mehr Abwechslung hat und auch mal mit den Kollegen tauscht. Dann gewöhnt sie sich auch wieder an den Umgang mit Männern. Mit Polizisten.«
Bei dem letzten Satz knirschte Dirk Olsen gut sichtbar mit den Zähnen, aber er nickte. »Deine Aussage im Prozess hat großen Eindruck hinterlassen. Es gibt Zeitungsartikel darüber. Karl will das Thema aber nicht aufgreifen, hat er mir gesagt, um Sandras Willen. Damit sie hier neu anfangen kann. Aber in der Truppe in der Stadt überschlagen sie sich förmlich. Danilos Akten, seine Beurteilungen, das Einstellungsverfahren, alles wird noch einmal gesichtet, wie ihr es auch getan habt. Da wird dem einen oder anderen Vorgesetzten, aber ganz besonders unserem geschätzten Innensenator ziemlich warm unterm Hintern werden. Hut ab, sage ich nur, das war brillant. Diese Dr. Lessing scheint einiges auf dem Kasten zu haben. Ihr habt ein Netzwerk gegründet, habe ich gehört?«
Das ging ihn eigentlich nichts an als Vorgesetzten, aber Freya stand mit Dirk Olsen genug auf freundschaftlichem Fuße, dass sie es wahrheitsgemäß beantwortete: »Oh ja. Ich finde, das wurde auch mal Zeit. Wir haben es in der IT angesiedelt, da lag ja der Schwerpunkt von Ticks… Umtrieben. Es haben sich bereits einige gemeldet. Sandra und ich übernehmen die psychologische… hmm… naja, nicht Betreuung. Aber Beratung, falls gewünscht, Vero Lessing die rechtliche. Damit können wir ihnen Hilfestellung geben. Wir wollen das nicht an die große Glocke hängen, falls es das ist, das du befürchtest oder einer der Oberen. Aber wer sich belästigt fühlt, sollte sich an uns wenden können.«
»Eigentlich«, mahnte Olsen, »ist für so etwas der Personalrat oder die Gewerkschaft zuständig. Die fühlen sich ziemlich auf den Schlips getreten.«
Freya schnaubte. »Die hauptsächlich aus Männern bestehen. Nein, danke! Sollen sie doch schmollen. Sie haben lange genug weggeschaut.« War’s das jetzt mit den Mahnungen?, dachte sie, allmählich ziemlich ungehalten, und das merkte er.
»Ist ja gut. Ich finde, du hast mit Sandras Verteidigung, aber auch mit deinen Fällen im Laufe dieses Jahres einen ziemlich guten Job gemacht, wenn nicht gar einen hervorragenden Job. Weshalb ich dir ein kleines Dankeschön geben möchte. Das findest du auf deinem Schreibtisch. Und außerdem, dein Urlaubsantrag über die Feiertage ist genehmigt, und zwar bis ins neue Jahr. Nimm dir frei und hab deinen Erik lieb, ohne uns alle, also möglichst weit weg, damit ich nicht in Versuchung komme, dich anzurufen, klar?« Jetzt grinste er, denn Freya war sprichwörtlich die Kinnlade heruntergefallen.
Ihr gelang gerade noch ein krächzendes Danke, dann bekam Olsen einen Anruf und winkte sie hinaus. Ziemlich fassungslos lief sie zu ihrem Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Bürostuhl fallen.
»Und, wer ist der geheimnisvolle Spender?«, fragte Kalle über den Rand seiner Brille hinweg. »Dein Schatz? Sandra?«
Einen Moment schwieg sie, während um sie herum die Ohren immer größer wurden und das Klackern der Tastaturen immer leiser. »Nein«, sagte sie schließlich. »Der ist vom Chef.«
Es wurde totenstill. Dann kam von weiter hinten ein leises »Wow!«. Sie sahen genauso fassungslos aus wie Freya, denn das hatte der Chef noch nie gemacht, und der davor auch nicht.
»Na, bei dem hast du aber ein Stein im Brett«, unkte Kalle. »Scheint, als hätte eure Verteidigung ihm bei ein paar alten Feindschaften ein wenig Genugtuung verschafft. Das flüstert man sich jedenfalls.« Letztere Worte sagte er ganz leise.
Freya rollte mit den Augen. »Die sollen aufhören, mich für irgendetwas zu instrumentalisieren! Ich will das nicht. Ihr macht genauso einen guten Job.« Weswegen sie den Blumenstrauß nahm und gut sichtbar für alle auf die mittlere Fensterbank stellte. Ein kleiner Farbkleks im winterlichen Grau, abgesehen von den ziemlich kitschigen Weihnachtsmännern und Weihnachtsbäumen, die überall herumstanden.
»Wir bekommen Weihnachten aber keinen Urlaub«, kam es von einem Schreibtisch gemurmelt.
»Ey!« Freya baute sich böse vor dem jungen Kollegen auf, der das von sich gegeben hatte. Spitzname: das Großmaul, aber eigentlich hieß er Dennis, und er war Polizeianwärter, frisch von der Schulbank sozusagen. »Ihr habt alle bereits dieses Jahr Urlaub gehabt. Ich noch nicht. Nicht einmal.« Dazu war es nie gekommen. Wegen ihrer Schwester Sunny, wegen Erik, wegen seiner Krankheit, der Reha und der Wiedereingliederung, und ihrer eigenen Genesungszeit auch.
»Schon gut, schon gut, reg dich nicht auf. Du hast es verdient«, gab er klein bei, und von Kalle kam: »Ganz genau. Und jetzt wird weitergearbeitet.«
»Jawoll!«, erschallte es überall, und die gesamte Truppe wieherte los.
Ziemlich sauer verließ Freya das Revier. Sie wollte nicht bevorzugt, herausgestellt werden. Das war nur allzu oft die Steilvorlage für Mobbing. Dann lauerten alle förmlich darauf, dass man Fehler machte, die man irgendwann unweigerlich machte. Sie wollte kein Gerede über sich. Sie wollte einfach nur ihren Job machen. Oh, hoffentlich gab es hier bald mehr Frauen!, dachte sie, als sie sich auf den Weg zum forensischen Institut begab, das Teil der medizinischen Fakultät war. An einer Obduktion nahm sie eher selten teil, das taten in der Regel die Mordermittler. Wenn sie mit den Forensikern zu tun hatte, dann wegen eines – lebenden – Missbrauchsopfers, das es zu begutachten galt.
Einmal tief durchatmend, betrat sie durch eine Automatiktür das Gebäude der medizinischen Fakultät, meldete sich an und lief durch die langen Flure hinüber in den speziell gesicherten Anbau, der das rechtsmedizinische Institut beherbergte. Sie suchte die Umkleide auf und zog sich um, wie es vorgeschrieben war.
»Sorry, der Chef hat mich aufgehalten«, entschuldigte sie sich, als sie den Obduktionssaal betrat.
Da es sich nun auch offiziell um ein Tötungsdelikt handelte, hatte Oberforensiker Martin volles Haus. Neben der Assistenzärztin, mit der Freya bereits die Leichenschau im Freien durchgeführt hatte, war auch eine Sektionsassistentin anwesend, die den Leichnam für die Obduktion vorbereitete, sowie ein Kollege von der Kriminaltechnik. Der Staatsanwalt war bereits wieder fort, musste zum Gericht, aber seine Anwesenheit war auch nicht zwingend erforderlich. Martin hatte außerdem zwei Studenten bei sich, einen jungen Mann und eine junge Frau, von denen sie sich eifrig Notizen auf einem Block machte, während er die große Digitalkamera des Krimimaltechnikers bediente. Der Student hatte einen Vollbart und lange Zottelhaare, weswegen er offenbar von Martin oder dem Kriminaltechniker dazu verdonnert worden war, die Haare besonders zu bedecken und eine Gesichtsmaske zu tragen. Ohne das sähe er so gar nicht wie ein Medizinstudent aus, sondern eher wie einer, der Sozialpädagogik studierte, dachte Freya.
Die äußere Spurensicherung war bereits im Freien abgeschlossen worden. Sie hatten jeden Quadratzentimeter der Haut nach Fasern und anderen Spuren, DNA, abgesucht. Anhand der Bilder auf dem Computermonitor konnte Freya sehen, dass die Unbekannte auch bereits in der Röhre gewesen war, einem CT. Die Assistenzärztin sprach die Erkenntnisse in ein Diktiergerät, während alle anderen die äußere Leichenschau machten.
»Fotografiere das noch einmal in der Nahaufnahme«, sagte der Techniker und deutete auf den Genitalbereich der Toten. »Achte darauf, dass es scharf ist. Wenn es nichts wird, machst du es nochmal. Und dann…«
»Ah, Freya«, unterbrach Martin ihn und winkte sie heran. »Da bringst du uns ja endlich mal einen echten Fall herein.«
Freya wusste das. Solche Fälle waren selten in ihrer kleinen Stadt, sehr selten. Viel öfter hatten sie es mit allerlei ungeklärten Todesfällen zu tun, die sich später als Unfälle, Selbstmord oder natürliche Todesfälle herausstellten. Aber nicht nur. Die Rechtsmedizin kümmerte sich auch um Untersuchungen von Gewaltopfern, Drogen- und Alkoholtests, Nachuntersuchungen von Verkehrssündern und noch ganz viel mehr. Sie hatte einen Bereitschaftsdienst, genauso wie die Spurensicherung und das Kriminalkommissariat, der im Bedarfsfall an die Orte ungeklärter Todesfälle fuhr, Beweise sicherstellte und die Erstuntersuchung vornahm. Neben Martin gab es weitere Kollegen, von denen die meisten wie er auch einen Lehrstuhl innehatten und sich mit ihm diese Dienste teilten. Das war in anderen Städten ganz anders, doch der Kostendruck in dieser relativ kleinen Universitätsstadt war hier gut zu spüren. Freya und ihre Kollegen konnten froh sein, eine solch spezialisierte und vor allem fähige Truppe in unmittelbarer Nähe zu haben und nicht von weither rufen zu müssen, wie das in manch anderen Städten und Landkreisen ringsherum der Fall war.
»Die Frage ist nur, was für einen Fall«, sagte sie und betrachtete die Tote. Eine hübsche junge Frau schätzungsweise Anfang bis Mitte zwanzig.
»Tja, das werden wir jetzt feststellen. Mal eine Abwechslung zu den ewigen Unfall-oder-nicht-Serien zu Weihnachten und Silvester.« Neben ihm gab die Studentin einen erstickten Laut von sich, was ihn zu einem strafenden Kopfschütteln veranlasste.
Freya tat die Studentin leid. Diese wirkte verdammt jung, war bestimmt gerade erst im ersten oder zweiten Semester. Aber bei allen Medizinstudenten, egal welches Fach, war die Leichensektion Pflicht und Martin mit seinem sehr speziellen Fachgebiet dafür prädestiniert, wenn auch unter den Studenten gefürchtet. »Hey, alles in Ordnung? Ist Ihnen schlecht?«, fragte sie.
Von Martin kam ein Mmpf!, aber die Studentin schüttelte den Kopf. »Geht schon«, sagte sie gepresst.
»Das ist Kommissarin von Sievers, Leute. Sie untersucht diesen Fall. Also, dann mal los, was könnt ihr der Kommissarin bereits jetzt mitteilen?«
