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Eine Eliteschule, die mehr zu verlieren hat, als ihren guten Ruf Seit Jahren kämpft die Tiffin-Academy um einen guten Rang in den Ratings – bis sie überraschend den. 2. Platz belegt. Schulleiterin Audre Robinson kann es nicht glauben, denn die Wohnheime sind renovierungsbedürftig, die Sportteams erfolglos und der Notendurchschnitt schlecht. Doch immerhin macht der Campus was her, und die glamourösen Partys an der Academy sind legendär. Aber die Tiffin hat auch ihre Skandale, die sich plötzlich über eine neue App verbreiten. Auf einen Schlag weiß der ganze Campus von der Affäre zwischen einer Lehrerin und einem Schüler, dem Suizid einer jungen Frau und dem korrupten Treiben des Präsidenten … Die Situation gerät zunehmend außer Kontrolle, und für Audre und die Academy steht alles auf dem Spiel. »Hilderbrand always gets it right.« Kirkus Reviews »Hilderbrands Bücher werden immer besser und besser.« Bookreporter
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Seitenzahl: 615
Veröffentlichungsjahr: 2025
Elin Hilderbrand | Shelby Cunningham
Roman
Elisabeth Schmalen
Für unsere geliebte Mutter und Großmutter, Dr. Sally Hilderbrand, lebenslange Pädagogin. Danke, dass du uns als starke, unabhängige Frau den Weg bereitet hast!
DIESCHULVERWALTUNG
Vorstandsvorsitzender: Jesse Eastman
Schulleiterin: Audre Robinson
Verantwortliche für Neuaufnahmen: Cordelia Spooner
Wachmann und Hausmeister: Michael James
Chefkoch: Harrison »Haz« Flanders
Schulkaplanin: Laura Rae Splaine
Collegeberaterin: Honey Vandermeid
Sportlicher Leiter: Coach Pete Bosworth
DIELEHRKRÄFTE
Simone Bergeron (Geschichte)
Felipe Chuy (Musik/Theater-AG)
Roy Ewanick (Mathematik)
Alejandro Perez (Spanisch)
Rhode Rivera (Englisch)
Kent Wully (Naturwissenschaften)
Ruth Wully (Englisch)
DIESCHÜLERSCHAFT
Fünfte Stufe (Auswahl)
Webber »Dub« Austin
Davi Banerjee
Tilly Benbow
Andrew »East« Eastman
Charlotte »Charley« Hicks
Olivia Hudezech-Tottingknaffer
Madison J. (Aufsichtsschülerin)
Willow Levy
Hakeem Pryce
Royce Stringfellow
Taylor Wilson
† Cinnamon Peters
Sechste Stufe (Auswahl)
Teague Baldwin
Lisa Kim (Vertrauensschülerin)
Ravenna Rapsicoli (Chefredakteurin des ’Bred Bulletin)
Annabelle Tuckerman
Als am Dienstag, den 2. September, um Punkt neun Uhr die Glocken der Kapelle das neue Schuljahr einläuten, rollen die ersten Wagen auf den Campus der Tiffin Academy. Jeder Schüler und jede Schülerin legt seit hundertvierzehn Jahren denselben Weg zurück: durch das schmiedeeiserne Tor, entlang der von schattenspendenden Ahornbäumen und einem weißen Zaun gesäumten Koppel, vorbei am »Teddy« (dem Edward-Tiffin-Schülerzentrum) und der »Sink« (der Mary-Tiffin-Sinclair-Bibliothek), dann über das Rondell vor dem Schulhaus, hinter dem sich die frisch gemähten Sportanlagen erstrecken, zu den Wohnheimen – Classic North (für die Jungen) und Classic South (für die Mädchen).
Mit Initialen versehene Reisetaschen, Minikühlschränke, Hockey-Schläger, Gitarrenkoffer, Schneeschuhe, Sitzsäcke, Langlaufskier, Bluetooth-Boxen, Schminkspiegel, LED-Lichtschläuche, übergroße Bettdecken, Skateboards, Roller, ein Frank-Ocean-Poster.
Audre Robinson – seit sechs Jahren Schulleiterin – hilft beim Ausladen mit, indem sie pro Auto genau ein Teil nimmt. Im ersten Jahr hatte sie in einem himbeerfarbenen Etuikleid aus Leinen und Absatzschuhen am oberen Ende der Treppe zum Schulhaus gestanden und wie eine Königin in Richtung der Wagenprozession gewunken. So hatten es auch Audres Vorgänger – allesamt weiße Männer – am Einzugstag gemacht. Aber Audre fühlte sich dabei albern und unwohl – ja sogar einsam. Deshalb tauchte sie im zweiten Jahr in Mom-Jeans und einem jagdgrünen T-Shirt der Tiffin Thoroughbreds auf (Letzteres gab es für 17,95 Dollar im Schul-Shop) und begrüßte sämtliche Jugendliche sowie deren Eltern oder Erziehungsberechtigte mit einem Lächeln, einem Handschlag oder – bei Schülerinnen und Schülern, die sie schon kannte und mochte – mit einer Umarmung sowie der symbolischen Unterstützung beim Ausladen.
Für Audre ist jedes neue Schuljahr wie ein leeres Notizbuch, eine frisch geöffnete Schachtel gespitzter Bleistifte, aber das liegt wohl am Alter. Die Jugendlichen haben bestimmt ganz andere Bilder im Kopf – vielleicht von einem neuen Google Docs auf dem Laptop-Bildschirm und einem blinkenden Cursor oben links?
Jetzt gerade denkt Audre: Es ist nichts Schlimmes passiert … Zumindest noch nicht. Niemand ist zwischen dem Frühstück und dem Gottesdienst zu ihrer Wohnung gekommen, um ihr zu sagen, dass die Tür zu Zimmer 111 South verbarrikadiert ist und Cinnamon Peters weder auf Klopfen noch auf Face-Time-Anrufe reagiert.
Sie steht immer superfrüh auf, hatte Cinnamons beste Freundin Davi Banerjee an jenem schicksalhaften Tag im letzten Frühjahr gesagt. Die anderen hatten Davi, die unangefochtene Anführerin der Jahrgangsstufe, zu Audre geschickt, um Alarm zu schlagen, weil Mr James, der Chef des Sicherheitsdienstes, erst um zehn zur Arbeit kam. Da stimmt irgendwas nicht.
Irgendwas stimmte tatsächlich nicht. Stimmte tragischerweise ganz und gar nicht.
Audre läuft es trotz der Hitze – Anfang September ist es noch hochsommerlich warm, fünfundzwanzig Grad schon um diese Uhrzeit – kalt den Rücken hinunter. Sie muss sich zu einem Lächeln zwingen, als das nächste Auto vorfährt, ein gemieteter Hyundai Sonata mit einem Nummernschild aus Georgia. Hinter dem Steuer sitzt eine Frau mit einem grau melierten Pferdeschwanz und einem Go-’Breds-T-Shirt, daneben ein Junge, der die Knie an die Brust gezogen hat. So sieht es eben aus, wenn man einen 1,93 Meter großen Hünen in einen Mittelklassewagen quetscht, denkt Audre.
Der Junge heißt Webber »Dub« Austin und ist der Quarterback der Thoroughbreds. Er schält sich umständlich aus dem Wagen, nimmt den riesigen Kopfhörer ab und schiebt sich die Sonnenbrille ins strubbelige Haar, das über den Sommer ein wenig ausgeblichen ist. Die Brille hat einen hellen Abdruck auf seinem gebräunten Gesicht hinterlassen. Was für eine Art Sommerjob Dub wohl macht, überlegt Audre. Vielleicht irgendwas im Nationalpark? Oder auf einer Farm? Schon morgen werden die Haare abrasiert sein. Dub begrüßt Audre in seinem typischen Cowboy-Slang: »Morg’n, Ms Robinson.«
»Dub!« Audre läuft um das Auto herum, um ihn zu umarmen.
In wenigen Wochen wird sie die Namen der gesamten Schülerschaft kennen, auch wenn sie bei den vielen Madisons und Olivias manchmal durcheinanderkommt. Sie bemüht sich, alle gleich zu behandeln, aber dieses Mal wecken die Schülerinnen und Schüler der fünften Stufe einen besonderen Beschützerinstinkt in ihr. Sie haben eine Menge durchgemacht.
Dubs Mutter steigt aus. Die Schüler machen sich einen Spaß daraus, alle Mütter als »Karen« zu bezeichnen, aber Dubs Mutter heißt wirklich so – Karen Austin. Sie kümmert sich allein um vier Söhne, und Dub ist der zweitjüngste. Er hat aufgrund seiner sportlichen Leistungen (und der Mittellosigkeit seiner Familie) ein Vollstipendium. Dubs ältester Bruder war im Football-Team der Colorado State University, der zweite ist Wide Receiver an der Uni in Boulder. Dann kommt Dub – doch der wahre Star ist anscheinend der Jüngste, der es schon in seinem ersten Highschool-Jahr zu Hause in Durango als Quarterback in die Startaufstellung geschafft hat.
Normalerweise merkt Audre sich nicht so viele Details über die Familien ihrer Schülerschaft – vor allem, wenn nicht mit Spenden zu rechnen ist –, aber bei den Austins gerät Coach Bosworth regelmäßig ins Schwärmen.
Jetzt umarmt Audre auch Karen, die ihr zuflüstert: »Wie geht es Ihnen?«
Audre hat damit gerechnet, diese Frage heute mehrfach gestellt zu bekommen, und sich eine Antwort zurechtgelegt, die hoffentlich den richtigen Ton trifft. (Was ist der richtige Ton, wenn eine Schülerin sich unter deiner Aufsicht das Leben genommen hat, du dich aber weiterhin um zweihundertneununddreißig andere Jugendliche kümmern musst, die eine erstklassige Bildung verdient haben?)
»Wir sind immer noch zutiefst erschüttert«, sagt sie, »schauen aber optimistisch auf das kommende Jahr.«
Mit feuchten Augen entlässt Karen Audre aus ihrer Umarmung. »Das freut mich.«
»Wie kommt Dub mit der Situation zurecht?« Audre dämpft ihre Stimme, obwohl es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass er sie hören kann. Kaum dass er aus dem Auto gestiegen ist, wird er schon von Olivia P., Madison R. und Olivia H.-T. umringt.
Karen schaut auf den Autoschlüssel in ihrer Hand. »Na ja, er ist eben mein Sensibelchen.« Dann reißt sie sich zusammen, wird wieder zur pragmatischen Teenager-Mom und ruft: »Hey, Romeo, komm her und hilf mir beim Ausladen!«
Audre öffnet den Kofferraum des Sonata. Aus einer Reisetasche ragt ein gerahmtes Foto von Dub und Cinnamon, das letztes Jahr an Halloween entstanden ist. Die beiden waren als Travis Kelce und Taylor Swift gegangen, und Dubs Hand liegt brav zwischen Cinnamons Schulterblättern. Audre muss daran denken, wie sehr sie und alle anderen auf dem Campus die beiden bewundert haben – #couplegoals.
Dub und Cinnamon waren immer zurückhaltend gewesen, hatten sich nicht in der Öffentlichkeit geküsst, ja nicht einmal Händchen gehalten. Audre hatte nie etwas darüber gehört, dass sie in den »Harkness-Club« eingetreten wären (also Sex auf den Harkness-Tischen hatten) oder sich in den Gotteskeller unter der Kapelle geschlichen hätten, obwohl sie ständig zusammen waren und unaufhörlich miteinander redeten und lachten. Cinnamon hatte bei jedem Football-Spiel mit grün-gold geschminktem Gesicht am Spielfeldrand gestanden und Dub angefeuert. Als im Highschool-Musical Grease aufgeführt wurde und Cinnamon die Sandy spielte, saß Dub bei der Premiere mit einem Strauß Supermarktrosen im Schoß in der ersten Reihe.
Bei der Gedenkfeier in der Kapelle sagte er über Cinnamon, er habe eine »Herzensfreundin« verloren. Was natürlich alle zu Tränen rührte.
Audre ignoriert die Reisetasche und greift stattdessen nach einem Karton Proteinriegel. Ihr Handy vibriert in der Gesäßtasche ihrer Jeans, doch sie kann die Nachricht erst lesen, als in der Schlange der vorfahrenden Autos eine Lücke entsteht.
Die Nachricht stammt von Jesse Eastman, dem Vorsitzenden des Schulvorstands, der überall, auch in Audres Handy, nur unter dem Namen »Big East« läuft.
Wissen Sie schon etwas Neues über das Ranking?
Audre seufzt innerlich auf.
Bevor sie an die Tiffin kam, war sie Direktorin einer Mädchenschule in New Orleans. Damals hatte sie nichts über die Existenz eines landesweiten Internats-Rankings von America Today gewusst und natürlich keine Ahnung gehabt, wie ernst der Vorstand, die Ehemaligen und die Eltern dieses Ranking nahmen.
Als Audre den Posten als Schulleiterin antrat, war die Tiffin der Inbegriff des Mittelmaßes gewesen – und selbst das nur, wenn man ein Auge zudrückte. Die Blütezeit dieses Internats war längst vorbei, der ganze Campus vermittelte den Eindruck eines in die Jahre gekommenen Luxushotels, das dringend renoviert werden musste. Doch dafür fehlte immer das Geld – das Budget reichte gerade so für den normalen Schulbetrieb, und die Lehrkräfte hatten seit vier Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen. Die Platzierung der Schule im America-Today-Ranking (das jedes Jahr direkt nach dem Labor Day veröffentlicht wurde) spiegelte einen gewissen Mangel an Elan wider: Die Tiffin landete für gewöhnlich irgendwo im unteren Bereich der Top 50, zwischen Platz sechsundvierzig und neunundvierzig – und selbst das hatte sie vermutlich in erster Linie ihrer glorreichen Vergangenheit zu verdanken.
Doch vor drei Jahren trafen sich Audre und Cordelia Spooner, zuständig für die Aufnahme neuer Schülerinnen und Schüler, mit dem New Yorker Immobilienkönig Jesse Eastman, um über seinen Sohn zu sprechen. Andrews bisheriger Bildungsweg war unkonventionell verlaufen, was nichts anderes hieß, als dass er von zwei New Yorker Privatschulen geflogen war und ihm in der dritten das gleiche Schicksal bevorstand. Audre und Mrs Spooner hatten eingewilligt, Andrew Eastman aufzunehmen – in der stillen Übereinkunft, dass die Tiffin im Gegenzug eine imposante Spende von Jesse Eastman erhielt.
Seitdem haben sie die Lebensqualität im Internat auf ein ganz neues Level heben können, was umgehend zu einer besseren Platzierung im Ranking führte. Vor zwei Jahren war die Tiffin auf Platz vierundzwanzig aufgestiegen (der Einzug in die Top 25 hatte eine ausgelassene Feier nach sich gezogen), letztes Jahr dann sogar auf Platz neunzehn (Top 20! Sie hatten die Korken knallen lassen).
Dieses Jahr sind die Erwartungen noch höher, obwohl Audre sich nicht zu große Hoffnungen machen möchte. Niemand weiß, wie das Ranking zustande kommt – oder was es wirklich bedeutet. Old Bennington und die Northmeadow – beides Mitglieder des Unabhängigen Schulverbands von New England (USNE), dem auch die Tiffin angehört – haben Platz 1 und Platz 2 für sich gepachtet, seit Audre hier arbeitet. Weitere Stammgäste im oberen Bereich der Liste sind die Phillipses (Exeter und Andover) sowie die Saints (Paul, Mark und Andrew).
Gerüchten zufolge schickt America Today Reporter an die Schulen, die sich als interessierte Eltern ausgeben. Sie nehmen an Campus-Führungen teil, besuchen Informationsveranstaltungen und stellen der Schülerschaft neugierige Fragen. Cordelia Spooner ist stets auf der Hut.
Wenn Audre ehrlich ist, macht sie das bevorstehende Ranking ziemlich nervös, vor allem nach den Ereignissen im Frühjahr. Sollte die Tiffin aus den Top 25 fallen, werden alle ihr – und ihr allein – die Schuld daran geben. Am Abend zuvor ist ihr kurz der Gedanke gekommen, dass ein dramatischer Absturz sie vielleicht sogar ihren Job kosten könnte. Sie hat ihre Angst als lächerlich abgetan, aber für Unternehmer wie Jesse Eastman gelten nur Wachstum und Erfolg. Wir müssen mindestens Platz neunzehn halten, denkt Audre, sonst bricht hier die Hölle los.
Auf Big Easts Frage antwortet sie mit einem beiläufigen Noch nicht. In seinem Trillionen-Dollar-Konzern gibt es garantiert eine Assistentin, die heute Morgen keine andere Aufgabe hat, als ein ums andere Mal auf den Aktualisierungs-Button der America-Today-Homepage zu klicken. Daher wird Big East ohnehin vor ihr Bescheid wissen.
Audre atmet tief durch. Sie riecht frisch gemähtes Gras, und vom Paddock weht der Duft von Bacon (echtem und veganem) herüber. Der Koch der Tiffin ist ein untersetzter, stark tätowierter Gentleman namens Harrison »Haz« Flanders, den Big East vor zwei Jahren aus seinem Privatclub in New York abgeworben hat. Das Essen im Paddock – einst Anlass zahlloser spöttischer Memes – ist seitdem so abwechslungsreich und schmackhaft, dass fast alle Bewohnerinnen und Bewohner des Campus, auch Audre, ein paar Kilo zugelegt haben. Zu Haz’ Spezialitäten gehören Waffeln mit Brathähnchen, selbstgemachte Focaccia und eine Salattheke voller Erzeugnisse von einem lokalen Hof, der alte Sorten anbaut. Außerdem hat der Koch einen Pizzaofen angefordert (den Big East prompt finanzierte), sodass Audre sich jeden Freitagmittag eine Rustica gönnen kann, belegt mit geräuchertem Pancetta und zerlaufendem Mozzarella sowie einer Handvoll raffiniert angemachtem Rucola. Dank Haz sind sogar die Montage erträglicher geworden: Zur Burger Night gibt es gegrilltes Angus-Rindfleisch und eine Auswahl an Belägen und Soßen, bevor man zur Piano Bar im Teddy weiterzieht. Die Piano Bar ist eine Art Spontanchor, wo der Musiklehrer Mr Chuy auf Zuruf Lieder spielt und alle Anwesenden nach Herzenslust mitsingen können.
Audre fängt an, »Tiny Dancer« zu summen, als das nächste Auto vorfährt – ein blitzblanker schwarzer Escalade mit verdunkelten Scheiben und uniformiertem Fahrer.
Davi ist da.
Das Mädchen, das jetzt aus dem Wagen hüpft, trägt eine riesige Sonnenbrille, eine weiße Low-Waist-Schlaghose und ein schulterfreies Häkel-Crop-Top. Ihr nackter Bauch ist ein klarer Verstoß gegen die Bekleidungsvorschriften (verboten: siehe Seite acht in Das Zaumzeug, dem offiziellen Tiffin-Verhaltenskodex), aber Audre ist so überrascht von Davis neuem Look, dass sie ganz vergisst, das Nichts von einem Oberteil zu kommentieren. Davi hat sich einen Großteil ihres glänzenden, hüftlangen schwarzen Haares abgeschnitten und trägt jetzt einen Bob.
Sie drückt Audre fest an sich. »Ms Robbie!« Bis auf Davi hat es in den vergangenen sechs Jahren niemand gewagt, der Schulleiterin einen Spitznamen zu verpassen, aber Audre muss sich eingestehen, dass sie ihn gern hört. »Endlich bin ich wieder hier!«
Und genau deshalb, denkt Audre, liebe ich meinen Job.
Davi Banerjee, deren Eltern das Modelabel OoO (Out of Office) gegründet haben, ist eine international bekannte Influencerin. Auf Instagram und TikTok hat sie 1,3 Millionen treu ergebene Followerinnen und Follower aus siebenundzwanzig Ländern und mehr als dreißig Werbepartnerschaften. Sie wohnt mit ihren Eltern in London, hat aber – wie Audre Davis Social-Media-Kanälen entnehmen konnte – den Großteil des Sommers in der Familienvilla in der Toskana verbracht. Anschließend folgte ein Kurztrip nach Ibiza mit ihren glamourösen Freundinnen und Freunden aus Europa.
Audre redet sich gern ein, dass Davi von allen gemocht wird, aber die treffendere Beschreibung wäre wohl »verehrt«. Davi behandelt ihr Umfeld weitgehend wohlwollend, doch Audre ist sich durchaus bewusst, dass die anderen Mädchen viel wertvolle Energie darauf verwenden, ihr zu gefallen. Es herrscht ein erbitterter Kampf um die Zugehörigkeit zu Davis innerstem Kreis. Nur eine hatte sich nie darum geschert: Cinnamon Peters, Davis beste Freundin seit Tag eins.
Nach Cinnnamons Tod hielt Davi eine Gedenkfeier ab, bat um Spenden an eine angesehene Mental-Health-Organisation und zog sich dann für eine Weile aus den sozialen Medien zurück. In den darauffolgenden Tagen dachte Audre mehr als einmal, dass die Schulgemeinschaft ohne Davi womöglich einfach zusammengebrochen wäre.
»Willkommen zurück«, sagt sie jetzt. »Bitte zieh dich um, bevor du zur Schulversammlung gehst.«
»Ich weiß, ich weiß.« Davis britischer Akzent lässt Audre immer an Chintz und Clotted Cream denken. »Ich habe versprochen, ein Bild mit diesem Top zu posten … Akoia Swim hat es nach mir benannt.« Davi hält ihr Handy hoch, legt Audre einen Arm um die Schultern und macht ein Foto von ihnen beiden vor den Koppelfenstern von Classic South.
Bekommen jetzt 1,3 Millionen Followerinnen und Follower Audre in ihrer Mom-Jeans zu sehen? Nein, eher nicht. Zum Glück ist sie nicht cool genug für Davis Instagram-Account.
»Ist die Neue schon da?«, fragt Davi.
Es gibt eine ganze Reihe von Neuen dieses Jahr (dreißig in der dritten Stufe, sieben in der vierten), aber Davi geht es natürlich um die einzige neue Schülerin der fünften Stufe: Charlotte Hicks aus Towson, Maryland. Das Mädchen, das Zimmer 111 South beziehen wird – Cinnamon Peters’ altes Zimmer.
»Noch nicht.« Audre geht zum Kofferraum, wo Davis Fahrer gerade dabei ist, mehrere mit verschiedenen Designer-Namen beschriftete Plastikboxen auszuladen, und greift nach einem originalverpackten Hatch-Wecker.
Davi löst Mutterinstinkte in ihr aus. Die Arme ist allein aus London hergeflogen, und jetzt trägt ein Fremder ihre Siebensachen in Zimmer 103 South. Soweit Audre weiß, kommt heute nur noch ein anderer Schüler ohne Eltern her.
Aber Audres Sorge um Davi ist unbegründet. Innerhalb kürzester Zeit ist sie von ihren Freundinnen umringt, die aufgeregt ihren neuen Haarschnitt und ihr Top kommentieren.
»Wie cute du aussiehst!«
Handys werden gezückt, Selfies gemacht.
Das ist der richtige Zeitpunkt, um zu gehen, denkt Audre.
Während ihrer Kindheit in New Orleans hat sie von sogenannten intuitiven Frauen gehört, die angeblich Voodoo praktizierten und ein Gespür für Übersinnliches hatten. Audre, deren Eltern beide an der Tulane-Universität unterrichteten, tat diese Frauen damals als Kulturgut von New Orleans ab, so wie Jazz und Jambalaya. Doch ab und zu wird auch sie von einem Kreidequietschen-auf-einer-Tafel-Schauder heimgesucht, der sich für gewöhnlich als prophetisch erweist: Er warnt sie, wenn ihr Seelenfrieden in akuter Gefahr ist.
Dieses ungute Gefühl beschleicht sie jetzt. Es könnte mit der bevorstehenden Veröffentlichung des Rankings zu tun haben, doch Audre entschließt sich aus einem Impuls heraus, den unteren Parkplatz aufzusuchen.
Dieser Parkplatz wird hauptsächlich von Schulangestellten und Lieferanten benutzt. Außerdem befindet sich hier die Garage, die Mr James als Werkstatt und Wachzentrale dient – und als Ort, wo er sich gern heimlich einen Schluck Whiskey aus seinem Flachmann gönnt.
Kaum hat Audre die Treppe erreicht, die zum Parkplatz hinunterführt, sieht sie einen schwarzen GMC-Pick-up vorfahren. Durch das offene Fenster dröhnen Fetzen von 50 Cents »Many Men«, so laut, dass ihre Zahnfüllungen vibrieren.
Der Pick-up rollt auf seinen üblichen Platz. Die Musik verstummt, und der Fahrer steigt aus. Er ist über den Sommer ein gutes Stück gewachsen, bemerkt Audre, und das dunkle Haar hängt ihm über die Pilotenbrille, wie bei den Typen aus Top Gun. Er trägt Sneaker von Oliver Cabell, eine Sportshorts und ein altes Baseball-Trikot. Als er Audre entdeckt, hebt er grüßend die Hand.
»Willkommen zurück, Andrew«, flüstert Audre leise. Außer ihr gibt es niemanden an der Tiffin, der ihn beim Vornamen nennt. Für alle anderen ist er einfach East. Andrew Eastman, der Sohn von Jesse Eastman, ist der einzige Schüler, der ein Auto haben darf, der einzige Schüler, der den Personaleingang benutzen darf, der einzige Schüler, dem eine Vielzahl von Freiheiten gewährt wird. Manchmal kommt Audre der Gedanke, dass die Frage nicht lautet, obEast irgendwann von der Tiffin fliegt, sondern nur, wann – obwohl jede Form von Disziplinarmaßnahmen gegen East die Schule in existenzielle Bedrängnis bringen könnte. Wenn East geht, nimmt er das Geld mit – und damit die blühende Zukunft der Schule. Aus diesem Grund drückt Audre immer wieder ein Auge zu, egal ob es um das Vapen geht (verboten: siehe Das Zaumzeug, Seite 2) oder um Easts schwache Leistungen in Englisch und Geschichte (»schwach« heißt in diesem Fall ungenügend).
Sie winkt zurück, begleitet von einem stummen Flehen: Bitte tu dieses Jahr nichts, was ich dir nicht verzeihen kann.
Vor Classic North steht Rhode Rivera, der Nachfolger des verknöcherten, ewig griesgrämigen Englischlehrers Doc Bellamy, der so gut wie nie eine bessere Note als ein B gab (und im Frühjahr nach zweiundvierzig Jahren im Dienst endlich in Rente gegangen ist, halleluja!). Audre wollte unbedingt eine Frau einstellen, am liebsten eine Woman of Color, aber Rhode hatte im ausführlichen Bewerbungsgespräch eine Menge guter und vielversprechender Dinge gesagt.
Er war vor mehr als zwanzig Jahren selbst Schüler an der Tiffin gewesen und hatte seinen ehemaligen Lehrer Doc Bellamy als »inspirierend und einschüchternd zugleich« beschrieben. Eine Überprüfung seiner Zeugnisse ergab, dass er zu den seltenen Schülern gehörte, die von Bellamy ein A erhalten hatten. Nach seinem Schulabschluss hatte Rhode an der Wesleyan University studiert und einen MFA an der University of Michigan gemacht. Außerdem hatte er zwei Romane veröffentlicht. (Audre hatte von beiden noch nie gehört, sich aber ein paar Rezensionen durchgelesen – nicht schlecht.)
Was ihm den Job am Ende einbrachte, war sein Vorhaben, den Lehrplan umzukrempeln. Er wollte die Leseliste verjüngen und sie deutlich inklusiver gestalten.
Vor seiner Einstellung lebte Rhode in Forest Hills, New York, und war als Lehrbeauftragter am Queens College tätig. Er habe das städtische Leben satt, sagte er, und freue sich auf eine Veränderung.
Jetzt steht er in einem grünen Polohemd aus der Schulkollektion (mit einem aufgestickten Rennpferd auf der Brust) und Khaki-Shorts vor dem Wohnheim und wirkt durchaus zufrieden. (Die Skechers mit den weißen Sneakersocken werden allerdings den gnadenlosen Spott der Schüler auf sich ziehen.) Die meisten Lehrkräfte verabscheuen den Einzugstag – sie betrachten ihn als zu Unrecht glorifizierte körperliche Arbeit –, daher ist es keine große Überraschung, dass heute nur die beiden Neuen da sind: Rhode Rivera und die Geschichtslehrerin Simone Bergeron, die gerade erst ihr Studium an der McGill University in Montreal abgeschlossen hat. Rhode und Simone scheinen sich gut zu verstehen. Er unterhält sie mit lustigen Anekdoten aus seiner Internatszeit. Anscheinend geht es um ein Frettchen, das einer seiner Etagenbewohner in Classic North damals in einem Käfig unter seinem Bett hielt – ein eklatanter Verstoß gegen die Schulregeln (verboten: siehe Das Zaumzeug, Seite 3, wo »Haustiere« direkt unter »Handfeuerwaffen« aufgeführt sind).
»Der Gestank fiel auch unserem Vertrauensschüler auf«, sagt Rhode. »Aber er dachte, der käme von Townies Socken.«
Simones Lachen ist glockenhell. Sie dreht ihre Braids zu einem Dutt auf dem Kopf zusammen und bindet ein Seidentuch darum. Die Geste wirkt äußerst elegant und französisch. »Einer deiner Klassenkameraden hieß Townie?«
»Das war sein Spitzname. Weil er in Haydensboro aufgewachsen war, ganz in der Nähe von hier. Seine Eltern hatten dort eine Bar namens Alibi.«
»Gibt es die noch?«, fragt Simone. »Ich habe mich schon gefragt, ob es hier wohl coole Kneipen gibt.«
»Wenn du mit ›cool‹ schäbig und deprimierend meinst, dann ja«, antwortet Rhode. »Wir können da ja mal was trinken gehen, wenn du willst.«
»Gern!«
Audre stöhnt innerlich auf. Freundschaftliche Beziehungen innerhalb des Kollegiums sind ganz in ihrem Sinn, aber sie hat noch nie zwei neue Single-Lehrer gehabt und wüsste nicht, was sie sagen oder tun sollte, wenn es zu einer … Romanze zwischen ihnen käme. Muss sie sich Sorgen machen?
Außerdem geht Audre selbst gern hin und wieder ins Alibi. Die Bar ist schäbig, ja, aber nicht unbedingt deprimierend – über der Theke hängt das ganze Jahr lang eine bunte Lichterkette, und die Songauswahl der Jukebox reicht von Motown bis One Direction. Jefferson, der Barkeeper, hat stets eine Flasche Finlandia-Wodka für sie im Eisfach. Nach einem oder zwei klirrend kalten Shots und einem Glas billigem Chardonnay gelingt es ihr meist, die Tiffin für eine Weile auszublenden. Sie hat wirklich keine Lust, dort andere Lehrkräfte zu treffen und sich wie auf einem Betriebsausflug zu fühlen.
Die Glocke der Kapelle verkündet, dass es zehn Uhr ist, und Audres Handy vibriert erneut. Doch als sie die Nachricht lesen will – sie ist bestimmt wieder von Big East –, fährt ein weiteres Auto vor. Und schon ist das ungute Gefühl zurück. Obwohl es sich bei dem Wagen um einen gewöhnlichen silberfarbenen Transporter handelt, spürt Audre: Hier kommt das Mädchen, auf das sie gewartet hat. Hier kommt Charley Hicks.
Charleys Aufnahme an der Tiffin verlief … ungewöhnlich. Ihre Bewerbung traf am 23. Mai ein, entweder wahnwitzig spät oder lachhaft früh. Ein schneller Blick darauf machte klar, dass Ersteres der Fall war: Charlotte Emily Hicks besuchte schon seit fast zwei Jahren die staatliche Highschool und bewarb sich um eine Aufnahme im September desselben Jahres. Normalerweise war es an der Tiffin nicht möglich, erst zur fünften Jahrgangsstufe dazuzustoßen, aber es gab Ausnahmen. Zum Beispiel, wenn unerwartet ein Platz frei geworden war.
Cinnamon Peters war elf Tage vor Eingang der Bewerbung gestorben.
»Das ist fast schon unheimlich, oder?«, flüsterte Cordelia Spooner Audre zu. »Wie eine Art«, sie schaute nach oben, zur Stuckrosette an Audres Bürodecke, »göttliche Intervention.«
Mmmmmm. Das fand Audre doch etwas weit hergeholt. Charley Hicks aus Towson, Maryland, geschickt von einer höheren Macht?
»Entspricht sie unseren Anforderungen?«, fragte sie. Sie würden garantiert niemanden X-Beliebiges aufnehmen, nur weil in der fünften Stufe ein Platz frei war.
»Sie gehört zu den Jahrgangsbesten«, erwiderte Cordelia. »Ansonsten wäre ich gar nicht zu dir gekommen. Sie hat ausschließlich Topnoten, belegt nur die besten Kurse, und ihre Ergebnisse im PSAT-Test sind nahezu perfekt. Ihre Englischlehrerin hat ihr eine glühende Empfehlung geschrieben und sagt, sie hätte noch nie eine Schülerin gehabt, die so gern liest wie Charley. Anscheinend macht sie kaum etwas anderes. Ich habe eher Bedenken, dass sie zu … verkopft sein könnte für die Tiffin.«
Diese Sorge war nicht unbegründet: Sehr strebsame Schülerinnen und Schüler hatten häufig Probleme im Internatsalltag, der stark auf Interaktion und Miteinander ausgerichtet war. Audres Vorgänger hatte sich damit gebrüstet, dass die Tiffin ihre Schülerschaft in erster Linie zu begehrten Cocktailparty-Gästen ausbildete, während Audre manchmal der Verdacht kam, dass sie eine neue Generation an arroganten Schnöseln heranzogen.
»Irgendwelche außerschulischen Aktivitäten?«, fragte sie.
»Sie ist Chefredakteurin des Literaturmagazins.«
An der Tiffin gab es kein Literaturmagazin. Doc Bellamy hatte mehrfach versucht, eines ins Leben zu rufen, aber es hatte sich niemand gefunden, der mitmachen wollte.
»Wie sieht es mit Sport aus?«
»Nichts.«
Das Mädchen soll sich eher früher als später mit einem Hockey-Schläger vertraut machen, dachte Audre. »Sonst irgendetwas Interessantes?«
»Ihr Vertrauenslehrer schreibt, dass sie eine sichere Kandidatin für den besten Abschluss ist. Aber er erwähnt auch ihre mentale Stärke. Anscheinend ist ihr Vater – ein Anwalt bei einer großen Kanzlei in Baltimore – letzten Herbst überraschend gestorben, ohne dass Charleys Noten darunter gelitten hätten.«
Der Tod des Vaters dürfte die späte Bewerbung erklären. Anwalt bei einer großen Kanzlei, dashatte Audres Interesse geweckt. »Bräuchte sie ein Stipendium?«
»Nein«, erklärte Cordelia. »Sie wäre Vollzahlerin.«
Damit war die Sache entschieden. So ließ sich auch verhindern, dass Zimmer 111 South leer blieb. Audre befürchtete, die anderen Mädchen könnten dort Kerzen anzünden (verboten: siehe Das Zaumzeug, Seite 11) und Séancen abhalten, um mit Cinnamon in Kontakt zu treten.
»Sollen wir ihr den Platz anbieten?«, fragte Cordelia.
»Ja.«
Auf dem silbernen Lieferwagen steht Garten- und Landschaftsbau Hicks – Towson, Owings Mills, Ellicott City. Die Frau, die auf der Fahrerseite aussteigt – vermutlich Charleys Mutter –, hat sonnengebräunte Haut, einen dunklen Pferdeschwanz und trägt Crocs.
Ihre Miene verrät die Gefühle, die Audre am Einzugstag schon so oft gesehen hat: Furcht, Trauer, Abschiedsschmerz.
»Ich bin Audre Robinson, die Schulleiterin«, sagt sie. »Willkommen an der Tiffin Academy.«
»Fran Hicks.« Die Frau schüttelt Audre die Hand. »Nur fürs Protokoll: Ich bin absolut gegen das Ganze hier.«
Aha, okay, denkt Audre. Es ist im Voraus nie abzusehen, wer die treibende Kraft hinter dem Internatsbesuch ist, aber Audre zieht es eindeutig vor, wenn es das Kind ist.
»Charley wird hier eine erstklassige Schulbildung erhalten«, sagt sie. »Besser als an den meisten Universitäten.« Sie deutet mit einer schwungvollen Geste auf die lachenden, schwatzenden und Cornhole spielenden Schülerinnen und Schüler. Aus einem offenen Fenster in Classic North dringen Fetzen von Luke Combs’ »Beer Never Broke My Heart« zu ihnen herüber. (Das muss aus Dubs Zimmer kommen, außer ihm hört niemand Country.)
»Und auch sonst wird sie eine wundervolle Zeit hier haben.«
Jetzt öffnet sich die Beifahrertür, und Charley steigt aus. Audre nimmt ihre neue Schülerin in Augenschein. Ihr erster Gedanke ist: Haben wir einen riesigen Fehler gemacht? Charley ist groß und schlaksig, mit bleicher Haut. Ihr hellbraunes Haar ist zu zwei langen Zöpfen geflochten, und auf ihrer Nasenspitze sitzt eine Brille. Charleys Kleidung besteht aus einem knallgrünen Poloshirt von Lacoste, einem khakifarbenen Rock, dessen Länge Audre nur als sonderbar bezeichnen kann, und einem Gürtel, auf den Wale gestickt sind. An den Füßen trägt sie Bootsschuhe, wie Audre sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat.
Ihr Aufzug scheint direkt aus dem Preppy-Handbuch zu stammen – im Jahr 1984 wäre sie vermutlich gar nicht weiter aufgefallen. Aber das ist vierzig Jahre her. Heute tragen alle Mädchen Reformation, Golden Goose oder – wer es sich leisten kann – die Modemarke von Davis Eltern, OoO. Audre überlegt, ob Charley sich womöglich ein paar alte Filme angeguckt hat, etwa Love Story oder Der Club der toten Dichter, und jetzt glaubt, dass die Schüler hier so etwas anziehen.
Verdammt. Das ist deutlich schlimmer als Mr Riveras Skechers.
Doch im nächsten Augenblick ruft Audre sich zur Ordnung. Das Mädchen ist gut so, wie es ist – und etwas Unangepasstheit kann der Schule nicht schaden.
Charley tritt mit ernster Miene vor, um Audre die Hand zu schütteln. »Vielen Dank, dass Sie mich trotz meiner späten Bewerbung aufgenommen haben.« Sie schaut kurz zu ihrer Mutter hinüber. »Es gab erschwerende Umstände.«
Audres Handy vibriert schon wieder. »Komm, ich helfe dir beim Auspacken«, sagt sie. Fran Hicks schiebt die Seitentür des Transporters auf. Das angenehme Aroma von Zedernmulch strömt heraus. Im Innenraum befinden sich mehrere Säcke davon, zwischen Torf, einem Benzinkanister, einem Rasentrimmer und einem gusseisernen Blumentopf, der über hundert Kilo wiegen muss.
Außerdem steht dort eine Plastikbox voller Zimmerpflanzen. Charley greift nach etwas, das wie eine kleine Palme aussieht.
»Soll die mit?«, fragt Audre.
»Ja. Pflanzen sind erlaubt, oder?«
Audre muss nachdenken. Der Besitz von Haustieren ist laut dem Zaumzeug explizit untersagt, selbst wenn es sich nur um einen Goldfisch im Glas handelt. Aber steht dort auch etwas über Pflanzen? Audres Blick wandert zur Kiste. Will Charley die allein ihr Zimmer stellen?
Sie erinnert sich an eine Schülerin, die nach Weihnachten einmal eine Sukkulentensammlung mitbrachte, die sie geschenkt bekommen hatte.
Fran Hicks ist Audres zweifelnde Miene nicht entgangen. »Es sind keine Cannabispflanzen dabei. Die müssen zu Hause bleiben, habe ich Charley gesagt.«
Audre lacht. Die Hicks haben Sinn für Humor, das ist ein gutes Zeichen. »Ja«, sagt sie. »Zimmerpflanzen sind erlaubt.«
Hinter mehreren Farnen, Bonsaibäumchen und einem dürren Philodendron erspäht Audre mindestens ein halbes Dutzend Kisten mit … Büchern.
Sie blinzelt. Hat sie je erlebt, dass eine Schülerin oder ein Schüler Bücher mitgebracht hat? Das ist, als würde man Sand zum Strand tragen. Audre greift nach einer der Kisten, um einen Blick auf die Titel werfen zu können. Der Plot von Jean Hanff Korelitz, Nightbitch von Rachel Yoder, Heimkehren von Yaa Gyasi. Alles Bücher, die Audre selbst gern lesen würde, wenn sie die Zeit dafür hätte.
Als Fran Hicks die Hintertür des Lieferwagens öffnet, kommen weitere Kisten zum Vorschein. Noch mehr Bücher! Penguin Classics, zeitgenössische Taschenbuchreihen, ein abgegriffenes Exemplar der Kurzgeschichten von John Cheever. Eine Kiste enthält ausschließlich Lyrik: Edna St. Vincent Millay, Anne Sexton, Nikki Giovanni.
Audre ist beeindruckt – und ein bisschen eingeschüchtert. Wenn der alte Doc Bellamy in der Lage wäre, ein Smartphone zu bedienen, würde sie ihm eine Nachricht in seine einsame Hütte im Wald schicken. Wir haben eine echte Leseratte!
Audre führt die Hicks zu Zimmer 111 South. Eigentlich ist es Simone Bergerons Aufgabe, den neuen Mädchen ihre Räume zu zeigen, aber in diesem speziellen Fall übernimmt Audre lieber selbst. Sie öffnet die Tür zu einem ganz normalen, sauberen und ordentlichen Zimmer: ein extralanges Bett, ein Schreibtisch, eine Kommode. Doch Audre kann nicht ausblenden, wie es hier am Morgen des 12. Mai aussah: Cinnamon Peters, ausgestreckt auf ebendiesem Bett, die Haut grau, der Mund offen (auch wenn ihre Augen glücklicherweise geschlossen waren). Auf dem Boden ihre Akustikgitarre (mit den Saiten nach unten), ihr Laptop (zugeklappt), ein leerer Plastikbeutel, in dem sie ihre Pillensammlung aufbewahrt hatte, und ein halbvolles Wasserglas. Auf dem Schreibtisch hatte Cinnamon eine Nachricht hinterlassen, die einzig aus dem Satz Es tut mir leid bestand. Sie steckte unter einer Vase mit Wildblumen, die Dub Austin auf der Koppel für sie gepflückt hatte.
»Da wären wir!«, verkündet Audre fröhlich. Sie wartet darauf, dass Charley oder ihre Mutter protestieren – In diesem Zimmer ist ein Mädchen gestorben! –, aber die beiden stellen Charleys Pflanzen und Bücher auf dem Boden ab und machen sich auf den Weg, um die nächste Fuhre zu holen.
Audre bleibt bei Charley und Fran Hicks, bis es Zeit ist, dass Fran sich verabschiedet. Dabei gibt es genug andere Dinge, denen sie ihre Aufmerksamkeit schenken müsste: Ihr Handy vibriert in einer Tour, sie hat Kopfschmerzen von der Sonne und ist völlig ausgehungert. Chef Haz macht heute Blaubeerpfannkuchen, aber Audre hat keine Zeit zu essen. Sie muss noch ihre Rede für die Schulversammlung am Mittag durchgehen. Danach gibt es eine Grillparty am Jewel Pond, und die Jugendlichen baden im See. So ist es Tradition am Einzugstag.
Doch erst einmal stehen die Hicks im Vordergrund.
»Denken Sie daran, sich beim Elternportal auf der Homepage anzumelden«, sagt Audre zu Fran. »Und geben Sie jederzeit Bescheid, wenn Sie irgendwelche Fragen oder Anliegen haben.«
Die beiden schütteln einander erneut die Hand. Dann schließt Fran die Türen des Lieferwagens, und Audre tritt einen Schritt zurück, um Mutter und Tochter zum Abschied etwas Privatsphäre zu geben.
Fran hat Tränen in den Augen und will Charley umarmen, aber Charley stößt sie mit beiden Händen weg, sodass sie nach hinten stolpert.
»Du hast kein Recht zu weinen«, sagt Charley. »Das ist alles deine Schuld.«
»Ich hab dich lieb, Charley«, erwidert Fran. »Wir sehen uns an Thanksgiving.«
Charley macht auf dem Absatz ihrer Bootsschuhe kehrt und stürmt ins Wohnheim.
Audre hat in den vergangenen sechs Jahren schon die unterschiedlichsten Abschiedsszenen miterlebt, aber so etwas war noch nie dabei.
Fran wischt sich über die Augenwinkel. »Sie hasst mich.«
Audre weiß nicht genau, wie sie reagieren soll. Sie ist versucht, die Sache durch einen Kommentar herunterzuspielen – So sind sie in dem Alter nun mal oder Charley stößt Sie weg, um ihre zwiespältigen Gefühle über die Trennung zu verbergen. Aber da sie wirklich keine Zeit für ein Gespräch über die Psyche von Teenagern hat, beschränkt sie sich auf ein mitfühlendes Lächeln.
»Gute Fahrt.«
Kurze Zeit später hastet sie an der Rückseite der Kapelle vorbei (und wirft rasch einen prüfenden Blick durch die unteren Fenster in den Gotteskeller – jetzt gerade ist dort unten wohl niemand zugange, auch wenn es der perfekte Zeitpunkt wäre, da alle mit anderen Dingen beschäftigt sind). Dann passiert sie das Schulhaus, den von einer Kuppel gekrönten georgianischen Backsteinbau, in dem sich sämtliche Unterrichtsräume befinden, und betritt das alte Pfarrhaus, das heute den Verwaltungstrakt und Audres Räumlichkeiten beherbergt. Ihr Handy steht kurz vor der Explosion, aber damit will sie sich erst befassen, wenn sie ihre Wohnung im Obergeschoss erreicht hat. Das Haus, dessen ursprünglicher Bewohner Edward »Teddy« Tiffin auf diesem Anwesen hier Vollblüter für die Rennbahn in Saratoga Springs züchtete, ist (dank Big East) umfassend renoviert worden und erstrahlt in seiner alten Pracht: Stuckleisten, Deckenrosetten, Kronleuchter. Im Eingangsbereich führt eine geschwungene Treppe zu Audres Privatbereich hinauf. Es gibt sogar eine Bibliothek für die heikleren Gespräche, und genau diese Bibliothek betritt Audre jetzt.
Sie dreht die Klimaanlage hoch und sinkt auf eine viktorianische Chaiselongue. Das Ticken von Edward Tiffins alter Standuhr hat wie immer eine beruhigende Wirkung auf sie. Vom Erkerfenster aus hat man freie Sicht auf den Jewel Pond, einen tiefen, klaren See, auf dessen Oberfläche sich der Himmel spiegelt. Am Ufer erstreckt sich ein sichelförmiger Strand aus goldenem Sand, der von Cape Cod hertransportiert worden war. Audre hat die Aufschüttung anfangs als Paradebeispiel für Big Easts realitätsferne Prahlerei abgetan, muss aber zugeben, dass der Strand mittlerweile die beliebteste Sehenswürdigkeit der Campus-Führung ist und eine deutliche Verbesserung gegenüber dem matschigen Grasufer darstellt, das vorher als Badestelle diente.
Audre atmet tief durch. Sie liebt diese Schule und ihren Job – eine beängstigende Erkenntnis, wenn man womöglich kurz davorsteht, gefeuert zu werden.
Das Ranking ist da, daran hat sie nicht den geringsten Zweifel.
Beklommen entsperrt sie den Bildschirm ihres Handys. Sollte die Tiffin aus den Top 25 gerutscht sein – oder, Gott bewahre, sogar aus den Top 50 (das ist unmöglich, oder?) –, wird Audre ihre gesamte Zeit und Energie darauf verwenden, die Entwicklung rückgängig zu machen, wie eine Sportmannschaft, die um den Wiederaufstieg kämpft. Zumindest wenn Big East ihr die Chance dazu gibt.
Sie hat drei verpasste Anrufe von ihm. Autsch. Ein Anruf ist übel, aber drei – das gab es noch nie.
Außerdem hat er ihr drei Nachrichten geschrieben.
Rufen Sie mich an.
RUFEN SIE MICH BITTE AN.
Ich bin jederzeit erreichbar, Audre.
Audre sollte das Ranking auf dem Computer in ihrem Büro abrufen, aber sie kann sich nicht rühren. Ihre Hände zittern, und ihr Magen krampft sich zusammen.
Sie tippt »America Today« in die Suchleiste ein und muss gar nicht runterscrollen: Ganz oben auf der Homepage steht ein Banner. Neues Ranking – die besten Internate.
Augen zu und durch, denkt Audre und klickt auf den Link.
Im ersten Augenblick scheinen die Buchstaben keinen Sinn zu ergeben. Was ist … passiert? Sie scrollt zum unteren Ende der Seite und wieder hoch. Alle anderen Schulen befinden sich ungefähr dort, wo man sie erwarten würde.
Nur die Tiffin nicht.
Ein Anruf geht ein. Big East.
»Hallo?«, sagt Audre. »Jesse?«
»Audre«, antwortet er.
Um kurz vor zwölf steht Audre am Altar ihres Lieblingsgebäudes auf dem Campus – der Kapelle. Sie stammt aus dem Jahr 1911, als Mary Tiffin Sinclair, Edward Tiffins Tochter, die Pferdefarm erbte und beschloss, sie in ein Internat für Jungen und Mädchen umzuwandeln. Das Bauwerk ist im neugotischen Stil gehalten, von außen fällt vor allem der hoch aufragende Turm auf. Drinnen führt ein langes Tonnengewölbe zu einem leicht erhöhten Altarbereich mit traumhaft schönen Buntglasfenstern. Die Bänke für die Schülerschaft sind aus dunklem Walnussholz gefertigt und stehen parallel zum gefliesten Mittelgang, mit Kniekissen, die von einer Handvoll engagierter Mütter bestickt wurden. Nur wählten sie statt religiösen Motiven hauptsächlich solche aus der Welt des Reitsports aus – Pferde, Jockeys, Sättel, Reitrondelle.
Ein Pfarrer auf Besuch spöttelte einmal: »Warum bauen Sie nicht noch eine Rennbahn, eine Anschlagtafel und eine Wettannahmestelle neben den Altar, wenn Sie schon dabei sind?« Zum Glück vertritt die Internatskaplanin Laura Rae Splaine die Ansicht, dass Gott überall und bei jedem ist.
Die Schulversammlung ist eine von vielen altehrwürdigen Traditionen an der Tiffin, eine Mischung aus Andacht (zu Beginn spricht Laura Rae ein Gebet, am Ende einen Segen) und Verwaltungsakt. Sie ist die grüne Flagge, die das Rennen eröffnet, der Startschuss im Stadion, der offizielle Auftakt des neuen Schuljahres.
Audres Hände haben aufgehört zu zittern, obwohl ihr immer noch flau im Magen ist. Sie hat nichts gegessen. Die Zeit nach dem Telefonat mit Big East ging für die Überarbeitung der Rede drauf.
Jetzt sieht sie zu, wie die Schülerschaft hereinströmt und nach Jahrgangsstufen sortiert auf den Bänken Platz nimmt. Die Großen aus der Sechsten wirken selbstzufrieden und ein bisschen gelangweilt, was Audre ihnen nicht verdenken kann. In der Abschlussklasse gilt das Interesse einzig und allein den College-Bewerbungen. Sobald sie die Zusage einer zweitklassigen Uni wie der Southern Methodist University oder des Trinity College in Connecticut haben, feiern sie bis zum Umfallen. Annabelle Tuckerman trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift NOSLEEPTILPRINCETON, was gegen den Dresscode für die Kapelle verstößt, aber Audre ist mit den Gedanken viel zu weit weg, um sie zum Umziehen zurückzuschicken. Lisa Kim, die diesjährige Vertrauensschülerin, wird ebenfalls eine kurze Ansprache halten – aber Audres Aufmerksamkeit gilt nach wie vor der fünften Stufe. Sie sieht Dub, der zusammen mit seinen Mannschaftskameraden hereinkommt, und Davi inmitten einer Schar von Madisons und Olivias.
Audre fragt sich, ob Charley Hicks überhaupt von der Schulversammlung weiß. Hat Simone Bergeron ihr Bescheid gegeben? Hat sie sämtliche Mädchen aus dem Classic-South-Gebäude hierhergescheucht? Als Audre das grüne Poloshirt und den khakifarbenen Rock schließlich erspäht, sind die Bänke der fünften Stufe bereits voll. Charley muss sich in den hinteren Teil der Kapelle setzen, wo mehrere Reihen Klappstühle mit Blick zum Altar stehen. Diese Stühle sind überaus unbeliebt. Sie sind für diejenigen gedacht, die sonst nirgendwo Platz finden oder zu spät kommen – und Charley sitzt ganz allein dort.
O nein, denkt Audre. Das geht nicht. Sie versucht, Cordelia Spooner ausfindig zu machen – Cordelia ist erfahren genug, um hier Abhilfe zu schaffen. Doch in diesem Augenblick trabt Andrew Eastman herbei. Erstaunlicherweise hat er sein Baseball-Trikot gegen ein Hemd ausgetauscht. Was ist denn mit ihm los? Will er sich dieses Jahr etwa an die Regeln halten? Sein Blick gleitet über die Bänke der fünften Stufe, und obwohl mehrere Leute ihn heranwinken und ihm bedeuten, dass sie zusammenrücken, setzt er sich neben Charley.
Audre sieht, wie er sich ihr vorstellt. Die beiden geben sich die Hand, und East flüstert Charley etwas ins Ohr, das sie zum Lächeln bringt.
Kaum zu glauben, aber in diesem Augenblick ist Audre dankbar, dass es Andrew Eastman gibt.
Laura Rae erhebt sich zum Eröffnungsgebet. Audre nimmt ihre Worte kaum wahr, antwortet aber automatisch mit »Amen«. Dann ist sie selbst an der Reihe.
»Liebe Schülerinnen und Schüler der Tiffin, willkommen zu einem neuen Schuljahr!«, sagt sie und schweigt dann gerade lange genug, dass alle Augen glasig werden. In einigen Ecken ertönt Geflüster, ein paar Handys tauchen auf (in der Kapelle verboten: siehe Das Zaumzeug, Anhang A). Eines davon kassiert Cordelia Spooner direkt ein. Den Schülerinnen und Schülern ist es egal, was Audre zu sagen hat. Sie hoffen nur, dass die Rede bald vorbei ist.
Audres Blick fällt auf Charley Hicks, die als Einzige aufmerksam zuzuhören scheint.
»Heute Morgen hat America Today das Ranking der besten Internate des Landes veröffentlicht. Ich bin hocherfreut«, und völlig perplex, »euch mitteilen zu können, dass die Tiffin Academy Platz … zwei erreicht hat, direkt hinter Old Bennington.« Sie legt eine dramatische Pause ein. »Ihr besucht das zweitbeste Internat des Landes.«
Für einen Sekundenbruchteil ist es mucksmäuschenstill. Audre kann praktisch hören, wie alle denken: Ist das ein Witz? Ein Prank? Ein Fehler? Platz zweiundzwanzig wäre nachvollziehbar, vielleicht noch Platz zwölf – aber Platz zwei?
Ihre Stimme klingt jetzt kräftiger, selbstbewusster. »Die Tiffin ist von Platz neunzehn auf Platz zwei gesprungen.«
In der Kapelle brandet Jubel auf. Chaos bricht aus – die Schülerinnen und Schüler springen auf, fallen einander in die Arme und hüpfen kreischend auf und ab. Davi zieht ihr Handy aus ihrer Staud Bean Bag und filmt das Spektakel.
In nicht allzu ferner Zukunft wird Audre an diesen Moment zurückdenken – den Augenblick, in dem der Aufstieg an die Spitze wie eine gute Nachricht gewirkt hatte.
Der zweite Platz dominiert sämtliche unserer Gruppen-Chats und privaten Storys, allerdings nicht, weil das Ranking irgendjemandem von uns sonderlich wichtig wäre (Ausnahmen: unsere Eltern, die das Ganze als Wertsteigerung des investierten Schulgelds verbuchen, und Annabelle Tuckerman aus der sechsten Stufe, die aus unerfindlichen Gründen glaubt, jetzt bessere Chancen in Princeton zu haben). Nein, wir haben einfach das Gefühl, dass endlich ein heller Lichtstrahl durch die dunkle Wolke gedrungen ist, die seit Cinnamon Peters’ Tod über uns hängt.
Bei der Grillparty am Einzugstag formieren wir uns am Strand des Jewel Ponds zu einer menschlichen Pyramide. Dub Austin stützt das Gebilde von unten, Davi steht in der Mitte, und Willow Levy, die nicht einmal vierzig Kilo wiegt, klettert nach ganz oben. Unser Spanischlehrer, Señor Perez, lässt alle Beteiligten zwei Finger heben – número dos. Er schafft es, ein zumindest halbwegs vernünftiges Foto zu machen, bevor die Pyramide in sich zusammenbricht.
Im Wasser nehmen wir einander auf die Schultern und versuchen, die anderen umzustoßen – Dub und Madison R. gegen Taylor und Hakeem. Lisa Kim gleitet auf dem SUP, das sie sich bei ihrem Sommerhilfsprojekt (Augenroll-Emoji) in Maui gekauft hat, auf den See hinaus. Aus einer Bluetooth-Box dröhnt Rap, aber Ms Robinson sagt weder etwas gegen die keineswegs jugendfreien Texte noch gegen Davis knappes Bikini-Unterteil, obwohl es gegen die Bekleidungsvorschriften verstößt.
Die Ältesten unter uns können sich noch an die Zeiten erinnern, in denen es bei der Grillparty zum Einzugstag aufgetaute Burgerpattys und Billigkartoffelchips gab. Doch dieses Jahr tischt Chef Haz Rinderbrust auf, die er mehrere Tage lang geräuchert hat. Dazu serviert er Gemüsespieße in allen Farben des Regenbogens, selbstgemachte Kartoffel- und Brokkolisalate und luftiges Cheddar-Schnittlauch-Gebäck. Als Dessert gibt es keinen Kuchen aus dem Supermarkt, sondern Blaubeerküchlein und Rocky-Road-Brownies.
Dub Austin ertränkt sein Stück Rinderbrust in Chef Haz’ BBQ-Soße (Rezept geheim) und sagt: »Platz zwei ist ungefähr so, wie wenn man den Super Bowl verliert.«
»Das klingt so negativ«, widerspricht Taylor Wilson. »Platz zwei ist absolut crazy. Wir sind vor der Northmeadow!«
Die meisten von uns sehen es wie Taylor: Es ist total verrückt. Die Tiffin soll nicht nur die Streber von der Northmeadow abgehängt haben, sondern auch die Choate, die Groton, die Hotchkiss und die Deerfield? Echt jetzt?
Easts Ankunft entgeht niemandem (er kommt natürlich zu spät, Vorschriften und Uhrzeiten gelten für ihn nicht). In den letzten zwei Jahren ist er immer total breit bei der Grillparty erschienen, aber heute wirkt sein Blick klar. Er zieht sich das T-Shirt aus und springt kopfüber ins Wasser.
Die Neue, Charley Hicks, sitzt abseits des Strands allein im Gras. Sie trägt immer noch die gleiche Kleidung wie in der Kapelle. Das grüne Polohemd würde auch ein Grundschüler zum Termin beim Schulfotografen anziehen, und spätestens die Wale auf ihrem Gürtel bringen uns ins Grübeln. Ob Charley Hicks diesen Aufzug wohl ironisch meint (ein Konzept, das Mrs Wully in der dritten Stufe durchnimmt, aber die meisten von uns verstehen bis heute nicht, was Ironie eigentlich ist)? Hat sie denn keinen Badeanzug – oder zumindest ein Strandkleid, wenn sie schon nicht schwimmen will? Sie sitzt auf einem Patchwork-Quilt, der dem Aussehen nach direkt von einem Planwagen aus Pionierzeiten gefallen ist, und liest ein Buch mit dem Titel Der Nachtzirkus.
Wir haben gehört, dass sie Royce Stringfellow den Rang als Jahrgangsbester streitig machen könnte. (Nicht, dass irgendjemand etwas dagegen hätte. Royce prahlt immer und überall mit seinen Noten, und wir denken nur: Junge, was soll das, würdest du nicht lieber mal Sex haben?) Aber heute ist sogar Royce im Wasser und versucht, Tilly Benbow mit seinen Tanz-Moves zu beeindrucken.
Was ist los mit Charley Hicks? Warum sitzt sie allein auf einer Decke und liest? Ist sie einfach nur ein Freak, oder ist sie … faszinierend? Wir haben alle genug solcher Geschichten auf Nickelodeon gesehen – die Neue, die nicht reinpasst. Sollte eine oder einer von uns zu ihr gehen und mit ihr reden? Schließlich waren wir alle mal neu.
»Sollen wir nicht mal zu ihr gehen?«, wendet sich Olivia H.-T. an Davi Banerjee.
»Noch nicht«, meint Davi. »Wir dürfen sie nicht überfordern.«
»Danach sieht sie nicht aus. Eher so, als würde sie gar nicht merken, dass wir hier sind.«
»Glaub mir, das merkt sie. Sie beobachtet uns genauso, wie wir sie beobachten.«
Ohhhh, okay. Olivia H.-T. versteht. Davi wirkt wie eine Biologin, die eine neue Tierart gesichtet hat. Oder ist Charley die Biologin?
Gerade als Olivia H.-T. Davi ihren Brownie anbieten will – Davi futtert wie fünf Scheunendrescher, ohne je ein Pfund zuzulegen –, passiert etwas Erstaunliches. East kommt aus dem See, und die Art und Weise, wie er sich das Wasser aus dem Haar schüttelt, lässt alle Mädchen dahinschmelzen (alle bis auf Davi, die East für den hinterletzten Arsch hält. Das könnte in Olivia H.-T.s Augen allerdings daran liegen, dass East als Einziger an der Tiffin mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als Davi selbst). Er marschiert geradewegs über den Strand zur Wiese und lässt sich neben Charley Hicks auf den Quilt fallen.
Olivia H.-T. schnappt nach Luft, aber von Davi kommt nur: »O Mann, er ist so berechenbar.«
Berechenbar?, denkt Olivia H.-T. Der hotteste (und reichste) Typ der Schule hat sich gerade neben die Spinnerin gesetzt – was ist daran berechenbar? Sie befürchtet jetzt schon, dass sie das ganze Jahr über nicht mit Davi Schritt halten kann.
»Wie meinst du das?«, fragt sie.
»Sie soll ziemlich klug sein.«
Ah, denkt Olivia H.-T. East will Charley Hicks um den Finger wickeln, damit sie ihm in Englisch hilft und die Essays für ihn schreibt. Und sie wird ihm nicht widerstehen können, weil er … Na ja, weil er eben East ist.
Drüben auf dem Quilt hält Charley East ihr Buch hin. Er betrachtet das Cover, blättert durch die Seiten und legt es zur Seite. Dann stützt er sich auf die Ellbogen und sagt etwas, das Charley zum Lachen bringt.
»Och nö«, stöhnt Davi. »Sie fällt drauf rein.«
Charley streift sich die grässlichen Schuhe von den Füßen, steht auf und zieht ihr Shirt aus dem Rockbund.
Hallo?, denkt Olivia H.-T. Was passiert denn jetzt? Sie schaut sich um, ob einer der Erwachsenen die Szene verfolgt. Ms Robinson unterhält sich mit Mrs Spooner und Señor Perez. Der neue Englischlehrer, Mr Rivera (er hat einen Dad Bod, ist aber trotzdem irgendwie hot), und die neue Geschichtslehrerin, Miss Bergeron (die so jung aussieht, dass sie glatt als Schülerin durchgehen würde), sitzen in Strandstühlen am Ufer, lassen die Füße im Wasser baumeln und sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie von der Welt um sie herum nichts mitbekommen.
Olivia H.-T. ist gleichermaßen überrascht und erleichtert, dass Charley einen Bikini drunter hat – und ihre Figur ist super: runde, kleine Brüste, ein süßer Hintern. Charley legt ihre Kleidung zusammen, setzt die Brille ab und folgt East ins Wasser, wo die beiden anfangen … um die Wette zu schwimmen.
»O wow!«, sagt Davi. »Schwimmen kann sie jedenfalls.«
Charleys Kraulschlag ist technisch sauber und so kraftvoll, dass sie mit East mithalten kann. (Keiner von uns hat gewusst, dass East so gut schwimmen kann, aber er ist der James Bond unserer Schule: Er hat lauter verborgene Fähigkeiten, die er erst zeigt, wenn sie gebraucht werden.) Es wäre das perfekte Ende dieses kleinen Zwischenspiels gewesen, wenn sie East geschlagen hätte – diejenigen von uns, die noch im Wasser sind, feuern sie nach der Wende lautstark an –, aber ungefähr in der Mitte des Sees zieht East davon und gewinnt mit zwei oder drei Längen Vorsprung.
Charley steigt mit einem verlegenen Lächeln aus dem See. Ihre Zöpfe hängen wie zwei nasse Taue auf ihrem Rücken. East reicht ihr ein Handtuch aus seinem Rucksack, und sie trocknet sich damit das Gesicht ab, wickelt es sich um den Körper und folgt East zum Grill, wo sie sich ihre Teller mit Essen vollladen.
»Er benutzt sie«, erklärt Davi.
Wahrscheinlich hat sie recht, denkt Olivia H.-T. Wie ist das Ganze sonst zu erklären?
Am Samstag bestreitet unser Football-Team das erste Heimspiel. Der Gegner ist die Excelsior School, die uns so weit überlegen ist, dass man uns kaum als Rivalen bezeichnen kann – die Excelsior verlässt den Platz seit 114 Jahren als Sieger. Auf der Tiffin schauen wir nicht auf Erfolge, uns geht es um Sportsgeist und Gemeinschaftssinn (eine nette Umschreibung dafür, dass unsere Mannschaften meistens unterirdisch schlecht sind). Wir ziehen uns grüne und goldene Kleidung an, bemalen uns die Gesichter und bejubeln jeden gelungenen Spielzug auf beiden Seiten. Als nicht einmal mehr eine Minute zu spielen ist, steht es siebzehn zu vierzehn – natürlich für die Excelsior. Aber jetzt haben wir den Ball und bewegen uns damit auf die Endzone zu. Dub Austin lässt sich in die Pocket zurückfallen und schafft es, den Ball zu Hakeem Pryce zu passen, bevor er vom linkem Tackle der Excelsior niedergewalzt wird. Hakeem erwischt den Ball und sprintet damit in die Endzone – Touchdown!
Als der Schlusspfiff ertönt, stürmen wir aufs Spielfeld. Die Offensive Line trägt Dub und Hakeem auf den Schultern über den Platz.
Wir sind höfliche Gastgeber, so haben Ms Robinson und die anderen es uns beigebracht. Also gratulieren wir auch dem Team der Excelsior. »Super Spiel! Echt gut!« Dann begeben wir uns gemeinsam mit den gegnerischen Fans zu den Food Trucks an der Koppel. Hat jemand Lust auf Carnitas?
Beim Sonntagsgottesdienst lobt die Kaplanin Laura Rae unsere »Resilienz« (sie verzichtet darauf, Cinnamon Peters zu erwähnen, aber das ist auch gar nicht nötig) und ruft uns dazu auf, stets bewusst und überlegt zu handeln – absichtsvoll, wie sie es nennt.
»Der zweite Platz im Ranking und der unerwartete Sieg des Football-Teams könnten den Schluss zulassen, dass die Tiffin in eine goldene Ära eingetreten ist«, erklärt sie. »Aber meiner Erfahrung nach ist Erfolg stets mehr als nur ein glücklicher Zufall. Ihm gehen harte Arbeit und unermüdlicher Einsatz voraus.«
Irgendwie schafft es Laura Rae immer, uns zu vermitteln, was wir tun sollen, ohne direkte Ansagen zu machen. Wir setzen uns aufrechter hin und packen die im Gebetbuch versteckten Handys weg.
In der folgenden Woche erscheinen wir pünktlich und gut vorbereitet zum Unterricht und hören aufmerksam zu. Die Hemden der Jungs sind ordentlich in die Hosen gesteckt, die Krawatten sauber gebunden (Windsorknoten liegen dieses Jahr im Trend, Teague Baldwin – der einzige modekundige Schüler der Abschlussklasse – hat den anderen Jungen eine Anleitung auf YouTube gezeigt). Die Rocksäume der Mädchen enden unterhalb ihrer ausgestreckten Fingerspitzen. Seit Anfang des Schuljahres wurde kein einziger Regelverstoß gemeldet. Wann hat es das schon einmal gegeben?
Am Montagabend findet die erste Burger Night statt, bevor wir uns zur Piano Bar versammeln. So ist es Tradition, seit Chef Haz da ist. Wir wählen zwischen Bergkäse und Cheddar, knusprigem Bacon oder in Scheiben geschnittener Ochsenherztomate, hausgemachten Essiggurken, Burgersoße oder einfach nur Ketchup, Burgern im Brioche-Brötchen oder der Low-Carb-Variante im Salatblatt. Nach dem Abendessen im Paddock laufen einige von uns hinüber zum Teddy und holen sich schnell noch einen Milchshake im Grille, während unser Musiklehrer Mr Chuy schon am Flügel sitzt und die ersten Liederwünsche entgegennimmt. Im letzten Jahr waren es vor allem die Mitglieder des Chors und der Theatergruppe, die zur Piano Bar kamen – Cinnamon Peters saß jede Woche neben Mr Chuy auf der Bank –, doch mittlerweile hat sich herumgesprochen, wie viel Spaß das Ganze macht. Mr Chuy spielt hauptsächlich alte Songs wie »Rich Girl« oder »Santeria«, aber manchmal überrascht er uns auch. Zum Abschluss der ersten Piano Bar des neuen Schuljahrs ertönt »Love Story« von Taylor Swift. Die Mädchen (und auch ein paar der Jungs) rasten vor Begeisterung fast aus.
Dub Austin lag falsch: Der zweite Platz ist keine Niederlage. Seit der Veröffentlichung des Rankings bewegen wir uns in einer ganz anderen Sphäre. Wir haben das Gefühl, in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten zu leben.
Auswahl an frisch gebackenem Brot und Brötchen mit Petersilien-Zitronen-Butter
Salatbar
Heutige Specials: geröstete Ringelbete, Rosmarin-Bacon-Pekannüsse, cremiges Ahornsirup-Dressing
Tagessuppe
Sommerkürbissuppe
Hauptspeisen
Brathähnchen an Zitronen-Weißwein-Soße, Miesmuscheln in Tomaten-Schalotten-Sud, Ziegenkäse-Pilz-Ravioli mit Minzpesto
Beilagen
Crispy Fries, gedünsteter Spinat mit Knoblauch
Desserts
Apple Crumble mit Amaretto-Sahne, Schoko-Cupcakes mit Kokos-Pekannuss-Frosting
Rhode Rivera kennt das Sprichwort Wer nichts kann, wird Lehrer, aber es hat ihn immer kaltgelassen. Hat die Pandemie nicht gezeigt, dass Lehrkräfte – neben den Beschäftigten im medizinischen Bereich – die Helden des Alltags sind? Seine Stelle an der Tiffin ist ein absoluter Glücksfall: Das Gehalt ist akzeptabel, die Schulumgebung ästhetisch ansprechend, er bekommt Kost und Logis, und die Arbeit ist erfüllend. Rhode strebt an, einer der Lehrer zu werden, an die sich Ehemalige später gern zurückerinnern, wenn sie in die weite Welt hinausgezogen sind.
Doch ein kleiner Teil von ihm befürchtet, dass sein neues Dasein auch etwas armselig ist. Er unterrichtet nicht nur an einer Highschool, sondern an seiner alten Highschool – als wäre das Leben eine Art Leiterspiel und er gerade wieder zum Ausgangspunkt zurückgerutscht. Früher, als er im Englischunterricht in der ersten Reihe saß (Raum 108, genau wie heute) und Doc Bellamys Ausführungen über Die rote Tapferkeitsmedaille von Stephen Crane lauschte, hatte er große Träume für sein Leben. Hätte ihm damals jemand erzählt, dass er zwanzig Jahre später Bellamys Nachfolge antreten würde, hätte er demjenigen den Mittelfinger gezeigt.
Wie ist er hier gelandet?
Im Mai hatte Rhode den Thoroughbred Tribune erhalten, den halbjährlichen Newsletter, der alle Ehemaligen über die aktuellen Ereignisse an der Tiffin auf dem Laufenden hält (und zum Spenden aufruft). Da Rhode kaum genug Geld hatte, um selbst über die Runden zu kommen, schenkte er dem Tribune für gewöhnlich keine große Beachtung und warf nur einen Blick in den hinteren Teil, wo die erwähnenswerten Erfolge anderer Ehemaliger aufgelistet waren. Irgendwelche Neuigkeiten von der Abschlussklasse 2003? Na klar – Hochzeiten, Kinder, neue politische Ämter, bahnbrechende Forschungsergebnisse, Börsengänge, Galerieeröffnungen, Chefarzternennungen. 2017 hatte Rhode selbst einen Erfolg vermelden können: die Veröffentlichung seines ersten Romans, Der Prinz des kleinen Zwölften. Das Buch hatte gute Kritiken erhalten, und Rhode war als neuer Stern am New Yorker Literaturhimmel gefeiert worden. Es folgten eine Autogrammstunde in einer angesagten Buchhandlung in der City, ein Interview mit Terry Gross in der Radiosendung Fresh Air und ein Kurzprofil in einer Kolumne des New York Magazine, für das er nach seinen Lieblingskneipen gefragt wurde, als wäre er der neue Norman Mailer.
Der Prinz des kleinen Zwölften verkaufte sich gut genug, dass Rhode einen Vertrag über einen zweiten Roman erhielt. Dieser trug den Titel Die Schriftsteller und handelte von einer Gruppe Studierender, die einen renommierten Workshop für literarisches Schreiben an einer Uni im Mittleren Westen besuchen und alle den nächsten großen amerikanischen Roman schreiben wollen. Rhode rechnete damit, dass Die Schriftsteller noch erfolgreicher sein würde als der Prinz, aber das Buch erschien im Frühjahr 2020, parallel zum Ausbruch der Pandemie. Rhodes Lesereise schrumpfte zu einer Handvoll schlecht besuchter Zoom-Lesungen zusammen. Er versuchte, sein Werk bei Bookstagram zu platzieren, doch dort warf man ihm vor, dass es seinen weiblichen Figuren »an Authentizität mangelt«.
Die Einnahmen durch Die Schriftsteller spielten nicht einmal den Verlagsvorschuss ein. Dieser Misserfolg – der Roman war kein echter Flop gewesen, aber irgendwie doch – zwang Rhode dazu, sich mit seiner beruflichen und finanziellen Zukunft auseinanderzusetzen.
Kurz darauf nahm er eine Stelle als Dozent am Queens College an und tauschte sein Zweizimmerapartment in der Upper East Side gegen eine Einzimmerwohnung in Queens ein, was sich als Glückstreffer herausstellte, weil er dadurch eine Frau namens Lace Ann kennenlernte. Lace Ann wohnte im gleichen Haus wie er und war Bäckerin – ihre Spezialität waren herzhaft gefüllte Croissants. Bei ihrer ersten Begegnung im Aufzug hatte sie etwas Mehl an der Nase, und der Rest verlief wie in einem kitschigen Liebesfilm. Die beiden waren fast drei Jahre zusammen. Rhode unterrichtete an der Uni und versuchte sich ein halbes Dutzend Mal an einem dritten Roman, während Lace Ann alles daransetzte, eine eigene Bäckerei zu eröffnen.
Irgendwann fand sie einen Investor – einen Tech-Millionär namens Miller, der nicht nur einen aggressiven Händedruck hatte, sondern auch in jedem Gespräch seinen Yale-Abschluss heraushängen ließ. Miller stellte Lace Ann genügend Startkapital zur Verfügung, um einen schicken Laden im angesagtesten Teil der Ludlow Street zu mieten. Lace Ann gab ihrer Bäckerei den Namen Atelier 2A, und dank einer Reihe wichtiger New Yorker Influencer und Influencerinnen dauerte es nicht lange, bis die Leute dort Schlange standen. Dann wurde die Schlange selbst zum Thema – die gefüllten Croissants im Atelier 2A waren regelmäßig schon um zehn Uhr morgens ausverkauft – und kurz darauf kam ein Anruf von Williams-Sonoma. Das Lifestyle-Unternehmen wollte Lace Anns Backwerk in sein Sortiment aufnehmen.
Muss man noch erklären, wie die Geschichte weiterging? Lace Ann war »überwältigt« von ihrem Erfolg, auf einmal war sie der Liebling der New Yorker Gastroszene, der überallhin eingeladen und in allen Zeitungen porträtiert wurde. Sie bat Rhode um »eine Beziehungspause«, um sich »an ihr neues Leben zu gewöhnen«. Ein Teil dieses »neuen Lebens« bestand darin, ihren Investor, den Yale-Absolventen Miller, zu daten.
Das Stellenangebot an der Tiffin war ein Geschenk des Himmels.
Rhode verspürte eine gewisse Befriedigung, als er am Einzugstag eine Nachricht von Lace Ann erhielt: Wow! Die Tiffin auf Platz 2! Glückwunsch! Auf seinem Handybildschirm stiegen bunte Ballons auf.
Jetzt, anderthalb Wochen später, muss Rhode sich der Realität seines neuen Lebens stellen. Er hat die erste Schulwoche damit verbracht, sich Namen einzuprägen und mit den Schülerinnen und Schülern Anne Sextons Gedicht »Der Kuss« zu lesen. Dann hat er ihnen Herman Melvilles Erzählung »Bartleby, der Schreiber« vorgesetzt, auch wenn ein Großteil des Kurses damit nichts anfangen konnte. Als Nächstes würde er gern Jonathan Escofferys Kurzgeschichten durchnehmen, um in die Themen race und Identität einzusteigen, aber die Genehmigung seiner Leseliste steht immer noch aus. Wie kann das sein? Audre Robinson – die erste Frau und erste Person of Color an der Spitze der Tiffin – hat Rhode ausdrücklich signalisiert, dass sie seine Begeisterung für eine auf Diversität ausgerichtete Lektüreauswahl gutheißt.
Doch am Freitagnachmittag, als die Schülerinnen und Schüler aus den Klassenzimmern strömen und über den unnatürlich grünen, topgepflegten Rasen laufen, um pünktlich zum Football-, Hockey- oder Fußballtraining zu kommen, erhält Rhode eine Mail von Audre. Der Betreff lautet Leseliste.
Nach längerer Diskussion … bla, bla, bla … ist der Entschluss gefallen … bla, bla, bla … dass Sie bestimmte Texte aus Dr. Bellamys Liste in Ihren Lehrplan übernehmen müssen. Dazu zählen …