Irrlicht 55 – Mystikroman - Gabriela Stein - E-Book

Irrlicht 55 – Mystikroman E-Book

Gabriela Stein

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. In diesem Augenblick glaubte Maria das Atmen einer Person in ihrem Zimmer zu vernehmen. Ganz langsam drehte sie sich um, bemüht, keinen noch so leisen Laut zu machen. Ihre Augen waren groß und vor Entsetzen starr. Nichts, sie war allein im Raum. Und doch hörte das Atmen nicht auf. Es war da und so nahe, daß sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um jemanden zu berühren. Es war ein trüber, regnerischer Apriltag. Jessica Bruckdorf lauschte einen Moment nach draußen, als es gegen neun Uhr klingelte. Die Mutter war sicher wieder vor dem Bildschirm eingeschlafen. Sie war Kinderärztin und den ganzen Tag über sehr angespannt. Jessica rief: »Ich komme, einen Augenblick, bitte!« »Ein Telegramm«, hörte sie drau-ßen eine männliche Stimme sagen. Jessica machte die Tür einen Spaltbreit auf und steckte den Kopf hinaus. »Frau Dr. Maria Bruckdorf? Sind Sie das?« Der Bote schaute das junge Mädchen etwas mißtrauisch an. Jessica lachte. »Es ist meine Mutter«

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Irrlicht – 55 –

Geheimnisvolles Haus am Meer

Erst die Erbschaft – dann der Schrecken…

Gabriela Stein

In diesem Augenblick glaubte Maria das Atmen einer Person in ihrem Zimmer zu vernehmen. Ganz langsam drehte sie sich um, bemüht, keinen noch so leisen Laut zu machen. Ihre Augen waren groß und vor Entsetzen starr. Nichts, sie war allein im Raum. Und doch hörte das Atmen nicht auf. Es war da und so nahe, daß sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um jemanden zu berühren.

Es war ein trüber, regnerischer Apriltag.

Jessica Bruckdorf lauschte einen Moment nach draußen, als es gegen neun Uhr klingelte.

Die Mutter war sicher wieder vor dem Bildschirm eingeschlafen. Sie war Kinderärztin und den ganzen Tag über sehr angespannt.

Jessica rief: »Ich komme, einen Augenblick, bitte!«

»Ein Telegramm«, hörte sie drau-ßen eine männliche Stimme sagen.

Jessica machte die Tür einen Spaltbreit auf und steckte den Kopf hinaus.

»Frau Dr. Maria Bruckdorf? Sind Sie das?« Der Bote schaute das junge Mädchen etwas mißtrauisch an.

Jessica lachte. »Es ist meine Mutter«, sagte sie und nahm das Papier entgegen.

Sie hörte, wie sich der junge Mann entfernte. Wer schickte ihrer Mutter noch zu so später Stunde ein Telegramm?

»Mutti!« rief sie. »Mutti, wach doch auf! Du hast ein Telegramm bekommen!«

Schlaftrunken öffnete Maria Bruckdorf die Augen.

»Das ist bestimmt eine Verwechslung«, sagte sie überzeugt. »Es telegrafiert ein Rechtsanwalt und Notar Dr. Anderson. Hast du den Namen schon mal gehört?«

»Kenne ich nicht«, antwortete Jessica. »Gib doch mal her!«

Maria reichte ihrer Tochter die Nachricht. Aber auch Jessica konnte mit dem Inhalt eigentlich nichts anfangen.

»Wenn es keine Verwechslung ist, wirst du morgen am Vormittag zu ihm müssen, Mutti.«

»Ich kann mir nicht denken, was der Mann von mir will. Außerdem kann ich aus der Praxis nicht weg. Ich werde ihn anrufen. Vielleicht ist diese Nachricht wirklich nicht für mich bestimmt.«

»Aber es steht ausdrücklich Dr. Maria Bruckdorf als Adresse darauf, Straße, Hausnummer, alles stimmt. Wieso nimmst du an, daß es nicht für dich wäre?«

Maria gähnte herzhaft und antwortete dann: »Ich wüßte wirklich nicht, warum mir ein Notar eine so eilige Nachricht zukommen lassen sollte.«

»Vielleicht hast du eine tolle Erbschaft gemacht, und er will es dir schnell mitteilen?« Jessica blinzelte ihre Mutter spitzbübisch an.

»Das kannst du vergessen«, erwiderte Maria lachend. »Aber nun ab ins Bett! Ich bin auch wirklich hundemüde.« Sie reckte sich noch einmal wohlig und schläfrig. »Du liebe Güte, ich möchte mal ein paar Wochen irgendwohin fahren, ausspannen, einfach tun, was ich möchte.«

»Und was möchtest du, Mutti?«

»So in den Tag hineinleben, spazierengehen, schlafen, gut essen, ein gu-tes Buch lesen.« Marias Augen blickten selbstvergessen.

»Das könntest du?«

»Für einige Wochen bestimmt.«

»Denk an deine Figur, Mutti, du könntest sie dir dabei ganz schon verbiegen!« rief Jessica, und der Schalk saß ihr im Nacken.

»Nun mach aber, daß du verschwindest!« sagte Maria mit gutgespielter Entrüstung.

Jessica lachte übermütig.

»Vielleicht bist du morgen eine ganz reiche Frau, Mutti, dann kannst du dir all diese Wünsche erfüllen. Aber wie ich dich kenne, würde es dir bald langweilig werden.«

»Sicher«, murmelte Maria. »Nun geh aber schlafen, Jessica. Gute Nacht, mein Kind!«

»Gute Nacht, Mutti!«

*

Als Jessica am nächsten Mittag von der Schule kam, um die Mutter von der Praxis abzuholen, staunte sie nicht wenig, als ein handgeschriebener Zettel an der Tür klebte.

Wegen dringender familiärer Angelegenheiten ist die Praxis für eine Woche geschlossen. Vertretung Dr. B. Bertram, Voigtstr. 3.

Jessica las die Notiz noch einmal. Ihr Blick blieb an dem Namensschild ihrer Mutter haften. Dr. Maria Bruckdorf, Kinderärztin, stand da.

Vielleicht würde eines Tages auch ihr Name hinzukommen: Jessica Bruckdorf. Sie lächelte bei dem Gedanken. Dann eilte sie die Treppe hinunter und lief um die Ecke, wo die beiden Frauen eine kleine, aber geschmackvolle Wohnung besaßen.

Sie fand ihre Mutter im Schlafzimmer. Maria war gerade damit beschäftigt, einen Koffer für wenige Tage zu packen.

»Mutti?« fragte Jessica überrascht. »Du willst verreisen?«

»Stell dir vor, Jessica, wir haben tatsächlich geerbt.«

»Nicht zu fassen! Was denn und von wem?«

Maria hielt mit dem Kofferpacken inne. Ein versonnener Blick glitt zu ihrer Tochter hinüber. »Es ist mir völlig unverständlich, aber es entspricht den Tatsachen. Ich konnte mich selbst beim Notar davon überzeugen.«

»Spann mich nicht auf die Folter, Mutti!«

»Ich habe ein Haus geerbt von einer…« Sie hielt inne. »Es widerstrebt mir, Freundin zu sagen, eine wirkliche Freundin war mir Lene Dörner eigentlich nie.«

»Sie hat dir wirklich ihr Haus vererbt, diese Frau Dörner?«

»Seltsamerweise, ja. Ich begreife es auch nicht. Seit Jahren habe ich nichts mehr von ihr gehört. Es hieß damals, sie habe geheiratet und sei fortgezogen. Warte mal, das sind jetzt zwanzig Jahre her. Damals hatten dein Vater und ich gerade geheiratet.«

Jessica fuhr auf. »Du willst damit doch nicht behaupten, daß ihr überhaupt keine Verbindung mehr hattet?«

»So ist es.«

»Merkwürdig.« Jessica sagte es mit einem seltsamen Blick auf ihre Mutter, die nun ihrerseits verwundert aufhorchte.

»Hat sie keine anderen Erben gehabt aus ihrer eigenen Verwandtschaft?«

Frau Bruckdorf zog die Schultern hoch und bemühte sich, ihren Koffer zu schließen.

»Was meint denn der Notar?«

Maria ließ die Schlösser ihres Koffers zuschnappen und stellte ihn auf die Erde, dann richtete sie sich auf.

»Der Notar? Ein seltsamer Mensch, er war sehr zugeknöpft. Ich hatte den Eindruck, daß er mir kei-nerlei Informationen geben wollte.«

»Hat Frau Dörner keinen Brief für dich hinterlassen?«

Maria schüttelte den Kopf. Sie hängte die Kleider, die auf dem Bett lagen, in den Schrank zurück und schloß die Tür.

»Kein Brief, keine Nachricht, nichts.«

»War er alt?« fragte Jessica ohne Übergang.

»Wer?«

»Mutti! Der Notar natürlich!«

Maria sah ihre Tochter lachend an. »Kommt darauf an, was du unter alt verstehst?«

»Na ja«, antwortete Jessica etwas verlegen. »Du weißt schon, was ich meine.«

»So um die fünfundsechzig wird er wohl gewesen sein, aber ich kann mich auch täuschen!«

»Und er hat nichts weiter über seine Klientin geäußert?«

»Nein. Natürlich wollte ich einiges über Lene erfahren. Wie sie lebte zum Beispiel. Was sie tat, mit wem sie verheiratet war und ob es keine anderen Erben gab. Schließlich hinterläßt sie mir ein Haus und erfüllt mir damit unseren Herzenswunsch. Daß gerade sie mir diesen Traum erfüllt, ist mir völlig unverständlich, irgendwie verrückt.«

»Verstehe ich nicht«, entgegnete Jessica ungerührt. »Du sagst das so sonderbar.«

Maria biß sich auf die Lippen. »Unverständlich darum, weil sie mich haßte.«

Jessica bekam große Augen. »Sie haßte dich? Warum?«

»Ja, sie haßte mich. Sie bildete sich ein, ich hätte ihr deinen Vater fortgenommen.«

»Und?« fragte Jessica mit gespannter Aufmerksamkeit. »Hast du?«

»Ach«, machte Maria kurz. Sie wollte nicht darüber reden, es war so lange her. Aber Jessica blieb hartnäckig.

»Nun bekenne!« forderte sie ihre Mutter lachend auf.

»Ich gebe zu, daß sie zuerst mit Vater bekannt war. Sie nahm mich dann eines Tages zu irgendeinem Fest mit, auf das sie nicht allein gehen wollte, und so lernte ich deinen Vater kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick.«

»Liebe auf den ersten Blick«, wiederholte Jessica spöttisch. »Gibt es das überhaupt?«

Maria lächelte. Jessica war noch jung, ihr war halt noch nicht der Richtige begegnet. Aber er würde kommen, eines Tages, wenn sie nicht damit rechnete.

»Ja, mein Kind, das gibt es.«

Sie nahm den Koffer auf und trug ihn hinaus auf die Diele. Jessica folgte ihrer Mutter.

»Du willst allein reisen, Mutti? Nimm mich doch mit!«

»Es ist nicht gut, wenn du die letzten Tage auf dem Gymnasium versäumst, Jessica.«

»Aber die Prüfungen sind alle abgeschlossen, es ändert also nichts mehr, wenn die letzten Tage ohne mich abrollen.«

»Nein!« entgegnete Maria streng, und es klang abschließend.

Jessica rümpfte die Nase und stampfte leicht mit dem Fuß auf.

Ihre Mutter warf ihr einen fragenden, bezwingenden Blick zu. Jessica war ganz die Tochter ihres Vaters, nicht nur äußerlich, sondern auch im Temperament. Er hatte auch fuchs-teufelswild werden können, wenn ihm etwas nicht auf Anhieb gelang.

»Schon gut, Mutti. Wie lange bleibst du?«

»Ich denke, daß ich in einigen Tagen zurück bin. Wir werden dann den Urlaub abwarten, um gemeinsam hinzufahren. Hoffentlich lohnt sich diese weite Reise auch«, sagte sie skeptisch.

»Weite Reise?« staunte Jessica. »Es liegt hoffentlich nicht am Ende der Welt?«

»Ein Haus am Meer!«

»Klingt gar nicht schlecht, ein Haus am Meer. Fast wie der Buchtitel eines Romans.«

»Und doch habe ich ein ungutes Gefühl bei der ganzen Angelegenheit.«

»Wieso? Meinst du, daß es vielleicht ein verfallenes Haus sein könnte, das sie dir überläßt, um dich zu ärgern?«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich kann diese Empfindung nicht deuten. Mein Gefühl warnt mich halt, das ist alles.«

Schlagartig machte nun Jessica ein sehr besorgtes Gesicht. »Du hast eine Vorahnung?« fragte sie halb belustigt, halb ängstlich.

»Du hast zuviel Phantasie, mein Kind.« Maria lachte, aber das Lachen erstarb plötzlich auf ihren Lippen. Jessica hatte wirklich gar nicht so unrecht.

»Du solltest nicht allein fahren, Mutti!« bat die Tochter. »Wer weiß, was dich so alles erwartet.«

Maria wurde ärgerlich. »Sei kein Frosch, Jessica! In längstens fünf Tagen bin ich zurück, dann wissen wir mehr.«

Das junge Mädchen beobachtete ihre Mutter sehr genau. Wenn Maria Bruckdorf diesen Blick hatte, war sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache.

Jessica machte noch immer ein sauertöpferisches Gesicht, ohne daß es ihr bewußt wurde. Ein Gedanke schoß ihr plötzlich durch den Kopf, den sie spontan aussprach.

»Wenn es aber dort spukt?«

Maria bog den Kopf zurück und lachte. »Lene Dörner spukt bestimmt nicht«, erwiderte sie, und beide lachten erneut. »Nun hör aber auf mit deinen Unkereien.«

»Ich wollte dich ja eigentlich auch nur dazu bewegen, mich mitzunehmen.«

»Das haben wir doch nun hinlänglich besprochen, Jessica. Sei vernünftig und quäl mich nicht. Ich hätte dich gern mit genommen, aber die Schule ist nun mal wichtiger. Wenn es sich im ererbten Haus wohnen läßt, werden wir unsere Ferien genießen. Später kann man dann weitersehen. Ich möchte auch nachforschen, ob es nicht doch noch nähere Verwandte gibt. Ich habe nicht vor, ihnen das Erbe der Lene vorzuenthalten. Ich bin schließlich eine völlig Fremde. Sie muß dieses Testament aber aus irgendeinem Grund so abgefaßt haben, daß die Verwandten sich nicht dagegen gewehrt haben, denn sie soll schon zwei Monate tot sein.«

»Ach!«

Ein Ausruf der Verwunderung drang an Marias Ohr. Sie stutzte einen Moment und sah ihre Tochter fragend an.

»Vielleicht hat ein Verwandter das Erbe ausgeschlagen und sie hat dich als eventuellen zweiten Erben eingesetzt?«

»Das habe ich auch erst gedacht und diesbezüglich den Notar um Auskunft gebeten, aber er schien meine Frage nicht gehört zu haben, oder er wollte es nicht. Wenn ich jetzt dar-über nachdenke, so kam es mir vor, als wollte er mir absichtlich nicht antworten. Er benahm sich überhaupt recht merkwürdig.«

»Wieso merkwürdig?«

»Er sprach – und jetzt erinnere ich mich ganz deutlich – nur mit abgewandtem Gesicht. Verstehst du, er sah mir nicht in die Augen. Ein seltsamer Mensch.«

»Das muß ein schöner Trottel gewesen sein«, war Jessica mit ihrem schnellen Urteil fertig.

»Jessica!«

Das junge Mädchen nahm die Mutter in die Arme und küßte sie. »Ist schon gut, Mutti, es soll nicht wieder vorkommen.«

»Du bist manchmal wirklich schrecklich, mein Kind.«

»Ich bin ganz zerknirscht, Mutti.« Mit diesen Worten umarmte Jessica ihre Mutter erneut. »Es wird ein herrliches Leben werden, Mutti, vorausgesetzt, das Wasser kommt bei Regen nicht durch die Zimmerdecke.«

Maria schüttelte den Kopf. »Vorstellungen hast du?« sagte sie.

Dann sah sie auf die Uhr. Nun kam Bewegung in sie. »Willst du mich zum Zug begleiten? Dann müssen wir jetzt aufbrechen, es ist höchste Zeit.«

»Ehrensache, Mutti«, antwortete Jessica.

*

Eine halbe Stunde später saß Maria Bruckdorf im Zug nach Garden. Sie kuschelte sich in eine Ecke ihres Fensterplatzes und schlief sofort ein.

Es dunkelte schon, als sie die Augen wieder aufschlug und hinter ihrem Mantel hervorlugte. Sie sah direkt in die Augen eines Mannes, der ihr gegenübersaß und sie merkwürdig interessiert ansah.

Seine Augen hatten die Farbe von intensivem Blau. Sie fielen Maria als erstes auf. Ein Lächeln war in diesen Augen. Als Maria aber sein ganzes Gesicht mit einem Blick erfaßte, zuckte kein Muskel. Ein leichtes Erschrecken, oder Verwunderung, oder eine Frage, irgend etwas schien dieses Gesicht jedoch auszudrücken.

Maria war auf eine ganz eigene Weise berührt. Sie legte den Kopf etwas schief, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Kennen wir uns?« fragte sie höflich, aber bestimmt. »Oder warum sehen Sie mich unentwegt an?«

Er beugte sich vor. »Ich denke nicht, daß wir uns kennen«, antwortete er amüsiert, was sie sofort in Verwirrung brachte. »Aber das können wir nachholen.«

»Was fällt Ihnen ein!« entgegnete sie entrüstet.

Seit ihren Mädchenjahren war sie nicht mehr auf eine so unverhohlene Weise angesprochen worden. Dabei hatte sie das unbestimmte Empfinden, als könnte sie dem Fremden nicht einmal böse sein. Seine Persönlichkeit strahlte eine selbstverständliche Ruhe aus.

»Schließen Sie immer so schnell Bekanntschaften?« fragte sie selbstbewußt.

»Ich nehme Ihre Worte als Zurechtweisung an«, entgegnete er, während sein Mund sich zu einem Lächeln verzog. »Können Sie mir verzeihen?«

Darauf gab sie keine Antwort, sondern blickte nun sehr interessiert hinaus. In den Scheiben sah sie sein Gesicht etwas verwischt. Sie sah sein Lächeln, das noch immer um seine Lippen spielte.

Er mochte spüren, daß sie ihn durch die Scheiben beobachtete. Draußen war es bereits dunkel geworden, und so glich das Fenster einem Spiegel.

»Ist es nicht anstrengend, die ganze Zeit in die Dunkelheit zu schauen?« hörte sie ihn fragen.

Sie fühlte sich ertappt und wandte sich nun leicht überrascht zu ihm um. Ihre Augen blitzten ihn an, aber sie äußerte sich nicht.

»Ich fahre zum Beispiel nach Garden Ost«, erklärte er, um mit ihr in ein Gespräch zu kommen.

Maria blickte verwundert auf. »Garden Ost?« fragte sie verwundert. »Gibt es auch ein Garden Süd, oder Nord, oder West?«

»Nein, nein«, wehrte er lachend ab. »Es gibt nur ein Garden Ost und ein Garden Süd.«

»Du liebe Güte!« rief Maria erregt aus. »Da weiß ich ja gar nicht, wo ich aussteigen muß.«

»Fahren Sie zum erstenmal nach Garden?«

»Ja.«

»Dann besuchen Sie sicher jemanden, nicht wahr? Vielleicht nennen Sie mir die Straße, oder den Namen? Ich kenne mich in Garden gut aus. Die meisten Leute sind mir bekannt.«

Er beugte sich vor. »Mein Name ist Lothar Lohneck, praktischer Arzt in Gesamt-Garden und Umgebung.«

Maria schaute verwundert auf, dann lachte sie ihn aufatmend an. »Ich bin Maria Bruckdorf. Kinderärztin«, stellte sie sich nun um vieles freundlicher vor.

»Aber da sind wir ja Kollegen.«

»Welch ein Zufall, nicht wahr?«

»Wenn ich Ihnen helfen kann, verehrte Frau Kollegin? Bis wir ankommen, wird es bereits neun Uhr sein. Da ist kaum jemand auf der Straße. den Sie nach dem Weg fragen konnten. Die Leute in Garden gehen früh schlafen.«

Maria nickte. So ungefähr hatte sie sich Garden auch vorgestellt. Wenn es Abend wurde, verkrochen sie sich hinter ihren Türen, wie Schnecken in ihre Häuser.

»Ich muß in die Strandstraße, in das Haus von Frau Lene Dörner.«

»Wie interessant. Ist Frau Dörner eine Verwandte von Ihnen?«

Er fragt es etwas merkwürdig, fand sie. Ein kaum zu deutendes Gefühl kroch in ihr hoch. »Kennen Sie Frau Dörner?«

Er lehnte sich in die Polster zurück und betrachtete Maria eingehender. »Flüchtig«, war seine lakonische Antwort.

Sie hatte den Eindruck, daß er nicht viel von Frau Dörner hielt. Irrte sie sich, oder war sein Gesicht jetzt reservierter?

»Wir gingen gemeinsam zur Schule«, gab Maria zur Auskunft. »Ich habe Lene lange Jahre nicht mehr gesehen.«

»Eine Auffrischung alter Beziehungen also?« fragte er spöttisch.

Wieder hatte Maria ein eigenartiges Gefühl. »Wohl kaum. Ich habe ihr Haus übernommen und war selber ganz überrascht, als ich es durch ihren Notar erfuhr. Sie hat es mir vererbt.«

»Das ist in der Tat eine Überraschung. Wissen Sie, daß wir dann Nachbarn werden?«

»Wieso?«

Die Reserviertheit in seinem Gesicht war verschwunden. »Wie geht es Frau Dörner? Ich habe sie lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nur manchmal sehe ich, daß sie mit einem Licht durch das Haus geistert.«

»Hat sie kein elektrisches Licht?« entfuhr es Maria. Sie sah den Kollegen verwundert an. »Das ist wohl schon eine Weile her, nicht wahr?«

»Zugegeben. Es berührt mich immer recht eigenartig, wenn ich das sehe. Mir scheint, sie ist zu geizig, um das elektrische Licht anzumachen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Rein gefühlsmäßig halt.«

Maria war, als säße ihr ein Kloß in der Kehle. Der Doktor hielt Lene also für geizig. »Frau Dömer ist seit zwei Monaten tot. Wußten Sie das nicht?«

Er starrte Maria an. »Sind Sie sich dessen auch ganz sicher?«

»Aber ja«, antwortete Maria verwirrt. Irgend etwas in den Augen des Mannes erschreckte sie. »Meinen wir auch dieselbe Person?«

»Nun, da wir Nachbarn sind, werde ich doch Frau Dörner kennen. Eine recht eigenartige Frau übrigens. Sie lebt sehr zurückgezogen, sucht und hat keinen Kontakt zu Nachbarn. Ich habe nach dem Tod ihres Mannes niemals mehr jemanden dort gesehen.«