Isegrim - Antje Babendererde - E-Book

Isegrim E-Book

Antje Babendererde

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Beschreibung

Ein ungesühntes Verbrechen. Ein düsteres Geheimnis. Und ein Mädchen, das nicht bereit ist, wegzusehen.  Der Wald ist Jolas Refugium. Hier kennt sie jeden Winkel, jeden Baum, jedes Tier. Hier ist sie weit weg von ihrer überängstlichen Mutter, der Langeweile in ihrem Heimatdorf und dem besitzergreifenden Freund. Doch in der letzten Zeit gehen Veränderungen im Wald vor sich. Irgendetwas oder irgendjemand treibt hier sein Unwesen, beobachtet sie, folgt ihr. Als Jola auf einen fremden Jungen trifft, der sie seltsam fasziniert, scheint das Rätsel gelöst. Sie ahnt nicht, welches düstere Geheimnis der Wald noch hütet. Und dass hinter allem ein furchtbares Verbrechen steht, das Jola seit fünf Jahren zu vergessen versucht.

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Seitenzahl: 501

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Antje Babendererde

ISEGRIM

 

 

»Isegrim« ist ein Roman. Sämtliche Personen und Geschehnisse sowie die Dörfer Altenwinkel und Eulenbach sind frei erfunden.

Weitere Bücher von Antje Babendererde im Arena Verlag:

Julischatten Rain Song Indigosommer Die verborgene Seite des Mondes Libellensommer Der Gesang der Orkas Lakota Moon Talitha Running Horse

 

 

Ich danke der Thüringer Kulturstiftung für die Unterstützung meiner Arbeit an diesem Roman.

 

 

 

1. Auflage 2013 © 2013 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider Umschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion, Stelle/Hamburg ISBN 978-3-401-80291-6

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Inhaltsverzeichnis

Schuld

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Willkommen Wolf

 

 

Homo homini lupus.

Wir lügen am besten, wenn wir uns selbst belügen. Stephen King

Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. William Faulkner, »Requiem für eine Nonne«

Schuld

Sie gab einen überraschten Laut von sich, als das Eisen ihr Herz durchbohrte. Seines hörte für Sekunden auf zu schlagen.

Sein Blick glitt über ihre dünnen Beine, das hochgerutschte hellblaue Kleid. Er fiel neben ihr auf die Knie. Der rote Fleck auf ihrer Brust entfaltete sich wie eine dunkelrote Rose, die in den Himmel blutet. Er hatte nicht gewusst, dass Blut so lebendig sein kann und dass es diesen metallischen Geruch hat.

Herzblut, schoss es ihm durch den Kopf. Jetzt bin ich ein Verdammter.

Schmerzende Übelkeit stieg in ihm hoch. Seine zitternde Hand näherte sich dem Stiel der Rose, diesem feucht glänzenden, dornenlosen Stab. Plötzlich flatterten ihre zarten Lider und er erstarrte vor Schreck. Wie Sonnenstrahlen war ihr blondes Haar um ihr Gesicht gebreitet, der zarte Ringelblumenduft überlagert vom Eisengeruch des Blutes. Ihre Augen waren blau, wie die ihrer Mutter, und so hell wie das Kleid mit der dunkelroten Rose. Ihre Lippen formten ein Wort. Kein Laut, nur Atem. Ihr letzter Atemzug, sein Name.

1. Kapitel

Ich verschlucke einen ungläubigen Laut, als ich die winzigen Mäusekadaver im Gezweig erblicke, vier an der Zahl, blutig gepfählt auf den langen Dornen des Schlehenstrauches.

Er ist nicht in der Nähe, der Würger mit seiner schwarzen Augenbinde, sonst hätte er mich längst entdeckt. Behutsam schiebe ich einen Zweig zur Seite und da ist es, das ein wenig unförmig geratene Nest. Sieben grünliche Eier mit purpurnen Flecken liegen in ihrer flauschigen Mulde aus Wollgras, Daunenfedern und Tierhaar.

Tierhaar? Ich schaue genauer hin. Nein, dafür ist es zu fein, zu lang. Eine gelockte Strähne hat sich vom dornenbewehrten Panzer des Nestes gelöst, die hellen Haare bewegen sich sacht im warmen Maiwind. Menschenhaar, durchzuckt es mich. Schaudernd lasse ich den Ast los, der mit einem Rascheln zurückschnippt.

Plötzlich ein raues Kreischen dicht über mir. Das weiße Nackengefieder des amselgroßen Vogels ist gesträubt, der Kopf nach vorn gestreckt, sein langer Schwanz aufgefächert wie bei einem Pfau. Vor Schreck mache ich eine unbedachte Bewegung, meine Füße verlieren den Halt auf dem umgestürzten Birkenstamm und ich rausche durch die Zweige der Schlehe. Dornenspitzen ritzen meine Haut wie scharfe Nadeln, verhaken sich in meinem T-Shirt und zerren an meinem Haar. Mit einem heiseren Schrei lande ich auf dem Hosenboden im Gras.

Der weiß-schwarze Vogel mit dem dunklen Hakenschnabel scheppert und kreischt. So wütend kann Angst klingen. Für den Würger bin ich ein Feind, der Vogel verteidigt seine Brut und seine makabere Vorratskammer.

Ich will ihn nicht stören. Schnell rappele ich mich auf und schultere meinen kleinen schwarzen Rucksack. Mit hastigen Schritten laufe ich quer über die Wiese zum Waldrand, tauche in den blauen Schatten der Kiefern. Mein Herz rast, doch der Aufruhr kommt nicht allein vom Schreck, den der Vogel mir mit seinem Gezeter eingejagt hat.

Ich kenne jede Ecke, jeden Winkel dieses Waldes, jeden Baum, jeden Stein und jede Kuhle und ich bin ganz bestimmt kein Angsthase – doch gegen die grauenvolle Erinnerung, die das gelockte Haar am Nest des Vogels in mir heraufbeschwört, bin ich machtlos. Sie fährt mir unter die Haut wie ein scharfer Splitter.

Unvermittelt ist alles wieder da, frisch, schmerzhaft und beklemmend. Vor fünf Jahren verschwand aus unserem Dorf ein elfjähriges Mädchen. Alina, ein blond gelockter Engel – meine beste Freundin. Ein Mann aus unserem Dorf hatte sie getötet, aber ihre sterblichen Überreste hat man nie gefunden.

Ich stolpere über eine Wurzel und unterdrücke einen Fluch. Als ich den Kopf einziehe, um mich unter einem Kiefernast hinwegzuducken, spüre ich plötzlich die dunkle Schwere eines Blickes in meinem Rücken. Die feinen Härchen auf meinen Armen richten sich auf.

Wer sollte mich hier beobachten?

Ich fahre herum, mein Blick hetzt über das Dickicht von Beerensträuchern, Birkengestrüpp und Kiefernschösslingen. Meine Sinne sind angespannt, meine Atmung beschleunigt sich, Kälte steigt mir das Rückgrat hinauf, während gleichzeitig Schweiß zwischen meinen Brüsten herabrinnt. Da … ein leises Rascheln hinter dem Gesträuch. Bin ich nicht allein? Schwachsinn, sagt mein Verstand, doch mein Blick versucht fieberhaft, das wuchernde Grün zu durchdringen. Ein Reh vermutlich. Was sonst? Ich spüre das Pochen meines Herzens im ganzen Körper.

Man kann auch vor Angst sterben.

»Hallo«, rufe ich. »Ist da wer?«

Meine Stimme klingt fremd und wacklig. Ich stehe und lausche, bis mir die Ohren dröhnen. Das Knacken brechender Zweige beendet die Stille und mein Mut schrumpft. Ich drehe mich um, gehe ein paar Schritte rückwärts, dann laufe ich los. Ich achte nicht auf die Äste, die mir ins Gesicht peitschen, und nicht auf meinen Rucksack, der mir gegen den Rücken schlägt. Wie gehetztes Wild springe ich über Wurzeln und am Boden liegende Äste, schliddere einen Grashang hinunter und springe wieder auf die Füße. Ich kann ziemlich schnell und lange rennen, ohne aus der Puste zu kommen, aber diesmal keuche ich wie eine alte Frau.

Das macht mich wütend. Ich bin die Herrin des Waldes, er ist mein Refugium – und ich habe mich von einem lächerlichen Knacken in die Flucht schlagen lassen, bloß wegen einer dämlichen Haarsträhne an einem Vogelnest.

Lass es nicht zu, Jola, warnt die Stimme in meinem Kopf. Du hast keine Angst. Du kennst keine Angst. Lass nicht zu, dass sie Besitz von dir ergreift, sonst endest du wie deine Mutter. Angst ist eine Falle, Angst macht dich zum Opfer. Sie kann dich auffressen wie ein wildes Tier und nichts als bleiche Knochen übriglassen.

Doch meine Beine werden immer schneller.

Ohne mich umzudrehen oder auszuruhen, lasse ich zwanzig Minuten später die Schatten des Waldes hinter mir und erreiche den Holzstoß am Forstweg. Mein Fahrrad, das mich zurück ins Dorf bringen wird, lehnt an den sauber aufgestapelten und mit grünen Punkten markierten Stämmen. Das Adrenalin tobt noch durch meinen Körper, ich habe Seitenstechen – aber alles ist wieder unter Kontrolle. Als ich nach dem Lenker greife, nehme ich im linken Augenwinkel eine schattenhafte Bewegung wahr.

Ein dumpfer Schrei kommt aus meiner Kehle, ich reiße die Arme in die Höhe, stolpere ein paar Schritte rückwärts und setze mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Hosenboden. Ein zerzauster schwarzer Lockenkopf erscheint hinter dem Holzstoß, ich blicke in Kais Grinsegesicht.

»Hey, was ist denn mit dir los?«, fragt er mit gespielter Besorgnis. »Du siehst aus, als hättest du ein Eichhörnchen verschluckt.«

Meine Hände tasten über den Waldboden und werden fündig. Ich bewerfe Kai mit Kiefernzapfen und Rinde, schimpfe wie ein Rohrspatz, habe endlich jemanden, an dem ich die Wut über meine Angst auslassen kann.

»Idiot«, stoße ich hervor, »du sollst dich nicht so anschleichen.«

Kai lacht. Sein warmes, vertrautes Kai-Lachen. Mit eingezogenem Kopf und filmreifer Abwehr-Pantomime kommt er auf mich zu und reicht mir seine Hand. Ich greife danach und mühelos zieht er mich hoch.

Kai trägt ausgewaschene graue Cargoshorts und sein geliebtes schwarzes Party Hard-T-Shirt, das er sich in Berlin auf unserer Klassenfahrt gekauft hat und das er nur noch auszieht, wenn es vor Dreck starrt oder nach Schweiß riecht. Kai Hartung und ich kennen uns, seit wir krabbeln können. Er war mein bester Freund, bis in den Winterferien aus dieser Freundschaft mehr geworden ist.

»Hey, du blutest.« Kai lässt mich los und schiebt mit Daumen und Zeigefinger meinen Kopf zur Seite.

Ich fasse an meine rechte Wange. »Dornen«, sage ich. »Was machst du überhaupt hier?« Es kommt nur äußerst selten vor, dass Kai im Wald anzutreffen ist.

»Deine Mutter hat gesagt, dass ich dich hier vielleicht finde.«

»Ja – und?«

»Ich habe Sehnsucht nach dir.« In gespielter Verzweiflung hebt er die Hände. »Aber du gibst dich ja lieber mit Schrecken und Schleichen ab als mit mir.«

Er meint Blindschleichen und Ödlandschrecken und ich muss mir ein Lächeln verkneifen.

»Ich habe ein Raubwürgergelege entdeckt, sieben grünliche Eier. Sie sehen aus wie gemalt, wunderschön. Dabei hab ich mir in der Schlehenhecke das Gesicht zerkratzt.« Als ich mit der flachen Hand über meine Wange reibe, brennt es wie Feuer.

Kai betrachtet mich mit einer Mischung aus milder Nachsicht und Spott, aber sein Blick täuscht. Seit wir richtig zusammen sind, geht ihm mein Faible für den Wald und seine Bewohner zunehmend auf die Nerven. Er findet Tiere nur mäßig aufregend – wie die meisten Jugendlichen, die auf dem Dorf aufgewachsen sind. Außerdem will er mich nicht teilen, nicht mal mit einer Blindschleiche oder einem seltenen Vogel.

In letzter Zeit läuft es für uns beide nicht mehr so gut. Genau genommen seit drei Wochen, seit wir das erste Mal richtig miteinander geschlafen haben. Auf einmal habe ich das Gefühl, in einem Kokon gefangen zu sein, eingewickelt in Erwartungen, die mir die Luft abschnüren. Doch in meinem Inneren summt es. Es brodelt. Es bebt. Es wartet.

Worauf? Ich weiß es nicht. Ich warte auf alles Mögliche. Dass etwas passiert mit mir. Dass das Warten ein Ende hat. Dass etwas mich von hier forttragen wird.

Ich schiebe mein Rad auf den Forstweg, der vom Dorf bis ins Sperrgebiet führt. »Hat meine Ma dir denn nicht gesagt, dass Sassy und ich uns heute um fünf mit Marie Scherer treffen? Du weißt doch, unser Zeitzeugengespräch.« Ich lächle ihm entschuldigend zu, dann schwinge ich mich in den Sattel und radele los.

Ich trete kräftig in die Pedale, aber Kai hat ein nagelneues BMX, während meines ein einfaches, solides Damenrad mit drei Gängen ist und schon fünf Jahre auf dem Buckel hat. Er überholt mich, kurz bevor aus dem Forstweg Pflasterstraße wird und wir unser Haus am Waldrand erreichen.

Kai steigt ab und öffnet das Hoftor. Wilma, unsere braun-weiße Deutsch-Drahthaar-Hündin kommt angelaufen und begrüßt uns schwanzwedelnd. Kai stellt sein Fahrrad ab und krault sie hinter den Ohren. Fremden zeigt Wilma die Zähne und knurrt sie an, aber Kai gehört für sie zur Familie. Ich schiebe mein Rad über den gepflasterten Hof um das Haus herum in den Schuppen.

Die Luft ist warm und duftet nach Frühling. Die Apfelbäume in unserem Garten stehen in voller Blüte. Als ich um die Ecke biege, erwartet mich eine Sensation: Meine Mutter sitzt mit ihrem Netbook auf der Terrasse. Ma ist Schriftstellerin und schreibt wilde Abenteuerromane für Kinder. Offensichtlich ist es einer ihrer guten Tage und mit etwas Glück werde ich mir trotz der Schrammen im Gesicht keine Moralpredigt anhören müssen.

»Du hast Jola also gefunden«, sagt Ma zu Kai, als wir vor ihr stehen. Ich halte den Kopf abgewandt, damit sie die Kratzer auf meiner Wange nicht sehen kann – jedenfalls nicht sofort.

»Ja, sie war im Wald. Danke für den Tipp.«

Ich verdrehe spöttisch die Augen. Wo, zum Teufel, hätte ich sonst sein sollen? Im Kino vielleicht? Im Schwimmbad? Im Eiscafé?

Ma seufzt. Für sie ist der Wald ein Ungeheuer mit spitzen Zähnen und scharfen Klauen. Ein dunkler Quell unzähliger Gefahren. Sie denkt unaufhörlich, mir oder auch Pa könne etwas Schreckliches zustoßen, und das ist für uns alle drei ein immerwährendes Problem.

»Saskia hat angerufen.« Die Sorgenfalte auf Mas Stirn ist noch nicht verschwunden. »Ich soll dir ausrichten, dass es Marie Scherer nicht gut geht, deshalb hat Agnes euer Treffen für heute abgesagt.«

»Okay.« Ich bin enttäuscht, denn nun wird wohl nichts mehr werden aus Saskias Zeitzeugenbericht. Es tut mir leid für sie, weil sie sich so darauf versteift hat.

Ich registriere die Erleichterung in Kais Gesicht. Er ist froh, dass er mich nun doch noch für sich hat.

»Ich habe Streuselkuchen gebacken«, sagt meine Mutter, »er steht in der Küche. Milch ist im Kühlschrank.«

»Danke, Ma.« Ich greife nach Kais Hand und ziehe ihn durch die offen stehende Terrassentür nach drinnen.

Unser Haus ist ein einstöckiges, über hundert Jahre altes Fachwerkhaus in Form eines rechten Winkels, mit weißem Putz, schwarzen Balken und einem roten Ziegeldach. Es hat Frieda und August Schwarz gehört, den Eltern meines Vaters, und als ich klein war, haben wir alle zusammen darin gewohnt.

Opa August starb vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt und Oma Frieda zog zu ihrer Schwester in die Nähe von Hamburg. Inzwischen hat sie Alzheimer und lebt in einem Pflegeheim. Ich sehe sie nur noch ein- oder zweimal im Jahr und sie erkennt mich nicht mehr. Sie erkennt nicht einmal ihren eigenen Sohn.

Mein Vater hat das Haus nach und nach umgebaut und modernisiert und meine Mutter hat es mit warmen Farben und einer Mischung aus alten Bauernmöbeln, hellen Regalen und schönen Stoffen zu einem gemütlichen Zuhause gemacht. Sie hat wirklich ein Händchen für so was.

Wir durchqueren das Wohnzimmer mit dem Kamin und dem auffällig gemaserten Holzfußboden. Schon in der großen Diele duftet es nach frisch gebackenem Kuchen und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

In der Küche stürzen wir uns auf den Streuselkuchen und essen jeder ein Stück – gleich vom Blech. Ich hole Gläser und wir trinken kalte Milch aus dem Kühlschrank. Lachen über unsere Milchbärte, wie wir es seit Jahren tun. Paul, mein grau getigerter Kater, der schlafend auf seinem Kissen in der Fensterbank gelegen hat, macht einen Buckel, springt auf den Boden und streicht maunzend um meine Beine. Ich berühre sein glänzendes Fell, das unter meinen Fingern leise knistert. Paul bekommt auch ein Schälchen verdünnter Milch, genüsslich beginnt er zu schlecken.

Verstohlen beobachte ich Kai. Er schaut mich an wie ein liebeskranker Kater und ich tue so, als würde ich es nicht merken, denn es macht mich verlegen.

Was siehst du, Kai?

Pa nennt mich manchmal »meine Schöne«, doch es gibt weitaus hübschere Mädchen als mich. Mein Gesicht ist zu breit und meine hellgrauen Augen stehen weit auseinander. Ich mag den dunklen Kupferton meiner Haare, aber sie locken sich störrisch und sind nur schwer zu bändigen, weshalb ich sie meist zu einem Zopf binde. Wenn ich sie offen trage, was zu Kais Bedauern viel zu selten vorkommt (im Wald ist ein Zopf einfach praktischer), fallen sie mir bis auf die Schultern.

Ich habe nie versucht, nach außen etwas anderes zu sein, als ich wirklich bin, und Kai hat sich nie beschwert. Aber was sieht er? Und was wünscht er sich?

»Lass uns nach oben gehen, okay?« Ich muss mal und will mich umziehen, denn mein T-Shirt ist völlig verschwitzt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, setze ich die Holztreppe in die obere Etage hinauf und Kai folgt mir.

Die Treppe mündet in einen Flur und alle Räume, die von ihm abgehen, haben Dachschrägen. Linker Hand hat meine Mutter ihr Arbeitszimmer mit Blick auf die Dorfstraße. Die nächsten beiden Türen führen in ein kleines Gästezimmer und in ein Bad mit Dusche und Toilette, das ich so gut wie allein benutze. Außerdem gibt es zwei kleine Abstellkammern. Am Ende des rechtwinkligen Ganges liegt mein Zimmer mit zwei Dachfenstern und einer breiten Glasfront, deren Tür auf meinen überdachten Balkon führt.

Vor der Glasfront ein großer Schreibtisch, ein Bett unter dem Dachfenster, niedrige Bücherregale entlang der Wände unter der Dachschräge, ein Kleiderschrank neben der Tür – bei zwei schrägen Wänden bleibt nicht viel Platz für Möbel.

Ich schnappe mir ein frisches T-Shirt aus dem Schrank und verschwinde im Bad, um mich umzuziehen. Arme, Beine und Halsausschnitt sind schon sonnenbraun, der Rest ist noch winterbleich. Ich trage keinen BH, meine Brüste sind zu klein, als dass einer notwendig wäre.

Im Spiegel begutachte ich, was die Schlehendornen in meinem Gesicht angerichtet haben. Zwei feine rote Risse in meiner rechten Wange, ein paar stecknadelgroße getrocknete Blutstropfen, die ich mit warmem Wasser abwasche. Es brennt wieder, ist jedoch nicht der Rede wert. Ich verletze mich oft, aber jammernd zu Ma zu rennen, hat von jeher alles nur schlimmer gemacht. Also habe ich gelernt, die Klappe zu halten. Der Schmerz geht vorbei, wie alles früher oder später vorbeigeht.

Als ich in mein Zimmer zurückkomme, lümmelt Kai rücklings auf meinem Bett. Er grinst und klopft mit der flachen Hand auf die bunt gemusterte Tagesdecke.

Ich ignoriere seine einladende Geste, stattdessen trete ich durch die offene Glastür auf den Balkon hinaus, der in den verwilderten Nachbargarten zeigt. Der Balkon mit Uroma Hermines altem Schaukelstuhl ist mein Lieblingsplatz, hier sitze ich oft und träume, lausche auf das Rascheln der Blätter im Kirschbaum oder den Gesang der Vögel.

Mein Vater senst im Nachbargarten Brennnesseln, denn er will nicht, dass das Grundstück völlig zuwuchert. Der alte Kirschbaum, dessen stärkster Ast bis an das Balkongeländer heranreicht, verliert seine weißen Blütenblätter. Als feine Schicht liegen sie auf dem schwarzen Teerdach unseres Schuppens, der das Haus mit dem Nebengebäude verbindet, in dem Pa sein Büro hat.

Kai kommt mir nach. Er stützt seine Hände auf die Brüstung und schaut in den Nachbargarten. Mein Vater entdeckt uns und winkt. Kai winkt zurück. »Jola?«

»Ja?«

Kai hat schöne dunkelblaue Augen mit dichten Wimpern. Er ist so vertraut. Ich mag seine Lippen, ich mag ihn, nur …

Er macht eine Kopfbewegung in Richtung Balkontür. »Können wir wieder reingehen?« Seine Stimme klingt heiser, die Frage wie ein unterdrückter Seufzer.

»Warum denn?«

»Ach, komm schon, stell dich nicht so an.«

»Wenn du mich küssen willst, kannst du das auch hier draußen tun«, necke ich ihn und weiß, dass ich grausam bin.

»Oh Mann, Jola. Ich will nicht, dass dein Vater uns dabei zuschaut.«

Als Kai mich flüchtig auf den Mund küsst, nehme ich den leichten Geruch von Schafwolle wahr, der immer an ihm und in seinen Kleidern haftet. Seine Lippen, seine Hände wollen mehr, aber ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Im Wald. Bei der Haarlocke am Nest des Würgers und dem merkwürdigen Gefühl von Anwesenheit, das ich heute Nachmittag nicht zum ersten Mal da draußen gespürt habe.

Jemand hat mich beobachtet.

Keine Ahnung, warum ich Kai nicht gleich von der Haarlocke und meinem irrationalen Gefühl erzählt habe. Warum tue ich es jetzt nicht?

Ich schmiege mein Gesicht in seine Halsbeuge und er legt einen Arm um mich. Doch ich schweige.

2. Kapitel

Gegen halb sieben gehen Kai und ich nach unten in die Küche, damit ich das Abendessen vorbereiten kann. Pa sitzt am Esstisch und liest Zeitung. Mein Vater mag Kai, was auf Gegenseitigkeit beruht. Vor ein paar Wochen hat Pa angefangen, Kai hin und wieder ein Bier anzubieten, wenn er abends bei uns ist. Okay, Kai ist fast siebzehn und alt genug für ein Bier, trotzdem gefällt mir das vertraute Getue ganz und gar nicht. Schließlich ist Kai mein Freund und nicht der meines Vaters.

Vermutlich hört Pa schon die Hochzeitsglocken läuten. Ein schmuckes Häuschen auf dem verwilderten Grundstück nebenan, zwei wohlgeratene Kinder, Kai der neue Schafkönig von Altenwinkel und ich seine Schafhirtin.

Pustekuchen. Kai und ich haben andere Pläne. Nach dem Abi wollen wir zusammen fortgehen – weit fort. Nach Kanada. Das heißt: Ich möchte unbedingt nach Kanada und Kai hat ursprünglich von Neuseeland geträumt. Als ich ihm klarmachte, wie absurd das ist (er will weg von den Schafen seines Vaters und dann soll es ausgerechnet Neuseeland sein), hat er gelacht.

»Na gut, dann eben Kanada. Ich folge dir, wohin du willst, Jola.« Unsere Kanada-Pläne sind unser Geheimnis. Nicht mal unsere Freunde wissen davon. Niemand soll uns aufhalten, wenn es erst so weit ist.

Pa und Kai sitzen nebeneinander auf der Küchenbank, trinken Bier aus der Flasche und führen Männergespräche, während ich den Tisch decke und ihnen mit halbem Ohr lausche.

Mein Vater ist Revierförster. Seit ich laufen kann, nimmt er mich mit in den Wald, er hat mir alles beigebracht, was er über die Natur weiß. Ich kenne die Namen der wilden Tiere, weiß, wie sie leben, was sie fressen. Ich kenne die Namen der Bäume, Sträucher und der seltenen Gewächse und ich habe Pas guten Orientierungssinn geerbt. Es ist sein Verdienst, dass ich mich allein da draußen zurechtfinde und mich vor keinem Tier fürchte, auch vor Schlangen und Wildschweinen nicht.

Meine Mutter kommt von der Terrasse herein und zwei Minuten später verabschiedet sich Kai. Ma ist ihm unheimlich. Er gibt das nicht zu, aber ich weiß es. Dass meine Mutter, wenn die Angst sie fest im Griff hat, manchmal tagelang das Haus nicht verlässt, stuft Kai unter verrückt ein, wie die anderen Dorfbewohner auch. Obwohl die Leute meistens so tun, als wäre alles in bester Ordnung mit Ulla Schwarz, denn schließlich ist sie die Frau des Försters und der ist ein angesehener Mann in Altenwinkel.

Ma ist nicht verrückt, ihr fehlt nur manchmal die Kraft, sich den alltäglichen Gefahren des wirklichen Lebens zu stellen. Stattdessen sitzt sie lieber in ihrer Schreibstube und lässt ihre kleinen Romanhelden Abenteuer bestehen, die höchstens mal mit einer blutigen Nase enden. Eine verfallene Burgruine bei Nacht, ein dunkler Höhlengang, ein zähnefletschender Hund ohne Kette – was Zehnjährige eben aufregend finden. Ma ist eine Meisterin darin, heile Welten zu erschaffen.

»Hat einer von euch meine karierte Fleecedecke gesehen?« Streng schaut Ma uns an. »Ich habe sie gestern Abend auf der Terrasse liegen lassen, jetzt ist sie weg.«

Pa und ich schütteln mit geübten Unschuldsminen den Kopf. Ma hasst es, wenn jemand ihre Sachen nimmt oder verlegt, und wir beide versuchen, alles zu vermeiden, was ihren Unmut erregen könnte.

»Tja«, meint sie achselzuckend, »dann haben sie wohl die Böhlersmännchen geholt.«

Gemeinsames erleichtertes Ausatmen. Obwohl die saloppe Antwort keineswegs bedeutet, dass sie von unserer Unschuld überzeugt ist. Einer alten Sage nach sind die Böhlersmännchen kleine hilfreiche Wichtel, die im Böhlersloch am Sonnenberg wohnen. Ma hat die Decke garantiert selbst verschusselt und wird sie hoffentlich schnell wiederfinden, sonst hängt tagelang der Haussegen schief, das kenne ich schon.

Schließlich entdeckt Ma die Kratzer auf meiner Wange. Wortlos holt sie ein Fläschchen Cutasept aus dem Medizinschrank, hält meine rechte Wange ins Licht und besprüht sie mit Desinfektionsspray. Es brennt wie verrückt, aber über meine Lippen kommt kein Laut, diese Blöße gebe ich mir nicht.

Natürlich will Ma wissen, wo und wie das passiert ist.

Während des Abendessens erzähle ich meinen Eltern vom Nest des seltenen Raubwürgers, das ich auf meinem heutigen Streifzug entdeckt habe. Die hellbraune Haarsträhne lasse ich unerwähnt, schon aus Rücksicht auf meine Mutter. Ihre Angststörung bekam nach Alinas Verschwinden einen neuen Schub, sie musste damals sogar für ein paar Wochen in die Psychiatrie.

Eine Weile hört Pa mir mit halbem Ohr zu, während er isst und sein zweites Bier trinkt, aber mehr als »Hmm« und »Erstaunlich« sagt er nicht. Kleine graue Vögel interessieren ihn nicht sonderlich, auch wenn sie noch so selten und faszinierend sind und ihr Auftauchen in seinem Forstrevier eine mittlere Sensation ist.

Pa plagt sich mit ganz anderen Problemen herum. Mit Windbruch, Baumschädlingen und Wildschäden, die überhandnehmen. Der im Westen an den Wald hinter unserem Dorf grenzende Truppenübungsplatz ist sein Revier und gehört zum Bundesforst. Die Bundeswehr unterliegt strengen Naturschutzauflagen. Dafür, dass die Soldaten auf dem Gelände Krieg spielen dürfen, wird viel Geld in Neuanpflanzungen gesteckt, die dem Schallschutz dienen sollen. Aber es gibt zu viele Rehe, die die Spitzen der angepflanzten Tannen fressen, deshalb hat Pa ab und zu Ärger mit dem Platzkommandanten.

Auch die Wildschweine vermehren sich zu schnell und Pa und seine Jagdgenossen kommen mit den Abschüssen nicht hinterher. Die Tiere fressen sich auf den angrenzenden Feldern satt und die Bauern beschweren sich, dass er seine Arbeit nicht ordentlich macht.

Und noch etwas raubt ihm die Zeit: Seit einigen Monaten steht zur Diskussion, ob der Truppenübungsplatz von der Bundeswehr aufgegeben wird. Die Frage, wie das Areal danach genutzt werden soll, erhitzt seitdem die Gemüter in den umliegenden Dörfern. Pa muss ständig auf irgendwelchen Versammlungen anwesend sein und ist deshalb kaum noch auf Pirsch in seinem Revier.

Und Ma … sie hört mir zwar zu, aber sie findet, dass Raubwürger unheimliche Vögel sind, weil sie ihre Beute mit einem gezielten Biss ins Rückenmark töten und die kleinen Kadaver für schlechte Zeiten als Vorrat auf Dornen spießen.

Meine Mutter steht tausend Ängste aus, wenn sie weiß, dass ich alleine im Wald unterwegs bin, in dem unzählige Gefahren lauern. Spitze Dornen oder unsichtbare Felsspalten; Blindgänger aus der Nachkriegszeit, Bäume, von denen ich stürzen und mir die Knochen brechen kann, wilde Tiere mit scharfen Zähnen. Und natürlich der böse Mann, der mich eines Tages holen wird, so, wie er Alina geholt hat.

Du wirst dir wehtun, Jola, du wirst schon sehen.

Seit der Sache mit Alina sieht Ma den Schrecken auch dort, wo keiner existiert – dagegen helfen nicht mal ihre Pillen. Sie kann den Gedanken, dass es mich ebenso hätte treffen können, einfach nicht verwinden und ihre Ängste bestimmen unseren Familienalltag. Eltern sollten einem beibringen, wie man das Leben meistert und sich nicht davor fürchtet. Doch auch wenn sie vielleicht nicht den Titel »Eltern des Jahres« verdienen: Ich liebe Ma und Pa.

Meine Mutter sieht heute besonders hübsch aus. Ihr sonst blasses Gesicht ist auf Stirn und Wangen leicht gerötet von der Maisonne. In ihrem dunkelroten T-Shirt und mit dem blauen Tuch im Haar sieht sie verdammt jung aus. Leider scheint meinem Vater das alles nicht aufzufallen.

Pa hat an, was er fast immer anhat: dunkle Cordhosen, dunkles T-Shirt und darüber ein offenes Holzfällerhemd. Er ist groß, über eins achtzig, deshalb fällt sein Bauchansatz noch nicht so auf. Außerdem sieht er gut aus. Wie George Clooney, sagt meine Freundin Saskia. Ich finde den Vergleich ziemlich weit hergeholt, aber vermutlich sieht man die eigenen Eltern mit anderen Augen als die übrige Welt.

Nachdem ich die Spülmaschine eingeräumt und angestellt habe, verziehe ich mich in mein Zimmer. Ma wird ihren Sonntagabend entweder mit Kater Paul vor dem Fernseher verbringen oder stundenlang mit einer ihrer Schriftsteller-Freundinnen telefonieren. Und mein Vater macht sich auf den Weg zum »Jägerhof«, wo er mit seinen Kumpels ein paar Runden kegelt oder Doppelkopf spielt und noch ein paar Bierchen trinkt.

Manchmal schaue ich mir zusammen mit meiner Mutter einen Film an, aber sie hat sich heute (wie so oft) für eine Komödie entschieden und ich finde Komödien doof. Viel lieber hätte ich den Tatort gesehen, aber Ma schaut prinzipiell keine Krimis oder Thriller, weil sie danach nicht schlafen kann. Zu viel Aufregung.

Allein in meinem Zimmer rekapituliere ich den Tag und erneut packt mich der Groll über meine Angst, die mich im Wald zur Flucht bewegt hat. Ich darf sie nicht zulassen; darf der Angst keinen Raum geben im meinem Leben. Ich darf nicht, ich darf nicht, ich darf nicht.

Ich packe meinen Schulkram für den nächsten Tag zusammen, dusche und lese noch ein paar Seiten in »Der Ruf der Wildnis« von Jack London. Das ist heimliche Lektüre. Nur Kai weiß, dass ich solche alten Kamellen lese. In einem kleinen Dorf wie Altenwinkel braucht es nicht viel, um als Freak abgestempelt zu werden. Es genügt, dass ich Vegetarierin bin, damit die Leute mich für extravagant halten.

Müdigkeit befällt mich, trotzdem kann ich nicht schlafen. Draußen ist es schon lange dunkel, als ich auf den Balkon hinaustappe. Die Luft ist süß und schwer vom Duft der Kirschblüten. Der Blütenschnee kommt immer, ein paar Tage früher oder später im Mai. Unwillkürlich löst der süße Duft in mir die Erinnerung an ein merkwürdiges Erlebnis aus, das ich vor zwei Jahren genau an dieser Stelle hatte.

Es war ein Abend wie dieser, warm für die Jahreszeit und erfüllt vom Duft der Obstblüten. Ich fühlte mich krank, hatte leichtes Fieber und beschloss, am nächsten Tag zu Hause zu bleiben. Es war schon fast Mitternacht, als ich Kai eine SMS schickte, damit er Bescheid wusste. Er war noch wach und rief mich zurück.

»Es schneit«, sagte er, »geh auf deinen Balkon und schau es dir an.« Kais Stimme wirkte wie Medizin. Ich wurstelte mich aus meinem verschwitzen Bett, zog mir was über und schlurfte mit dem Handy am Ohr auf den Balkon. Ans Geländer gelehnt, sah ich im Licht des Mondes den Kirschblüten zu, wie der Wind sie von den Zweigen holte und wie kalten Schnee im wilden Garten verteilte. Damals war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich Kai irgendwann heiraten werde, weil er das seltene Exemplar eines Jungen war, der Augen für Kirschblütenschnee hatte.

Um mich ein wenig aufzumuntern, erzählte Kai mir einen Witz und prompt musste ich lachen. Plötzlich sah ich sie, die geisterhaft bleiche Gestalt im Nachthemd, mit dem Engelshaar und den Feenflügeln. Sie stand unter dem Kirschbaum im Dunkeln, eingehüllt in bläuliche Nebelschleier, und sah zu mir herauf. Ich ließ das Handy sinken, während Kai fröhlich weiterplapperte. Mit fiebrigem Blick starrte ich die bleiche Fee an – und sie mich.

Das ist unmöglich, das kann nicht sein, war alles, was ich zu denken vermochte.

»Alina«, flüsterte ich ungläubig. Aber die Gestalt war schon wieder in der diffusen Dunkelheit verschwunden. Aus dem Handy wetterte Kais Stimme: »Verdammt … Jola, hörst du mir überhaupt zu? Was ist denn mit dir los?«

»Ich glaube, ich hab gerade ein Gespenst gesehen.«

»Du hast Fieber«, sagte Kai. »Leg dich lieber wieder in dein Bett.«

Außer Kai habe ich niemandem von der unirdischen Erscheinung erzählt. Ich glaube nicht an Geister, damals wie heute nicht, und mir ist durchaus klar, dass mein fiebriges Hirn mir ein Bild vorgegaukelt hat. Ich war einer Sinnestäuschung erlegen. Oder einfachem Wunschdenken. Alinas Geist ist mir seither nie wieder erschienen, aber ich wäre nicht überrascht, wenn sie heute Abend mit ihren Feenflügeln unter dem Kirschbaum stehen würde. Einfach weil ich es mir so sehr wünsche.

Alina war mit ihren Eltern erst ein Jahr und ein paar Monate vor ihrem Verschwinden von Berlin in das Haus in der Dorfstraße gezogen. Beide Eltern arbeiteten in der Stadt und kamen meist spät nach Hause, trotzdem versuchten sie, aktiv am Dorfleben teilzuhaben. Doch Zugezogene haben einen schweren Stand in Altenwinkel, sie bleiben auf ewig Fremde und werden von den Alteingesessenen auch nach Jahren noch argwöhnisch beäugt.

Alina scherte sich nicht darum, dass die Dorfkinder sie schnitten und belächelten. Sie trug gerne Kleider in grellen Farben und fiel dadurch auf wie ein Papagei im Hühnerstall. Wir waren Beinahe-Nachbarn, und obwohl Alina und ich grundverschieden waren, mochten wir uns auf Anhieb. Aus der Stadtpflanze und dem Landei wurde schnell ein Team.

Drachen, Einhörner, Feen und Elfen waren Alinas Welt und ich ließ mich mitreißen von ihrer wilden Fantasie. Wenn wir verborgen hinter der großen Hecke im verwilderten Garten spielten, der zwischen den Grundstücken unserer Familien liegt, war sie die Waldfee und ich der Schrat, weil ich immer in zerbeulten Hosen herumlief und stets Kiefernnadeln im Haar hatte. Der Garten war unser magisches Reich, dort konnten wir ungestört unseren kindlichen Spielen frönen, während wir in der Schule Interesse an Klamotten, Boygroups und Jungen heucheln mussten.

Mein Vater duldete es nicht, dass andere Kinder aus dem Dorf das Grundstück als Spielplatz nutzten, aber bei Alina und mir drückte er ein Auge zu, wahrscheinlich, weil er uns so besser unter Kontrolle hatte.

Alina versuchte, mich davon zu überzeugen, dass es im Wald hinter dem Dorf Feen, Elfen und Einhörner gibt. »Sie leben im Verbotenen Land«, behauptete sie und grinste dabei auf eine Weise, die mich verunsicherte: Glaubte sie das wirklich oder machte es ihr Spaß, mich auf den Arm zu nehmen? Wir kicherten und es war mir egal.

Das Verbotene Land ist der Truppenübungsplatz. Ich versicherte Alina, dass ich auf den Streifzügen mit meinem Vater noch nie eine Fee oder gar einen Elf gesehen hatte. Nur gewöhnliche Soldaten in Tarnuniformen, die auf Ziele ballerten oder am Boden herumrobbten. Aber davon wollte sie nichts hören. »Nur weil du sie nicht siehst, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.« Das sagte sie und dabei blitzte der Schalk aus ihren blauen Augen.

Es war Mitte September, als sie verschwand. Erst zwei Wochen zuvor hatte die Schule wieder begonnen. Alina und ich waren am späten Nachmittag im verwilderten Garten zu unserem geheimen Spiel verabredet gewesen, doch Ma hatte beim Kontrollieren meiner Hausaufgaben festgestellt, dass ich sie in Eile und schludrig erledigt hatte. Ich musste alles noch einmal schreiben. Als ich endlich fertig war und zu meiner Freundin laufen konnte, war sie nicht mehr da.

Zuerst glaubten alle, Alina wäre in den Wald hinter den Gärten gelaufen und hätte sich verirrt. Ihre Eltern, die Polizei und das halbe Dorf suchten fieberhaft im Wald und auf den Feldern nach ihr. Der Truppenübungsplatz wurde von Polizisten mit Suchhunden und Soldaten in allen Himmelsrichtungen durchkämmt. Doch die unzähligen natürlichen Höhlen und versteckten Spalten im Muschelkalk sowie die Überreste der alten Bunkeranlagen und der Wehrmachtsstollen im Berg erschwerten die Suche nach Alina.

Die alte Kiesgrube zwischen Altenwinkel und unserem Nachbardorf Eulenbach, die die Leute im Sommer zum Baden nutzen, wurde von Tauchern abgesucht – doch alles blieb ohne Erfolg. Es war, als wäre Alina vom Erdboden verschluckt.

Als die beiden Polizisten zu uns nach Hause kamen, um mich über meine Freundin auszufragen, hatte ich den Ernst der Lage noch nicht einmal zur Hälfte erfasst. Die Befragung war ein Albtraum für mich. Erst nach einigem Zureden offenbarte ich unser Geheimnis und erzählte den Beamten, dass Alina sich am liebsten als Tinkerbell verkleidete und in der Schule oft träumte. Dass sie Pferdenärrin war und ihre Lieblingsfarbe Himmelblau, weil das so gut zu ihren blauen Augen passte. Dass sie für ihr Leben gern mit Buntstiften malte (Drachen, Einhörner, Feen und Bäume) und so neugierig war, dass die Antworten auf ihre vielen Fragen sie manchmal zum Heulen brachten, weil sie anders ausfielen, als sie sich erträumt hatte.

Ich erzählte den Polizisten auch von Tinkerbells großem Talent, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen – aber all das brachte Alina nicht zurück.

Ich war gerade erst zwölf, aber nicht blöd. Ich verstand eine Menge von dem, was nach der erfolglosen Suche von allen befürchtet wurde und was niemand in meiner Gegenwart aussprach: Der Böse Mann hatte Alina entführt, hatte ihr wehgetan und sie ermordet.

Vage erinnere ich mich an die Panik, die damals im Dorf ausbrach. In der Altenwinkler Gerüchteküche brodelte es gewaltig, Türen wurden verriegelt und Nachbarn beäugten einander misstrauisch. Eltern fuhren ihre Kinder mit dem Auto in die Schule und ließen sie am Nachmittag nicht mehr aus dem Haus. Wenn die Dorfbewohner von meiner verschwundenen Freundin sprachen, dann war sie nur noch das »arme Ding« und ich war wütend, weil sie ihr den Namen gestohlen hatten.

Am Abend des dritten Tages nach ihrem Verschwinden fand die Polizei Alinas hellblaues Tinkerbell-Kleid in dem aufgebockten alten Wohnwagen bei den Ponys von Martin Sievers, der zurückgezogen auf seinem Waldgrundstück lebte, nachdem seine Frau ein paar Jahre zuvor gestorben war. Der Mann wurde verhaftet, und als Beamte sein Haus durchsuchten, entdeckten sie in einer Kammer auf dem Dachboden seines Hauses einen Stapel Pornomagazine. Sievers leugnete, Alina etwas angetan zu haben, doch am nächsten Morgen fand man ihn erhängt in seiner Zelle, was als eindeutiges Schuldeingeständnis galt.

Zumal Rudi Grimmer, der ehemalige Dorfpolizist, noch etwas Ungeheuerliches von seinen Kollegen erfahren hatte: dass Sievers seinen Lehrerberuf vor vielen Jahren aufgeben musste, weil er eine minderjährige Schülerin verführt hatte. Aus diesem Grund waren er und seine Frau Hanne in unser kleines Dorf gezogen: um sich zu verstecken.

Im Nachhinein behaupteten einige Altenwinkler, Sievers sei ihnen von Anfang an merkwürdig und falsch vorgekommen. Ich hatte ihn und seine Frau gemocht. Martin Sievers hatte sein Grundstück immer in Ordnung gehalten, es aber nicht totgepflegt wie die meisten Leute im Dorf. Er ließ Brennesselinseln stehen für die Raupen der Schmetterlinge und in seinen Bäumen nisteten seltene Vögel. Sievers wusste, dass ich Tiere mochte, und wenn ich wollte, durfte ich in seinen Garten kommen und sie beobachten. Zuletzt hatte er mir einen Siebenschläfer gezeigt, der zutraulich geworden war.

Deshalb war das Ganze für mich besonders unverständlich und schlimm. Wenn sich das Böse hinter Normalität und Freundlichkeit versteckt, wie soll man es dann erkennen und sich davor schützen?

Der freundliche Herr Sievers hatte Alina getötet und ihren Körper irgendwo verscharrt. In seinem Haus und auf seinem Grundstück wurde das Unterste zuoberst gekehrt, der Wald von einer Hundertschaft und Leichensuchhunden noch einmal gründlich durchkämmt – nichts. Alinas Leiche wurde nicht gefunden und die Suche nach ihr ein paar Wochen später eingestellt.

Ich war vollkommen durch den Wind damals. Um mit dem Grauen und dem Verlust klarzukommen, reimte ich mir meine eigene Geschichte zusammen. Man hatte zwar Alinas Kleid gefunden, doch die schillernden Feenflügel waren nicht im Wohnwagen gewesen. Mit diesen Flügeln war Alina Sievers entkommen, daran glaubte ich damals fest.

Nachdem sich Schock und Trauer gelegt hatten, ging das Leben in Altenwinkel wieder seinen gewohnten Gang. Der Schuldige hatte sich selbst gerichtet und war zu ewiger Verdammnis verurteilt. Er war (natürlich) ein Zugezogener, niemand aus dem Dorf wäre zu so einer Tat fähig gewesen. Das Böse haust in den Betonklötzen der großen Städte, nicht hier, wo jeder jeden kennt.

Ma musste in die Psychiatrie und ihre Schwester, Tante Lotta, kehrte nach Altenwinkel zurück. Ich war froh, dass ich wieder in meinen Wald konnte. In Räumen fühle ich mich gefangen wie ein wildes Tier im Käfig. Ich kann nicht atmen, ich muss raus, dorthin, wo es keine Wände gibt, wo es nach Laub, Kiefernnadeln und harziger Rinde riecht, wo mir der Wind um die Nase weht.

»Was machst du eigentlich stundenlang da draußen im Wald?«, wollte Tante Lotta von mir wissen.

»Nichts«, antwortete ich. Doch dieses Nichts war ein ganzes Universum, das mir gehörte, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Als Ma zurück nach Hause kam, wollte sie mir meine Streifzüge in den Wald verbieten, aber Pa war der Ansicht, die Natur könne mir bei der Bewältigung meines Verlustes behilflich sein. Sie stritten sich – und ich fand Mittel und Wege, mich davonzustehlen. Natürlich blieb meiner Mutter nicht verborgen, dass meine Hosen und T-Shirts voller Grasflecke, Harz und Kiefernadeln waren und meine Haut zerkratzt von Dornen. Aber ich tischte ihr immer ausgefeiltere Lügen auf und sie schluckte sie.

Was wollte sie machen? Mas Kontrolle endete an der Haustür, sie konnte die Schwelle nicht überschreiten, geschweige denn, über ihren eigenen Schatten springen.

Schon Mitternacht. Die Erinnerungen an Alina haben mich aufgewühlt und halten den Schlaf fern. Mit fast siebzehn sieht man die Dinge anders als mit zwölf und ich frage mich, was wohl hinter den Türen meines Gedächtnisses noch alles lauert.

Der volle Mond scheint durch das Rechteck in der Dachschräge in mein Bett und erhellt das Zimmer mit seinem kalten Licht. Es wird eins … halb zwei. Ich wälze mich herum, bin zu müde und zu kaputt für das rettende Ritual, den nächtlichen Waldgang, der mich jedes Mal erdet und zu mir selbst zurückbringt.

Tu es, sonst wirst du nie schlafen.

Schließlich quäle ich mich aus dem Bett, ziehe mich an, schiebe die Taschenlampe in meinen Hosenbund und schlüpfe in mein Herrin-des-Waldes-Ich. Wie in Trance steige ich vom Balkon auf den Kirschbaum und klettere nach unten in den verwilderten Nachbargarten. Direkt unter meinem Balkon befindet sich der Carport, das Schlafzimmer meiner Eltern ist auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses. Ich habe also nicht zu befürchten, dass sie mich bemerken. Mit flinken Schritten laufe ich durchs taunasse Gras bis zum morschen Jägerzaun am hinteren Ende des Grundstückes. Die Angeln der Gartenpforte sind verrostet und sie steht offen.

Ich trete auf den Gartenweg. Die Nachtluft ist kühl und rein, der volle Mond leuchtet über den schwarzen Wipfeln der Kiefern. Ich laufe nach links an unserem Grundstück vorbei auf den Forstweg, der aus dem Dorf hinaus in den Wald führt. Nach ein paar Minuten knipse ich die Taschenlampe an und nehme einen Wildpfad mitten hinein in den Wald. Der bleiche Lichtkegel zeigt mir Äste und Wurzeln, denen ich ausweichen muss, um die richtigen Trittstellen für meine Füße zu finden. Ich bin jetzt hellwach.

Irgendwann stehe ich vor dem dicken Stamm einer uralten Kiefer. Meiner Kiefer. Die Baumgreisin hat eine halbkugelige Krone und ist mindestens zweihundert Jahre alt (sagt Pa). Mit dem Rücken lehne ich mich gegen den krumm gewachsenen Stamm meiner alten Freundin und knipse die Taschenlampe wieder aus, um Teil der Nacht und des Waldes zu werden. Stille hüllt mich ein, die plötzliche Dunkelheit verschluckt die Umrisse der Bäume, verschluckt alles. Sämtliche lebendige Wesen in meinem Umkreis halten den Atem an.

Ich schließe die Augen, warte, bis sich Puls und Atmung beruhigt haben und meine Sinne ganz wach sind. Ich warte, bis die Tiere vergessen haben, dass ich da bin.

Nach und nach wird der Wald lebendig. Ein Käuzchen ruft und verstummt wieder. Wenig später raschelt es am Boden – direkt neben mir. Ich höre ein hartes Bellen, vermutlich mehr als hundert Meter entfernt, doch es klingt irritierend nah. Ein Rehbock.

Die Stimme der Angst meldet sich mit einem leisen Prickeln im Nacken, aber ich höre nicht hin. Ich öffne die Augen, zwinge mich, die Taschenlampe ausgeschaltet zu lassen. Der Trick ist, die Angst zu bannen.

Im Wald gibt es für jedes Geräusch eine harmlose Erklärung. Der Wind in den Zweigen, das trockene Rascheln von Laub. Der dunkle Ruf eines Uhus; eine fette Kröte, die schwerfällig über den Boden hopst; Mäuse, die auf winzigen Pfoten umherhuschen und fiepend ihr Revier verteidigen. Ein Dachs, der nach Würmern gräbt, Wildschweine, die sich suhlen, und Fledermäuse, die auf der Suche nach Käfern und Nachtfaltern durch den Wald streifen.

Die Nacht ist der Ort, an dem sich die Grenze zwischen mir und den Geschöpfen des Waldes auflöst. Mein Herz schlägt in der alten Kiefer, mein Atem streift durch ihre weichen Nadeln, mein Blut pulsiert durch den Körper eines wilden Tieres. Ich werde eins mit ihnen. Werde unsterblich.

Langsam treten verschwommene Umrisse meiner Umgebung hervor und nach einer Weile werden die Konturen schärfer. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich kann sehen, dass der schwarze Arm des mächtigen Riesen nur ein Ast ist und das geduckte Ungeheuer am Boden ein Baumstumpf. Die Hexenkrallen – nichts weiter als abgebrochene, scharfe Äste. Geräusche und Schatten, kein Grund zur Panik.

Über mir funkeln einzelne Sterne durch die Äste der Kiefer und ein knochenweißer Mond verbreitet sein kaltes Licht. Endlich hebt sich der Druck von meiner Brust und ich kann frei atmen. Es hat wieder einmal funktioniert. Mein Verstand hat die Angst besiegt. Erleichtert trete ich den Heimweg an, ohne die Taschenlampe wieder einzuschalten. Ich bin die Herrin des Waldes und das Mondlicht weist mir den Weg.

Als ich in den wilden Garten biege, verschwindet ein geduckter Schatten hinter dem Johannisbeerstrauch. Ein Fuchs, ich habe ihn schon einige Mal beobachtet. Drei Minuten später liege ich in meinem Bett. Es ist kurz vor vier, die Erinnerungen an Alina schleichen sich unaufhaltsam aus ihren Kammern. Doch der Schlaf ist schneller.

* * *

Laurentia, liebe Laurentia mein,

wann wollen wir wieder beisammen sein?

Seit ein paar Tagen ist dieses Lied in seinem Kopf. Nur ein altes Kinderlied, aber es zerrt an ihm, rührt an etwas, tief in seinem Inneren. Die Melodie löst eine bittersüße Sehnsucht in seiner Seele aus. Nach dem tröstlichen Duft weicher Mädchenhaut, nach seidenweichem Haar, nach glockenhellem Lachen. Er sucht, sucht im Dunkel seiner Erinnerung, aber eine Laurentia kann er dort nicht finden.

Laurentia, liebe Laurentia mein,

wann wollen wir wieder beisammen sein?

Am Montag!

Ach, wenn es doch endlich schon Montag wär

und ich bei meiner Laurentia wär, Laurentia!

3. Kapitel

Altenwinkel ist ein winziges verschlafenes Dorf, nicht mehr als eine Ansammlung von rund sechzig Häusern. Der Ort liegt auf einem Hochplateau, das an den Thüringer Wald grenzt. Südlich des Dorfes hat sich ein Flüsschen gut hundert Meter tief in den Muschelkalk gegraben und dadurch steile Abbrüche geschaffen. Ein dichtes Waldgebiet schließt sich im Westen an die letzten Häuser. In nördlicher und östlicher Richtung ist Altenwinkel von hügeligen Trockenwiesen umgeben, die in kleine, von Bauminseln durchsetzte Felder übergehen, auf denen Mais, Raps und Weizen wachsen.

Im Mittelalter hatte hier oben am Waldrand zuerst nur ein kleines Kloster gestanden, dessen Mönche an den warmen Kalkhängen des Tals Wein anbauten und auf den Trockenwiesen Ziegen und Schafe hielten. Aus dieser Zeit stammt auch die kleine Wehrkirche in der Mitte des Dorfes, die in späteren Jahren immer wieder umgebaut wurde. Vom alten Kloster ist heute nichts mehr zu sehen, aber einige der buckeligen Fachwerkhäuser um Kirche und Dorfplatz herum sind weit über zweihundert Jahre alt.

Eine Scheißidylle, wie Saskia zu sagen pflegt.

Mit anderen Worten: Altenwinkel ist das Ende der Welt, ein Kuhkaff. Nein, das stimmt nicht, denn die Kühe im Ort kann man an zwei Händen abzählen. Es ist ein Schafkaff, das kommt der Wahrheit schon näher. Schafe stehen an die fünfhundert auf den Trockenwiesen am Waldrand und alle (abgesehen von ein paar schwarzgesichtigen Heidschnucken im Garten von Hagen Neumann) gehören Kais Vater, dem Schafkönig von Altenwinkel.

Die Straße in Richtung Eulenbach säumen drei schicke neue Einfamilienhäuser von Stadtflüchtern, ein paar Verrückten, die den Umzug aufs Land riskiert haben und zu denen auch Saskias Eltern gehören. Der Bürgermeister hat das Bauland vor ein paar Jahren zu einem Spottpreis angeboten, weil er hoffte, auf diese Weise das Aussterben des Dorfes zu verhindern. Wer baut, der bleibt, argumentierte er, aber da hieß es noch, dass der Truppenübungsplatz schon bald aufgegeben und es mit der Ballerei ein für alle Mal vorbei sein wird.

Altenwinkel macht seinem Namen alle Ehre, denn es gibt nur wenige Kinder und die meisten jungen Leute kehren dem Dorf den Rücken, sobald sie die Schule abgeschlossen haben.

Wir Dorfkinder müssen eine knappe halbe Stunde mit dem Schulbus fahren, um in die Kreisstadt zu gelangen. Auch am heutigen Montagmorgen haben sich wieder zwei Handvoll verschlafene Schüler in Grüppchen an der Bushaltestelle vor dem »Jägerhof« versammelt.

Kai, Saskia und ich besuchen die zehnte Klasse des Arnstädter Gymnasiums. Saskias Bruder Max ist dieses Jahr in Altenwinkel der einzige Zwölfer. Er ist achtzehn, sieht jedoch aus wie vierzehn mit seiner schmächtigen Statur, den dünnen Beinen und dem pickligen Bücherwurmgesicht. Böse Zungen im Dorf behaupten, dass die beiden nicht vom selben Vater stammen können. Aber die Geschwister mögen sich (meistens jedenfalls) und Max ist voll in Ordnung.

Bei Clemens Neumann, dem athletischen Riesen mit dem Pferdeschwanz, tippt man auf Anfang zwanzig, er ist jedoch nur ein Jahr älter als wir und geht in die Elf. Clemens steht schweigend mit seiner jüngeren Schwester Tizia zusammen. Die beiden kommen ursprünglich aus Kassel und wohnen erst seit ein paar Monaten in Altenwinkel. Ihre Eltern sind Architekten und haben direkt am Waldrand ein todschickes Haus mit viel Holz, Metall und Glas gebaut.

Clemens ist der Man in Black – er trägt nichts anderes als Schwarz. Die dreizehnjährige Tizia dagegen sieht immer aus wie aus der Klamottenwerbung, was allerdings nicht über ihr langweiliges Pferdegesicht hinwegtäuschen kann.

Wirtssohn Kevin Schlotter und sein rotgesichtiger Freund Benni Maul, die Färber-Zwillinge Paulina und Elina und Tanja, die (heimlich in Kai verliebte) Tochter von Pfarrer Kümmerling gehen auf die Arnstädter Regelschule. Das kleinere Gemüse besucht die Grundschule in Eulenbach.

»Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?«, fragt Max.

»Sie hat das Nest eines Raubwürgers observiert«, antwortet Kai, bevor ich den Mund aufmachen kann.

Saskia grinst in sich hinein, enthält sich aber jeglichen Kommentars.

Endlich kommt der Schulbus, die Tür öffnet sich mit einem Zischen und wir steigen ein. Ich setze mich ganz hinten ans Fenster, lege meine Stirn an die kühle Scheibe und versuche, das Geschrei der Grundschüler auszublenden. Es sind bloß sechs, aber sie machen Krach für zwanzig. Nach dem Wochenende sind sie immer besonders aufgedreht, aber spätestens in Eulenbach werden alle unter elf Jahren aussteigen und es wird schlagartig ruhiger.

Saskia besetzt den Platz neben mir, also schiebt Kai sich notgedrungen neben Max, der sofort auf ihn einplappert, um sein neuestes, übers Wochenende angelesenes Wissen loszuwerden. Der Bus fährt los, er dreht seine Runde um Dorfbrunnen und Spielplatz, die beide von der mächtigen Blutbuche mit ihren ausladenden Ästen und leuchtend roten Blättern überdacht sind.

Unwillkürlich muss ich an eine Begegnung vor zwei Wochen denken, die ich mit der alten Tonia Neumeister, der größten Tratschtante des Dorfes, hatte.

Ich kam von Saskia, wir hatten uns ein Video angesehen und Pizza gegessen. Es wurde langsam dunkel und ich erschrak zu Tode, als die Neumeister plötzlich hinter einer Hecke auftauchte wie ein Geist und mir ihre arthritischen Hexenfinger in den Oberarm krallte. »An der Blutbuche, da ist er gestorben, der Ami«, zischte sie mir ins Ohr. »War schwarz wie die Nacht. Irgendwann wird sich’s rächen.«

Kaum, dass ich mich von dem Schreck erholt hatte und fragen wollte, was sich rächen würde, ließ die Alte mich ruckartig los, zog den Kopf ein und trippelte in Richtung Kirchplatz davon. Ich wollte ihr nachlaufen, als ich bemerkte, dass vor der Tischlerei Grimmer auf der anderen Straßenseite jemand stand und zu mir herüberstarrte.

Vermutlich war es Magnus, der Sohn von Tischler Grimmer. Magnus hat einen Sprung in der Schüssel und den Kindern im Dorf ist er nicht geheuer, aber der Mann ist vollkommen harmlos. Die alte Neumeister verschwand in ihrem Hexenhaus neben dem Dorfladen, also ging ich nach Hause.

Tonia Neumeister weiß immer zuerst, wenn jemand gestorben ist und woran. Sie weiß, wo im Dorf das Geld steckt, wer etwas mit wem hat und wer sich nicht grün ist. Den lieben langen Tag steht sie vor dem Dorfladen oder glotzt aus ihrem Fenster, von wo sie das halbe Dorf gut im Blick hat. Anderer Leute Angelegenheiten sind ihr Hobby und ihr Ruf als Unruhestifterin ist legendär.

Mit Sicherheit ist der Alten nicht entgangen, dass Saskia tagelang versucht hat, mit ein paar betagten Leuten aus Altenwinkel über das Dorfleben während des Kriegsendes und der unmittelbaren Zeit danach zu sprechen.

»Was glaubst du«, fragt Saskia in meine Gedanken hinein. »Ob die alte Scherer wirklich krank ist oder ob sie kalte Füße bekommen hat?«

Ich zucke ratlos mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kenne die Frau ja überhaupt nicht.«

»Hey und ich dachte immer, in so einem kleinen Dorf kennt jeder jeden.«

»Natürlich kenne ich sie«, brumme ich. »Aber ich weiß nicht viel über sie, nur das, was alle wissen.«

»Mal ehrlich«, sagt Saskia, »findest du es nicht seltsam, dass ich überall abgeblitzt bin? Ich meine, die Greise sollten doch froh sein, dass sich mal jemand für sie interessiert.«

»Vielleicht wollen sie sich nicht erinnern«, sage ich. »Verdrängung als Strategie, um weiterleben zu können. Überleg doch mal, was wir bei unseren Recherchen für grausige Sachen herausgefunden haben. Ich hätte die Erinnerungen auch weggesperrt und den Schlüssel weggeworfen.«

Letzten Herbst haben sich unser Deutschlehrer und unsere Geschichtslehrerin zusammengetan mit der Idee, uns in Arbeitsgruppen ein Projekt erarbeiten zu lassen, mit dem wir die Noten in unserem Jahresendzeugnis aufbessern können. Kai, Saskia, Tilman und ich haben uns für die Vergangenheit und die Geheimnisse des geschichtsträchtigen Tals unweit unseres Dorfes entschieden. Der Titel unseres Projektes »Das Tal – eine Spurensuche« stammt von Kai; die Idee, ein Kapitel einem Zeitzeugenbericht zu widmen, von Saskia.

Es war jedoch schwieriger als erwartet. »Zu lange her. – Mit Erinnerungen an die Vergangenheit hab ich es nicht so. – Wen interessiert das noch? – Lasst den Toten ihren Frieden. – Könnt ihr euch nicht mit etwas anderem beschäftigen als mit diesen alten Geschichten?«, waren die gängigen Reaktionen.

Anfangs vermuteten wir, es könne daran liegen, dass Saskia eine Zugezogene ist und die Leute deshalb den Mund nicht aufmachen. Also begleitete ich sie ein paar Mal, aber es änderte nichts.

Und dann sprach mich letzte Woche völlig überraschend Agnes Scherer an, als ich an ihrem Haus vorbeikam. Ihre Mutter Marie sei bereit, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Saskia war völlig aus dem Häuschen wegen der guten Nachricht, sie hatte schon befürchtet, auf den Zeitzeugenbericht verzichten zu müssen, denn bis zur Projektprüfung bleiben uns noch zwei Wochen.

In den vergangenen Wochen haben wir vier intensiv recherchiert für unsere Spurensuche und dabei viel Beklemmendes und Menschenunwürdiges über die Geschichte des Tales herausgefunden.

Ein paar Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten im Tal tausende Zwangsarbeiter ein komplexes Netz aus unterirdischen Stollen und Gewölben im Muschelkalk anlegen, dafür hatten Hitlers Getreue einen Teil des Truppenübungsplatzes in ein Häftlingslager umfunktioniert. Aber auch in der Nähe von Altenwinkel und in einem Dorf auf der anderen Seite der Talstraße gab es große Zeltlager, in denen Häftlinge untergebracht waren, die als Zwangsarbeiter schuften mussten.

Die Männer, ausgezehrt von Hunger, Kälte und chronischem Schlafmangel, wurden als Schachtarbeiter und im Gleisbau eingesetzt, sie mussten unterirdische Kabel verlegen und andere schwere körperliche Arbeiten verrichten.

Angeblich sollten die Gänge, Gewölbe und Bunker Hitler als letztes Führerhauptquartier und Nachrichtenzentrale dienen. Doch als die Alliierten sich im Frühjahr 1945 dem Tal näherten, wurden Stollen gesprengt und Bunker geflutet, damit den Befreiern nichts Brauchbares mehr in die Hände fallen konnte.

Seit damals gibt es wilde Mutmaßungen und Verschwörungstheorien über die verschütteten Gänge und unterirdischen Gewölbe, in denen einige Hartnäckige noch heute Hitlers Atombombe, eine intakte Panzerflotte oder sogar das legendäre Bernsteinzimmer vermuten.

Saskias Schwerpunkt im Projekt ist der Todesmarsch der Häftlinge nach Buchenwald, den ein Großteil der kranken, halb erfrorenen und verhungerten Männer nicht überlebte. Je mehr sie sich damit beschäftigte, desto drängender wurde für sie die Frage, inwieweit die Bewohner der umliegenden Dörfer von den Gräueltaten wussten und ob sie den Häftlingen geholfen oder einfach weggesehen hatten.

Saskia verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich wette, die alte Neumeister weiß irgendetwas.«

Kai schiebt von hinten seine Nase in den Spalt zwischen den Sitzlehnen. »In zwei Wochen ist unsere Präsentation und dann ist das Ding eh gelaufen, Sassy. Der Zeitzeugenzug ist abgefahren, kapier das doch endlich.«

»Ach, halt die Klappe«, brummt Saskia genervt. »Diese Zeitzeugengeschichte war mir persönlich eben sehr wichtig und hätte bei unserer Präsentation mit Sicherheit Punkte gebracht. Lehrer stehen auf so was.«

»Und wennschon. Offensichtlich hat eure einzige seriöse Quelle einen Rückzieher gemacht. Jetzt der alten Neumeister nachzulaufen, ist einfach nur blödsinnig«, hält Kai dagegen.

»Vielleicht interessiert mich ja, was die Altenwinkler unter ihrer Scheißidylle zu verbergen haben«, neckt Saskia Kai. »Die Greise mauern doch nicht ohne Grund.«

»Altenwinkel hat eine Leiche im Keller«, mischt Max sich ein. »Graben wir sie aus!«

Daraufhin gibt Saskia ein kicherndes Schnauben von sich.

»He«, sage ich, »diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Agnes hat abgesagt und die Neumeister ist eine alte Tratsche. Außerdem haben wir die nächsten Tage genug damit zu tun, für die Prüfung zu büffeln.«

Saskia schaut mich mit ihrem unschlagbaren Das-glaubst-du-doch-selber-nicht-Blick an. Sie kennt mich und weiß, dass ich vom Büffeln nicht viel halte. Die Prüfungen zur besonderen Leistungsfeststellung beginnen in zwei Wochen. In Deutsch, Mathe und Bio bin ich schriftlich dran. In Englisch mündlich.

Bis zu den Sommerferien sind es noch fast zwei Monate, eine halbe Ewigkeit. Ich bin jetzt schon ferienreif und fühle mich hinter den alten Mauern unserer Schule eingesperrt wie in einem dunklen Keller.

Der Schultag vergeht quälend langsam. Zuletzt haben wir eine Doppelstunde Mathe, in der wir uns mit der Wahrscheinlichkeitstheorie herumplagen. Als Grundlage dieser mathematischen Betrachtung wird von einem Zufallsvorgang ausgegangen. Alle möglichen Ergebnisse dieses Zufallsvorganges fasst man in der Ergebnismenge zusammen. Meistens interessiert sich jedoch niemand für das genaue Ergebnis, sondern nur dafür, ob ein Ereignis eintritt oder nicht. Ein Ereignis wird als eine Teilmenge von der Ergebnismenge definiert. Umfasst das Ereignis genau ein Element der Ergebnismenge, handelt es sich um ein Elementarereignis.

Was ein Elementarereignis ist, kann ich gut nachvollziehen. Alinas Verschwinden, zum Beispiel, war ein elementares Ereignis. Für ihre Eltern, ihre Großeltern, für mich, für das ganze Dorf und in erster Linie natürlich für sie selbst. Ihr Verschwinden war ein Zufallsvorgang, denn genauso gut hätte es auch mich treffen können oder ein anderes Mädchen aus Altenwinkel. Aber Martin Sievers hat sich Alina geschnappt und sie getötet.

Allerdings kapiere ich nicht, wie man das Wesen und die Existenz des Zufalls auf eine Formel an der Tafel reduzieren kann. Wenn ich in die Gesichter meiner Mitschüler schaue, dann weiß ich, dass es ihnen nicht anders ergeht. Und auch Herr Ungelenk, unser Mathelehrer, sieht nicht sonderlich glücklich aus bei seinen Ausführungen. Als es endlich klingelt, habe ich das Gefühl, nicht viel schlauer zu sein als vorher.

In meinen Augen ist Unterricht schlichtweg vergeudete Zeit. Nothing that’s worth learning can be taught, hat schon Oscar Wilde herausgefunden. In den Klassenräumen werden einem zwar unter großem Zeitdruck eine Menge Informationen eingetrichtert und einige Lehrer bemühen sich redlich, uns die Dinge auch verständlich zu machen, aber ich halte es mit Oscar Wilde: Die Offenbarungen des Lebens begegnen einem nicht im Klassenzimmer.

Endlich kommt der Schulbus. Montags und donnerstags haben Tilman und Kai nach Schulschluss Fußballtraining, deshalb fährt Kai mit dem späteren Bus zurück. Saskia, die wieder neben mir sitzt, erzählt mit leuchtenden Augen, dass sie ein neues Klamottenpaket von ihrer Cousine aus London bekommen hat.

Saskia Wagner hat glattes, schulterlanges braunes Haar und ein hübsches rundes Gesicht mit Grübchen in den Wangen. Sie lacht gern und viel, dann werden die Grübchen zu tiefen Löchern. Dank der abgelegten Klamotten ihrer Cousine sieht sie immer schick aus, auch wenn sie für manchen Rock und manche Bluse aus der Londoner Kleidersammlung ein bisschen zu mollig geraten ist. Immerhin, nach ihr drehen sich die Jungs mindestens zweimal um, was bei mir so gut wie nie vorkommt.

Schon seit ein paar Wochen ist Saskia unsterblich in Clemens, den Architektensohn, verschossen, der unser nächstes Gesprächsthema ist. Arme Sassy, denke ich, warum ausgerechnet der Man in Black? Clemens Neumann ist ein Schönling, mit dem hübschen Kopf zu weit in den Wolken, um ein Mädchen wie Saskia überhaupt zu bemerken. Auf dem Schulhof ist er immer von den angesagtesten Grazien umgeben. Eine feste Freundin scheint er allerdings nicht zu haben.

»Ich hoffe so sehr, dass er mich Himmelfahrt zu seiner Geburtstagsparty einlädt«, vertraut Saskia mir gerade flüsternd an.

Ich mag sie. Mit ihr kann man über ganz normale Sachen reden wie Klamotten, Musik und Jungs. Das heißt, meistens redet Saskia über Klamotten, Musik und Jungs und ich höre zu. Aber sie kann auch ganz schön hartnäckig sein, wenn sie sich einmal in eine Sache verbissen hat. Das bewundere ich an ihr.

Hin und wieder beschwert sich Saskia, dass wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen, aber der Wald und seine Bewohner interessieren sie nicht die Bohne und außerdem versteht sie, dass ich viel mit Kai zusammen bin.

Saskia kann es kaum erwarten, wieder wegzukommen aus Altenwinkel. Nach dem Abi will sie nach London gehen, zu ihrer Cousine. Sie fühlt sich gefangen in der Scheißidylle, findet das Landleben langweilig. Typisch Stadtkind, denn auf dem Dorf lernt man schon früh, wie man sich nicht langweilt.

Zugegeben: Außerhalb der Schulzeiten ist es umständlich, von Altenwinkel in die Zivilisation zu gelangen. Der Linienbus fährt nur von montags bis freitags ins rund zehn Kilometer entfernte Arnstadt. Nach Erfurt, in die nächste Großstadt, sind es dreißig Kilometer. Und am Wochenende ins Kino oder auf ein Konzert zu gehen, ist ein Akt. Vor allem, wenn man ein sechzehnjähriges Mädchen ist und eine Mutter hat, die vor lauter Angst, dass etwas passieren könnte, kaum noch das Haus verlässt.

Wir Dorfkinder müssen unsere Eltern anbetteln, dass sie uns kilometerweit herumkutschieren und nach Mitternacht noch von sonst woher abholen. Toll finden die das natürlich nicht und oftmals heißt es: »Nö, heute nicht.«

Trotzdem funktioniert es irgendwie. Letztendlich findet sich immer ein Elterntaxi, das uns in die Stadt oder zurück ins Dorf bringt. Im Sommer kann man Fahrrad oder Moped fahren und ein paar der älteren Dorfjungs sind im Besitz von Führerschein und Auto.

Die Türen des Schulbusses öffnen sich vor dem »Jägerhof« und alle steigen aus. Altenwinkel ist Endstation.

Das Wirtshaus, ein einstöckiger Fachwerkbau aus roten Ziegeln und grün gestrichenen Balken und Fensterläden, ist mit seinen bunt bepflanzten Blumenkästen vor den Fenstern ein richtiges Schmuckstück und seit Generationen in den Händen von Familie Schlotter. Allerdings verirren sich nur selten ein paar Vogelbeobachter oder Fahrradfahrer nach Altenwinkel, sodass im Schankraum immer dieselben Gestalten sitzen.

Einer Eingebung folgend beschließe ich, auf dem Heimweg kurz bei Tante Lotta vorbeizuschauen, genauso, wie ich früher nach der Schule oft bei Uroma Hermine eingekehrt bin.