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Israel E-Book

Anton Pelinka

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Beschreibung

Der Staat Israel ist ein Produkt des ­europäischen Antisemitismus, welcher bei den Juden ein Nationalgefühl und den Wunsch nach einem eigenen Staat provozierte. Der entscheidende letzte Anstoß für den Beschluss der Vereinten Nationen von 1947, das britische Mandatsgebiet Palästina zu teilen und damit die Grundlage für die Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 zu schaffen, war der Holocaust, der dem Zionismus ein besonderes moralisches Gewicht verlieh. Der Autor argumentiert, dass dieser Konnex mit dem Holocaust für Israel ambivalente Konsequenzen hat. Das vor allem in Europa und Nordamerika herrschende Gefühl einer besonderen Verpflichtung gegenüber Israel wird begleitet von Maßstäben, die nur für Israel zu gelten scheinen. Die religiöse Toleranz in Israel wird nicht verglichen mit den entsprechenden Mängeln etwa in ­Saudi-Arabien, und Israels demokratische Standards werden kaum an den Dik­taturen und Halb-Diktaturen in ­Israels unmittelbarer Umgebung gemessen. Trotz dieser Umstände sind die Boykott­aufrufe gegen Israel sehr viel lauter als Boykottaufrufe gegen die autoritären Regime im Nahen Osten.

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Seitenzahl: 322

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Anton Pelinka

ISRAEL

Ausnahme- oder Normalstaat

Anton Pelinka

ISRAEL

Ausnahme- oderNormalstaat

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.dehttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2015© 2015 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Satz: Palli & Palli OG, A-6020 InnsbruckCoverillustration unter Verwendung von Bildmaterial (Public Domain)von wikimedia commons (David Ben Gurion, Benjamin Netanyahu und Theodor Herzl) sowie pixabay.com (Hintergrund)ISBN der Printausgabe: 978-3-99100-163-8

ISBN E-Book: 978-3-99100-164-5

INHALT

Vorwort

Verzeichnis der Tabellen

1. Israel: Drei Zugänge

1.1. Die speziell jüdische Betroffenheit

1.2. Jenseits von Philo- und Antisemitismus

1.3. Der Holocaust ist Geschichte – ist er das?

2. Israels Normalität – Israels Besonderheit

2.1. Eine Demokratie – mit Mängeln

2.2. Eine „ethnische“ Demokratie?

3. Israel: Vom Sozialismus zum Kapitalismus

3.1. Ein Gewerkschafts- und Genossenschaftsstaat

3.2. Die Integration in die Weltwirtschaft

4. Die Konstruktion von Nationen und Völkern

4.1. Die jüdisch-israelische Nationswerdung

4.2. Die palästinensische Nationswerdung

5. Narrative

5.1. Das zionistische Narrativ

5.2. Das palästinensische Narrativ

6. Multikulturelles Israel

6.1. Israels Demografie

6.2. Mehrheit und Minderheit

7. Gerechtes und ungerechtes Israel

7.1. Israel im Ranking der Demokratien

7.2. Wie kann Israel den Makel der Okkupation loswerden?

8. Eine Geschichte der versäumten Gelegenheiten

8.1. Die ersten Chancen

8.2. Der Sechstagekrieg: Nein, nein, nein – und die Fortführung der Gewalt

8.3. Die Oslo- und die Gaza-Erfahrungen

9. Israel als „Defining Other“

9.1. Israel und der alte Antisemitismus

9.2. Israel als „Common Denominator“

9.3. Israel und der neue (linke?) Antisemitismus

10. Israel und die USA

10.1. Eine berechenbare Partnerschaft

10.2. Die „Israel-Lobby“

11. Israel und Europa

11.1. Eine logische Verbindung, aber…

11.2. Europa kann Israel brauchen – aber braucht Israel Europa?

12. Der Status quo

12.1. Das kleinste aller Übel

12.2. „The Day After“

13. Mainstreaming Israel

Bibliografie

Namensregister

VORWORT

Dieses Buch versucht, Israel in einen vergleichenden Bezug zu anderen Staaten zu setzen. Das Motiv ist nicht, die Besonderheit Israels infrage zu stellen – diese ist unbestreitbar. Doch Israel ist keine Insel, sondern ein dynamisches Staatswesen, eine komplexe Gesellschaft, umgeben von einer weitgehend feindseligen Umwelt. Die Begründung der Feindseligkeit gegenüber Israel ist, dass Israel spezifisch ist: Produkt einer Landnahme und einer Vertreibung, ein Staat, der auf einer quasi rassistischen Segregation der Gesellschaft errichtet ist. Die Begründung für eine uneingeschränkt positive Einstellung zu Israel unterstreicht ebenfalls die Besonderheit des Landes: Aufgebaut von den Opfern antisemitischer Gewalt und Überlebenden des Holocaust, demonstriert Israel die heroische Überlebensfähigkeit des jüdischen Volkes.

Jede dieser Wahrnehmungen ist nicht falsch – jedenfalls nicht zur Gänze. Aber jede ist einseitig auf ihre Art. Das Buch ist der Versuch, durch einen Vergleich der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft mit anderen Ländern dieses Land als „normal“ zu zeichnen. Die Stärken Israels sind ebenso wenig einmalig wie seine Schwächen und Fehler. Unter Nutzung der Ergebnisse sozialwissenschaftlich fundierter Vergleiche kann und soll Israel entmystifiziert und damit auch entdämonisiert werden.

Das Buch ist auch das Ergebnis persönlicher Erfahrungen. Zum Beispiel Februar 1980: Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich vom Ruf eines Muezzins geweckt. Dessen Stimme erschallte von einem Minarett – vermutlich in Form einer Tonkassette. Der Ort? Tel Aviv. Wer kann in Riad erwarten, vom Geläute einer Kirchenglocke geweckt zu werden?

Immer wieder traf ich in Europa auf das Argument, Israel müsse es eigentlich besser wissen. Die Überlebenden des Holocaust und deren Nachfahren sollten doch gelernt haben. Und die Behandlung der Palästinenser durch die israelischen Behörden käme doch schon sehr nahe an das heran, was Nazi-Deutschland „den Juden“ angetan hätte. Ganz abgesehen von der naiven und gleichzeitig unerträglichen tendenziellen Gleichsetzung der israelischen Besatzungspolitik mit der deutschen Ausmordungspolitik – warum sollten gerade die Opfer des Holocaust und deren Nachfahren besondere Lehren aus der Shoa ziehen und nicht die Täter und deren Nachfahren, etwa in Deutschland und Österreich?

Als Israel bald nach dem Sieg von 1967 mit der Siedlungspolitik begann, hielt ich das für einen Fehler. Als Israel auf die erste Intifada mit einer verschärften Sicherheitspolitik in den besetzten Gebieten antwortete, war ich verunsichert. Erst die Lektüre von Tom Friedmans „From Beirut to Jerusalem“ verhalf mir zu einer nüchternrealistischen Beurteilung: Israel macht Fehler, verletzt die Rechte von Menschen. Aber wer in der Umgebung Israels wäre qualifiziert, in Selbstgerechtigkeit Israel als Unrechtsstaat zu kritisieren? Das Syrien der Assad-Diktatur? Oder der absolutistisch regierte Gottesstaat Saudi-Arabien?

Meine Besuche in Israel, insbesondere meine Gastprofessuren an der Hebrew University am Mount Scopus in Jerusalem, vermittelten mir einen tiefen Einblick in die Buntheit, in die Vielfalt, aber natürlich auch in die Widersprüche des Landes. Jerusalem ist in seiner Einzigartigkeit das, was die Stadt der Städte genannt werden muss: voll von archäologischen Schätzen aus mehreren Jahrtausenden, voll von Erinnerungen an die jüdische und römische, christliche und arabische, osmanische und britische und zionistische Geschichte; und voll von Friedhöfen, die jeweils ein Puzzlestück der insgesamt so besonderen Geschichte dieser Stadt sind.

Israel schlägt immer wieder eine Doppelmoral entgegen, für die offenkundig vor allem Menschen in Europa anfällig sind. Nein, natürlich sind das keine Personen, die etwa den Holocaust leugnen oder „die Juden“ für eine besondere, a priori negativ punzierte „Rasse“ halten würden. Aber viele Kritikerinnen und Kritiker Israels messen diesen Staat an Maßstäben, die speziell für Israel und nur für Israel gelten. Die Behandlung der kurdischen Minderheiten in Israels Nachbarschaft durch die Türkei, den Iran, den Irak? Die Freiheitsbeschränkungen aller religiösen Gemeinschaften außerhalb des sunnitischen Islam in Saudi-Arabien? Die Diskriminierung von Christen in Ägypten und die mehr oder weniger offene Frauenfeindlichkeit im gesamten arabischen Raum – und auch im Iran? Das alles wird zwar nicht einfach unkritisch hingenommen, aber dieselben, die zum Boykott israelischer Waren und israelischer Universitäten aufrufen, sind gegenüber der Unterdrückung religiöser und politischer Freiheiten in allen arabischen Staaten meistens viel verständnisvoller als gegenüber den Einschränkungen, die Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten erfahren. Und: Wer kritisiert die engen Grenzen politischer Freizügigkeit in Ramallah und Gaza und vergleicht sie mit den politischen Freiheiten, die arabische Israelis etwa in Nazareth genießen?

An Israel, an Israels Existenz und Politik, gehen die meisten Menschen mit besonders großen Emotionen heran, negativen wie positiven. Die Israel-Debatten führen meistens sehr rasch zu einem „schwarz“ gegen „weiß“ und lassen kaum Differenzierungen zu. Eine Diskussion über Israel wird schnell zu einer emotionalen Auseinandersetzung, in der es um den Gegensatz zwischen „politischen Religionen“ geht, die nichts mit Islam, Judentum oder Christentum zu tun haben, sondern mit Voreingenommenheit. Israel polarisiert – ungleich mehr als Ägypten oder Italien oder Japan. Gegenüber Israel, einem Staat, der weniger Einwohner hat als Schanghai oder Sao Paulo, ist kaum jemand nüchtern. Zu Israel haben so viele Menschen bereits feste Meinungen, ohne sich mit der Wirklichkeit dieses Staates auseinanderzusetzen.

Das Buch ist ein Versuch, ein Bild Israels frei von solchen Emotionen, frei von Voreingenommenheiten zu zeichnen. Israel soll sich, so das Argument, als Normalstaat sehen – und auch von anderen als Normalstaat akzeptiert werden. Ein solcher zu sein war Israel bisher nicht möglich, nicht erlaubt. Israel zu entmystifizieren – das ist die Motivation, die hinter diesem Buch steht. Israel hätte jeden Grund, sich als Normalstaat zu sehen; wie jeder andere mit Fehlern und Defiziten, aber auch in diesen nicht wirklich anders als die anderen.

Das Buch ist der Versuch eines Plädoyers, Israel nicht mit den Verengungen eines Tunnelblicks oder mit denen eines Mikroskops zu sehen. Es gibt gerade in Europa die Neigung, Israel Fehler in einem kritischen Ton vorzuhalten, der bei den Fehlern anderer so nicht verwendet wird. Und es gibt ebenso die Neigung, jede Kritik an Israel als Antisemitismus zu qualifizieren. Das Buch geht keinen „Mittelweg“, weil ein solcher ja diese vereinfachenden Parteinahmen als Rahmen akzeptieren würde. Das Buch ist ein möglichst nüchterner Blick auf eine Gesellschaft und einen Staat, die ungewöhnlich dynamisch sind – und deren Dynamik in verschiedene, auch gegenläufige Richtungen weist. Aber auch diesbezüglich ist Israel nicht so anders als die anderen.

Zu danken ist der guten Zusammenarbeit mit dem Braumüller Verlag. Zu danken ist aber vor allem Ellen Palli, die in gewohnter, aber nicht selbstverständlicher Perfektion für den Satz verantwortlich war.

Anton Pelinka

Budapest, Wien, Innsbruck, Sommer 2015

VERZEICHNIS DER TABELLEN

Tabelle 1Wahlen in die 20. Knesset, 17. März 2015

Tabelle 2Israelische Wirtschaftsdaten

Tabelle 3Freedom-House-Ranking für 2014 aller Staaten im Nahen Osten

Tabelle 4Human Development Index (HDI) 2014 (die ersten 30 Plätze)

1. ISRAEL: DREI ZUGÄNGE

Israels Geschichte und Gegenwart haben eine Vorgeschichte, die etwa drei Jahrtausende umfasst. Die Vertreibungen der Jüdinnen und Juden nach Ägypten, Babylon, Persien zählen ebenso dazu wie die Rückkehr Israels in das Land, das heute Israel und Palästina ausmacht. Die Vertreibung durch die Römer im zweiten Jahrhundert der Periode, der „nach Christus“, führte zu einer Zerstreuung der Jüdinnen und Juden – zunächst auf weite Teile Europas, Asiens, Afrikas. Die Erfahrungen während der fast zwei Jahrtausende andauernden Diaspora begründete den Zionismus, der sich als Rückkehrbewegung in die angestammte Heimat definierte. Das „jüdische Volk“ sollte nach Israel zurückkehren, kehrte auch zurück, um dort wieder einen Staat zu gründen.

Der Staat Israel wurde 1948 gegründet. Die Grundlagen des Staates, seiner Entstehung und seiner weiteren Entwicklung waren vielfältig:

Eine sich über Jahrtausende erstreckende jüdische Präsenz in der Region zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan; eine Präsenz, die nach den Vertreibungen durch die Römer freilich minimal war, überlagert von einer ab dem 7. Jahrhundert bestehenden islamisch-arabischen Mehrheit.

Die nach der Wende zum zweiten Jahrtausend erfolgte Besetzung Palästinas und benachbarter Gebiete durch europäische Ritterheere („Kreuzzüge“) und die Gründung christlich-europäischer Staaten, die sich sowohl gegen jüdische als auch gegen muslimische Ansprüche richteten.

In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends etablierte sich in diesem Raum die Herrschaft des Osmanischen Reiches, religiös mit der arabisch-muslimischen Mehrheit Palästinas verbunden, dennoch aber von dieser zumindest phasenweise als Fremdherrschaft wahrgenommen.

Die kurze Militärintervention Napoleons 1799, im Rahmen von dessen ägyptischem Feldzug, wurde gerade auch von den Bewohnern Palästinas als Neuauflage der Kreuzzüge und als Ausdruck besonderer europäisch-christlicher Ansprüche gesehen.

Eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende jüdische Zuwanderung (Aliyah) in den Teil des Osmanischen Reiches, der Palästina genannt wurde. Die Zuwanderung war das Produkt des europäischen Antisemitismus und der daraus resultierenden, wachsenden Selbstdefinition der Juden als „Volk“; als Nation auf der Suche nach einem Staat.

Das Bestreben des sich am Ende des 19. Jahrhunderts konstituierenden Zionismus, als jüdische Nationalbewegung in Palästina ein zunächst vage „Heimstätte“ genanntes, auch politisch organisiertes Gemeinwesen aufzubauen – bemüht um Absprache mit den osmanischen Behörden.

Die Balfour-Deklaration, das 1917 von der britischen Regierung vor allem auch aus geopolitischen Gründen erklärte Versprechen, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Palästina eine solche „Heimstätte“ zu ermöglichen. Diese Erklärung stand freilich in zumindest teilweisem Widerspruch zu Versprechungen der britischen Regierung gegenüber arabischen Akteuren.

Die nach 1918 verstärkte jüdische Zuwanderung in das nun unter britischer Mandatsherrschaft stehende Palästina, eine Zuwanderung, mit der umzugehen die britische Regierung Schwierigkeiten hatte – insbesondere, als infolge der nationalsozialistischen Machtergreifung die Zuwanderung den Charakter einer Massenflucht annahm.

Die arabische Bevölkerungsmehrheit in Palästina wandte sich gegen die jüdische Zuwanderung, weil sie allen Grund hatte, darin eine Landnahme zu sehen, die – nach dem ja grundsätzlich beabsichtigten Abzug der Mandatsmacht – in Konkurrenz zu den arabisch-palästinensischen Ansprüchen stehen würde.

Im Zweiten Weltkrieg unterstützten jüdische Kräfte aus Palästina die britischen Anstrengungen, sich gegen die aus Libyen vordringenden Achsenmächte zu verteidigen und vor allem auch, 1942, die der Kollaboration des Vichy-Regimes verpflichtete französische Kontrolle Syriens auszuhebeln.

Der 1947 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossene Plan einer Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat, der von den jüdischen Vertretern akzeptiert, von den arabischen aber abgelehnt wurde.

Der noch vor dem für Mai 1948 festgelegten Abzug der Briten zunächst als Kleinkrieg begonnene, gewaltsame Konflikt zwischen Juden und Arabern, der sich 1948 nach der formellen Staatsgründung Israels als Folge der militärischen Intervention arabischer Staaten zu einem offenen Krieg ausweitete.

Dieser Krieg wurde durch einen 1949 unterzeichneten Waffenstillstand beendet, dem kein Friedensvertrag folgte – und damit auch keine Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten. Damit waren auch die Grenzen Israels nur vorläufig, nicht aber dauerhaft geklärt.

Der Krieg von 1967, der die Westbank einschließlich Ostjerusalems (bis dahin Teil Jordaniens), des Gazastreifens (zunächst von Ägypten verwaltet) und des Golan (davor zu Syrien gehördend) unter israelische Kontrolle brachte. Der jordanische Teil Ostjerusalems und der Golan wurden von Israel annektiert, die (übrige) Westbank und Gaza okkupiert.

Friedensverträge mit Ägypten (1979) und Jordanien (1994) lockerten die regionale Isolierung Israels, und die 1993 in Oslo und Washington geschlossene Vereinbarung mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO weckte Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden, Hoffnungen, die aber in den folgenden Jahrzehnten enttäuscht wurden.

1.1 Die speziell jüdische Betroffenheit

Ohne die nationalsozialistische Herrschaft und deren zunächst auf Vertreibung, dann auf Ausmordung gerichtete antijüdische Politik hätte die Zuwanderung nach Palästina kaum eine so kritische Dimension erreicht, die eine Voraussetzung der Staatsgründung war. Ohne die Erfahrung des Holocaust, die sich erst allmählich 1945 und danach in das globale Bewusstsein festsetzte, hätte die öffentliche Meinung bei den letztlich entscheidenden Akteuren (vor allem den USA) kaum eine proisraelische Politik zugelassen. Eine solche Politik wurde zum Vorteil Israels zunächst vor allem von Frankreich und dann zunehmend von den USA verwirklicht – in Form vielfältiger Unterstützung für den Yishuv, der jüdischen Selbstverwaltung, die 1948 zur Regierung des Staates wurde.

In dieser Phase, zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Staatsgründung 1948, zeigte sich die britische Politik weitgehend antizionistisch. Die Labour-Regierung, allen voran Außenminister Ernest Bevin, bremste die Entstehung Israels, wo immer sie konnte. Die Briten enthielten sich auch bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung über die Teilung Palästinas der Stimme, während die USA, Frankreich und auch die UdSSR dem UN-Teilungsplan zustimmten und so halfen, die Staatsgründung Israels zu legitimieren. Aus allen möglichen Gründen opponierte die abziehende Mandatsmacht gegen die Mehrheitsmeinung in den Vereinten Nationen, wie sie auch die Einwanderung von Holocaust-Überlebenden ab 1945 zu unterbinden versucht hatte; dabei freilich auch auf die Interessenlage der arabischen Bevölkerung und der arabischen Staaten reagierend.

Israel ist auch und vor allem ein Produkt des Holocaust, jenes laut Yehuda Bauer erstmaligen (nicht einmaligen) Verbrechens gegen die Menschheit. Der Holocaust war dafür verantwortlich, dass der Anspruch des Zionismus, für die Juden einen Staat zu schaffen, eine ethische Dimension erhielt. Diese ethische Dimension beeinflusste vor allem die Haltung Europas und Nordamerikas und half mit, dass Israel in seinem Ringen um seine Existenz nicht allein blieb. Diese ethische Dimension war aber auch für den nationalen Konsens in Israel selbst verantwortlich. Nach dem Schock, der für die Überlebenden des Holocaust in und außerhalb Palästinas zunächst bestimmend war, setzte erst allmählich eine politische Reaktion ein – ausgelöst durch Ereignisse wie den Eichmann-Prozess 1961, untermauert von wissenschaftlichen Dokumentationen wie die in Yad Vashem in Jerusalem zur Schau gestellten Dokumente.

Es ist auch die Folge dieses kausalen Zusammenhanges zwischen Holocaust und Israel, dass Gegner der bloßen Existenz Israels – wie etwa die iranische Regierung nach 1979, aber auch neonazistische Gruppen in Nordamerika und Europa – den Holocaust als Erfindung oder zumindest als hochgespieltes Propagandainstrument des Zionismus „entlarven“ wollen. Der Holocaust war und ist eine so schreckliche Erfahrung der Menschheit, dass dieser erstmalige „Zivilisationsbruch“ die Existenz Israels ermöglicht und gestärkt hat. Ebendeshalb müssen die entschiedenen Gegner Israels den Holocaust leugnen oder zumindest relativieren.

Auf dieser Grundlage weltweiter Betroffenheit schuf sich Israel Freunde: Nachdem in den ersten Jahren vor allem Frankreich Israel durch Waffenlieferungen unterstützt hatte, übernahmen ab 1956 – nach dem politischen Fehlschlag der israelisch-britisch-französischen Intervention in Ägypten – mehr und mehr die USA die Rolle eines machtvollen Alliierten Israels. Dies stand auch im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg: Die UdSSR hatte zu diesem Zeitpunkt ja die Rolle einer Schutzmacht, eines Alliierten arabischer Staaten (Ägypten, Syrien) übernommen. Aber das geostrategische Interesse der USA, dem sowjetischen Einfluss etwas entgegenzustellen, wurde durch eine proisraelische Sympathie in der US-amerikanischen Öffentlichkeit ermöglicht und unterstützt.

Und auch mit der Bundesrepublik Deutschland entstand ein Kontakt, der – von der israelischen Rechten zunächst und auch von den deutschen Rechtsextremisten dauerhaft scharf abgelehnt – nicht nur auf der persönlichen Beziehung zwischen David Ben-Gurion und Konrad Adenauer aufbauen konnte, sondern auch auf einer sich ins Bewusstsein der deutschen Gesellschaft eingrabenden, spezifischen Verantwortung für den Staat der Juden. Jeder deutsche Bundeskanzler (einschließlich des früheren NSDAP-Parteimitglieds Kurt Georg Kiesinger), bis zu der aus der DDR stammenden Kanzlerin Angela Merkel, hat die besondere Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel betont. In Europa ist kein anderer Staat ein verlässlicherer Freund als Deutschland.

Dass diese globale (freilich vor allem europäische und nordamerikanische) Betroffenheit auch noch sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Holocaust weiterexistiert, insbesondere ab den 1970er-Jahren – ausgedrückt im Bau von Holocaust-Gedenkzentren in aller Welt und der Entwicklung von Holocaust-Curricula, vor allem in den USA, aber auch in Europa –, ist die Folge der Ungeheuerlichkeit des Verbrechens. Es brauchte etwa eine Generation, auch in Israel, um das Spezifische des Verbrechens der Shoah voll im Bewusstsein und Gedächtnis zu verankern. Der verbrecherische Charakter des Hitler- Regimes wurde nicht blasser in der Abfolge der Generationen, er trat vielmehr deutlicher hervor.

Doch wird dies auch noch nach zwei weiteren Generationen so sein? In der wissenschaftlich gestützten Wahrnehmung zweifellos. Der Holocaust – immer besser erforscht, immer besser dokumentiert – wird die zentrale Erfahrung des 20. Jahrhunderts bleiben, auch tief ins 21. und auch ins 22. Jahrhundert hinein. Für die politisch mobilisierbare Wahrnehmung ist dies freilich nicht so ohne Weiteres zu sagen.

Zu beobachten ist eine Israel betreffende, auf den ersten Blick paradoxe Opfer-Täter-Umkehr in gesellschaftlichen Milieus Europas und Nordamerikas. An Universitäten – auch in den USA, vor allem aber im „linken“ Milieu europäischer Universitäten – zeigt sich eine „antizionistische“ Welle, die nicht nur Palästinenser als Opfer und Israel als Täter sieht. Das ist eine einseitige, aber nicht a priori absurde Sichtweise – auch wenn sie Israel an Maßstäben misst, die etwa gegenüber den arabischen Staaten in der Region oder auch gegenüber der Menschenrechtssituation in den von Palästinensern selbst verwalteten Gebieten nicht berücksichtigt werden. Dieser alt-neue Antizionismus bedient sich manchmal antijüdischer Klischees, etwa in Form der Gleichsetzung von Kapitalismus und Judentum, ausgedrückt in dem Goldenen Kalb, das, mit einem Davidstern versehen, bei gelegentlichen Anti-Globalisierungsdemonstrationen auftaucht.

Dieser Antizionismus, der sich vor allem auf der Linken, zumeist (aber nicht nur) außerhalb der sozialdemokratischen „gemäßigten“ Linken hörbar macht, propagiert die Politik des Boykotts: gegenüber israelischen Waren, gegenüber israelischen Universitäten. Da analoge Boykottaufrufe gegenüber anderen Staaten der Region, deren Menschenrechtsbilanz deutlich negativer ist als die Israels, so nicht wahrzunehmen sind, hat dieser Antizionismus jedenfalls einen antijüdischen, einen antisemitischen Beigeschmack. Und auch wenn die Boykottaufrufe keineswegs Israel existenziell treffen, so müssen sie auch als Teil eines Versuches gesehen werden, Israel zu delegitimieren; Israel als einzigen Akteur oder zumindest einzig Schuldigen zu benennen, der für Unterdrückung und Unfrieden im gesamten Nahen Osten verantwortlich ist.

Da die Boykottaufrufe in den meisten Fällen frei von Versuchen sind, den Holocaust zu relativieren oder gar zu leugnen, zeigt diese Welle von Antizionismus ein partielles Nachlassen der gegenüber Israel ethisch verpflichtenden, politisch relevanten Wirkung des Holocaust. Und damit ist der Holocaust als Grundlage für eine generelle Einstellung zu Israel in diesem linken, vor allem akademischen Milieu nicht mehr ausreichend. Der Holocaust kann nicht (mehr) als selbstverständlich akzeptierte Begründung für das Existenzrecht Israels in alle Zukunft angesehen werden.

Er ist damit als entscheidende Erfahrung des 20. Jahrhunderts nicht an das Ende seiner Bedeutung für das Bewusstsein für heute und morgen angekommen. Es gibt einen Trend, den Holocaust in seiner erstmaligen Qualität immer mehr und immer breiter zu erkennen, aber dies nicht mehr unbedingt als Legitimationsgrundlage Israels anzuerkennen. Der Holocaust als Erfahrung und Israel als Realität driften auseinander.

1.2. Jenseits von Philo- und Antisemitismus

Der Staat Israel ist das Produkt einer ethischen Verantwortung für die Überlebenden des Holocaust. Die westliche Welt – vor allem Europa (auf dessen Boden ja die Voraussetzungen des Holocaust entstanden waren) – hat die Unterstützung Israels in den ersten Jahren von dessen Existenz auch als eine Art Wiedergutmachung für die fast perfekte Ausmordung des europäischen Judentums verstanden. Europa (und insbesondere Deutschland) sah sich in die moralische Pflicht genommen, Israel zu unterstützen, mit Israel zu sympathisieren. Dazu zählte und zählt noch immer – gelegentlich – die Neigung, als Absage an den Antisemitismus alles Jüdische mit positiver Voreingenommenheit zu sehen. Nach Jahrzehnten der negativen Punzierung jüdischen Lebens, jüdischer Kultur, jüdischer Erfolge vor allem in Europa, schlug – als Antithese – die dem Holocaust folgende, intellektuelle und moralische (keineswegs aber immer reale) Absage an den Antisemitismus bei vielen in Europa und Nordamerika in eine tendenziell unkritische, projüdische Einstellung um, die sich auch in einer proisraelischen Einstellung äußern kann.

Dieser Philosemitismus ist die Kehrseite des Antisemitismus. Letzterer konstruiert „den Juden“ als quasi genetisch gezeichneten Bösewicht. Ersterer konstruiert, als ethisch und politisch an sich verständliche Antwort auf den Antisemitismus, „den Juden“ als permanentes Opfer, aber auch als des Bösen unfähig. Beiden ist gemeinsam, ein apriorisches Bild „des Juden“ zu haben, das der Wirklichkeit absolut widerspricht. „Der Jude“, von seiner vor allem christlichen Umgebung über die Jahrhunderte als „Gottesmörder“ und ab dem 19. Jahrhundert als Mitglied einer „Rasse“ erfunden, die als Sündenbock für Kapitalismus und Bolschewismus verantwortlich gemacht wurde, wird vom Philosemitismus positiv gesehen und gleichsam umarmt. „Der Jude“ aber bleibt immer ein Konstrukt, das mehr über die Befindlichkeit der Anti- und der Philosemiten als über die der Juden aussagt. „Den Juden“ schlechthin gibt es nicht – nicht in der negativen Konnotation des Antisemitismus, aber auch nicht in der positiven des Philosemitismus.

Es ist natürlich verständlich, dass der Zionismus und der Staat Israel als Antwort auf den sie bedrohenden Antisemitismus den Philosemitismus politisch instrumentieren. Es ist verständlich, dass Israel die Erinnerung an den Holocaust lebendig hält – aus intellektuellen, aus ethischen, aber auch aus politischen, immer nachvollziehbaren Gründen. Die von manchen als „Holocaust-Industrie“ verunglimpfte Nutzung des Holocaust für politische Zwecke macht Sinn – für Israel, für die Gegenwart und die Zukunft. Aber diese Funktionalisierung des Philosemitismus baut auf einer Vereinfachung auf.

David Ben-Gurion hat einmal gesagt, erst wenn sich in Israel eine Berufskriminalität à la Mafia entwickelt hat, erst wenn in Tel Aviv Rotlicht-Bezirke existieren wie in Amsterdam oder Paris, erst dann ist Israel stabil, weil normal; erst dann ist es kein Ausnahme-, sondern ein Normalstaat. Und ohne Daten einer vergleichenden Kriminalsoziologie bemühen zu müssen: Israel hat diese Voraussetzungen für seine Stabilität und Normalität längst schon hergestellt.

Thomas Friedman hat in seinem 1989, also nach dem Friedensschluss mit Ägypten und vor dem Oslo-Abkommen veröffentlichten Buch „From Beirut to Jerusalem“ einen schlüssigen Versuch angestellt, Israels Normalität hervorzukehren; zu erklären, dass eine permanente Betonung der historischen Opferrolle des Judentums für Israel zwiespältig ist. Israel braucht nicht den Holocaust zu bemühen, um seine Existenz zu rechtfertigen. Es ist mindestens so wichtig wie an die NS-Zeit zu erinnern, dass darauf verwiesen wird, dass politische Opposition von arabischer Seite innerhalb Syriens und Ägyptens, aber auch in Gaza und in der Westbank – anders als in Israel – a priori unterdrückt wird. Nicht, dass die Politik Israels gegen den Widerstand in der Westbank nicht auch als Unterdrückung verstanden werden kann – aber die Grund- und Freiheitsrechte der arabischen Bürgerinnen und Bürger Israels sind jedenfalls deutlich besser gestützt als sonstwo in der Region.

Durch die Berufung auf den Holocaust stellt Israel – verständlich und historisch begründbar – einen Anspruch auf eine Sonderrolle. Aber dieser Anspruch ist ambivalent. Er verleitet dazu, dass der nach wie vor vorhandene, latente, aber nicht „salonfähige“ Antisemitismus in Europa und Nordamerika sich antizionistisch geriert und dem Staat der Juden eine in seiner Sonderrolle ausgedrückte Arroganz vorhält. Diese beanspruchte Sonderrolle erlaubt die Argumentation, dass Israel den Holocaust benützt, um eine Art koloniale Herrschaft über die „indigene“ Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu rechtfertigen.

Es ist der Sonderstatus Israels, der als Deckmantel für den intellektuell unakzeptablen Doppelstandard herhalten muss, der vor allem in Europa zu beobachten ist. Wenn Israel nicht als Ausnahme-, sondern als Normalstaat gesehen wird, bleibt keine einzige in sich schlüssige Argumentation übrig, dass sich Menschen in Europa über die Behandlung der Palästinenser in den besetzen Gebieten besonders erregen – mehr als über die Menschenrechtsverletzungen in allen arabischen Staaten. Es bleibt kein Vorwand, sich über die in jeder Hinsicht, qualitativ und quantitativ, nach allen nur denkbaren Maßstäben viel schlimmere Unterdrückung und Vertreibung der Bewohner in der westsudanesischen Region Darfur nicht in vergleichbarer Weise zu erregen.

Sudan ist Mitglied der Arabischen Liga. Israel ist, umgeben von arabischen Nachbarstaaten, isoliert. Gegen Israel gibt es laufend Demonstrationen – in London und Paris, in Rom und Berlin. Was ist mit dieser humanistischen Protestenergie, wenn es sich um genozidale Vorgänge im Sudan handelt, wenn Sunniten und Schiiten einander in Syrien oder im Jemen abschlachten, wenn in Saudi-Arabien und im Iran Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung hingerichtet werden? Der Sonderstatus Israels wird zum Nachteil Israels, weil er dazu verleitet, Israel grundsätzlich anders als die anderen zu bewerten.

Es ist, jedenfalls langfristig, für die im dritten Jahrtausend aufwachsenden Generationen alles andere als selbstverständlich, aus der intellektuellen Einsicht in die Schrecknisse des Holocaust eine bestimmte politische Haltung gegenüber Israel abzuleiten. Es ist für diese Generationen jedoch einsichtig, die gesellschaftliche Rolle der Frauen, die Freiheit der Religionsausübung, die legale Möglichkeit zu politischer Opposition, die rechtsstaatliche Selbstbindung von Regierungen und vieles andere an Grund- und Freiheitsrechten für einen Vergleich zwischen Israel und seinen Nachbarn heranzuziehen. Israel wird bei solchen Vergleichen nicht schlecht abschneiden.

Es ist die im Philosemitismus positiv, im Antisemitismus negativ konnotierte Sonderrolle Israels, die sich – auch – gegen Israel wendet. Israel braucht keinen Sonderstatus mehr, um seine Existenzberechtigung zu begründen. Israel kann auf seine Legitimierung durch die Vereinten Nationen ebenso verweisen wie darauf, dass die meisten Staaten der Welt mit Israel diplomatische Beziehungen haben und damit Israels Existenz anerkennen. Israel kann auf seine wissenschaftlichen und wirtschaftlichen und, ja, auch militärischen Erfolge verweisen. Israel hat jeden Grund für ein selbstbewusstes Auftreten – jenseits des Holocaust.

1.3. Der Holocaust ist Geschichte – ist er das?

Das NS-Regime verfolgte und ermordete keine gesellschaftliche Gruppe mit mehr Konsequenz und Effizienz als das Judentum. Nur noch die Verfolgung und massenhafte Ermordung der Roma und Sinti drückte eine – fast – analoge Vernichtungsenergie aus. Die Unterdrückung der Völker slawischer Sprache war grundsätzlich auf deren Ausbeutung in einem umfassenden System der Sklaverei ausgerichtet, und die Unterdrückung der west- und nordeuropäischen Völker zielte auf deren Satellisierung. Nur Jüdinnen und Juden wurden konsequent mit industrialisiertem Massenmord überzogen. Für das Europa, das von Germania aus regiert werden sollte, gab es für Jüdinnen und Juden überhaupt keinen Platz und keine Rolle – auch nicht die von Sklaven. Für das NS-Regime hatte das Judentum keine Nützlichkeit. Daher sollte es ausgemordet werden.

Dem Holocaust folgten nach 1945 Massenmorde, die der Qualität und Quantität des Holocaust nahekamen. Vor allem die als Klassenkampf etikettierte, mörderische Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, von 1975 bis 1979, und der Genozid an den Tutsis, 1993 in Ruanda, waren Verbrechen gegen die Menschheit, die – ohne mit dem Holocaust gleichgesetzt werden zu können – dennoch aber mit diesem in einer Gruppe der größten Verbrechen gegen die Menschheit genannt werden müssen. Gerade die Bewertung des Holocaust als „erstmalig“, aber nicht „einmalig“ erfährt so eine schreckliche Bestätigung.

Inzwischen ist der Massenmord am europäischen Judentum von der Forschung weitgehend ausgeleuchtet. Die geradezu idealistische Konsequenz der von einer „Weltanschauung“ getriebenen Mörder war keineswegs nur auf die Mitglieder der SS beschränkt, und die Täter waren nicht nur Deutsche (oder Österreicher). Die am Beispiel Adolf Eichmanns von Hannah Arendt schon 1961 diagnostizierte „Banalität des Bösen“ ist eine sozialanthropologische Beschreibung der finstersten Potenziale menschlicher Existenz. Wären Hitler und Himmler und Eichmann nur psychopathische Monster gewesen, wäre der Holocaust nicht diese (bisher) schrecklichste aller schrecklichen Erfahrungen der Geschichte.

Der Holocaust bleibt dieses zentrale Merkmal der Menschheitsgeschichte, der Geschichte Europas, der Geschichte des Judentums. Und weil der Holocaust zwar nicht „zufällig“ Jüdinnen und Juden zu Opfern gemacht hatte, sondern erst „den Juden“ als absoluten Feind, ja als zu vernichtendes Ungeziefer erfinden musste, ist der Holocaust zwar primär, aber nicht ausschließlich eine Erfahrung des Judentums. Mit anderen Worten: Der Holocaust „gehört“ nicht (nur) den Juden.

Die allgemeine Signifikanz des Holocaust verringert aber tendenziell dessen besondere, legitimierende Rolle für Israel. Mit dem bevorstehenden Tod der letzten überlebenden Opfer, aber auch der letzten überlebenden Täterinnen und Täter, wird die Erfahrung des Holocaust zunehmend entpersonalisiert und damit auch entethnisiert. Wenn der Holocaust immer weniger (nur) „den Juden“ gehört, wenn die Täter eben nicht nur Deutsche waren, wenn die Einsicht in die Erstmaligkeit des Holocaust für alle, die zu denken in der Lage sind, unumstößlich ist, dann verliert auch Israel als ein Produkt des Holocaust eine spezifische Legitimation. Erstmaligkeit – das heißt, dass der Holocaust in seiner schrecklichen Dimension neu und zu diesem Zeitpunkt auch einmalig war; dass er aber eben wiederholbar ist.

Die unmittelbare Verbindung zwischen dem Holocaust und dem heutigen Israel führte gerade außerhalb Israels zu einer Art paternalistischem Mitleid gegenüber „den Juden“. Diese müssen ständig Opfer bleiben, um sich diese auch politisch relevante Empathie zu verdienen. Sobald Israel aber mächtig ist, sobald die Opferrolle nicht mehr nur den Enkeln der Holocaust-Überlebenden zusteht, sobald die Opferrolle von den Kindern in Gaza ebenfalls beansprucht wird, sobald Israel als militärische Macht und geleitet von nationalen Interessen handelt, kehrt sich das Opfer-Täter Bild vollständig um.

Das paternalistische Mitleid mit den „den Juden“ (in seiner Art dem Mitleid mit „den Palästinensern“ nicht so unähnlich) führt gerade in Europa zu einer Widersprüchlichkeit zwischen zwei Seiten ein- und derselben Realität. Die herrschende Meinung in Europa und Nordamerika, in Ländern also, die man zum „Westen“ zählt, ist die mit erheblicher Verspätung ins Bewusstsein gedrungene und nicht mehr ernsthaft bezweifelte Wahrnehmung von der Ungeheuerlichkeit des Massenmordes am europäischen Judentum. „Holocaust“ wurde erst in den 1970er-Jahren zu einem allgemein verständlichen Begriff – bis dahin deckte der Begriff „Kriegsverbrechen“ das Spezifische am Judenmord zu. Die Opfer von Babi Jar und Treblinka verschmolzen so mit den Opfern der Belagerung von Leningrad, der Zerstörung von Warschau, aber auch der Bombardements von Dresden und Hiroshima.

Diese Unschärfe der Begrifflichkeit ist vorbei. In der Welt von heute, jedenfalls in Europa und Nordamerika, wird der Holocaust von der herrschenden Meinung und von der herrschenden Politik nicht geleugnet und auch nicht relativiert. Für den durch Forschungsergebnisse abgestützten Diskurs ist der Holocaust kein Kriegsverbrechen, weil er mit der Kriegsführung in keinem erkennbaren, rational nachvollziehbaren Zusammenhang stand. Der Holocaust wird heute als ein Verbrechen gegen die Menschheit und als solches als Verbrechen sui generis gesehen.

Gleichzeitig wird aber vielfach wohl gerade deshalb Israel mit besonderen Maßstäben gemessen. Die Einsicht in die Erstmaligkeit des Holocaust geht mit den besonderen Maßstäben Hand in Hand, die offenbar nur oder vor allem für Israel gelten. Es ist üblich geworden, sich vor den Opfern des Holocaust zu verneigen – und gleichzeitig Israel Menschenrechtsverletzungen vorzuhalten; Menschenrechtsverletzungen, die Israels Nachbarn nicht oder zumindest nicht mit der gleichen Intensität vorgehalten werden. Menschenrechtsverletzungen, die – wenn sie Israel zugeschrieben werden können – zu allen möglichen Vergleichen bis hin zu Gleichsetzungen mit dem Holocaust führen.

Henryk Broder hat in seinem Buch „Vergesst Auschwitz!“ Deutschland einen „Erinnerungswahn“ vorgeworfen, der eine philosemitische Einstellung mit einer extrem israelkritischen verbindet. Die toten Jüdinnen und Juden von Auschwitz sind quasi gute Juden, und sich derer zu erinnern wird man nicht müde. Ganz Deutschland klopft sich in der herrschenden Erinnerungskultur ständig an die Brust – und keineswegs nur aus Pflichtgefühl. Aber dieser Erinnerungswahn schlägt, wenn es um die lebenden Jüdinnen und Juden Israels geht, geradezu ins Gegenteil um. Dieses Umschlagen bezieht sich nicht so sehr auf die Politik der deutschen Bundesregierung, die – beginnend mit Konrad Adenauer – sich immer als relativ verlässlicher Freund Israels gezeigt hat. Die Verbindung von Erinnerungswahn und einseitiger Israelkritik findet sich im Diskurs an Universitäten und in Medien; ein Diskurs, der eine Holocaust-Betroffenheit mit einer Israel-Feindseligkeit verknüpft.

Diese kognitive Dissonanz zwischen einer mit dem Namen Auschwitz verbundenen Gedenkkultur und einer scharfen Israel-Kritik ist keine deutsche Besonderheit. Sie findet sich in Großbritannien und Frankreich ebenso wie in Österreich und Italien, in den Niederlanden und in Schweden. Diese Diskrepanz ist erklärbar, aber deshalb nicht gerechtfertigt. Sie beruht auf der Betonung einer jüdischen Ausnahmerolle. Auf der einen Seite wird die spezifische jüdische Opferrolle anerkannt – auf der anderen Seite ist ein überkritisches Teleskop auf Israel und auf Israel allein gerichtet.

Dass die eine Wahrnehmung, die der jüdischen Opferrolle, auf einer Einsicht in die historische Wirklichkeit beruht – und die andere, die der Hyperkritik an Israel, auf einer verzerrten, vereinfachenden Sicht auf die aktuelle Wirklichkeit, steht offenbar in kausalem Zusammenhang. Die Einsicht in die historischen Abläufe, die zu Auschwitz geführt haben, führt zu einer Betroffenheit, mit der im Alltag zu leben ganz offensichtlich belastend ist. Diese Belastung wird durch die einseitige Sicht auf Israel emotional erleichtert: Seht her, „die Juden“ in Israel sind auch nicht besser als wir. Als ob es die Aufgabe Israels wäre, einen besonderen ethischen Standard deshalb zu entwickeln, um moralisch „besser“ zu sein.

Israel immer nur unter der Perspektive des Holocaust zu sehen, das wird der Wirklichkeit Israels nicht gerecht. Israel ist zwar ohne den (vor allem europäischen) Antisemitismus und dessen Höhepunkt, der mit dem Begriff Auschwitz verbunden ist, historisch nicht vorstellbar. Aber der Gegenwart Israels, und erst recht der Zukunft dieses Staates ist durch die ständige Erinnerung an Auschwitz nicht gedient.

Israel braucht Freunde, die aus Eigeninteresse Israel unterstützen – und nicht Freunde, die Jüdinnen und Juden immer nur in Verbindung mit Auschwitz sehen wollen. Israel ist gut beraten, sich von der Einseitigkeit einer permanenten Erinnerung an den Holocaust frei zu machen. Israel ist gut beraten, seinen Sonderstatus als wachsende Belastung zu sehen und den Status eines Normalstaates zu akzeptieren, der Gleicher unter Gleichen sein will und daher auch denselben Kriterien und Standards unterstellt ist wie andere Staaten auch.

Israels Sonderstatus ist ja nur die Fortsetzung des Sonderstatus, der „den Juden“ vom europäischen Antisemitismus vorgeschrieben wurde und der zu den Nürnberger Gesetzen und damit zum Holocaust geführt hat. Es liegt im Interesse Israels, diesen historisch so ungeheuerlich belasteten Sonderstatus nicht auf Dauer in Anspruch zu nehmen.

Der Holocaust darf nicht vergessen werden, und er wird auch nicht vergessen. Aber seine historische Rolle bei der Staatswerdung und Legitimierung Israels nähert sich seinem Ende. An den Holocaust muss erinnert werden – aber nicht nur in Israel, und nicht nur als Aufgabe des Judentums.

2. ISRAELS NORMALITÄT – ISRAELS BESONDERHEIT

Die Debatte über die demokratische Qualität Israels ist immer auch eine Debatte über Israels Existenzrecht. Israels Demokratie steht auf dem Prüfstand. Auf diesem ist die entscheidende Frage, woran Israels Demokratie gemessen wird: an der Demokratiequalität der britischen Westminster-Demokratie oder der Schweizer Konkordanzdemokratie oder aber an der seiner Nachbarstaaten? In der Region, in der Israel nach Jahrzehnten einer zionistischen Zuwanderung 1948 entstand, gibt es keinen Staat, dessen Demokratiequalität an die Israels heranreichen könnte. Das Scheitern des Arabischen Frühlings in Ägypten und der Bürgerkrieg in Syrien sind ein dramatischer Beleg dafür.

Israel entspricht den Standards, die an eine Demokratie geknüpft sind – jedenfalls an eine Demokratie, die als „Minimaldemokratie“ bezeichnet wird: Freie Wahlen mit Wettbewerbscharakter entscheiden darüber, wer regiert – auf Zeit und unter Kontrolle. Israel ist eine Demokratie im Sinne eines pluralistischen Wettbewerbs um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler. Israel ist eine Demokratie, ein Mehrparteiensystem, in der die Regierung der Kontrolle und der Kritik einer Opposition und einer freien Berichterstattung in Medien und auch einer Rechtsprechung ausgesetzt ist. Israel ist eine Demokratie, in der die Vielfalt der gesellschaftlichen Interessen sich im Parlament, der Knesset, spiegelt.

Freilich: Israels Demokratie weist Besonderheiten auf, die, auch und vor allem aus den historischen und geopolitischen Rahmenbedingungen, zwar verständlich sind, die aber nicht einem Demokratieverständnis, wie es etwa im Konzept Robert Dahls entwickelt wurde, entsprechen: Ein erheblicher Teil der Menschen, die in dem von Israels Regierung kontrollierten Gebiet leben, sind von der Wahl des israelischen Parlaments und damit von der Mitbestimmung über die Politik der Regierung ausgeschlossen.

Israel ist eine Demokratie. Ob diese Demokratie allerdings allen Kriterien entsprechen würde, die etwa von der Europäischen Union 1993 in Kopenhagen als eine Bedingung für die Aufnahme in die EU formuliert wurden, kann und muss diskutiert werden.

Israel ist kein Kandidat für die Mitgliedschaft in der EU. Israel hat nie ein Interesse an einer Mitgliedschaft ausgedrückt. Das liegt aber nicht daran, dass Israel sich nicht als ausreichend demokratisch sehen würde, um in die Union aufgenommen zu werden. Israel sieht seine Zukunft nicht in der EU, weil es seine Sicherheitsinteressen nicht an die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik binden, weil es in Sachen Sicherheit seine Souveränität auch nicht ansatzweise aufgeben will.

Israels Demokratie entspricht zweifellos mehr den demokratischen Standards als die politischen Systeme im gesamten nahöstlichen Raum. Feudale und religiös fundamentalistische Regime (etwa auf der arabischen Halbinsel), Militärdiktaturen (Ägypten, Syrien), immer wieder von Bürgerkriegen unterbrochene, fragile Demokratien (Libanon), feudale Monarchien mit nicht unwesentlichen demokratischen Elementen (Jordanien) – Länder mit solchen Erfahrungen umgeben Israel. Gemessen an den Demokratiemängeln seiner Nachbarstaaten ist Israel eine stabile Demokratie, die seit 1948 politische Freiheit und soziale Stabilität garantiert.

Gemessen an der Demokratie außerhalb des Nahen Ostens, an den Demokratien des „Westens“, sieht das Bild freilich komplexer aus. Theokratische Bestandteile (die auch formell abgesicherte Hegemonie eines primär religiös definierten Judentums) verbinden sich mit einer faktischen (nicht rechtlichen) Diskriminierung der nichtjüdischen (moslemisch-arabischen) Minderheit in Israel selbst. Vor allem aber ist der Status der besetzten Gebiete auf der Westbank der entscheidende Faktor, der das demokratische Erscheinungsbild Israels relativiert.

2.1. Eine Demokratie – mit Mängeln

Israels Politik ist pluralistisch. Parteien der Rechten (vor allem der aus der Cherut-Partei Menachem Begins entstandene Likud) und der Linken (vor allem die aus Ben-Gurions Mapai hervorgegangene Arbeiterpartei) stehen miteinander im Wettstreit um Wählerstimmen. Israels Politik ist von einer geradezu extremen Parteienzersplitterung bestimmt. Immer wieder entstehen neue Parteien, immer wieder schließen sich bestehende Parteien zusammen – oder Teile bestehender Parteien spalten sich ab. Und immer wieder spielen kleine Parteien die Rolle des Züngleins an der Waage und entscheiden über die Mehrheitsbildung in der Knesset und damit über Bildung oder Sturz einer Regierung. Israels Parteiensystem ist fragmentiert – ähnlich den Parteiensystemen der Dritten und Vierten Französischen Republik oder auch Italiens.