Jürgen Klopp - Elmar Neveling - E-Book

Jürgen Klopp E-Book

Elmar Neveling

4,5

Beschreibung

Elmar Neveling analysiert den ehrgeizigen Sportler, vielschichtigen Menschen und Ausnahme-Trainer Jürgen Klopp. Weggefährten von Jürgen Klopp erinnern sich an Anekdoten, Experten außerhalb des Fußballs bieten interessante Ansichten zu Klopps charismatischer Persönlichkeit. Die aktualisierte Neuauflage des Bestsellers umfasst auch die neuesten Entwicklungen in Englands Premier League und das Abschneiden des FC Liverpool.

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JÜRGEN

KLOPP

DIE BIOGRAFIE

ELMAR NEVELING

JÜRGEN

KLOPP

DIE BIOGRAFIE

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag

erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1264-9).

Abbildung Cover: imago images (www.imago-images.de; Ein jubelnder Jürgen Klopp in der Premier-League-Meistersaison 2019/2020)

Bilder Innenteil (Seitenangaben der Printausgabe):

Alle von imago images (www.imago-images.de), außer: S. 104 (Thomas Bauer/ Designers in Motion/hiroki digital); 129 (oben und Mitte rechts: Walter Baur); 204–205, 206–207 (Gruppe Nymphenburg Consult AG/Deutschen Markenarbeit GmbH); 210 (Frank Dopheide); 229 (Cristián Gálvez); 266 (3), 267 (2, oben), 268 (unten), 269 (unten rechts) alle Sven Simon.

Umschlaggestaltung, DTP-Produktion und Layout: Stiebner Verlag,

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

6., erweiterte und vollständig überarbeitete Neuauflage 2020

© 2020, 2017, 2015, 2013, 2012, 2011 Copress Verlag

in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald Alle Rechte vorbehalten.

Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

www.copress.de

ISBN 978-3-7679-2092-7

Inhalt

Editorial

Meisterfeier in Dortmund: Triumphator Jürgen Klopp

Der Jugendspieler Jürgen Klopp: »Bub, net auf die Gläser, aufs Tor«

von Roger Repplinger

In der »Linde«

Der Latschariplatz

Gerhard Trik bricht sich den Fuß

Astrid Wissingers Klassenfoto

Da bleiben, weg gehen

Das Kloppsche Haus

Klopp und der rote Brustring

F-Jugend

»s’Klopple« hat Talent

Kapitän Klopp

Vespa, orange

Die Meisterfeier

Sportplatz Riedwiesen

Wembley – von weitem

Der Waldplatz

Der Maulwurf

Heimweh

von Saban Uzun

Keiner nannte ihn Norbert

Auto oder Talent?

Kein Seehund

Berthold wird gescheucht

»Walter, rate mal«

Was wichtig ist

Vorbereitung auf die Trainerkarriere und Beginn der Berufung: Ein ordentlicher Spieler wird zum außergewöhnlichen Trainer 39

von Matthias Greulich

Der Profi Jürgen Klopp: Für britischen Fußball besser geeignet

»Da geht wirklich was!«

Der letzte hat einen Plan

»Lange Bälle und dann einen Kopfball, dass es kracht«

Frank folgt auf Hock

von Roger Repplinger

Als Spieler ganz ordentlich – als Trainer außergewöhnlich

Schillerplatz

Heidels Büro

Frank I

Dennis Weiland im »Café Raab«

Reinhard Saftig

Schattenkabinett

Frank II

Ufz Krautzun

»Mach ich«

»Gib mir ein Spiel«

Klopps erste Ansprache

Authentisch

Das System

Vertrauen

Der Scout des HSV

Ende

von Roger Repplinger

Knapp

Knapper

Es reicht

Abstieg

Abschied

Die zweite Trainerliebe: Klopp gibt Borussia Dortmund neue Identität

»Hätte weitaus schlimmere Angebote als das vom BVB geben können«

Wenn nur noch imaginärer Torjubel bleibt

Dortmunder Stimmungslage im Sommer 2008: Ein Trainingstag in Brackel

Klopp bringt »die Süd« wieder hinter ihr Team

Rasenschach verpönt

Die irre Aufholjagd im Revierschlager

Derbyheld Alexander Frei

Inventur in der Winterpause

Siegesserie nach Vertragsverlängerung

Die Entwicklung setzt sich fort

Meistersaison, die erste

Erster Sieg beim FC Bayern seit zwanzig Jahren

Jugend statt Routine

Trainer des Jahres

So stürmte die Borussia zum Titel: Die Taktik des BVB in der Saison 2010/11

Meistersaison, die zweite – doch zunächst stockt’s

Viel Aufwand, wenig Ertrag gegen defensive Gegner

Der Knipser fehlt – bis Lewandowski explodiert

Anderes Spiel ohne Taktgeber Sahin

BVB-Express nimmt wieder Fahrt auf – und wie!

»Wir sind alle ein bisschen verknallt in diesen Verein«

Borussen-Durchmarsch lässt schäumende Bayern zurück

Lehrgeld in der Champions League

Von Pokalpleiten bis zum »Finale furioso« gegen die Bayern

Halbfinale mit brisantem Schlussakkord

Klopp sieht »eiskalte« Dortmunder

Herausforderungen bleiben

Entwicklung noch nicht abgeschlossen

Souveräne Auftritte in der Champions League

»Aggressives Potenzial«: Klopp gegen die Schiedsrichter, Teil eins

Vorwurf der »Industrie-Spionage« in Richtung München

Enttäuschungen nach der magischen Nacht gegen Málaga

Robben versetzt Borussia den späten Knockout

Nach dem Gipfel folgt der Abstieg

Götze-Nachfolger wartet auf den Durchbruch

Vizemeister – aber die Bayern nicht mehr in Sichtweite

»Da wird die Luft dünner«

Außer Rand und Band oder: Klopp gegen die Schiedsrichter, nächster Akt

Dr. Jekyll und Mr. Hyde

In ungewohnter Zuschauerrolle

Raus mit Applaus: Hinspiel-Hypothek wiegt zu schwer

Katastrophale Hinrunde trotz hoher Laufleistung

»Urlaub« in der Champions League

Trost im DFB-Pokal

Letzter – danach geht es aufwärts

Denkwürdige Pressekonferenz

Noch einmal mit dem Lastwagen um den Borsigplatz

Die Schwierigkeit, loszulassen

Spieltaktik, Trainingsarbeit und Entwicklung einer Mannschaft – die Spielphilosophie von Jürgen Klopp

»Eine bessere Mannschaft muss nicht zwingend gewinnen«

Traumeinstand: Sechs Siege in sieben Spielen

Zunächst die »Schotten dicht«

Schrittweise Entwicklung des BVB-Spiels

Gefühl für den richtigen Zeitpunkt

»Entscheidend ist nicht die Trainingsform, sondern das Coachen«

Der Autodidakt und die moderne Trainingslehre: Inspirieren lassen ja, kopieren nein

»Ein großer Verfechter davon, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen«

»Wahnsinn, in welchen Tempi wir laufen mussten«

Gerannt für den Urlaub

Fakten, nichts als Fakten

Stetige Entwicklung nicht nur des Spiels, sondern auch der Spieler

Schmelzer zeigte die größte Entwicklung

»La Masia« in Dortmund

Barcelona als Nonplusultra

Erfahrung sammeln in Sevilla

»Wahnsinn« Life Kinetik

Die Männer neben Klopp: »Gehirn« und »Auge« als Unterstützung für den Chefcoach

Eine Wellenlänge von Beginn an

»Fleisch gewordener Fußballsachverstand«

Video-Analyse in der Halbzeit

»Wir haben Schmelzer?«

Ein weiterer Nachmittag in Brackel: Trainingstag im Herbst 2011

Konzentration – aber ein bisschen Spaß muss sein

Kicken auf drei Tore

Klopp im Blick des BVB-Fans: Tacheles statt Larifari

»Für mich kommt Klopp direkt hinter Hitzfeld«

Mensch Klopp!

»Das lässt mich total locker bleiben«

Das zweite Gesicht

»Klopp lässt Dampf ab, ist aber nicht nachtragend«

Markenzeichen Jürgen Klopp

Marke ist nicht gleich Marke

Interview mit Frank Dopheide über Markenbildung – »Klopp ist eine treue Seele«

Regelmäßige Einzahlung auf das »Markenkonto«

»Klopp ist eine absolute Identifikationsfigur«

Individuell ja, extravagant nein

»Klopp hat ein verbindendes Element«

von Matthias Greulich

Marc Kosicke – der Mann, dem die Trainer vertrauen

Unaufgeregt und mit festem Händedruck

Schutz des Mandanten im Blick

Jürgen Klopp als »TV-Bundestrainer«

Zweifache Auszeichnung, aber …

… in erster Linie ein Fußballlehrer

Interview mit Cristián Gálvez zu Persönlichkeit und Außenwirkung von Jürgen Klopp

Klopp als Führungspersönlichkeit

»Klopp hat es früh aufgesogen«

»Menschen mit klarer Richtung wirken anziehend«

Klopp und die »aufgeklärte Patriarchie«

Klopps Maxime: Leistung bringen!

Klopp beim »Unternehmen des Aufbaus«

Komfortzone ade!

»Klopp for the Kop«: Auf zu neuen Ufern

Vertrauen auch in Schwächephase

Es wurde Skat »gekloppt«

Paukenschlag im April

Eine respektvolle Geste zeigt die Richtung an

»The normal one«

Der Reiz des »schlafenden Riesen«

Zum Erfolg verdammt

Sprachliche Herausforderung

Erstes Highlight ausgerechnet gegen Mourinhos Chelsea

Schwierigkeiten gegen Defensivteams

Gegenwind für den »Vulkan«

»It’s not a wish concert!«

Wunden lecken nach turbulenten Tagen

Rückkehr nach Wembley

Epische Aufholjagd gegen den BVB

Ein Spiel wie ein Orkan

»Schwingungen mit Händen greifbar«

Durchwachsene Ligabilanz

Das »Gelbe U-Boot« versenkt

Spalier fürs Team: »We are Liverpool!«

Wieder ein Finale, wieder verloren

Klopps Hadern mit strittigen Entscheidungen

Gekommen, um zu bleiben

Keine Scheu vor konsequenten Entscheidungen

Premiere im »neuen« Anfield wird zum Befreiungsschlag

Vereinsrekord, aber …

Ernüchterung im neuen Jahr: Im trüben Januar (fast) alles verspielt

Im Endspurt noch Rang vier gesichert

Eine hypothetische Frage

Wunschspieler für Angriff bekommen – Abwehr bleibt Achillesferse

Manchester City als Nonplusultra

Wechseltheater um Coutinho

Ein Fall von Doppelmoral?

Mit Glück und Geschick ins Halbfinale

Unerwartetes Ende eines »telepathischen Duos«

Ein Drama in drei Akten

Salahs Verletzung und Karius‘ Blackouts schocken Liverpool

Das »Feierbiest« zeigt sich trotzig

Wunden lecken nach Finalkater – Kader wird optimiert

Historische Bilanz in der Liga, doch die Meisterkrönung bleibt wieder aus

Loblied auf Abwehrbollwerk um van Dijk

Wechsel an der Spitze nach Merseyside-Derby

Pokal? To be continued …

Alisson Becker rettet das Weiterkommen

Englische Party in München – Liverpool »on fire«

Couragierter Auftritt nicht belohnt

Geistesblitz von Alexander-Arnold

Die »Mentalitätsgiganten« haben zugeschlagen

Benfica B wird zu Tottenham

Die Abwehr eine Wand

Größe auch im Erfolg – Entwicklung wichtiger als Titel

Ein Lied als Prophezeiung

Dreiteiliges Versprechen

Eine Saison im Rausch – bis zum Frühjahr 2020

Nachspielzeit ist »Kloppage Time«

Fanpost der anderen Art

Höchste sportliche Ehren – für Klopp und Klub

Harsche Kritik wegen Boykott im FA-Cup

»Die Unbesiegbaren« sind doch verwundbar

»… wie der schlechteste Verlierer der Welt«

Coronavirus legt öffentliches Leben lahm – was nun?

Eigentor besonderer Güte

Der Ball rollt wieder – und Liverpool wird Meister »auf der Couch«

»Es ist einfach groß«

Liebe ist teilbar

Als Mittfünfziger in Rente?

Nachspielzeit: Zitate von und über »Kloppo«

Jürgen Klopp über …

Meinungen zu Jürgen Klopp von …

Anhang

Steckbrief Jürgen Klopp

Der Herausgeber und die weiteren Autoren

Editorial

Welch ein Kontrast: Noch 2005 stand Borussia Dortmund am Rande der Insolvenz. Der Verein konnte nur deshalb im Profifußball gehalten werden, weil die Anleger des Stadionfonds dem Sanierungskonzept zustimmten. Die Borussia verschwand somit zwar nicht in der Versenkung, dümpelte jedoch in den Folgejahren aufgrund des notwendigen rigiden Sparkurses im sportlichen Mittelmaß umher. Inzwischen ist der BVB wieder eine der ersten Adressen im deutschen Fußball. Die Erinnerungen an die enthusiastisch bejubelten Titelgewinne von 2011 und 2012, die ersten nach dem Beinahe-Crash, sind in Dortmund noch sehr präsent.

Schwarz-Gelb hat sich inzwischen auch auf finanzieller Ebene konsolidiert – dank einer jungen und erfolgreichen Mannschaft, die sportliche wie wirtschaftliche Rendite abwirft. »Nie zuvor war eine Meisterschaft verdienter«, lautete das einhellige Expertenurteil nach dem unerwarteten Titelgewinn 2011. Selten zuvor hatte der Fußball für mehr Begeisterung gesorgt. Ein spielerischer Rausch, der Fußball-Feinschmecker vor Freude Sinnessprünge machen ließ. Ein Rausch ohne Kater im Jahr darauf – ganz im Gegenteil: 2012 wurde nicht nur die Meisterschaft verteidigt, sondern mit dem furiosen 5:2-Pokalsieg über den FC Bayern erstmals in der Vereinsgeschichte auch das Double gewonnen.

Als sportlicher Architekt dieser Erfolgsstory gilt bis heute Trainer Jürgen Klopp, der binnen drei Jahren aus einer mittelmäßigen Bundesliga-Mannschaft ein Meisterteam formte. Ein charismatisch-akribischer Coach, über den Borussias Sportdirektor Michael Zorc sagt, dass »er mein bester Transfer war«. Faszinierend ist vor allem die Art und Weise, wie der Erfolg zustande kam: War die Dortmunder Meisterschaft 2002 noch das Ergebnis von Routine und internationalen Topstars (Tomáš Rosický, Jan Koller, Marcio Amoroso), so war es diesmal eine dynamische Jugendtruppe mit Eigengewächsen wie Mario Götze oder Kevin Großkreutz. Gelebte Identifikation, die den Enthusiasmus um den BVB noch weiter steigerte. Klopp hatte bei Amtsantritt in Dortmund »Vollgas-Veranstaltungen« versprochen – und Wort gehalten.

Es ist an der Zeit, den Menschen und Trainer Jürgen Klopp näher vorzustellen. Was zeichnet diesen Mann aus, der nicht nur von den Fans in Mainz, Dortmund und Liverpool geliebt wird, sondern dem über Grenzen hinweg die Sympathien zufliegen? Der als »TV-Bundestrainer« Millionen von Deutschen das Spiel erklärte, in einer auch für Laien verständlichen Sprache. Was treibt ihn an, was ist sein Erfolgsgeheimnis und wie wurde er zum Meistertrainer?

Auf diese Fragen will das vorliegende Buch Antworten geben und vermittelt daher einen ausführlichen Eindruck von der Persönlichkeit, dem Werdegang, der Arbeitsweise sowie der taktischen Philosophie des Trainers Jürgen Klopp. Zusätzliche Einblicke geben Gespräche mit Experten, die eine wertvolle Perspektive von außerhalb des Fußballs mitbringen. Dabei behandelt diese in Zeitabschnitten erzählte Biographie nicht die Privatsphäre, sondern die sportlichen wie menschlichen Überzeugungen des früheren Spielers und heutigen Fußballlehrers Jürgen Klopp.

Klopp selbst hat bei diesem Buch nicht mitgewirkt. Dafür kommen einige seiner früheren Weggefährten zu Wort, die eine objektive Sicht auf sein Wesen und Wirken geben können. Dabei zeigt sich, dass das oberflächliche Klischee des »Lautsprechers Klopp« nicht greift und hier nicht allein ein Motivator im legeren Outfit am Werk ist.

Das Buch skizziert die bisherigen Stationen Klopps und dokumentiert seine große Liebe zum Spiel. Angefangen von seiner Jugend in Glatten, über die Zeit als Zweitliga-Spieler, bis hin zu seiner inzwischen knapp zwei Jahrzehnte währenden Trainerkarriere, in der sich Klopp eine eigene, unverwechselbare Identität geschaffen hat.

Eine Laufbahn, die er 2015 nach sieben intensiven Jahren bei Borussia Dortmund freiwillig unterbrach. Um sich eine Auszeit zu nehmen und Kräfte zu sammeln – ehe schon bald mit dem FC Liverpool eine neue große Herausforderung auf ihn wartete: Den »schlafenden Riesen« von der Anfield Red zurück zu alten Erfolgen zu führen und somit als erster deutscher Trainer erfolgreich in der englischen Premier League zu arbeiten. Und wie ihm dies gelingen sollte: Als Klopp das Kommando übernahm, lebte der Verein vom Glanz vergangener Tage. Fünf Jahre später hatte er die »Reds« nicht nur auf Europas Fußball-Thron geführt, sondern auch zu unvergleichlicher Dominanz in der Premier League. Nach Mainz und Dortmund lagen ihm nun auch die Fans in Liverpool zu Füßen. Keine Zweifel, dieser Mann kann Mannschaften entwickeln!

Jürgen Klopp ist zu einer international bewunderten und markanten Trainergröße gereift, die bei all ihren bisherigen Vereinen bereits Legendenstatus erreicht hat. Die deutsche Meisterschaft 2011, so sagte er selbst nach seinem ersten offiziellen Titel als Trainer, war erst »wie ein Etappensieg bei der Tour de France«. Inzwischen hat Klopp den Triumphbogen in Paris erreicht. Doch die wilde Fahrt ist noch nicht zu Ende.

Meisterfeier in Dortmund:

Triumphator Jürgen Klopp

Dortmund, 15. Mai 2011. Eine Stadt im Ausnahmezustand, die gesperrte B1 ist von Menschenmassen gesäumt. Geschätzte 400.000 Fans feiern glückselig die siebte Deutsche Meisterschaft ihres BVB. Mannschaft und Verantwortliche fahren im offenen, schwarz-gelben Meisterbus durch die Stadt. Der Zug startet um 12 Uhr am Borsigplatz, der Wiege des BVB im Norden der Stadt. Hier wurde der Verein 1909 im Restaurant »Zum Wildschütz« gegründet. Diesem Ursprung zu Ehren entwickelt sich ein Lied zu dem Hit dieser fulminanten Feier, die schier eine ganze Stadt in Bewegung bringt und sich auch vom einsetzenden Regen nicht beeinträchtigen lässt:

»Rubbeldikatz, rubbeldikatz, rubbeldikatz am Borsigplatz!«, intoniert ein freudetrunkener Jürgen Klopp auf dem Bus – und die Menge stimmt mit ein. Ein Ohrwurm von Borussias Spielerlegende Alfred »Aki« Schmidt, einst selbst mit dem BVB Deutscher Meister, und der Band Casino Express. Nach zwei Stunden Schlaf versteckt »Kloppo« die übermüdeten Augen hinter einer verspiegelten Pilotenbrille. Der krächzende Tonfall seiner Stimme verrät die Feierspuren der vorangegangenen Meisternacht. Meister. Er, der die Bundesliga während seiner Spielerkarriere nur aus dem Fernsehen kannte.

Dortmunds Stadionsprecher Norbert Dickel, der vielbesungene »Held von Berlin« des BVB-Pokalsiegs von 1989, hält ihm das Mikrofon vor den Mund. Ein kurzer Gruß an die Fans, die bereits vor den Westfalenhallen auf ihre Lieblinge warten? Klopp verspricht: »Jetzt ist erst das Warmmachprogramm. Wir kommen gleich vorbei und dann geht richtig die Post ab. Bis dahin: Elfmeterschießen üben!« Dabei hält er ein handbeschriftetes Plakat hoch, das ihm zugesteckt wurde und genau das empfiehlt. Denn während der abgelaufenen Saison hatte der BVB alle fünf seiner Elfmeter vergeigt. Doch wen interessierte das jetzt schon?

Das Feierprogramm kennt keine Pause, stundenlang braucht der BVB-Bus, um an seinem Ziel vor den Westfalenhallen anzukommen. Spieler und Trainer, einer nach dem anderen läuft über die improvisierte Bühne und wird von den Massen gefeiert. Als Klopp die Bühne betritt, erklingt der Song, der ihm von Sänger Baron Von Borsig eigens gewidmet wurde: »Kloppo, du Popstar.« Seine Stimmbänder mobilisieren ihre verbliebenen Kräfte: »Vielen Dank. Ihr müsst ein bisschen leiser sein, denn meine Stimme ist nicht mehr ganz so gut. Dafür gibt es gute Gründe. Unglaublich, unglaublicher Tag, unglaubliche zwei Wochen« (Anm.: seitdem die Meisterschaft feststand), um dann wieder in die Fangesänge einzustimmen: »Deutscher Meister ist nur der BVB, nur der BVB!« Wenn sich Louis van Gaal bei der Meisterschaft des FC Bayern 2010 zum »Feierbiest« ernannte, dann hat er mit Jürgen Klopp einen würdigen Nachfolger gefunden.

Noch ein »zweiter Jürgen Klopp« zieht die Blicke auf sich: Der, den der Dortmunder Martin Hüschen auf dem Rücken trägt. Der glühende BVB-Fan ließ sich im Frühjahr 2011 erst ein Portrait-Tattoo des rufenden Klopp auf den Rücken stechen, ehe direkt neben dem Trainer ein Tattoo der Meisterschale folgte – und das noch bevor sie die Borussia definitiv gewonnen hatte! Begleitet von Fernsehteams, die festhielten, wie das gesamte Kunstwerk nun die komplette obere Hälfte seines Rückens bedeckt. Klopp sei nun mal ein »toller Typ«, der »menschlich zu uns passt«, begründete Hüschen seine Motivwahl.1 Kommentar des so Geadelten: »Er ist alt genug. Er weiß, was er tut.« 2011 ist Hüschen Anfang 40 ...

Fans, Mannschaft, Verein und Stadt zelebrieren eine überschwängliche Meisterschaftsfeier, die nicht geplant, nicht erwartet war, auf die nicht einmal zu hoffen gewagt wurde. Denn die Jahre zuvor waren von einer sportlichen wie wirtschaftlichen Durststrecke des Vereins geprägt: Im Streben nach maximalem sportlichen Erfolg waren die Ausgaben aus dem Ruder gelaufen, der BVB stand dicht vor der Insolvenz und befand sich gar im vielzitierten »Vorraum der Pathologie«. Der Super-GAU konnte zwar vermieden werden, doch die sportliche Entwicklung der Mannschaft darbte.

Sicher, auch die zuvor letzte Dortmunder Meisterschaft von 2002 war groß gefeiert worden. Doch nicht mit dieser Hingabe, nicht mit dieser allumfassenden Sympathiewelle, die sich längst nicht nur auf Dortmund erstreckte. Dieses junge, Spiel für Spiel aufopferungsvoll kämpfende Team machte Identifikation auch über die Stadtgrenzen hinaus leicht. So feierte Dortmund seine Helden von 2011 so enthusiastisch wie wohl nie zuvor. 2002 waren die Erfolge der Vorjahre noch frisch gewesen, der Geschmack des Erfolges lag noch auf der Zunge: Champions-League- und Weltpokalsieger 1997, Deutscher Meister 1995 und 1996, UEFA-Cup-Finale 1993 und 2002. Dass die Borussia ihren Briefkopf regelmäßig um neue Auszeichnungen erweiterte, schien ein Gesetz der Serie zu werden.

Klopp und sein Team schenkten der Stadt mit ihrem Erfolg Stolz und Selbstvertrauen. Eine Stadt, deren Menschen sich in einer Weise über ihren Fußballklub definieren, wie dies deutschlandweit wohl nur im Ruhrgebiet passiert. Eine Stadt, die mit einer Arbeitslosenquote von 13 Prozent2 Erfolge des BVB umso mehr als Ersatzbefriedigung wahrnimmt. Eine Stadt, in der Dortmund nur ein Vorort von Borussia zu sein scheint.

Klopp ist sich der Verantwortung, die daraus folgt, bewusst: »Was wir tun können, ist, ihnen eine Ablenkung zu verschaffen, ihnen Freude zu geben. (...) Ich kann die politischen Umstände nicht verbessern, ich kann an der sozialen Wirklichkeit nichts ändern – aber wir können diese Menschen einen Moment lang glücklich machen«, offenbarte er seine Motivation schon knapp zwei Jahre vor der Meisterfeier.3 Für diese Einstellung lieben ihn die Menschen. Und Jürgen Klopp hatte nach Mainz 05 mit Borussia Dortmund seine zweite sportliche Liebe entdeckt.

Doch wie wurde aus Jürgen Klopp der gefeierte Meistertrainer? Es begann einst in einem idyllisch gelegenen Luftkurort, einer kleinen Gemeinde im Schwarzwald …

Der Jugendspieler Jürgen Klopp:

»Bub, net auf die Gläser, aufs Tor«

Fußball spielen lernte Klopp in Glatten, im Nordschwarzwald. Auf der Auslinie des Waldplatzes steht eine Tanne, die nicht stört. Manchmal fliegt der Ball in den Fluss, der vorbeirauscht. Von hier nahm Klopp was mit, kommt er heim, bringt er was zurück.

von Roger Repplinger

In der »Linde«

Die Sonne leuchtet durch die offene Tür der »Linde«, im Licht schwimmen Insekten, die von der Glatt, die nicht weit von hier durch den Ort fließt, dem sie den Namen gegeben hat, herüber kommen, weil es hier Bier gibt und Rotwein und nicht nur Wasser. Das Licht bringt das Salz und den Pfeffer in den Streuern auf dem Tisch zum Leuchten und man sieht die Muster auf den Platten des Fußbodens. Die Gewürze nehmen die Gäste der »Linde« für ihren Rostbraten und das Wiener Schnitzel mit Pommes und Salat, bei denen sie sich anstrengen müssen, »um sie zu zwingen« – wie man hier sagt. Ich bekomme Hunger.

Draußen stehen ein paar Plastiktische. Da sitzt eine Hand voll Männer aus Glatten, Neuneck und Böffingen, rauchen, und schweigen sich in den Feierabend hinein. Die zwei Linden vor der »Linde« sind keine Linden, sondern Eichen. Mir wäre das nicht aufgefallen.

Wenn ich nach Hause komme, sind zwei Lieder in meinem Kopf. Akustikgitarre und die zerknitterten Stimmen von Neil Young, der »Sugar Mountain« singt, und Bruce Springsteen, der von einem »Mansion On The Hill« erzählt. Es gehen so viele Gefühle in mir herum, dass ich sie nicht alle aufschreiben kann. Ich hab genug damit zu tun, sie auszuhalten. Ich kriege die Risse in meine Leben nicht zu, indem ich drauf zeige, was aus mir geworden ist. Wenn der eine Bücher schreibt, die keiner liest, schiebt ihn das weiter von dem weg, was mal sein zu Hause war, und wenn der andere Deutscher Meister im Fußball wird, auch. Der Deutsche Meister wird auch Heimweh haben.

Das Hotel Schwanen steht in der Ortsmitte von Glatten. Von da bin ich den Berg hochgegangen. Es geht immer den Berg hoch, denn Glatten liegt für ein Dorf im Nord-Schwarzwald mit 530 Metern nicht hoch. Deshalb brauchen die Kinder, die in die weiterführende Schule nach Dornstetten oder gar Freudenstadt gehen, ein Rad, mindestens, oder besser ein Mofa, oder den Bus. Auch wenn sie ins Kino wollen, das geht nur in Freudenstadt, oder in die Disko, etwa das »Barbarina« in Freudenstadt, oder den »Scotch Club«, oder das »Juz«, das Jugendzentrum in Dornstetten, oder die »Ranch« in Neuneck. Bis auf einen versichern alle einheimischen männlichen Anwesenden am Tisch in der »Linde« sofort hoch und heilig, nie dort gewesen zu sein. Gerhard Triks Beschreibung dessen, was auf der »Ranch« abging, beschränkt sich auf einen entzückten Gesichtsausdruck, »ooh, ooh« und das Heben und Senken der Hände, begleitet von weiteren »ooh, oohs«.

Glatten, der Ursprung

Das Wasser ist der Grund, aus dem es Glatten gibt, und sicherte sein Überleben. »Glatt« stammt vom Althochdeutschen »glat« beziehungsweise »glad« ab, und heißt so viel wie »klar, glänzend, rein«. Die Glatt entsteht in Aach, einem Stadtteil von Dornstetten, aus Ettenbach, Stockerbach und Kübelbach, und fließt erst nach Süden, dann nach Osten, und mündet nach 37 Kilometern bei Neckarhausen in den Neckar. An der Glatt siedelten sich Getreide- und Sägemühlen an, Gerbereien und Brauereien, Flößereien, Waldbau, der ohne Wasser die geschlagenen Bäume nicht hätte transportieren können, und alles, was sonst irgendwie mit Wasser zu tun hat. Das rot-silberne Wappen der Gemeinde zeigt ein vierspeichiges Mühlrad mit zwölf Schaufeln.

Der Latschariplatz

Die Einwohner von Glatten, die sich selbst »Glattemer« nennen, sagen zur Ortsmitte »Latschariplatz«. Latschari ist alemannisch und bezeichnet das, was in Norddeutschland »Puschen« sind. Hier stand, gegenüber dem »Schwanen«, die Brauerei Reich. Die gehörte der Familie von Jürgen Klopps Mutter Liesbeth, die den Kürschner Norbert Klopp heiratete, der aus Dornhan nach Glatten gekommen war. »Z’Glatten«, wie man hier sagt. Er arbeitete dann für die Firma »Fischer-Dübel« in Tumlingen. Artur Fischer, Jahrgang 1919, der 1958 den Dübel aus Polyamid erfand, ist in Tumlingen geboren. Über Norbert Klopp sagen die, die ihn kannten, dass er ein eleganter Mann war, gewandt, ein guter Verkäufer, selbstbewusst, der auch Kindern mit Respekt begegnete, was dem kleinen Jens Haas schwer imponierte, weil das in den siebziger Jahren nicht üblich war.

Da steht ein Brunnen am Latschariplatz, über dem Bürgenbach. Hier treffen sich die Jugendlichen, kauen Kaugummi, die Jungens spucken Lachen auf den Boden, rauchen, und schmeißen ihre Kippen in den Bach, in dem Forellen stehen. Auch ihr Plastikbesteck, das eventuell aus dem Döner-Imbiss kommt, den es nun auch in Glatten gibt, und wenn sie ganz übermütig sind, die Jugendlichen, ihre Bierflaschen. Das ist dann Punk. Hier am Brunnen, treffen sich die Kreisliga-A-Fußballer des SV Glatten, wenn sie auswärts spielen. Auch die Spieler der Nachwuchsmannschaften halten das so. Der Brunnen, das ist der Platz in Glatten!

Da ist die Bäckerei Trik, die immer hier war, und in der Gerhard Trik 25 Jahre lang aushalf. Immer samstags. Gerhards Bruder, der inzwischen auch schon 62 ist und seinen Bruder mit einem kurzen, freundlichen Brummen grüßt, hat die Bäckerei übernommen. Die letzte eigenständige, in der noch gebacken wird – alle anderen Bäcker im Ort: Kette. Mechanikermeister Gerhard Trik wurde Platzwart des SV Glatten und betreibt das Vereinsheim. Er will in diesem Text nicht vorkommen, also entschuldige ich mich hier bei ihm: Lieber Gerhard Trik – es geht ums Verrecken nicht anders.

Gerhard Trik bricht sich den Fuß

Es muss ein Samstag im Jahr 1974 gewesen sein, »legen Sie mich nicht fest«, bittet Trik, als die vom SV Glatten Samstag morgens um Acht in der Backstube beim »Aushilfsbäcker« Gerhard Trik vorsprechen, weil sie wissen, dass der am Samstag um diese Zeit schafft, und ihn bitten, als Aushilfsfahrer für eine Fahrt nach Kirn einzuspringen. Der vorgesehene Fahrer war ausgefallen. Die A-Jugend soll dort spielen. In Kirn, in der Pfalz. Der Trik, der lässt sich breitschlagen, und setzt sich hinters Steuer. Die Leute helfen sich gegenseitig, so ist das auf dem Dorf. Der Norbert Klopp und sein etwa siebenjähriger Sohn Jürgen sind auch dabei, weil der Vater doch aus Kirn stammt. Der Vater spielt gut Tennis, ist auch kein schlechter Fußballer, Torwart, bei den Turn- und Sportfreunden Dornhan in der zweiten Amateurliga, Probetraining beim 1. FC Kaiserslautern, beim SV Glatten, wenn es eng wurde, Mittelfeldspieler – und ehrgeizig. Auch was seinen Bub anbelangt. Gerade bei dem.

Wir sind nun in Kirn. Die A-Jugend kickt und der kleine Klopp, der schiebt dem Trik einen Ball zu, und der Trik, nicht faul, schiebt ihn zurück. Das geht so hin und her. Vater Klopp guckt bei der A-Jugend zu. Und dann rutscht der Trik aus, wahrscheinlich war der Rasen nass, sagt er, und – bautz, haut es ihn längs hin. Und auch der Knöchel ist hin. In Kirn, in der Pfalz. »Hol’ Hilfe«, sagt der Trik, der am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann, zum kleinen Klopp, und der wetzt los. Und schon kommt der Sani mit der Trage und der Trik in Kirn ins Krankenhaus. Heute humpelt er, hat Arthrose im Knöchel, und deshalb tut ihm die Hüfte weh. Fehlbelastung. Jetzt überlegt er, was er machen soll. Operation? »Au«, sagt Gerhard Trik, und zieht die Luft zwischen den Zähnen in seinen Mund. Schon das Wort: furchtbar. Er war bislang nur ein Mal in seinem Leben im Krankenhaus. In Kirn, in der Pfalz. Er findet, das reicht.

Habe ich gesagt, dass er nicht in diesem Text vorkommen will? Der Gerhard Trik? Habe ich? Er will sich nämlich nicht in den Vordergrund schieben. Er sagt nicht, dass sich andere in Glatten mit Jürgen Klopp in den Vordergrund schieben. Das würde er nie sagen, weil er sich damit ja doch in den Vordergrund schieben und über andere richten würde. Das will er auf keinen Fall. Und nicht vorkommen. Nun kommt es anders.

Astrid Wissingers Klassenfoto

Gerhard Trik ist nicht aus Glatten weggegangen. Jeder, der geblieben ist, hat darüber nachgedacht, was für Glatten spricht, und was dagegen. Die, die gegangen sind, haben sich das Gleiche gefragt, und anders entschieden getroffen. Der Haas sagt: »Für mich ist das der richtige Ort.«

Astrid Wissinger hat ein Foto, gerahmt, mit in die »Linde« gebracht. Die vierte Grundschulklasse, Jahrgang 1966/67, alle sind so zehn, elf Jahre alt. Das Foto bedeutet ihr was. Man erkennt nicht, wer die Lehrerin ist, wie hieß die nochmal, die immer schön »Jim Knopf und die Wilde 13« vorgelesen hat, so jung sieht die Lehrerin aus, und wer Astrid ist, erkennt man auch nicht. Alle haben schöne Pullover an und machen einen sehr braven Eindruck. Wie sie so unbeweglich auf dem Foto stehen. Den Klopp, den damals jeder »Klopple« ruft, kennt man sofort. Astrid Wissinger hat alle Namen parat und weiß, was aus ihnen geworden ist. Zwei haben geheiratet, also, nicht direkt in der Klasse, aber Parallelklasse.

In der ersten Grundschulklasse waren sie 45 Kinder. »Das ging nur, weil wir alle gerne in die Schule gegangen sind und weil der Druck nicht so groß war wie heute«, sagt Astrid Wissinger, die es wissen muss, weil sie ein Kind im schulpflichtigen Alter hat. In der Grundschule Glatten gab es Lehrer, die geschlagen haben, »so mit der Handkante«, sagt Wissinger, und als sie es demonstriert, macht ihre Handkante in der Luft ein unangenehmes Geräusch.

Da bleiben, weg gehen

Auf dem Foto sind 23 Kinder. Mehr Mädle als Buben. »Der isch no do, der au«, sagt Astrid und zählt durch. Zwölf von den 23 sind noch in Glatten oder der Nähe. Einige von denen, die geblieben sind, kommen ihr Leben nicht über Dornstetten und Freudenstadt hinaus. Sie schon. Es gibt eine Firma Wissinger, am Ortsausgang Richtung Lombach, Fahrzeugbeschriftungen, auch im Motorsport, und Herstellung von Folien, die Autos gegen Steinschlag schützen, unter anderem für Maserati.

Astrid war mit Jürgens Mutter Liesbeth und seiner Schwester Stefanie mal zu Besuch bei den Klopps. »Wir hatten uns 20 Jahre nicht gesehen, dann saßen wir die halbe Nacht in der Küche und haben geschwätzt«, sagt sie, »alles war warm und herzlich«. Die Mutter hat ihr die Geschichte erzählt, wie der Vater das Wohnzimmer ausräumt und eine Torwand aufstellt, und der Jürgen, drei Jahre alt, soll schießen. »Bub, gell, net auf die Gläser«, ermahnt ihn der Vater, »aufs Tor«.

Der Vater war ein leidenschaftlicher Tennisspieler, hat die Tennisabteilung des SV Glatten mit gegründet. Fast wäre aus Jürgen Klopp ein Tennisspieler geworden, Talent ist vorhanden, Ballgefühl, der Fußball war stärker, vielleicht auch, weil er häufig gegen den eigenen Vater Tennis spielen musste. Das hat wahrscheinlich nicht viel Spaß gebracht.

Das Kloppsche Haus

Es gibt ein Haus in Glatten, aus dem hängt eine gelb-schwarze Fahne. Es ist das Haus, in dem Jürgen Klopp geboren wurde. Gleich beim schicken, neuen Rathaus und der Grundschule, zu der das »Klopple« nur über die Straße musste. Die Fahne hat nichts mit Mutter und Schwester zu tun, die hier leben, sondern mit einem Mieter des Hauses. Der einzige BVB-Fan im Ort. In Glatten ist man traditionell für den FC Bayern München oder den FC Schalke 04. Es ist wie bei jahrzehntelangen Streitigkeiten mit Nachbargemeinden: Keiner weiß mehr, was in grauer Vorzeit der Grund für den Hader war, aber es hört nicht auf.

Das mit den Bayern führt dazu, dass heute im Nebenzimmer der »Linde« der Wirt Wolfgang Herbstreuth, die Wirtin und einige Gäste hocken, und Champions League gucken: Villareal gegen Bayern. Und Gerhard Trik ist pünktlich nach Hause gefahren, weil er das Spiel sehen muss. Ein Schnitzel würde er aber jederzeit in die Pfanne hauen, sagt der Wirt, oder einen Rostbraten, mit extra viel Zwiebeln, wenn der hungrige Gast es wünscht.

Klopp und der rote Brustring

Das Herz von Jürgen Klopp, in Stuttgart geboren, schlug für den VfB Stuttgart. Ist nicht das Schlechteste, was einem im Leben widerfahren kann. In Glatten hatte er ein kleines Zimmer unterm Dach des elterlichen Hauses: VfB-Wimpel, Bett unter der Dachschräge. Erinnert sich Jens Haas, der neben den Klopps gewohnt, und zusammen mit Jürgen bis zur B-Jugend beim SV Glatten gekickt hat. Das heißt, Jens hat Fußball gekickt, Jürgen gespielt. Jens Haas erinnert sich, wie Jürgen schon als Elfjähriger, wenn sie im Radio die Bundesligakonferenz gehört haben, die Entscheidungen des VfB-Trainers kommentiert hat: »Jetzt muss er den Klotz rausnehmen.« Das waren die Zeiten von Hansi Müller, den Förster-Brüdern, Karl Allgöwer, Walter Kelsch, Helmut Roleder im Tor, wahrscheinlich war es Jürgen Sundermann, der Mittelstürmer Bernd Klotz ausgewechselt hat, oder der, wenn er nicht auf Klopp hörte, scharf kritisiert wurde. Aber vielleicht auch Lothar Buchmann.

F-Jugend

Haas kommt etwas verspätet in die »Linde«, weil er mittwochs die FJugend des SV Glatten trainiert. Heute hat er zwei Mannschaften mit je acht Buben gebildet und, halbes Feld, auf die kleinen Tore spielen lassen. Der eine Bursche hat gemault: »Ich will mit dem ...«, und der andere gequengelt: »Oah, Trainer, aber bloß net mit dem ...«. Und alle waren der Meinung, die guten Spieler seien nicht gerecht auf die beiden Teams verteilt. Der Haas blieb hart, es ging 2:2 aus. »Bin doch nicht ganz blind«, sagt er und zwinkert mit dem Auge.

Eine F-Jugend gab es zu der Zeit, als Jens und Jürgen mit Fußball anfingen, noch nicht. Die E-Jugend, nicht zuletzt für seine Söhne Ingo und Hartmut, gründete Ulrich Rath 1972. Heute bildet der Nachwuchs des SV Glatten in den höheren Altersstufen Spielgemeinschaften mit anderen Vereinen, weil sie alleine keine Mannschaft auf die Beine bekommen. Auf dem Bolzplatz in Glatten, in der Nähe wohnt die Familie Schweizer, wird nicht mehr gebolzt, der Trik guckt immer, ob da einer für den SV dabei ist. Und? Kopfschütteln.

Die Kinder haben einfach zu viel Schulunterricht, auch am Nachmittag, und nach der Schule andere Termine. Stress halt. Haas erinnert sich, dass »wir entweder gebolzt haben, oder trainiert«. Jeden Tag war Fußball. Hausaufgaben? »Wenn es ging, gar nicht«, lacht Haas. Und wenn es doch sein musste, dann hopplahopp. Nach dem Bolzen sind Klopp und seine Spezis einfach bei den Schweizers in den Keller gestiegen, und haben sich bedient. Sprudel. Bei der Meisterfeier in Glatten hat er sich nochmal bei den Schweizers bedankt. Wer weiß, was ohne den Sprudel wäre ...

»s’Klopple« hat Talent

Dass das »Klopple« Talent hat, zeigt sich rasch. In der D-Jugend ist es jedem klar. Beim Bolzen läuft es so wie überall, die Spieler werden gewählt, und wer am Anfang gewählt wird, ist einer von den Guten. Jürgen ist Anfang, Jens nicht. Man trifft sich am Brunnen, Ball auf dem Gepäckträger, Lederbälle sind kein Problem, anders als zu Gerhard Triks Zeiten, eine Generation vorher. Da waren Lederbälle und Fahrräder noch nicht jedermanns Sache.

Wenn da einer ist, der es kann, merkt man ja erst, wie schlecht man selbst ist. Haas nickt, aber entscheidend ist, »dass er das einen nie hat merken lassen. Er hat zwar beim Spiel geschimpft, aber das macht jeder in diesem Alter, und er wurde nie persönlich«. Bis heute ist der Klopp nicht der Typ, der Stress sucht, er kommt mit jedem klar, er gibt niemandem das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Er kann sich durchsetzen, macht das aber auf seine Art. Deutlich und nett. Den Trainer des VfB hat er kritisiert, den des SV Glatten nicht. »Der Vater war meistens dabei, mit dem hat er strittige Fragen diskutiert«, sagt Haas. Auch als der Sohn für den FSV Mainz in der Zweiten Liga spielt, fährt der Vater regelmäßig hin und brüllt Kommandos auf den Platz. »Markante Stimme«, sagt Haas.

Kapitän Klopp

Als Mannschaftskapitän der C-Jugend »strahlte Klopp Sicherheit aus«, sagt Haas. Er war eine »zentrale Figur«, auf ihn konnte man sich »in jeder Situation auf dem Platz verlassen«. Er war »immer anspielbar« und »weder als Fußballer, noch durch die Art seines Auftretens als Mensch, irgendwie angreifbar«. Wenn ein Spieler wie Haas das Gefühl hatte, dass es heute schief geht, dann guckte er zu Klopp hinüber, und der vermittelte genau dieses Gefühl nicht. So was kann hilfreich sein. Und was konnte der Klopp nicht gut? »Verlieren«, antwortet Haas prompt. Da flogen schon mal Böller in die Ecke, das erinnert an den Trainer Klopp, der seine Emotionen raushaut.

Vespa, orange

Das »Klopple« hatte ein Mofa, orange, eine Vespa. »Meines war schneller«, sagt Haas, »das hat ihn geärgert, aber das hat er sportlich genommen.« Natürlich wurden »Rennerles« gefahren, die Mofas waren frisiert. Und Astrid Wissinger erinnert sich an einen aus ihrer Altersgruppe, der bei einem Unfall einen Arm verlor. »Da hatte der noch ein Mordsglück«, sagt sie.

Auf den Gedanken, dass der Mittelfeldspieler Jürgen Klopp, der in der C-Jugend eine Menge Tore schoss, in der Bezirks- und Verbandsauswahl spielte, mal Fußballprofi werden könnte, ist Haas nicht gekommen. Auch nicht, als der Klopp zum TuS Ergenzingen wechselte, in die A-Jugend, die einen guten Ruf hatte, weil sie mit Wolfgang Baur einen guten Trainer hatte. Zum TuS Ergenzingen ging noch einer mit, der Jürgen Haug, Norbert Klopp chauffierte die beiden zum Training. Im Auto: immer Einzelkritik. Zu dieser Zeit Vereins- und Schulwechsel: Der kleine Klopp war einer von drei Glattemern, die aufs Wirtschafts-Gymnasium in Dornstetten gingen. Die ersten ein, zwei Jahre, hielten die Beziehungen zu den Gleichaltrigen in Glatten, dann spürte Haas »einen Bruch«. Nicht der letzte. Das hat nichts damit zu tun, wie man miteinander umgeht, und welche Gefühle man füreinander hegt.

Haas hat seinen Sohn beobachtet, wie der auf Jürgen Klopp als TVoder Baumarkt-Werbefigur reagiert. Wir nehmen einen Schluck Weizenbier und überlegen, wie die Firmen heißen, für die Klopp wirbt. Wir kommen nicht drauf. »Er reagiert wie auf jede andere Werbefigur«, sagt Haas. Für seinen Sohn gibt es nur diesen Klopp. Den Unerreichbaren auf der Trainerbank und im Fernsehen. Für Vater Haas ist das anders. Da gibt es zwei. »Wenn er im Fernsehen Werbung macht, ist er eine Werbefigur, wenn er hier zur Feier kommt, dann ist er mein Schulkamerad und Mitspieler, und er fragt mich, wie es mir geht, und ich frage ihn«, sagt Haas.

Die Meisterfeier

Als Klopp zur großen BVB-Meisterfeier auf den Riedwiesen am 10. Juni 2011 in Glatten ist, braucht er eine Dreiviertelstunde, um eine Rote Wurst zu essen, und es tut ihm Leid, dass er nicht genügend Zeit für seinen Schulkameraden hat. Es ist alles schön, manchmal vielleicht ein bisschen peinlich, weil so gelobhudelt wird, aber das muss sein. Klopp sagt, »dass das hier Heimat ist und das ist cool«. Dann und wann spricht er Schwäbisch, das findet Astrid Wissinger »cool«, und dann wird der Applaus noch lauter. Zu vorgerückter Stunde muss er sich im Bierzelt der Besoffenen erwehren, die nicht nach Hause wollen, »und macht das sehr geschickt«, nickt Astrid Wissinger. Er sagt ganz deutlich, wenn es ihm zu viel und zu eng wird, und er Zeit für sich braucht. Und er verschwindet auch mal, wenn ihm danach ist.

Glatten hat, nach den Eingemeindungen von Böffingen und Neuneck, 2300 Einwohner. Alemannische Reihengräber hat man hier gefunden. Im Jahr 1817 schickte die Gemeinde auf ihre Kosten 49 verarmte Glattemer in die USA; ein Kind stirbt auf der Reise nach New Orleans. Seit dem Jahr 1904 gibt es elektrische Straßenbeleuchtung. Heute haben die Straßen keine Schlaglöcher, und auf den Gehwegen vor den Häusern der ganzen Gegend stehen Fernseher, Staubsauger und Monitore, weil Elektromüll abgeholt wird. Glatten ist nicht mehr arm und leistet sich drei Fußballplätze. Die machen dem Platzwart Sorgen.

Sportplatz Riedwiesen

Der Platz in den Riedwiesen, auf dem die erste Mannschaft spielt, wurde 1983 eingeweiht, da spielte die Erste des SV zum letzten Mal in der Bezirksliga. In der Saison 2010/11 hatte es lange so ausgesehen, als würde der Aufstieg gelingen. Dann war es doch nur der dritte Platz. In der Saison 2011/12 der nächste Anlauf, mit den Spielertrainern Tomislav Gelo aus Kroatien, 35 Jahre alt, und dem Bosnier Senad Sencho Kacar, 39 Jahre alt. Die beiden haben einen Job und bekommen ein bisschen Geld für die Trainingsarbeit, der Rest der Mannschaft ist »vom Ort«, wie Trik sagt.

Die Eingeweihten in der »Linde« diskutieren, ob das »Klopple« auf dem »neuen« Platz, der mittlerweile auch schon 30 Jahre alt ist, gespielt hat. Es kommt nicht zu einer Entscheidung, Tendenz: eher nicht. Fest steht: »Der Platz muss saniert werden – dringend«, weiß Gerhard Trik, der mit feinem Ohr dem Gras beim Wachsen zuhört.

Wembley – von weitem

Wir sitzen auf der Terrasse des Vereinsheims, in dem ein paar Pokale in der Vitrine stehen, die »s’Klopple« zu gewinnen half, und sehen sattes Grün. »Isch wie Wembley«, sagt Trik, und wir sehen mal davon ab, dass es Wembley nicht mehr gibt, »aber nur von weitem«. Im Winter ein Sumpf, im Sommer hart wie Beton. »Wir haben hier«, erklärt Trik, »einen Zeltsystem-Platz«.

Wir machen ein paar Schritte übers Grün. Der Rasen ist butterweich, gestern war die B-Jugend drauf, ganze Rasenfetzen haben die Burschen herausgerissen. Nicht mutwillig, sondern bei völlig normalem Training. »Es kommt der Tag«, prophezeit Trik, »an dem wir nicht mehr spielen dürfen, weil die Verletzungsgefahr zu groß wird.« Die Gemeinde will nicht zahlen, der Verein hat kein Geld. Eine Sanierung würde 130.000 Euro kosten, davon zahlt der Württembergische Landessportbund 30 Prozent, die Gemeinde müsste einen Teil übernehmen, 30.000 Euro würden am Verein hängen bleiben. Auf das Vereinsheim wurde 2002 eine Solaranlage gesetzt, finanziert von 20 Gesellschaftern. Der Strom wird ins Netz eingespeist.

Sieben Tage in der Woche wird in den Riedwiesen trainiert. Zu den Spielen kommen im Schnitt 100 bis 150 Zuschauer. Die Glattemer stehen auf dem steil zur Neunecker Straße ansteigenden Rasenstück, die Anhänger der Auswärtsmannschaft gegenüber. Vor drei Jahren, beim Landesliga-Relegationsspiel Spvgg Freudenstadt gegen die TSG Tübingen, waren über 3000 Zuschauer auf der Anlage. Freudenstadt führte 2:0, Tübingen gewann 3:2 und durfte in der Landesliga bleiben.

Fortuna Köln und 1860 München waren zu Trainingsspielen hier; bei einem Freundschaftsspiel des FSV Mainz gegen den SV Linx kamen 800 Zuschauer – Kloppo war da noch Spieler. »Nur 800«, sagt Trik. Ob mal Borussia Dortmund nach Glatten kommt, wird der Trainer auf der Meisterfeier gefragt: »Das kann durchaus noch dauern«, antwortet Klopp, zu wenig spielstarke Gegner in der Gegend, da kann er ziemlich unsentimental sein.

Der Waldplatz

Wir fahren auf den Waldplatz, auf dem der junge Klopp gespielt hat. Sattes Grün, mit dem Stumpf einer Tanne auf der Auslinie. Auch als der Stumpf noch ein stattlicher Baum war, kein Hindernis. Vor nicht allzu langer Zeit wurde ein Fangnetz errichtet, damit die Bälle nicht in die Lauter fliegen, die keine fünf Meter hinterm Platz durchs Tal plätschert. »Ständig«, sagt Trik, sind Bälle in die Lauter geflogen, es gab eine Stange, um sie rauszuholen. Bei Niedrigwasser kein Problem, bei Normalwasser war der Ball »beim Teufel«. Und so, wie Trik das Wort »Teufel« ausspricht, sieht man Satan in der Fußball-Hölle, wie er mit den verdammten Seelen kickt – mit Bällen aus dem seit der Reformation protestantischen Glatten.

Die Schranke, von Trik schick in gelb-schwarz – den Vereinsfarben des SV Glatten – gestrichen, soll verhindern, dass »Junge, Mittelalte und Alte nachts hierher kommen, und Unsinn machen«. Der Platz, lauschig und abgeschieden, schreit nach Unsinn. Die Tore hat Trik auch selbst gebaut, bis auf die beiden neuen. Er war auch schon im hölzernen Vereinsheim, das hier steht, tätig. Das wurde 1970 gebaut, ist 1986 abgebrannt, und wurde dann wieder neu aufgebaut. Jetzt ein Geräteschuppen.

Alle Mannschaften, auch die drei der Frauen, die zwei Mal pro Woche trainieren, wechseln zwischen dem »neuen« Platz und dem »alten«. Vor allem im Sommer wird gerne im Wald trainiert, weil hier Schatten ist, den gibt es drüben nicht.

Der Maulwurf

Vor dem Tannenstumpf auf dem Waldplatz ist der schöne, ebene Rasen ein wenig hügelig und bröselig. Da sind kleine braune Erhebungen aus Erde – die schiebt der Höhlen grabende Maulwurf an die Oberfläche. Der Maulwurf schafft es, dem mit der Tugend der Gelassenheit reichlich versehenen Gerhard Trik die Fassung zu rauben. »Gegen die Maulwürfe kämpf ich mit allen Mitteln«, knurrt er, und zählt auf: Gift und Fallen. Dem einen oder anderen Maulwurf hat er den Garaus gemacht, aber diese Hügel, die sind ganz frisch. »Gestern«, sagt er, »waren die noch nicht da.«

Muss er wieder mit Fallen arbeiten. »Das mache ich nicht gerne während des Trainingsbetriebs«, sagt der Platzwart. Er markiert die Stelle, an der er eine Falle aufstellt, mit einem Stecken, aber die Kinder ziehen den Stecken raus, und dann ist die Falle weg, weil er sie nicht wiederfindet. Verdammte Maulwürfe. Dabei weiß man als oberirdisch operierender Zweibeiner nicht mal sicher, mit wie vielen Gegnern man es aufnehmen muss. »Kann sei, des isch bloß oiner, aber der gräbt mir den ganzen Platz um«, schimpft Trik. Der durchaus Sympathie für die Talpidae hat: »Auf em Acker isch des in Ordnung, aber auf em Sportplatz hen die nix verloren.«

Wir sitzen immer noch in der »Linde«, es ist dunkel, das Weizenbier macht durstig. Rafinha erzielt für die Bayern das 2:0 gegen Villareal, beifälliges Gemurmel der Zuschauer im Nebenraum. Jens Haas, der Ingenieur, nimmt noch ein Bier. Ich auch. Wir reden über die schwierigen Fragen. Warum gelingt einer Mannschaft an dem einem Tag nichts, und an einem anderen alles? Und wie sich die Spieler gegenseitig anstecken, im Guten wie im Schlechten. Der Haas würde das Spiel gerne berechnen, so wie Ingenieure das machen, aber er ahnt, dass das nicht geht. Dann verabschieden wir uns, und ich bin froh, dass es seit 1904 Straßenbeleuchtung in Glatten gibt.

Heimweh

Die Arbeit schiebt die Menschen durch die Welt. Und der Fußball ist ein großer Schieber. Manche wechseln den Kontinent, andere die Kultur, vielleicht muss man ja von Glück reden, wenn man im Land bleiben kann, auch wenn die Strecke von Dortmund nach Glatten »ab Pforzheim auf der Bundesstraße echt lästig wird, wenn man den Falschen vor sich hat«, sagt Klopp.

In Stuttgart, auf dem lädierten Hauptbahnhof, gibt es einen elektronischen Gimmick. Da ist zu sehen, wie das Wetter in Deutschland ist. Die wissen, warum sie das hier aufstellen. Über Baden-Württemberg scheint an dem Tag, an dem ich zurückfahre, die Sonne. Über dem Norden – Wolken. Wie an dem Tag, an dem ich gekommen bin. Ich frage mich, warum ich zurückfahre, obwohl ich weiß, dass ich es auch nicht aushielte, hierzubleiben.

Im ICE liegen diese Magazine der Deutschen Bahn auf den Tischen. Von denen guckt Joachim Löw. Auch ein Schwarzwälder, auch weggegangen. Am besten, ich schreibe einen Text über Heimweh. Heimweh muss man, wenn man weggegangen ist, haben. Um von der Heimat wenigstens das Weh zu behalten, darf man nicht zurückkommen.

Im Jahr 1983 schloss sich Jürgen Klopp dem TuS Ergenzingen an, der Ort liegt zwischen Horb und Rottenburg im »Gäu« – wie der Schwabe sagt. Die Jugendarbeit der TuS galt als vorbildlich. Klopp überzeugte und wies sogar einen späteren Weltmeister in die Schranken. Sein früherer Jugendtrainer Walter Baur, im Frühjahr 2012 im Alter von erst 62 Jahren verstorben, berichtete im Jahr zuvor von einigen Anekdoten über den jungen Fußballer Jürgen Klopp.

von Saban Uzun

Keiner nannte ihn Norbert

Hier wohnt ein Fußballverrückter. Vom Balkon wehen die brasilianische und die deutsche Flagge. Die brasilianischen Farben sind für einen Nachwuchsspieler, der unter dem Dach wohnt. Im Garten liegen Fußbälle, im Büro brennt Licht. An der Tür steht »Baur«. Die Tür geht auf, es riecht nach Fußball. Auf dem Boden liegt eine Taktiktafel, im Regal Bücher, alle über Fußball: WM ’74, modernes Verteidigen und Konditionstraining. Trikots hängen an der Wand, auf dem Schreibtisch stehen Pokale. Hinter der Türe ein Mannschaftsfoto der A-Junioren des TuS Ergenzingen aus dem Jahr 1986. Es ist nicht irgendeines.

Rechts unten in der ersten Reihe kniet einer: Blaue Hose, gelbes Trikot, Schnauzbart, Kapitänsbinde, Haare über der Stirn. Sehr brav, der Junge ist 17 und heißt – Jürgen Norbert Klopp. Keiner nennt ihn Norbert. Dreieinhalb Jahre spielt Klopp für den TuS Ergenzingen. In seinem ersten Jahr bei den A-Junioren nicht so häufig. Da sitzt er meist in der Trainingsjacke auf der Bank. Jürgen ist fußballerisch kein Überflieger. »Der konnte keine drei Mal den Ball hochhalten«, erzählt Walter Baur, 61 Jahre alt, lächelt und kramt einen Ordner heraus. Kurz geblättert, da ist die Stelle: TuS Ergenzingen gegen den SSV Reutlingen. Einzelkritiken. Jürgens Note, eine Sechs. »Ganzer Ausfall, kein Zweikampf gewonnen«, hat Baur damals notiert. Zum TuS kam er eher zufällig.

Auto oder Talent?

Klopp, in Stuttgart geboren, spielt für den SV Glatten, nur ein paar Kilometer von Ergenzingen entfernt. Walter Baurs damaliger Jugendtrainer Hermann Baur – in Ergenzingen gibt’s viele Baurs – sichtet bei einem Auswahlspiel Stürmer Jürgen Haug vom SV Glatten. Den anderen Jürgen hat Hermann Baur nicht auf dem Zettel. Beide kommen zum TuS und müssen drei Mal pro Woche die 40 Kilometer zum Training zurücklegen. Jürgen Klopps Vater Norbert fährt sie. Noch heute hat Jürgen Klopp das Gefühl, dass beim Wechsel nach Ergenzingen des Vaters Autodienste wichtiger waren als sein Talent.

Die Fahrten zum neuen Fußballverein sind kein Zuckerschlecken für Jürgen Klopp. Auf den Fahrten bleibt viel Zeit für Analysen. Vater Norbert ist sein größter Kritiker und erwartet viel von seinem Jungen. Das treibt Jürgen noch mehr an. »Jürgen war sehr dankbar fürs Fahren und wollte dies seinem Vater zurückgeben. Er war unheimlich ehrgeizig«, erinnert sich Baur.

Jürgen Klopp hört sowohl seinem Vater, als auch Trainer Baur aufmerksam zu, während die Mitspieler bei des Trainers Kabinenansprache schon mal plaudern. Noch heute erinnert sich Klopp an Sätze Baurs. Nach der Kabinenansprache geht Klopp raus und jongliert mit dem Ball. »Nach einem halben Jahr hatten wir bei der Weihnachtsfeier Spieler, die wurden zum Seehund. Die haben sich mit dem Ball auf der Stirn hingesetzt und sind damit wieder aufgestanden«, erzählt Baur.

Kein Seehund

Klopp wurde nie ein Seehund, trotzdem hat er was gelernt. Im zweiten A-Juniorenjahr ist er Kapitän, nicht nur auf dem Platz: Er organisiert die Weihnachtsfeier und Kabinenpartys. Er kommt auch bei den Mädels im Dorf gut an. Viele schwärmen für den »Schlacks«, wie Baur ihn nennt. Jürgen lernt seine Freundin auf einer Party in Ergenzingen kennen.

Beim traditionellen A-Jugendturnier an Pfingsten kämpfen sich Klopp und seine Jungens bis ins Finale und treffen dort auf den tschechischen Vertreter Vítkovice Ostrau. Nach der regulären Spielzeit steht es 0:0 – das Elfmeterschießen muss entscheiden. Baur will »die armen Jungs aus Tschechien« gewinnen lassen, Klopp nicht: »Ich glaub du spinnst. Wir hauen alle rein.« Bei der Siegerehrung reckt Klopp den Wanderpokal in die Höhe.

Das ist seine letzte Aktion als Jugendspieler. Die erste als Spieler der Senioren folgt prompt. Lokalkonkurrent VfL Nagold ist hinter Klopp her. Der damals 18-Jährige geht schnurstracks zum Vorstand des TuS Ergenzingen und setzt durch, dass sein A-Jugendtrainer Walter Baur die erste Mannschaft übernimmt. Nur deshalb bleibt er beim TuS.

Berthold wird gescheucht

Im Juli 1986 kommt die Bundesligamannschaft von Eintracht Frankfurt zu einem Testspiel auf die Ergenzinger Breitwiese. Mit dabei Nationalverteidiger Thomas Berthold, gerade zurück von der WM in Mexiko. Vor und nach dem Spiel wird Berthold, der vier Jahre später mit Deutschland Weltmeister wird, von Autogrammjägern gescheucht, während des Spiels vom rechten Mittelfeldspieler Klopp. »Der Jürgen machte das Spiel seines Lebens und lief dem Berthold mehrmals davon«, so Baur. Außerdem erzielt er den Treffer zum 1:9.

Frankfurts Trainer Dietrich Weise ist verblüfft: »Wer ist dieser Junge?«, fragt er seinen Freund Baur und erkundigt sich auch später immer wieder was »dieser Junge« so macht. Der wechselt im Winter zum Oberligisten 1. FC Pforzheim und von dort im Sommer 1987 zu den Amateuren von Eintracht Frankfurt. Von Pforzheim sollen die Ergenzinger die unglaubliche Summe von 12.000 Mark bekommen haben.

»Walter, rate mal«

Klopp studiert in Frankfurt Sportwissenschaften, spielt bei den Amateuren und trainiert die D-Jugend von Eintracht Frankfurt. Über die Stationen Viktoria Sindlingen und Rot-Weiss Frankfurt kommt Klopp 1990 zum 1. FSV Mainz 05. Elf Jahre später, in seinem letzten Spiel für die Mainzer und als Profi überhaupt, am Faschingssonntag 2001, wird er bei Greuther Fürth in der zweiten Halbzeit von Trainer Eckhard Krautzun ausgewechselt. Mainz verliert das Spiel, Aschermittwochs-Stimmung in der Fastnachthochburg – Krautzun fliegt.

Faschingsmontag in Ergenzingen, 11:50 Uhr ist es, das weiß Baur noch genau. Das Telefon klingelt, erzählt Baur, sein früherer Jugendspieler ist dran: »Walter, rate mal, wer der neue Trainer in Mainz ist?«, fragt Klopp. Baur rät ein mal falsch, noch mal. Klopp verrät es ihm: »Seit zehn Minuten – ich.« Baur ist baff.

Der Beginn einer Trainerkarriere. Vater Norbert wäre stolz auf ihn. Kurz bevor Jürgen die Profimannschaft der Mainzer übernimmt, stirbt der Vater an Krebs. Baur war auf der Beerdigung.

Im Jahr 2008 geht Klopp von Mainz zu Borussia Dortmund, Walter Baur trainiert inzwischen die A-Jugend des VfL Nagold. Baur, der schon zu Mainzer Zeiten für Klopp Gegner des FSV beobachtet und Talente gescoutet hatte, schaut auch für Dortmunds Trainer in Süddeutschland nach guten, jungen Fußballern. Er entdeckte unter anderem Lars und Sven Bender (1860 München) und Mats Hummels (FC Bayern München).

Im Jahr 2011 reckt Klopp nicht den Wanderpokal des Ergenzinger Pfingstturniers in die Höhe, sondern die Meisterschale. Unter anderem mit Sven Bender und Hummels wird Borussia Dortmund Deutscher Meister.

Was wichtig ist

Klopp und Baur telefonieren regelmäßig miteinander. Nach der Meisterschaft will Baur gratulieren. Doch bevor er bei seinem Ex-Spieler anruft, meldet sich Baur bei Klopps Co-Trainer Zeljko Buvac, »weil an den im Jubel keiner denkt«. Viele Ergenzinger hätten gerne, dass Klopp zu ihrem Pfingstturnier kommt, und dieses macht und jenes. Baur soll das richten. Der atmet tief durch und überlegt sich genau, mit was er »den Jürgen« belästigen kann. Und mit was nicht.

»Dass man die Orte, an denen man war, ein bisschen schöner gemacht hat. Dass man vollen Einsatz gezeigt hat. Dass man geliebt hat, geliebt wurde und dass man sich selbst nicht so wichtig genommen hat,« antwortete Klopp im Dezember 2008 dem Stern auf die Frage, was im Leben zählt.

Baur hat sich nie wichtig genommen. Die Einladung zur Meisterschaftsfeier der Borussia nimmt er nicht an. Mit seinen A-Junioren steckt er in der Oberliga im Abstiegskampf und muss zum Spiel beim VfR Aalen. Die A-Junioren steigen ab, Baur will als Trainer aufhören, macht aber doch weiter. Was Baur macht, macht er mit vollem Einsatz. Klopp auch – das hat er von ihm.

Vorbereitung auf die Trainerkarriere und Beginn der Berufung:

Ein ordentlicher Spieler wird zum außergewöhnlichen Trainer

Nach seiner Zeit in Ergenzingen entwickelte sich Klopp zum »Wandervogel«; die nächsten Vereine waren nur kurze Zwischenstationen: Über den 1. FC Pforzheim (1987) zog es ihn schnell zu den Amateuren von Eintracht Frankfurt, dem einstigen Gala-Auftritt gegen Thomas Berthold sei Dank. Von dort ging es nach nur einem Jahr weiter zu Viktoria Sindlingen, ehe zur anschließenden Saison 1989/90 erneut ein Wechsel anstand: diesmal zu Rot-Weiss Frankfurt unter dessen Trainer Dragoslav Stepanovic, der später in der Bundesliga bei Eintracht Frankfurt und Bayer Leverkusen zu einer Kultfigur wurde.

von Matthias Greulich

Als Hessenmeister 1990 qualifizierten sich Rot-Weiss und Klopp für die Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga, konnten dort jedoch in sechs Spielen nur einen Zähler ergattern – und verpassten den Aufstieg somit deutlich. Zwei Niederlagen setzte es dabei gegen ein gewisses Mainz 05, das sich als Spitzenreiter der Aufstiegsrunde Süd einen Platz in der zweiten Liga erkämpfte. Kurz darauf schloss sich Klopp eben jenen Mainzern an, angelockt durch ihren Trainer Robert Jung, dem die Spielweise des damaligen Außenstürmers imponierte. »Er ist mir aufgefallen, weil er ein sehr kopfballstarker Spieler war und genau so ein Typ in unserer Mannschaft fehlte«, blickt Jung zurück.4

Bei den 05ern fand Klopp endlich sein Spielerglück und blieb dem Klub (nicht nur) bis zum Ende seiner Spielerlaufbahn treu. Sein damaliger Mitspieler Christian Hock erinnert sich an die gemeinsame Mainzer Zeit.

Der Profi Jürgen Klopp: Für britischen Fußball besser geeignet

Die Kuhfelle nimmt Christian Hock schon lange nicht mehr wahr. Mit den Fellen sind die Stühle an der Bar des Hotels in Kassel bezogen, in dem der Gast seit einigen Monaten unter der Woche lebt. Christian Hock, leichter hessischer Dialekt, die Figur erinnert auch mit 41 noch an den wendigen Mittelfeldspieler, der 234 Mal für den FSV Mainz 05 in der Zweiten Liga gespielt hat. Dass er nun als Trainer des Regionalligisten KSV Hessen Kassel in diesem Hotel in Nordhessen ist, hat viel mit Wolfgang Frank zu tun.

Den alten Jahreskalender hat er noch, alle Trainingseinheiten von Frank stehen drin. Tag für Tag. »Da konnte ich für mich nachvollziehen, was wir genau gemacht hatten«, sagt Christian Hock. So ausdauernd wie er war vermutlich kein anderer von Klopps Mitspielern in Mainz. Aber auch Jürgen Klopp speicherte die Trainingsinhalte, die ihn beeindruckt hatten, für sich ab – wenn auch eher geistig denn schriftlich. Ihr damaliger Trainer brachte sie dazu, intensiver über Fußball nachzudenken und sich ihrem Beruf zu hundert Prozent zu widmen.

»Da geht wirklich was!«

Es war am 25. September 1995, als sie in Mainz den Nachfolger von Horst Franz präsentierten, der nach nur einem Punkt und 0:13 Toren aus sieben Spielen entlassen worden war.5 Wolfgang Frank zeigte seinen Spielern schon in den ersten Trainingseinheiten auf, wie die Lösung aussehen könnte. Als es einigermaßen zu klappen schien, machte er Ernst. In einem Testspiel gegen den 1. FC Saarbrücken ließ er seine Profis zum ersten Mal in der Raumdeckung und mit Vierer-Abwehrkette im 4-4-2 agieren. Die Mainzer, die zuvor wochenlang das Verschieben geübt hatten, führten nach einer halben Stunde mit 4:0, beim Stand von 5:0 pfiff der Schiedsrichter ab. »Wir sahen: Da geht wirklich was. Wir haben vielleicht die Spieler dafür, die Viererkette zu spielen!«, erinnert sich Christian Hock. Mit dieser Erkenntnis standen die Mainzer zu dieser Zeit noch fast allein. Der Versuch von Jupp Heynckes in Frankfurt, ballorientiert zu verteidigen, war ein Jahr zuvor am Widerstand von Spielern, Fans und Medien gescheitert.

Der neue Cheftrainer in Mainz hatte andere Erfahrungen im schweizerischen Aarau sowie in Wettingen und Winterthur gesammelt, wo man taktisch weiter war. Neben einem Lehrvideo von AC Mailands Meistertrainer Arrigo Sacchi brachte der Mann, der in den Siebzigern beim VfB Stuttgart, Eintracht Braunschweig, Borussia Dortmund und dem 1. FC Nürnberg ein erfolgreicher Angreifer gewesen war, auch Aufnahmen einer Schweizer Jugendauswahl mit an den Bruchweg. »Das Video lief dauerhaft«, sagt Christian Hock. Mit Stangen markierte Wolfgang Frank, wo jeder im neuen System hinzulaufen hatte. Auch mit Seilen wurde gearbeitet. Im Abstand von zehn Metern standen sie im Verbund zusammen. So lässt sich mit vier Spielern eine Fläche von 50 Metern abdecken. Fast die komplette Breite des Fußballplatzes, der zwischen den Seitenlinien 70 Meter misst.

Einen neuen Mannschaftsführer bestimmte der Trainer bei dieser Gelegenheit ebenfalls. Wolfgang Frank machte Lars Schmidt zum Kapitän, der nun zentral in der Viererkette spielte und offenbar durch das neue Amt gestärkt werden sollte. Rechtsverteidiger Jürgen Klopp war die Kapitänsbinde los. Die Mannschaft hatte damit kein Problem. Binde hin oder her. »Kloppo war doch auch so einer unserer Führungsspieler und ein Sprachrohr des Trainers«, so Christian Hock. »Kloppo« – so riefen sie ihn in Mainz fast alle.

Der Letzte hat einen Plan

Die Spieler des Tabellenletzten hatten zwar immer noch wenig Punkte, aber jetzt schon mal einen Plan, die meisten zum ersten Mal in ihrer Karriere. »Jeder wusste, was auf seiner Position zu tun war. Wenn du einen Fehler gemacht hattest, konntest du sicher sein, dass ein Mitspieler auf seiner vorgegebenen Position zur Absicherung stand, und dass eigentlich nichts passieren konnte. Das war das Allerwichtigste«, so Hock. Um diese Sicherheit zu erreichen, mussten sie allerdings deutlich mehr laufen als zuvor. Die intelligenten Mainzer Profis sahen die Situation nicht als Belastung. Es gab doch die einmalige Chance, als Schlusslicht einfach nur noch zu gewinnen, erklärt Hock. Diese Chance nutzten sie auf eindrucksvolle Weise. Nach der Winterpause kamen sie rasch aus der Abstiegszone weg. In der Rückrundentabelle wurde Mainz Erster, in der Gesamtrechnung landeten sie auf Platz elf.

In knapp einem halben Jahr hatte Wolfgang Frank den Klub verändert. Er redete nun offen vom Aufstieg in die Erste Liga und forderte von Präsident Harald Strutz, das Bruchwegstadion auszubauen, obwohl die Kapazität von 13.000 Zuschauern bis dahin so gut wie nie ausgeschöpft worden war. Sein Ehrgeiz machte auch vor der Persönlichkeitsentwicklung seiner Spieler nicht Halt. In den Teamsitzungen nahm das Mentaltraining immer breiteren Raum ein. Einige, die daraus ihren Nutzen ziehen konnten, hörten ihrem Trainer weiterhin aufmerksam zu. Andere, die darin für sich keinen Wert sahen, fühlten sich gegängelt. »Im Nachhinein muss man sagen: Dieses Gezwungene hat nicht funktioniert. Du kannst niemanden zum Mentaltraining bringen, wenn er nicht will. Damit bewirkst du eher das Gegenteil«, sagt Christian Hock.

Die ausufernden Mentalsitzungen änderten nichts daran, dass die Mainzer Profis immer noch von der Wirksamkeit des intensiven Trainings überzeugt waren. Doch Wolfgang Frank machte es ihnen immer schwerer, nach der Belastung auch mal abzuschalten. Zu Jahresbeginn 1997 waren zehn Tage Trainingslager auf Zypern angesetzt, die der Trainer voller Begeisterung über die guten Trainingsbedingungen und angesichts vereister Plätze in Mainz auf dreieinhalb Wochen ausdehnte. »Er war verbissen und hat nicht die Balance gefunden, um uns zu sagen, dass wir zwischendurch mal ruhiger machen konnten. Man war praktisch drei Wochen unter Hochspannung. Das hat an uns gezehrt«, so Hock.

Zweimal verloren die mental ausgebrannten Mainzer nach ihrer Rückkehr aus Zypern, als Wolfgang Frank aus heiterem Himmel seinen Rücktritt erklärte. Seine Spieler, allen voran Jürgen Klopp, versuchten, ihn umzustimmen. Der Trainer aber blieb seiner konsequenten Linie auch beim Abschied treu. Er war durch niemanden mehr zum Bleiben zu überreden.

2013, im Alter von erst 62 Jahren, starb Wolfgang Frank in Mainz an den Folgen eines Gehirntumors. Nicht nur Klopp verlor damit einen seiner größten Förderer und inspirierenden Impulsgeber für seine eigene Trainerkarriere.

Die Generation Frank

So viel Fußball wie unter Wolfgang Frank war selten. Viele Spieler, die in Mainz bei den langen Teamsitzungen des Verfechters der Viererkette dabei waren, sind nach ihrer Profikarriere Trainer geworden. »Das ist ganz sicher kein Zufall«, sagt Christian Hock. »Wir haben uns so intensiv mit Taktik beschäftigt, dass der Schritt dahin, eine Mannschaft zu trainieren, nicht mehr weit war.« Neben ihm und Jürgen Klopp gehören Torsten Lieberknecht (Cheftrainer von zunächst Eintracht Braunschweig, später MSV Duisburg), Jürgen Kramny (in Verantwortung unter anderem beim VfB Stuttgart und Arminia Bielefeld), Sven Demandt (Nachwuchstrainer bei Borussia Mönchengladbach, danach Chefcoach von Wehen Wiesbaden, Rot-Weiss Essen und SpVg Frechen), Peter Neustädter (trainierte die U23-Mannschaft von Mainz 05 in der Regionalliga, danach bei TuS Koblenz und der U17 von Wehen Wiesbaden) sowie Uwe Stöver (erst Nachwuchs- und Amateurtrainer beim FSV Mainz 05, dann beim 1. FC Kaiserslautern, später Sportdirektor bei verschiedenen Klubs) zur Generation der Mainzer Wolfgang-Frank-Schüler.

Dass Franks Nachfolger Reinhard Saftig und Dietmar Constantini die Viererkette nach einer Schamfrist Viererkette sein ließen, kam bei den Profis gar nicht gut an. Der Kern der Mannschaft war sich sicher, dass es mit dem System von Wolfgang Frank besser gelaufen wäre. Auch Jürgen Klopp und Christian Hock. »Wir hatten und haben da ähnliche Vorstellungen«, sagt Letzterer.