Just one breath - Claudia Balzer - E-Book

Just one breath E-Book

Claudia Balzer

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Beschreibung

Zwanzig Sekunden Mut, ein Atemzug Leben!    Eliott ist müde. Denn die Gedanken in seinem Kopf stehen nicht still. Seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Doch er weiß, sein Leben liegt mit 20 Jahren noch vor ihm, er muss es sich zurückholen. Und er weiß, er hat Freunde, die ihn stützen. Und trotzdem kann er nicht loslassen. Aber vom einen auf den anderen Moment ist alles anders. Denn als Casper vor ihm steht, bekommt das Leben ein neues Gesicht. Eines, in das er am liebsten jeden Tag blicken möchte. Casper zeigt ihm, dass man manchmal nur zwanzig Sekunden Mut braucht, einen einzigen tiefen Atemzug, um sein Leben zu ändern. Und dass nur dein Herz entscheidet, wen du liebst.

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Seitenzahl: 446

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Just one breath

Die Autorin

Claudia Balzer, Jahrgang 1987, wuchs vor den Toren Dresdens auf, wo sie noch heute mit Mann, Kind und zwei Katzen lebt. Schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren hat sie sich in den Kopf gesetzt, ein Buch zu veröffentlichen, bevor sie dreißig wird. Dass sie ihr Ziel sogar deutlich vor ihrem dreißigsten Geburtstag erreicht hat, verdankt sie nicht nur einem ausgeprägten Hang zur Nachtaktivität, sondern vor allem ihrem Lieblingsgetränk: Kaffee.

Das Buch

Eliott ist müde. Denn die Gedanken in seinem Kopf stehen nicht still. Seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Doch er weiß, sein Leben liegt mit 20 Jahren noch vor ihm, er muss es sich zurückholen. Und er weiß, er hat Freunde, die ihn stützen. Und trotzdem kann er nicht loslassen. Aber vom einen auf den anderen Moment ist alles anders. Denn als Casper vor ihm steht, bekommt das Leben ein neues Gesicht. Eines, in das er am liebsten jeden Tag blicken möchte. Casper zeigt ihm, dass man manchmal nur zwanzig Sekunden Mut braucht, einen einzigen tiefen Atemzug, um sein Leben zu ändern. Und dass nur dein Herz entscheidet, wen du liebst. Von Claudia Balzer sind bei Forever erschienen: In der Burn-Reihe: Burn for Love - Brennende Küsse Burn for You - Brennende Herzen Burn for Us - Brennende LeidenschaftFlying Hearts Meant to be Nothing Between Us Just one Breath

Claudia Balzer

Just one breath

Casper & Eliott

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2020 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-95818-588-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1 Misanthrop – grie., Nomen; jemand, der die Gesellschaft von anderen meidet

2 Nyctophilia – engl., Nomen; Zuflucht in der Dunkelheit finden

3 Poriomanie – grie. / lat., Nomen; impulshaftes, unvermitteltes Weglaufen

4 Clinomania – grie. / engl., Nomen; das exzessive Verlangen im Bett zu bleiben

5 Enigma – lat., Nomen; eine Person, die schwer zu entschlüsseln ist, die ein Rätsel ist

6 Atelophobie – engl., Nomen; die Angst nicht gut genug zu sein

7 Meliorism – lat., Nomen; der Glaube, dass die Welt sich verbessern kann

8 Monachopsis – grie., Nomen; das subtile, aber anhaltende Gefühl, fehl am Platz zu sein

9 Philophobie – grie., Nomen; die Angst sich zu verlieben

10 Dormiveglia –ital., Nomen; der Raum, der sich zwischen Schlaf und Wachsein erstreckt

11 Basorexie – lat. / grie., Nomen; das überwältigende Verlangen zu küssen

12 Apodyopsis – grie., Nomen; jemanden in seiner Vorstellung entkleiden

13 Latibule – lat., Nomen; ein Versteck; ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit

14 Abulie – lat. / grie., Nomen; die totale Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen

15 Alexithymie – grie., Nomen; die Unfähigkeit seine Gefühle auszudrücken

16 Lisztomanie – deu., Nomen; der Zwang, permanent Musik zu hören

17 Paroxysmus – grie., Nomen; das plötzliche Ausbrechen von Emotionen

18 Katharsis – grie., Nomen; das Entlassen von Gefühlsspannungen, insbesondere durch Arten der Kunst oder Musik

19 Agliophobie – altgrie., Nomen; die Angst, verletzt zu werden

20 Morosis – altgrie., Nomen; die dümmste der möglichen Dummheiten

21 Lacuna – lat., Nomen; der fehlende Teil

22 Capernoited – engl., Adjektiv; leicht betrunken sein

23 Redamantis – lat., Nomen, eine Liebe, die im vollen Umfang erwidert wird

24 Aspectabund – engl., Adjektiv; fähig sein, Emotionen mühelos über Augen und Gesicht auszudrücken

25 Nebula – lat., Nomen; Dunst, Nebel; sonnenlos, grauer Himmel voller schwerer Wolken

26 Abience – engl., Nomen; der starke Drang jemandem aus dem Weg zu gehen

27 Alamort – engl., Adjektiv; halbtot durch Erschöpfung

28 Tristful – engl., Adjektiv; tiefe und doch romantische Melancholie

29 Eccendentesiast – engl., Nomen; jemand, der nur vorgibt zu lächeln

30 Sweven – engl., Nomen; eine Vision, die man im Schlaf sieht; ein Traum

31 Sciamachy – engl., Nomen; der Kampf gegen die eigenen Schatten

32 Solivagant – engl., Nomen; einsamer Wanderer

33 Metanoia – grie., Nomen; die Reise der Selbstveränderung

34 Nepenthe – lat. / grie., Nomen; etwas, das dich Trauer und Leid vergessen lässt

35 Novitious – lat., Nomen; neu kreiert oder neu erschaffen

36 Alate – lat., Nomen; Flügel bekommen

37 Disenthrall – engl., Verb; in die Freiheit entlassen

38 Anagapesis – grie., Nomen; keine Zuneigung für jemanden mehr empfinden, den man einst geliebt hat

39 Hiraeth – walisisch, Nomen; das Heimweh nach einem Zuhause, zu dem du nicht zurückkehren kannst

40 Eleutheromania – grie., Nomen; die unwiderstehliche Sehnsucht nach Frieden

Epilog: Anemoia – grie., Nomen; Nostalgie für eine Zeit, die du nie kennengelernt hast

Triggerwarnung (Achtung Spoiler!)

Nachwort

Danksagung

Leseprobe: Nothing Between Us

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1 Misanthrop – grie., Nomen; jemand, der die Gesellschaft von anderen meidet

Widmung

You’re Somebody Else – flora cash

»It's like you told meGo forward slowlyIt's not a race to the end«

Redaktioneller Hinweis

Liebe Leser*in,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr hier eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte. Wir möchten, dass ihr das bestmögliche Leseerlebnis habt.

Eure Claudia Balzer und das Forever-Team

1 Misanthrop – grie., Nomen; jemand, der die Gesellschaft von anderen meidet

Mittwoch, 07. Oktober

Eliott

Liebe Mama,das neue Semester hat vor Kurzem begonnen.Es läuft super.Der Stoff liegt mir und die Dozenten sind toll.Ich lerne viel bei ihnen.In LiebeDein Eliott

»Herr Kellermann!«

Wenn dein Name in diesem Ton – irritiert, genervt und ungläubig zugleich – gerufen wird, hast du für gewöhnlich etwas ausgefressen. Ich weiß nur nicht, was ich angestellt haben soll, das diesen Tonfall rechtfertigt. Es ist ruhig um mich herum, so wunderbar friedlich und dunkel. Mein Körper ist leicht. Keine schweren Gedanken, die ihn auf den Boden drücken. Warum muss ich gestört werden, wenn ich doch augenscheinlich niemanden störe? Mein Name fällt noch einmal, ungeduldiger, drängender. Diesmal gefolgt von einem Stoß in meine Rippen, der mich zusammenzucken und die Schwere in meinen Körper zurückkehren lässt. Die Erfahrung gleicht dem Gefühl, das im Vergnügungspark bei der Attraktion »Freier Fall« entsteht. Der Moment, kurz bevor man wieder in die Höhe katapultiert wird und tief im Sitz versinkt, wo man sich nicht aufrichten kann, selbst wenn man es mit aller Kraft versucht.

»Ey, wach auf!«, zischt mir jemand ins Ohr. Sollte ich in einer Vorlesung sitzen? Zumindest ist der Hörsaal das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Ein kleiner Kampf bahnt sich zwischen mir und meinen Augenlidern an. Ich müsste sie öffnen, um das Geschehen um mich herum einordnen zu können. Der Sieger dieser Fehde ist noch nicht absehbar. Aber will ich überhaupt gewinnen? Ich will sie geschlossen halten und weiter in der Stille baden. Also haben beide Seiten verloren, als ich sie schließlich aufbekomme. Ich blinzle gegen die Helligkeit an. Bei jedem Blinzeln überlege ich, ob ich die Augen nicht doch einfach wieder schließe. Ich benötige einen Moment, um mich zu orientieren. Die vielen Tische und Stühle, die große Fensterfront. Die Gesichter, die mich anstarren. Der Dozent, dessen Namen ich mir noch nicht gemerkt habe und den ich mir auch bis Ende des Semesters noch nicht gemerkt haben werde. Er steht aufrecht vor mir. Offensichtlich kennt er meinen Namen und weiß genau, wer ich bin. Hinter ihm erkenne ich verschwommen das Logo meiner Familie auf seiner Präsentation zu den mittelständischen Unternehmen. Ja, ich sitze definitiv noch immer in der Vorlesung. Welche war es? Buchführung? Mathe? Meine Gehirnfunktionen sind noch zu träge, als dass ich die Aufzeichnungen und den Dozenten einem meiner Fächer zuordnen könnte. Es kann genauso gut Unternehmensführung oder Volkswirtschaftslehre sein. Ich habe also absolut keinen Plan. Ich setze mich auf und versuche die Glieder zu strecken, ohne dass dabei zu offensichtlich wird, wie tief ich weggenickt war. Können die anderen Studenten nicht einfach weiter in ihre Hefte oder Smartphones sehen? Sie haben sicher noch nicht alles notiert, das für die Prüfungen relevant sein wird. Ein beim Schlafen erwischter Kommilitone wird dafür wohl kaum von Bedeutung sein. Ich sehe mich im Raum um und bemerke jedes Augenpaar, das auf mich gerichtet ist. Flashbacks meiner Zeit im Internat drängen sich mir auf. Ich nehme den Kuli vor mir in die Hände und spüre seiner glatten, runden Oberfläche nach. Ich versuche mich damit in der Gegenwart zu halten, um nicht zu sehr in die Vergangenheit abzudriften. Doch verhindert es nicht, dass mein Knie unaufhörlich wippt. So viele Augenpaare sind auf mich gerichtet, dass ich mir wie Hester aus »Der scharlachrote Buchstabe« vorkomme. Nur haben sie mir noch kein A auf die Klamotten geschrieben und auch habe ich nichts mit dem Pfarrer laufen. Mein Hals ist zu trocken, als dass mein eigener Gedanke mich zum Lachen bringen könnte. Unfreiwillig räuspere ich mich.

»Sehr nett, dass Sie Ihren Schönheitsschlaf für uns unterbrechen und uns mit Ihrer Aufmerksamkeit segnen«, begrüßt mich der Dozent und ich verstehe nicht, was er für ein Exempel an mir statuieren will. Soweit ich mich entsinnen kann, hat es dieses Semester noch keine Lehrkraft interessiert, ob ich die Vorlesung verschlafen habe oder nicht. Geschweige denn, dass sie sich persönlich um das Aufwachen gekümmert hätten.

»Kein Problem«, erwidere ich und ein leises Lachen dringt von den anderen Tischen an mein Ohr. Es lässt die Lippen des Dozenten noch schmaler werden. Mein Gähnen, das ich beim besten Willen nicht unterdrücken kann, bringt seine Nasenflügel zum Flattern. Ich balle meine Hände zu Fäusten, damit niemand sehen kann, wie sehr sie zittern. Es gibt keinen Grund ihnen noch mehr Gesprächsstoff zu bieten, damit sie sich später den Mund zerreißen können. Denn das werden sie mit Sicherheit. Der Mensch ist nun mal so gemacht. Er verbindet sich über gleiche Interessen und manchmal ist das der Tratsch, über den man sich unterhalten kann.

»Herr Kellermann, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie niemand zwingt, hier zu sein.« Noch mehr Gelächter und ein herablassendes »Tsk« des Dozenten. Ich fühle die Blicke der anderen und das Getuschel wird immer lauter. Ich spüre meinen Puls im ganzen Körper und halte die Luft an – doch das verstärkt nur den Drang, aus dieser Situation zu fliehen. Der Raum beginnt sich zu bewegen und ich habe den Eindruck, dass die Wände sich mir nähern.

»Ja«, sage ich langsam und zwinge Luft in meine Lungen, weil ich sonst irgendwann vom Schwindel übermannt werde. Ich fahre mir durch die Haare, die einen Tag zu lang keine Dusche gesehen haben, und streiche die viel zu lange Vorderpartie aus den Augen. Kaum sinkt meine Hand, fallen die Haare an dieselbe Stelle zurück. Auch ein Spiel, das keiner gewinnen kann. »Stimmt«, wiederhole ich, mehr für mich. Das Getuschel wird abermals lauter. Oder ich bilde mir den steigenden Geräuschpegel nur ein, weil mein Hörsinn durch den in mir brodelnden Fluchtinstinkt überreizt reagiert? Ich schließe meine Augen. Haben die nichts anderes zu tun, als mich anzustarren und über mich zu reden? »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und eine unterhaltsame Vorlesung«, sage ich, die Stimme ganz das Gegenteil meines inneren Tumults. Ich nehme meine wenigen Sachen vom Tisch und stopfe sie in den Rucksack. Das Getuschel erstirbt, als ich mich erhebe und die Stuhlbeine auf dem Holzboden ein schrecklich lautes Geräusch machen. Jetzt sehen auch die Letzten zu mir herüber. Der Dozent gleicht einem Fisch. Sein Mund öffnet und schließt sich, als ob er Probleme hätte, Luft zu bekommen. Ich nicke ihm ein letztes Mal zu, als ich an ihm vorbeigehe. Ich halte selbst die Luft an, als ich mir meinen Weg durch den Raum bahne und versuche jegliche Blicke abzuschütteln. Ich atme erst wieder, als die Tür zum Seminarraum hinter mir zufällt und das Getuschel mir nicht mehr wie das Summen eines Wespenschwarms folgen kann. Meine Kopfhörer liegen um meinen Hals und ich schiebe sie auf meinen Kopf, bis die Lautsprecher meine Ohren komplett bedecken. Meine Finger gehorchen mir noch nicht wieder, als ich die Kopfhörer mit meinem Smartphone verbinden will. Ich brauche mehrere zittrige Versuche, um den Stecker in das dafür vorgesehene Loch zu bekommen. Ich atme tief ein, obwohl ich viel lieber weiterhin die Luft anhalten würde – als könnte ich dadurch auch die Zeit anhalten. Erst als die vertraute Musik durch meine Gehörgänge schallt, normalisiert sich endlich mein Herzschlag. Ich ziehe die Kapuze meines Hoodies über die Kopfhörer. Sie drückt meine Haare noch tiefer in die Augen. Der Rest meines Gesichts versinkt in meinem weichen Schal. Es führt dazu, dass ich andere anremple und falsche Entschuldigungen murmle. Die Musik übertönt ihre Beschwerden. An einem guten Tag kann die Musik auch meine Gedanken ausblenden.

Wohl fühle ich mich erst wieder, als ich das Unigelände verlasse und in der Masse der Berliner Bewohner und Touristen untergehe. Eine von tausend Seelen, die sich alle nicht kennen. Alle haben ihre Geschichte, aber niemand kennt sie. So könnte die Frau, der ich im letzten Moment auf dem Gehweg ausweiche, eine schwere Krankheit besiegt haben. Sie könnte mit dem Gedanken spielen sich das Leben zu nehmen oder vielleicht ist sie auf dem Weg zu einem geliebten Menschen. Alles ist möglich und niemand, dem man auf der Straße begegnet, wird je erfahren, zu welchem Ziel man wirklich unterwegs ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich zweimal begegnet oder mit einem völlig Fremden ins Gespräch kommt, um mehr über denjenigen zu erfahren? Bei mir ist sie nicht besonders groß.

Für Oktober ist es schon viel zu kalt. Vielleicht verfälscht auch die Müdigkeit mein Empfinden. Ich ziehe den dicken Schal bis über meine Nase. Mein Atem wärmt mein Gesicht. Die Wärme trägt dazu bei, dass auch der Rest meines Körpers sich beruhigt. Meine Schultern sinken wieder nach unten, als die Anspannung in meinen Muskeln nachlässt. Ich spüre meinen Herzschlag nicht länger unter jedem Millimeter meiner Haut pulsieren und ich will mich nicht mehr sofort an Ort und Stelle auflösen. Die Nervosität ebbt ab.

Als ich die Treppen zur U-Bahn-Station hinuntergehe, springt meine Playlist zu »Mi Gente« und mein Schritt passt sich dem Beat automatisch an. Ein erneutes Gähnen bahnt sich seinen Weg und ich könnte an Ort und Stelle einschlafen. Meine Muskeln sind angespannt und gleichzeitig kraftlos. Ich fühle mich, als könnte ich jeden Moment auf die Schienen fallen, doch das werde ich verhindern. So verzweifelt bin ich nicht. Meine Knochen sind so schwer, als hätte sie jemand mit Blei gefüllt. Meine Lungen nehmen nicht genug Luft auf. Ich fühle mich, als würde ich in einem Korsett stecken, das meinen Brustkorb einengt. Ich kann es kaum erwarten in mein Bett zu fallen. Wenn ich Glück habe, habe ich noch ein wenig Gras vom Wochenende übrig. Ich muss dringend durchatmen können. Ständig das Gefühl zu haben, nicht genügend Luft zu bekommen, ist nervenaufreibend und führt auf Dauer zu Panik. Atmen sollte etwas Natürliches sein, das automatisch geschieht. Nicht etwas, an das man sich ständig erinnern muss. Meine Bahn lässt zum Glück nicht lange auf sich warten. Das Abteil ist nicht übervoll und anders als sonst setze ich mich. So sehr ich den Berliner Nahverkehr auch schätze, so tun das tausende Menschen ebenfalls. Die Meisten berühren die Griffe, Stangen und Sitze. Meist stehe ich lieber und versuche keine der Säulen zu berühren. Heute würde ich aber beim kleinsten Ruck quer durch das Abteil stolpern. Mir fehlt jegliche Standfestigkeit. Diese Blöße will ich mir nicht geben. In der Vorlesung habe ich genug Aufmerksamkeit für die restliche Woche auf mich gezogen. Davon muss ich mich erst erholen. Mit verschränkten Armen rutsche ich tiefer in den Sitz. Mein Handy vibriert in der Hosentasche. Ich strecke ein Bein aus, übersehe eine junge Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm und bringe beide zum Stolpern. Wieder murmle ich eine Entschuldigung, die ich diesmal sogar ernst meine, aber sie straft mich nur mit einem kalten Blick, bevor sie ans andere Ende des Waggons eilt. Ich fische das Telefon aus meiner Hosentasche heraus. Eine Nachricht von Jonathan.

Jona The Best:

Wo steckst du? Val wollte dich von der Vorlesung abholen und du warst nicht da.

Ach verdammt! Ich habe ganz vergessen, dass Valerie und ich verabredet waren. Ich weiß nicht mal mehr für was.

Bin aus der Vorlesung geflogen.

?? Alter. Wie schafft man so was?

Hab geschlafen und der Dozent meinte, dass mich niemand zwingt in seine Vorlesung zu gehen. Also …

… bist du gegangen. Wieso hast du überhaupt geschlafen?

Müde. Müde. Müde. Ich tippe eine Halbwahrheit, damit er sich keine Gedanken macht.

Bin noch fertig vom Wochenende.

Ey, Eli! Es ist Mittwoch?!?

Ich atme tief durch. Ich habe keine Lust mein Schlafverhalten zu ergründen oder mich zu rechtfertigen, warum mir an einem Mittwoch das Wochenende noch nachhängen könnte. Es ist nicht jeder das blühende Leben so wie Jona. Es muss anstrengend sein immer so gut gelaunt zu sein. Ich schließe meine Augen, aber komme nicht lange zum Ausruhen. Das Smartphone vibriert erneut.

Gruppenchat »Da Boys«

Jona The Best:

Jungs, Eli bekommt nichts mehr beim Kaffeekränzchen zu rauchen. Er wird alt und sein Körper kommt nicht mehr drauf klar.

Titus:

In ihm lebt schon länger eher ein Opa als ein 19-Jähriger.

Marlon:

Wisst ihr noch, als er fast die Abschlussprüfung in Englisch verpennt hat? Auf dem Schuldach? Das war auch so eine Aktion. Er hatte nur Glück, dass der Hausmeister ihn gefunden hat und sein Gras schon geraucht war.

Leute … ich kann alles lesen, was ihr hier schickt …

Jona The Best:

Marlon:

Titus:

Als ob ihr euch nicht auch so was geleistet hättet.

Eines muss ich den Jungs lassen: sie schaffen es, dass ein kleines Lächeln über meine Mundwinkel zuckt. Sie können manchmal Idioten sein, aber sie sind meine Idioten und am Ende des Tages bin ich vielleicht der größte Idiot von uns allen. Ich gähne, dass mir der Kiefer knackt. Seufzend lehne ich meinen Kopf an die Scheibe hinter mir. Ich betrachte die Werbung über mir und den Plan der Streckenverbindungen. Ich habe sie schon so oft studiert und nie etwas Neues gefunden. Dennoch folge ich den farbigen Linien und lese viele der Haltestellen, obwohl ich deren Reihenfolge auswendig weiß. An die Querstange über mir hat jemand einen Aufkleber eines orangenen Seepferdchens geklebt. Es sieht mich an und ich starre zurück. Ich zücke mein Handy noch einmal, öffne Instagram und die Kamera. Ich schieße ein Foto der Haltestange mit dem Sticker über mir, schreibe als Bildtext »too tired to stand« und lade es hoch. Danach stecke ich das Handy wieder in die Tasche, lehne mich zurück und ziehe die Kapuze und den Schal tiefer in mein Gesicht. Die Wärme lullt mich schnell ein und die Augenlider fordern mich noch einmal heraus und versuchen, ihren Willen durchzusetzen. Da ich schon beim ersten Kampf nicht siegen wollte, ist klar, wer sein Ziel erreicht. Die Stille und die Dunkelheit sind noch genauso angenehm und einladend wie vorhin, so als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich wieder in sie eintauche.

2 Nyctophilia – engl., Nomen; Zuflucht in der Dunkelheit finden

Mittwoch, 07. Oktober

Casper

Ich weiß, dass die Züge im Berliner Nahverkehr in kurzen Abständen fahren, dennoch riskiere ich lieber, mich in den sich schließenden Türen einzuklemmen, als zu warten. Zeit ist schließlich Geld, selbst wenn es nur ein paar Minuten sind. Dabei lege ich gar keinen Wert darauf, reich zu werden. Vier Minuten sind mir einfach zu lang, um in der Kälte auf den nächsten Zug zu warten. Lieber nutze ich die Zeit, die ich hier drin festsitze, zum Beantworten von Mails und Nachrichten auf unseren sozialen Plattformen. So hole ich die Zeit rein, die mir fehlen wird, wenn Bendix wieder in Berlin landet. Draußen wären mir beim Tippen die Finger abgefroren. Es ist viel zu kalt für Anfang Oktober. Wo ist der goldene Herbst geblieben? Ich setze mich auf einen der letzten leeren Plätze zwischen dick vermummte Fahrgäste und öffne zuerst die Mails auf meinem Handy. Wie kann sich der Posteingang bereits wieder so sehr gefüllt haben, obwohl ich heute Morgen erst alles beantwortet habe? Aber ich will mich nicht beschweren. Es bedeutet, dass der Laden gut läuft und wir alle unsere Miete bezahlen können. Die Terminbestätigungen, die für mich bestimmt sind, übertrage ich gleich in meinen Kalender. Die, die für Carlos, Sam oder Norman sind, leite ich an sie weiter, damit sie nicht untergehen und aus dem Postfach raus sind. Gerade als ich zu den neuen Anfragen übergehen will, werde ich von der Seite angerempelt, sodass mir das Smartphone fast aus der Hand rutscht. Nur durch flinke Finger vermeide ich dessen Absturz.

»Hey! Pass doch a…«, beginne ich angespannt zu fluchen, weil das Gewicht auf meiner Schulter ruhen bleibt und sich nicht entfernt. Als ich einen Blick auf meine linke Schulter werfe, sehe ich dort nur grauen Stoff und ein Wirrwarr aus mittelblondem Haar. Musik dröhnt unter dem Stoff der Kapuze hervor. Da ich nicht verstehe, wie man bei dieser Lautstärke ein Nickerchen halten kann, halte ich Ausschau nach Anzeichen, ob dem Typen etwas zugestoßen sein könnte. Er macht keine Anstalten, sich wieder aufzurichten. Ohnmacht, Schlaganfall – all das schwirrt mir durch den Kopf, aber er scheint wirklich nur zu schlafen. Sein Atem geht gleichmäßig und wenn ich mir seine Augenringe ansehe, dann hat er ein bisschen Powernapping dringend nötig. Vielleicht so nötig, dass ich ihm einfach meine Schulter leihen sollte. Ich muss zugeben, dass die Wärme, die er abstrahlt, nicht unangenehm ist. Die Musik ist auch nicht schlecht. Ich frage mich nur wirklich, wie man bei dieser Lautstärke schlafen kann. Ich tippe im Takt seiner Musik mit dem Zeigefinger auf das Display meines Handys. Was soll’s? Es tut niemandem weh, wenn ich ihn gewähren lasse.

Die neuen Anfragen warten noch immer auf mich. Ich scrolle mich durch die ersten Mails und muss mich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Ich bin Tätowierer und der Kunde ist König, aber manche Motive sind einfach ausgelutscht und nur noch nervig. Unendlichkeitszeichen, Schnurrbärte auf dem Zeigefinger, dieses Harry-Potter-Symbol oder ganz häufig in letzter Zeit: »Love her but leave her wild« von diesem Atticus. Ich weiß auch, dass diese Motive für den Einzelnen sicher eine große Bedeutung haben, aber manches kann man als Tätowierer einfach irgendwann nicht mehr sehen. Das sind nur ein paar davon. Und es ist auch frustrierend, wenn man sich als Künstler nicht entfalten kann. Man will einmalige Motive entwerfen, die nur der eine Kunde auf seiner Haut tragen wird und die dann auch mit einer tieferen Bedeutung für denjenigen einhergehen. Als Künstler will man seinen Abdruck hinterlassen. Man will, dass andere anhand des Stiles sofort sehen, von wem die Arbeit stammt. Der menschliche Körper ist die einzige Leinwand, die an Hirn und Herz gekoppelt ist und sich dadurch das Motiv selbst aussucht. Selbst wenn man als Künstler vielleicht gerne mehr Einfluss nehmen würde. Doch das gilt dann als Körperverletzung und eine Anklage will ich noch weniger, als ein Unendlichkeitszeichen zum tausendsten Mal zu stechen. Anfragen für ausgelutschte Motive gebe ich an Norman ab. Er braucht diese Erfahrungen, um zu einer Routine zu finden. Ich suche in den Anfragen nach außergewöhnlichen Wünschen. Nach Herausforderungen für mich. Nach den Motiven mit der tieferen Bedeutung. Heute sind drei dabei, die ich nur zu gern übernehmen würde. Unter anderem ein Portrait einer gestürzten Ballerina. Ich bin auf die Geschichte dahinter gespannt. Ich beantworte diese Nachrichten und frage nach Details, Vorlagen und Vorstellungen. Danach ist mein Nacken steif vom ständigen Heruntersehen. Die Nachrichten auf Instagram müssen bis später warten. Ich rolle meinen Kopf hin und her. Dabei fange ich den Blick einer Frau mittleren Alters auf, die mich anzustieren scheint. Ich sehe sie fragend an, doch sie bemerkt es nicht. Ich versuche ihrem Blick zu folgen. Er endet auf Höhe meiner Schulter. Auf der Schulter, auf der ein junger Mann ein dringend benötigtes Nickerchen hält. Ich kenne diese Blicke und auch wenn sie weniger geworden sind, kann ich sie nicht leiden. Können manche Menschen sich nicht einfach um ihre eigene Welt kümmern, statt ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angehen? Erst recht, wenn sie glauben, sich ein Bild von einer Situation machen zu können, die aber tatsächlich ganz anders ist. Mein Erscheinungsbild trägt vielleicht sein Übriges bei und verhindert wenigstens, dass sich zu ihrem Blick noch ein missbilligendes Schnalzen der Zunge gesellt.

Ich kann im Nachhinein nicht erklären, was in mich gefahren ist, doch ich streiche mit meiner Hand durch das wuschelige Haar meines Sitznachbarn, das unter der Kapuze hervorguckt. Es ist weicher, als ich erwartet habe. Diese Geste lenkt den angewiderten Blick der Frau auf mich. Ich halte ihm stand. Sie scheint noch immer nicht zu merken, dass es unhöflich ist, wie sie Fremde ungeniert beobachtet. Ich hebe eine Augenbraue und ihre Augen folgen meiner Geste. Erst als ich ihr einen Luftkuss zuwerfe, blinzelt sie sich aus ihrer Trance und senkt den Blick. Ich glaube, eine leichte Röte in ihre Wangen steigen zu sehen. Vielleicht ist das Vorgehen meines Sitznachbarn gar nicht so verkehrt. Ich könnte nie so tief einschlafen, dass ich in einer Bahn alles um mich herum ausblenden kann, aber die Augen kurz zu schließen, wird auch mir guttun. Ich stecke das Handy in meine Jacke und rutsche mit verschränkten Armen tiefer in den Sitz. Der Typ auf meiner Schulter rutscht mit und ich befürchte, dass er aufwacht. Doch er positioniert sich nur seufzend neu. Sein Kopf liegt jetzt direkt an meinem Hals.

»Was soll’s«, murmle ich mir selbst zu, schließe die Augen und lehne meinen Kopf an seinen. Es ist eine Auszeit, die mein Körper dringend braucht. Er ist warm, seine Kapuze weich und er riecht gut.

Viel zu schnell nähern wir uns meiner Haltestelle und mir kommt zum ersten Mal der Gedanke, dass ich ihn früher hätte wecken sollen. Vielleicht ist er inzwischen viel zu weit gefahren.

»Hey«, spreche ich ihn leise an, da ich ihn nicht aufschrecken will. »Ich müsste gleich aussteigen.« Ich kreise langsam mit meiner Schulter, damit er davon wach wird. Erst als ich mit meinem Knie gegen seines stupse, zieht er die Luft ein, als ob er sie bisher angehalten hätte. Dabei hat er die ganze Zeit ruhig geatmet. Er setzt sich auf und sieht sich um, als müsste er erst begreifen, wo er sich befindet. Er schiebt seine Kopfhörer herunter, sodass sie um seinen Hals hängen. Die Musik dröhnt weiter. Wie tief musste er eingeschlafen sein?

Auf was ich nicht gefasst bin, sind seine Augen, als er zu mir hinübersieht. Wie wunderschön dieses Blau auf der Haut aussehen würde. Doch ich glaube nicht, dass man diesen Ton einfangen kann. Selbst auf Papier würde mich diese Nuance vor eine Herausforderung stellen.

»Entschuldige«, sagt er mit schlaftrunkener, rauer Stimme, die ihr Übriges zu meiner Faszination beiträgt. Er sieht noch immer müde aus und seine Augen sind alles andere als klar. Was würde ein Blick von ihm anstellen, wenn diese Augen hellwach wären? Sie würden mich schwach machen. Das würden sie anstellen.

»Schon okay«, sage ich, als ich neben der Farbe auch das Unbehagen in seinem Blick sehe. »Ich hoffe, meine Schulter war gemütlich genug für dich.« Ein wenig Anspannung scheint sich in ihm zu lösen.

»Ja«, sagt er und ein leises Lachen huscht über seine Lippen. »Danke.« Er sieht sich nach der Anzeige der nächsten Haltestelle um. »Verdammt«, murmelt er in seinen Schal und lehnt sich zurück gegen die Scheibe.

»Haltestelle verpasst?«, frage ich und könnte mich gleich ohrfeigen. Es ist offensichtlich, dass er zu weit gefahren ist. Wieso sollte er sich sonst so stressen?

»Ja«, sagt er und fährt sich mit den Händen durchs Gesicht und die hervorstehenden Haare. »Ich hätte vor drei Haltestellen aussteigen müssen.«

»Verpasst du einen Termin?«, frage ich, weil ich weiter seine Stimme hören will.

»Nur ein Date mit meinem Bett«, antwortet er und sieht mich wieder an. Diese verdammten Augen. Der Zug fährt in die Haltestelle ein und wir stehen beide auf. Mein Sitznachbar mit den unglaublichen Augen muss sich an der Stange über uns festhalten, obwohl ich bereits meinen Arm ausgestreckt habe, als ich ihn mit dem Gleichgewicht straucheln sah. Ich finde das Date, das er mit seinem Bett hat, eine hervorragende Idee. Sein Aussehen ist die bildliche Definition von Müdigkeit. Er sieht zu seiner Hand auf und ich folge seinem Blick. Vor seinem Finger klebt ein Sticker mit einem orangenen Seepferdchen. Er scheint fasziniert davon und ich kann beobachten, wie er sich in seinen Kopf zurückzieht. Seine Augen, trotz der atemberaubenden Farbe, werden leer, beinahe abwesend, und verlieren den Fokus. Er schaut, ohne etwas zu sehen. Bevor sich die Türen öffnen, scheint er sich wieder an mich zu erinnern und sieht noch einmal zu mir zurück.

»Danke noch mal und entschuldige, dass ich dich als Kissen verwendet habe.« Ohne seinen Blick abzuwenden, zieht er seine Kapuze noch weiter ins Gesicht und seinen Schal ebenfalls. Seine Augen werden durch den farblosen grauen Stoff um sie herum noch mehr betont.

»Kein Problem«, wiederhole ich und frage mich, warum mir keine bessere Antwort einfallen will. Mir fällt auch nichts ein, das ein Gespräch in Gang bringen könnte. Sonst bin ich der Meister im Small Talk. Als sich die Türen öffnen, nickt er mir ein letztes Mal zu. Ich wünschte, er würde sich umdrehen und mich noch einmal mit diesen Augen ansehen.

Was zur Hölle denke ich da?

3 Poriomanie – grie. / lat., Nomen; impulshaftes, unvermitteltes Weglaufen

Mittwoch, 07. Oktober

Eliott

Liebe Mama,ich lerne hier viele neue Leute kennen.Sie sind nett und gebildet und gut angezogen.Dir würden sie gefallen.Vielleicht lernst du sie irgendwann kennen.In LiebeDein ElliotBrief Stopp

Ins Bett. Ich muss dringend ins Bett und diesen Zustand wegschlafen. Doch bezweifle ich, dass eine ganze Nacht dafür ausreichen wird. Die Erschöpfung in meinem Körper schreit nach dem Wunsch, sich für eine Woche oder einen Monat oder einfach für immer erholen zu dürfen. Seit wann leihe ich mir Schultern Wildfremder und benutze diese als Kissen? Ich habe nur Glück, dass diese Schulter zu niemandem gehörte, der mir gleich eine verpasst hat. Das wäre der krönende Abschluss dieses verkorksten Tages gewesen. Ich habe mich gerade mal ein paar Schritte vom Zug entfernt, als ich an der Schulter berührt werde. Ich sehe auf die Stelle, sehe eine Hand, deren Rückseite mit einer Rose in Grautönen verziert ist, und wende mich dann ihrem Besitzer zu. Der Typ aus der Bahn. Ich kneife automatisch meine Augen zusammen und erwarte den Schlag, den ich mir eben noch in Gedanken ausgemalt habe. Doch der kommt nicht. Als ich die Augen wieder öffne, sieht er mich an und die Offenheit in seinem Blick lässt mich meinen senken. Ich sehe mich um, ohne wirklichen Fokus, und doch würde es mir sofort auffallen, wenn uns jemand schief ansähe, weil wir, zwei Männer, einen Schritt zu nah beieinanderstehen. Wir behindern niemanden und stehen nicht mitten im Weg. Trotzdem scheinen alle einen kleinen Schlenker um uns herum zu gehen. Niemand würdigt uns eines zweiten Blickes oder beschwert sich, dass er einen Schritt zur Seite gehen muss. Sie tun es einfach. Es könnte aber auch an dem Erscheinungsbild meines Gegenübers liegen. Die obere Partie seiner schwarzen Haare ist um einiges länger als die Haare an den Seiten des Kopfes. Sie sind größtenteils nach links gestrichen und ich frage mich, ob sie von Natur aus so fallen. Meine Haare legen sich mir immer ins Gesicht. Ein Haarwirbel am Hinterkopf ist daran schuld. Es spielt keine Rolle, ob ich Gel oder Wachs benutze. Um sie zu bändigen, müsste ich so viel eines Produktes benutzen, dass sie steinhart und unbeweglich werden würden. Eine starre Pracht auf dem Kopf ist deutlich unangenehmer, als die Haare einfach in die Augen fallen zu lassen. Der Rest seines Haars ist wie meins. An den Seiten und am Hinterkopf kurz. Nur dass sein Undercut deutlich gepflegter aussieht als meiner, der schon lange keine Auffrischung mehr bekommen hat. Unter dem großen Kragen seiner Lederjacke erkennt man Tattoos auf der rechten Seite seines Halses. Seine schwarzen Jeans und Biker-Boots runden den Look ab. Doch sein Gesicht übertrifft das Gesamtpaket. Seine Augen sind hellwach und klar, auch wenn ich die Farbe nicht zuordnen kann. Sie sind weder grün noch blau noch grau und doch alles zusammen. Vielleicht spielt mir auch einfach das schlechte Licht der U-Bahn-Station einen Streich. Das kaum merkliche Lächeln auf seinen Lippen steht ihm. Als könnte ihm niemand und nichts auf dieser Welt etwas anhaben.

»Hey«, beginnt er und ich sehe an mir hinab. Sneakers, verschlissene Jeans, ein ausgewaschener Hoodie unter einer übergroßen Jacke, die meinem Opa gehören könnte. Was kann er von mir wollen?

»Hast du Lust einen Kaffee trinken zu gehen?«, fragt er schließlich.

Und als ob ich nicht vorher schon von seinem plötzlichen Erscheinen überrascht gewesen wäre, bekomme ich jetzt erst recht kein Wort heraus. Das scheint er zu merken.

»Ich meine, verstehe mich nicht falsch, es wäre ein Service für die Allgemeinheit dich einzuladen. Du kannst dich im Augenblick ja kaum auf den Beinen halten oder geradeaus laufen, ohne irgendwo anzustoßen oder jemanden umzurennen. Bei diesem Ausmaß an Müdigkeit bist du eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ich würde damit einen großen Beitrag zur Unfallverhütung leisten und die Statistik nach unten drücken. Ich meine, jeder liebt es, wenn die Kurve nach unten geht, oder?«

Ich lache und das Ausatmen löst einen Teil meiner Anspannung. Auf seine Lippen legt sich ein zufriedenes Lächeln.

»Was sagst du?«, fragt er erneut, als ich ihm noch immer nicht antworte.

»Ähm … ja?«, sage ich schließlich und überrasche mich selbst. Der bisher noch Fremde überhört freundlicherweise das Fragezeichen in meiner Antwort.

»Nice. Ich bin Casper, aber nenne mich ruhig Cas.« Er hält mir seine Hand entgegen, in die ich einschlage. Sie ist trotz der Kälte ziemlich warm.

»Eliott«, stelle ich mich vor, als wir uns in Bewegung setzen. Ich folge Casper einfach, denn ich bin kein Connaisseur, wenn es um guten Kaffee geht. Ich habe keine Ahnung, was guten Kaffee ausmacht oder wo es hier welchen gibt. Überhaupt: Warum habe ich zugesagt? Es kann nur an seiner Argumentation und meiner Übermüdung liegen, die er selbst als Vorwand genommen hat. Es war die einzig logische Konsequenz zuzustimmen. Was hätte ich sonst tun sollen? Sagen, dass ich lieber vor das nächstbeste Auto laufen will, als mich mit ihm eine halbe Stunde ins Café zu setzen?

»Hast du nichts Besseres zu tun, als Wildfremde vor dem Tod durch Überfahren zu retten?«, frage ich und bin mir sicher, dass er es sich mit dem Kaffee noch einmal anders überlegt, wenn ich ihm Raum zum Aussteigen gebe.

»Mein bester Freund Bendix kommt heute von einer Geschäftsreise zurück und ich hole ihn vom Flughafen ab, aber bis dahin ist noch mehr als genug Zeit.« Mit einem Nicken folge ich ihm aus der U-Bahn-Station, ohne darauf zu achten, wohin wir laufen. Mein Blick ist wie immer auf den Weg vor meinen Füßen gerichtet.

»Warst du schon mal hier?«, fragt er und ich sehe mir das Gebäude an, vor dem wir stehen geblieben sind. Eine kleine Bäckerei mit Café. Ich bin schon oft dran vorbeigegangen und Val wollte schon länger mal, dass Jona mit ihr hingeht, aber irgendwie hat es sich nie ergeben.

»Nein«, antworte ich und folge ihm hinein. Wenn ich nicht will, dass eine merkwürdige Stimmung während des Kaffees entsteht, sollte ich dringend längere Antworten als Ein-Wort-Sätze geben. Aber ich bin so unglaublich schlecht im Small Talk und Kennenlernen neuer Leute. »Aber ich wollte den Laden schon länger mal testen.« Ein Satz, der aus mehr als nur einem Wort besteht. Geht doch.

»Super, ein Grund mehr, reinzugehen. Dann testen wir ihn zusammen.« Wieder geht Casper vor und ich folge ihm. Wir werden sofort von einem Duftmix aus süßem Kuchen, einem Hauch Kaffee und Brot erschlagen. Cas geht zielstrebig auf die Verkäuferin zu und bestellt sich einen großen Kaffee.

»Was willst du?«, fragt er mich über seine Schulter hinweg.

»Dasselbe«, sage ich einfach, um keinen Aufwand zu verursachen, und sowohl die Verkäuferin als auch mein Begleiter nicken. Cas bezahlt, ehe ich meine Geldbörse zücken kann. »Danke«, erinnere ich mich an meine Manieren.

»Nicht dafür. Ich sag ja, es ist ein Service für die Allgemeinheit.« Das Zwinkern, das folgt, lässt mich froh sein, dass mein halbes Gesicht noch immer von meinem Schal verdeckt wird. Ich fürchte, die Hitze, die mir in die Wangen steigt, wäre andernfalls zu offensichtlich. Ich könnte sie allerdings auf die Wärme im Café schieben. »Komm«, sagt er und wir nehmen an einem Tresen vor den Fenstern Platz. Die Stühle sind so hoch, dass ich im Sitzen genauso groß wie im Stehen bin. Ich streife die Kapuze zurück und ziehe meine Jacke aus. Ich stoppe die Musik, die nach wie vor aus den Kopfhörern dröhnt. Cas setzt sich mir gegenüber. Auch er hat seine Jacke über die Lehne gehängt. Unter seiner schwarzen Jacke trägt er einen ebenso schwarzen Pullover. Jetzt schiebt er die Ärmel nach oben und ich erkenne weitere Tattoos. Die Platte des Tisches ist so schmal, dass sich unsere Knie berühren.

TwentySeconds

Zwanzig Sekunden? Ich weiß, dass viele sich Tattoos stechen lassen, die eine Bedeutung für sie haben. Was bedeuten ihm zwanzig Sekunden? Ein paar weitere, eher allgemeinere Symbole zieren seine Haut. Mehrere kleine Rosen. Totenköpfe, die sich perfekt ins Bild einfügen. Auch erkenne ich jetzt das Tattoo an seinem Hals. Eine Schwalbe. Ich sehe Cas an, weil er plötzlich so still geworden ist. Als sich unsere Blicke treffen, schließt er seine Augen für einen kurzen Moment.

»Fuck, diese Augen«, flüstert er, aber ich verstehe jede Silbe, die er sagt. Er lehnt sich zurück.

»Welche?«, frage ich irritiert und sehe mich um, über wen er reden könnte.

»Deine«, sagt er bloß, als ich mich wieder zu ihm drehe. Die Tischplatte vor mir ist plötzlich sehr interessant und ich zähle alle Kratzer, die die Gäste vor mir hinterlassen haben. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Nicht, dass ich sonst gesprächiger wäre. Eine Antwort bleibt mir erspart, weil die Kellnerin uns den Kaffee bringt. Ich bedanke mich murmelnd, während Cas seinen Blick noch immer nicht von mir abwendet.

»So«, beginnt er und lehnt sich wieder nach vorn. Er schiebt seinen Kaffee von sich, sodass er sich mit seinen Unterarmen auf dem Tisch abstützen kann. »Wollen wir zuerst den Small Talk hinter uns bringen?« Er sieht aus dem Fenster und wieder zu mir zurück. »Das Wetter ist scheiße. Es ist zu kalt. Politik sollte man beim ersten Kennenlernen vielleicht nicht anschneiden. Ich bin Jungfrau.« Bei der letzten Aussage verschlucke ich mich an meiner eigenen Spucke. »Vom Sternzeichen«, fügt er grinsend hinzu. »Meine Lieblingsfarbe ist Blau.« Ich muss an meine Augenfarbe denken und an seine Aussage und dass sie anscheinend etwas in ihm ausgelöst hat. »Und ich verdiene mein Geld, indem ich Leute verziere.«

»Was?«, frage ich und lache nervös.

»Ich bin Tätowierer von Beruf«, erklärt er und grinst.

»Ah«, antworte ich. Bankberater hätte ich mir bei ihm jetzt auch nicht wirklich vorstellen können.

»Und du?«, fragt er und ich hole tief Luft. Ich hasse es über mich zu reden. Es gibt da nichts Interessantes zu berichten. Für gewöhnlich langweile ich Leute mit meinem Leben. Dennoch sitze ich diesmal nicht stumm da.

»Ich mag keinen Small Talk und bin froh, wenn ich keinen betreiben muss. Ich für meinen Teil mag das Wetter, auch wenn es verdammt kalt ist. Zur Politik gebe ich dir recht. Ähm … ich bin Widder und studiere.«

»Was studierst du?«, hakt er nach und rührt mit dem kleinen Löffel in seiner Tasse, bevor er ihn auf der Untertasse ablegt.

»BWL.«

»Ah«, sagt Cas wissend und nimmt einen Schluck seines Kaffees.

»Was ah?«, frage ich und spiele mit dem Henkel der Tasse, unsicher, ob ich seine Antwort hören will. Sein Ah hatte einen Unterton, der mir nicht verrät, in welche Richtung seine Aussage gehen wird. Ein amüsiertes Grinsen stiehlt sich auf seine Lippen.

»Ein Freund von mir sagt, dass man dieses Studienfach wählt, wenn man nicht weiß, was man nach der Schule mit seinem Leben anfangen will.« Mit zusammengepressten Lippen verkneife ich mir ein Lachen. Sein Freund hat so verdammt recht damit. Das trifft auf die meisten in meinem Studiengang zu.

»Ich bin mir sicher, dass der ein oder andere mit Herzblut dabei ist und seine Erfüllung darin findet«, versuche ich die Ehre meiner Kommilitonen wenigstens ein bisschen zu retten.

»Was ist bei dir der Fall? Weißt du noch nicht, was du machen willst, oder ist es deine Erfüllung?«

Ich überlege einen Moment. Wirklich passend ist keine der beiden Optionen.

»Mir fällt es einfach leicht«, erkläre ich schließlich schulterzuckend, weil es mir an einer besseren Erklärung mangelt.

»Worin findest du dann deine Erfüllung?«

»Wie meinst du das?« Diese Frage hat mir noch nie jemand gestellt. Seit meiner Kindheit war klar, dass ich etwas in diese Richtung studieren werde. Ich habe es von der Pike auf gelernt. Seitdem hat sich mein ganzes Leben verändert, doch ich bin den Weg einfach weitergegangen. Ich bin nie auf die Idee gekommen, nach einer Bestimmung für mich zu suchen oder mich zu fragen, ob ich darin meine Erfüllung finden könnte.

»Was begeistert dich? Wenn du alle Zeit der Welt zur Verfügung hättest, mit was würdest du sie verbringen?«

»Schlafen«, sage ich und wie auf Kommando überkommt mich ein Gähnen. »Im Schlaf muss ich nicht zusehen, wie mein Leben vor meinen Augen auseinanderfällt, ich muss nichts empfinden. Ich kann so tun, als hätte sich nichts geändert.« Cas lässt diesen Satz auf sich wirken. Habe ich das eben wirklich laut ausgesprochen? Doch anstatt nachzufragen, was ich damit meine, wie es andere sicher tun würden, trinkt er einfach weiter von seinem Kaffee. Ich mache es ihm nach und versuche keine Grimasse zu ziehen, als die bittere Flüssigkeit meinen Rachen hinuntergleitet. Ehe eine merkwürdige Stille zwischen uns entstehen kann, fülle ich sie mit einem Räuspern.

»Tätowierer also. Hast du einen eigenen Shop?«

»Ja, das 20 seconds«, erklärt er und versucht ein breites Grinsen zurückzuhalten.

»Ich kenne mich ja nicht aus, aber bist du nicht ziemlich jung, um schon einen eigenen Laden zu haben?«

Er nickt und ich ahne, dass ihm diese Frage häufiger gestellt wird.

»Mit 23 ist man weder zu jung noch zu alt. Wir haben Anfang des Jahres eröffnet. Außerdem gehört der Laden mir nicht alleine. Wir sind zu dritt und haben einen Azubi, wenn man ihn als solchen bezeichnen kann.« Ich nehme einen weiteren Schluck aus der Tasse und wünschte, ich hätte einen Liter Milch darin oder ein halbes Kilo Zucker.

»Dann seid ihr noch in der Gründungsphase? Läuft es gut?«

»Wir sind klein, aber es läuft gut, ja.« Den Stolz, den er für seinen Laden empfindet, kann man deutlich sehen. Er, für seinen Teil, scheint seine Erfüllung gefunden zu haben.

»Cool.« Wir nehmen beide einen Schluck aus unseren Tassen und ich hoffe, dass ich bald alles runtergewürgt haben werde.

»Wie schmeckt der Kaffee?«, fragt Casper oder Cas, wie ich ihn nennen soll. Meine Schultern heben und senken sich abermals, als ich nach den richtigen Worten suche. Ich entscheide mich für die Wahrheit.

»Ich«, beginne ich und muss mich räuspern, »ich mag keinen Kaffee.«

4 Clinomania – grie. / engl., Nomen; das exzessive Verlangen im Bett zu bleiben

Mittwoch, 07. Oktober

Eliott

Liebe Mama,ich erweitere meinen kulinarischen Horizont.Vielleicht kann ich bald mal für dich kochen?Ich verspreche dir auch, Jonathan aus der Küche zu verbannen.In LiebeDein Eliott

Als ich die Tür zur WG öffne, ist es zunächst ruhig. Doch die Schuhe meiner Mitbewohner stehen vorm Regal in unserem kleinen Flur. Ich lege den Schlüssel in die Schüssel auf dem Schrank daneben, lasse meinen Rucksack zu Boden gleiten und beginne meine Schuhe abzustreifen. Es wird nicht lange so ruhig bleiben. Immerhin schaffe ich es, den ersten Schuh auszuziehen, bevor Klemenz in den Flur gestürmt kommt. Mit ihm wedeln bunte Stoffe auf mich zu.

»Hey«, grüße ich murmelnd. Trüge ich eine Akkuanzeige an meinem Körper, würde sie nach dem Date, das keines war, und dem Vorfall im Hörsaal knallrot blinken. Doch ich habe keine solche Anzeige und wenn, würde mein Mitbewohner sie leider ignorieren. Er gibt nichts auf Begrüßungsfloskeln und kommt gleich zu seinem Anliegen. In der einen Hand hält er einen Kleiderbügel mit einem schlichten weißen Hemd und in der anderen Hand ein blaues mit undefinierbar rotem Muster. Am Körper trägt er heute ein schwarzes Hemd mit goldenen Verzierungen.

»Welches soll ich zum Date mit Ronny anziehen?«, fragt er und hält sich abwechselnd die zur Auswahl stehenden Stücke vor den Oberkörper. Ich muss seine Worte erst aufnehmen und verarbeiten. Ein Gähnen kaschiert meine Verwirrung. Meine Energiereserve befindet sich auf einem Minimum und ich weiß nicht, wie lange sie noch ausreicht.

»Ronny? Was ist aus Patrick geworden?«, frage ich und sehe mir seine Oberteile genau an. Je schneller ich ihm eine Meinung gebe, die er am Ende ohnehin nicht annehmen wird, desto schneller kann ich meiner Wege gehen. Für heute musste ich genug mit anderen Menschen interagieren und ich will einfach nur noch in die Stille meines Zimmers verschwinden und auftanken, damit ich morgen wieder funktionieren kann.

»Wir reden nicht mehr über Patrick«, sagt er knapp und wedelt mit den Kleiderbügeln. »Also, welches?« Ich betrachte die Farben der Stoffe im Kontrast zu seinen weißblonden Haaren und der dunklen Hose, die er trägt. Das weiße Hemd würde gut zur Hose passen, aber würde sich mit seinen Haaren beißen.

»Eyeliner oder keiner?«, frage ich weiter und kneife meine Augen zusammen, um mir jegliche Variante bildlich vorzustellen.

»Entscheide ich, wenn ich weiß, was ich anziehe«, sagt er nach kurzer Überlegung.

»Das schwarzgoldene Hemd ohne Eyeliner«, rate ich und weiß, dass er gut darin aussehen wird.

»Meinst du?«, hakt er skeptisch nach und sieht an sich herab. »Hm, mal schauen.« Und als hätte ich mich vor seinen Augen in Luft aufgelöst, verschwindet er wieder um die Ecke. Kurz darauf fällt seine Zimmertür ins Schloss. Ich ziehe den zweiten Schuh aus, ziehe meine Jacke aus und nehme meinen Rucksack wieder auf. Er ist wirklich nicht der typische Jurastudent, doch was ist schon typisch an Klemenz?

Aus der Küche kommen Geräusche und ich folge ihnen.

»Na«, grüße ich Jonathan und sehe ihm über die Schulter. »Was machst du da?«

»Ich koche für Valerie«, erklärt er und die Schweißperlen auf seiner Stirn lassen vermuten, dass nicht alles nach Plan verläuft. Was auch immer in dem Topf vor sich hin köchelt – es lässt sich nicht mehr definieren. Leider verheißt der Geruch auch nichts Gutes.

»Jona, bekochst du Val oder willst du sie vergiften?«, ziehe ich ihn müde auf und nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank.

»Haha«, stöhnt er humorlos. »Sag mal«, wirft er ein und wendet sich mir zu. Erst jetzt sehe ich, dass er eine Schürze trägt. Klemenz‘ Schürze mit dem Aufdruck Vorsicht! Mann kocht!, die wir ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt haben, nachdem er uns fast die Küche abgebrannt hat, als er irgendeine Nachspeise flambieren wollte. »Wo kommst du jetzt erst her? Ich denke, du bist aus der Vorlesung geflogen?«

»Ich bin in der Bahn eingeschlafen und bis zur Endhaltestelle gefahren«, erkläre ich, ohne Weiteres hinzuzufügen. Wieso sollte ich ihm von einem Date erzählen, das definitiv keines war und auch zu nichts führen wird? Jona schüttelt den Kopf und wendet sich wieder seinem Hexenkessel zu. Das Rezept liegt neben dem Herd. Mit dem Bild hat der Inhalt des Topfes nicht viel gemeinsam.

»Du wirst noch mal deinen eigenen Tod verschlafen«, seufzt er. Ich schnappe mir ein einsames Stück Möhre, das noch auf dem Schneidebrett liegt, und stecke es mir in den Mund.

»Ich sag Bescheid, wenn es so weit ist.«

Jona sieht mich mit hochgezogener Augenbraue über die Schulter an.

»Alter, hast du einen Clown gefrühstückt, oder was ist mit dir los?«, fragt er lachend. Ich lächle nur zurück.

»Ich hau mich aufs Ohr. Grüß Val von mir, ja?«

»Mache ich«, verspricht er, als ich schon in der Tür zum Flur stehe. »Ach, Eli?«

»Hm?«

»Titus und Marlon kommen am Freitag zum Kaffeekränzchen.«

»Okay«, antworte ich und mache mich endlich auf den Weg in mein Zimmer.

»Und kein Kuchen für dich! Nicht, dass er dir wieder bis nächsten Mittwoch schwer im Magen liegt und du aus der nächsten Vorlesung fliegst!«, ruft mein angeblich bester Freund hinterher. »Du wirst alt, mein Junge.«

»Du bist ein halbes Jahr älter!«, erinnere ich ihn. Ich verschließe meine Zimmertür hinter mir und atme zum ersten Mal, seit ich nach Hause gekommen bin, durch.

Kein Mensch. Ich allein. Energie tanken.

Mein Rucksack schlägt dumpf auf dem Boden neben mir auf, als ich ihn erneut von meiner Schulter gleiten lasse. In ein paar Schritten habe ich mein Zimmer durchquert und stehe vor meinem Bett. Sofort falle ich hinein und es fängt mich auf. Doch sobald ich meine Augen schließe, spielt sich vor mir die Szene aus dem Café ab. Warum zum Teufel habe ich ihm gesagt, dass ich keinen Kaffee mag? Es ist die Wahrheit, keine Frage, aber er hat ihn schließlich bezahlt. Warum habe ich mir nicht einfach einen Tee, eine Cola, ein Wasser oder gleich Absinth bestellt?

Nach zehn Minuten gebe ich den Versuch auf, in den Schlaf zu sinken. Mein Körper ächzt und will die ersehnte Ruhe finden, doch meine Gedanken halten mich wach. Ich fische mein Handy aus der Jeans, öffne Instagram und scrolle durch den Feed. Ich verteile Herzchen für die Posts meiner Freunde und hinterlasse teilweise einen Kommentar. Als ich das neuste Tattoo eines alten Klassenkameraden sehe, erinnere ich mich an das Gespräch mit Casper.

20 Seconds. Ich gebe den Namen in die Suche ein und werde unter den Vorschlägen fündig. 20seconds.berlin heißt der Account eines Tattoostudios. Ich klicke darauf und sehe mir die Fotos an. Ich scrolle und scrolle, ohne die Motive zu registrieren. Erst als ich Cas auf einem der Bilder erkenne, nehme ich mir Zeit, alles zu betrachten. Ich habe den richtigen Shop gefunden. Ehe mich der Mut verlässt, folge ich dem Account. Denn tatsächlich gefallen mir die Arbeiten. Ich fand die Art, sich mit Tattoos auszudrücken, schon immer faszinierend. Bisher hat mir jedoch der Mumm gefehlt, mir selbst eins stechen zu lassen. Außerdem ist mir noch kein Motiv untergekommen, das ich wirklich für immer tragen wollte.

Sie bieten verschiedene Stile an. Die Art, wie Cas sie trägt: Filigran. Simpel. Sauber. Minimalistisch und höchstens eine Farbe neben den Grautönen. Models mit solchen Motiven sind immer mit seinem Namen verlinkt. Die anderen Tattoos haben ein Carlos oder ein Norman gestochen. Carlos Stil ist schwerer und kräftiger, er fällt auf, und Normans ist verspielt und bunt. Die einzige Frau der Crew heißt Sam. Sie tätowiert nicht. Sie sticht Piercings. Norman scheint der besagte Azubi zu sein und ich bilde mir ein, dass ich ihn schon mal gesehen habe, doch mir fällt nicht ein, wo oder bei welcher Gelegenheit. Casper, Carlos und Sam sind die Inhaber des Shops. Das verrät mir ein Gruppenfoto von der Eröffnung. Cas privater Account ist darauf verlinkt und nach kurzem Zögern lasse ich ihn mir anzeigen: thenotsofriendlycas.

Ich verstehe die Anspielung auf den kleinen Geist und kann nicht sagen, dass der Name zu Cas passt. Mir kam er durchaus sehr freundlich vor. Sein Profil ist anders als das seines Shops. Natürlich sind auch hier Tattoos vertreten, aber meist nur die, die er auf seiner Haut trägt. Skizzen von Bleistiftzeichnungen, Entwürfe und abstrakte Bilder auf Leinwänden. Momentaufnahmen von chilligen Abenden oder das ein oder andere Partybild. Mit Freunden auf Festivals. Das gelegentliche Selfie. An Letzteren bleibe ich länger hängen, als mir lieb ist. Ich kann mich gerade noch bremsen, als ich automatisch auf das Herz drücken will. Das fehlt mir noch. Dass Cas glaubt, dass ich ihn stalke, nachdem er mir einen Kaffee spendiert hat. Er wollte nur der Allgemeinheit einen Gefallen damit tun. Nicht mich näher kennenlernen. Ehe ich ihm noch aus Versehen folge, sperre ich mein Telefon.

Im schwarzen Display spiegelt sich mein Gesicht. Ich betrachte es und sehe in meine Augen. Abermals sehe ich Cas vor mir, wie er mir gegenübersaß und sie faszinierend fand. Einem Impuls folgend, öffne ich die Kamera und schieße ein Foto. Eines, wie es sonst nicht meine Art ist. Ich lade es mit dem Untertitel »Behind Blue Eyes« auf Instagram hoch.

5 Enigma – lat., Nomen; eine Person, die schwer zu entschlüsseln ist, die ein Rätsel ist

Donnerstag, 08. Oktober

Casper