Meant to be - Claudia Balzer - E-Book

Meant to be E-Book

Claudia Balzer

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Beschreibung

Nichts kann die Vergangenheit ungeschehen machen, aber du kannst deine Zukunft selbst bestimmen  Lexis Welt ist die Musik. Da ist sie sicher, kennt sich aus und kann ihre Vergangenheit so gut es geht vergessen. Mit Menschen hat sie es nicht so, scheut ihre Berührungen mehr als alles andere auf der Welt. Doch dann tritt Luke in ihr Leben. Gemeinsam sollen sie einen Song für das Plattenlabel, das Lexi gemeinsam mit ihrem Onkel führt, schreiben. Und so sehr es Lexi vor der Zusammenarbeit graut, so sehr ist sie überrascht, dass sie Lukes Brührungen nicht fürchtet, sondern sogar genießt. Aber ihre Vergangenheit holt Lexi unaufhaltsam ein und sie weiß nicht, ob sie Luke vollends vertrauen kann.

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Seitenzahl: 463

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Die Autorin Claudia Balzer, Jahrgang 1987, wuchs vor den Toren Dresdens auf, wo sie noch heute mit Mann, Kind und zwei Katzen lebt. Schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren hat sie sich in den Kopf gesetzt, ein Buch zu veröffentlichen, bevor sie dreißig wird. Dass sie ihr Ziel sogar deutlich vor ihrem dreißigsten Geburtstag erreicht hat, verdankt sie nicht nur einem ausgeprägten Hang zur Nachtaktivität, sondern vor allem ihrem Lieblingsgetränk: Kaffee.

Das Buch

Nichts kann die Vergangenheit ungeschehen machen, aber du kannst deine Zukunft selbst bestimmen

Lexis Welt ist die Musik. Da ist sie sicher, kennt sich aus und kann ihre Vergangenheit so gut es geht vergessen. Mit Menschen hat sie es nicht so, scheut ihre Berührungen mehr als alles andere auf der Welt. Doch dann tritt Luke in ihr Leben. Gemeinsam sollen sie einen Song für das Plattenlabel, das Lexi gemeinsam mit ihrem Onkel führt, schreiben. Und so sehr es Lexi vor der Zusammenarbeit graut, so sehr ist sie überrascht, dass sie Lukes Brührungen nicht fürchtet, sondern sogar genießt. Aber ihre Vergangenheit holt Lexi unaufhaltsam ein und sie weiß nicht, ob sie Luke vollends vertrauen kann.

Von Claudia Balzer sind bei Forever erschienen:  In der Burn-Reihe: Burn for Love - Brennende Küsse Burn for You - Brennende Herzen Burn for Us - Brennende Leidenschaft Flying Hearts

Claudia Balzer

Meant to be

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2018 (1)   © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat   ISBN 978-3-95818-208-0   Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Prolog

Lexi

Sieben Jahre zuvor

Das Büro meines Onkels Mike spiegelt seinen Charakter eins zu eins wider. Chaos, wo man hinsieht. Überall liegen Demo-CDs, Musterverträge, Textschnipsel, verworfene und zerknüllte Notenblätter und Essensreste aus der Kreidezeit. Chaos, aber das Ebenbild des leidenschaftlichen Musikers, der er ohne Zweifel ist – obwohl das Klavier in der Ecke scheinbar achtlos mit Zetteln überladen ist. Mike liebt es, neue Talente zu entdecken und zu fördern. Er ist meist derjenige, der sie aus einem Tief oder einer Blockade holt und ihnen ihre Leidenschaft zurückgibt. Es ist faszinierend, aber nicht verwunderlich, denn er stammt aus einer Musikerfamilie. Meine Großeltern waren bekannte Pianisten und Sänger, zumindest wird mir das immer erzählt. Ich habe sie nie kennengelernt. Ich war zu klein, als sie starben, als dass ich mich an sie erinnern könnte.

»Hi Alexandra«, grüßt Mikes Assistent, den er eingestellt hat, als er vor ein paar Monaten zum Producer aufgestiegen ist. Ich ignoriere ihn und sehe zur Seite, sodass es aussieht, als ob ich ihn nicht bemerke. Meine Kopfhörer bieten mir ein ausreichendes Alibi, obwohl keine Musik darüber spielt. Leider sind die Tonüberträger nicht schalldicht und ich kann mich nicht komplett von der Welt abschotten. Dafür fehlt mir das Geld und Mike frage ich nicht. Ihm bin ich zu ewigem Dank verpflichtet, dass er mich mit seinen fünfunddreißig bei sich aufgenommen hat, damit ich die Schule beenden kann. Ich plane, ihm nicht länger als zwei Jahre auf der Tasche zu liegen.

Der Assistent begreift, dass ich ihn nicht höre, oder es in diesem Fall nicht will, und legt seine Mappe auf Mikes Schreibtisch ab, bevor er wortlos das Büro verlässt. Nach einem tiefen Durchatmen entspanne ich mich wieder und male weiter im Notizheft herum. Als ich die Skizze eines kleinen Hundes beendet habe, sehe ich auf die Uhr. Es ist fast zwanzig Uhr. Vor einer Stunde wollten mein Onkel und ich uns in seinem Büro treffen und essen gehen. Er hat die Verabredung nicht vergessen, dessen bin ich mir sicher. Er hat eher die Zeit um sich herum nicht im Blick. Mich stört es nicht. Die Einzige, mit der ich sonst meine Freizeit verbringen könnte, ist Anna, ihres Zeichens beste Freundin, und sie macht mit ihren Eltern Urlaub im Iran. Sie besuchen ihre Familie.

Meine Familie befindet sich hier in Berlin.

Meine Familie besteht aus Mike.

Der schwarze Ledersessel, auf dem ich mit angezogenen Beinen sitze – der einzige Platz, der vom allgegenwärtigen Chaos befreit ist –, wird bequemer, als er die gesamte Zeit über war. Der Sessel kann sich nicht verändern, das ist mir bewusst, aber meine übermüdeten Muskeln empfinden es so. Ich ziehe mir die Kapuze des Hoodies über Kopf und Kopfhörer. Die zu langen Ärmel ziehe ich über meine Hände und halte den Saum mit den Fingern fest. Den Kopf ruhe ich an der Lehne aus. Das Leder knirscht leise, als ich mich weiter zusammenrolle. Mit ein wenig Glück schlafe ich ein und wache nie wieder auf. Etwas Schöneres kann ich mir zurzeit kaum ausdenken.

Gedankenverloren und übermüdet blättere ich in meinem Notizheft. Ich kenne es auswendig. Jede Skizze, jedes Wort, jede von Tränen verschmierte Stelle, die in den ausgewaschenen Farben der Schrift kleine Kunstwerke bildet.

Der Schlaf scheint mich doch eingeholt zu haben. Zumindest steht Mike auf einmal neben mir und ruft nach mir. Träge richte ich mich auf. Meine Wirbel knacken, als ich den Rücken durchdrücke. Dabei habe ich vergessen, dass das Heft auf meinen Oberschenkeln liegt. Flatternd gleitet es zu Boden. Es bleibt mit der Seite, in der mein Kugelschreiber steckt, offen liegen. Mike sieht es an und greift mit gerunzelter Stirn danach. Wäre ich nicht eben erst aufgewacht, wäre ich vielleicht schnell genug, um ihn daran zu hindern, es aufzuheben. Er blättert darin und mein Herz zieht sich vor Panik zusammen. Es ist der Tritt, den ich brauche, damit meine Gliedmaßen sich in Bewegung setzen. Ich stehe so schnell auf, dass mir kurzzeitig schwarz vor Augen wird. Das eklige Gefühl der Haltlosigkeit ignorierend, finde ich mein Gleichgewicht und greife nach dem Notizheft.

»Nicht!«, protestiere ich lautstark und versuche es ihm zu entreißen. Doch Mike hält es in die Höhe und macht es damit unerreichbar.

»Was … ist das?«, fragt er und ich verstumme. Als das letzte Mal jemand diese Texte gesehen hat, ist es alles andere als erfreulich für mich ausgegangen. In Mikes Stimme schwingt Ungläubigkeit mit. Er blättert zum Anfang zurück und ich gebe meinen Kampf gegen ihn auf. Mit geschlossenen Augen warte ich darauf, dass er eins und eins zusammenzählt. Als sein Atem geräuschvoll stockt, weiß ich, dass er die Verbindungen erkannt hat.

»Lexi!«, ruft er und im Gegensatz zu seiner aufgebrachten Stimme legt sich seine Hand sanft auf meine Schulter. Dennoch zucke ich zusammen und weiche von ihm zurück, als ob er mir eine Ohrfeige verpasst hätte. Mike sieht mich an und dann auf seine Hand. Er will etwas zu dieser Reaktion sagen, aber mit einem kleinen Kopfschütteln verbannt er den Gedanken aus dem Kopf. »Du hast die Songs geschrieben, mit denen dein Vater sein Geld verdient, oder?«, fragt er nüchtern. Meine Augen sind zum Bersten mit Tränen gefüllt. Der Ruck meines knappen Nickens befreit sie und sie fließen unaufhaltsam über meine Wangen.

Wenn man uns beide nebeneinanderstellt, kommt man schnell auf die Idee, dass wir Geschwister sein könnten. Dass ich der Nachzügler bin, den unsere Eltern ungeplant bekommen haben. Aber er ist das Nesthäkchen. Er ist der kleine Bruder meiner Mutter. Oder war es. Redet man überhaupt in der Gegenwartsform, wenn einer der beiden nicht mehr lebt? Wenn ein Ehepartner verstirbt, ist der Verbliebene verwitwet. Wenn Eltern sterben, sind die Kinder Waisen. Aber wie nennt man es, wenn man ein Geschwisterteil verliert? Verliert man dann das Recht, sich Bruder oder Schwester zu nennen? Es ist egal. Mit einem Schluchzen lasse ich mich wieder in den Sessel fallen.

»Warum hast du nichts gesagt?«, fragt mein Onkel und zieht seinen Bürostuhl vor den Sessel. Dass er dabei einige allem Anschein nach wichtige Papiere überrollt, scheint ihm völlig egal zu sein. Meine Beine habe ich mittlerweile wieder angezogen und ich umarme meine Schienbeine. Mein Kinn lege ich auf mein Knie. Ich antworte ihm noch immer nicht, nachdem er mich eine Minute auffordernd betrachtet hat.

»Lexi, warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragt er erneut. Nur die Gewissensbisse in seiner Stimme geben mir den Anstoß zur Antwort.

»Ich … ich hatte Angst und außerdem hat er die Songs abgeändert.«

Mike schnaubt verärgert. Er sieht wieder in mein Heft und ich möchte es ihm mehr denn je entreißen. »Er hätte beim Original bleiben sollen«, erklärt er kopfschüttelnd.

»Wer hätte mir geglaubt, Mike?«, frage ich seufzend und hoffe, das Thema endlich abschließen zu können. Doch ich scheine damit genau ins Wespennest zu stechen.

»Ich!«, poltert es aus ihm heraus und ich zucke zusammen. »Ich hätte dir geglaubt!«, versichert er mit solch einer Inbrunst, dass ich ihm seine Worte fast abnehme.

»Du warst nicht da«, gebe ich zu bedenken und lächle, damit er sich nicht schlecht fühlt. Ich sehe, wie in ihm etwas vor Schmerz zerbricht, und senke meinen Blick. Leid ist das Letzte, was ich ihm zufügen will. Er war nicht da, weil er studiert hat, und das in aller Welt. Er hat bei vielen der Besten sein Handwerk gelernt. Sein persönliches Ziel ist es, in Deutschland eine Musikindustrie zu schaffen, die über den gesamten Globus genauso ernst genommen wird wie die der USA. Obwohl er sagt, dass der asiatische Markt zu Unrecht unterschätzt wird.

»Lexi …« Mikes Stimme ist belegt von Emotionen, die er nicht auf einen Schlag verarbeiten kann. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie ich das Ruder herumreißen kann, um zu einem schöneren Thema zurückzukehren. Daher entgeht mir, dass mein Onkel sich in seinem Stuhl nach vorn neigt und eine Hand auf meinen Unterarm legt. Meine Reaktion dagegen bleibt uns beiden nicht verborgen. Alles an und in mir verkrampft sich so sehr, dass mir das Atmen schwerfällt.

Ich habe vor ein paar Monaten eine Dokumentation über Insekten und Spinnen und all solche Krabbeltiere gesehen. In einer Szene hat eine tropische Spinne ihre Eier unter die Haut einer Frau gelegt. Es musste passieren, was dann passiert ist. Die entzündete Stelle platzte auf und hunderte kleine schwarze Tierchen krabbelten über die Haut. Babyspinnen, so winzig, dass man sie mit bloßem Auge nur als tanzende Punkte wahrnimmt. Es kribbelt, ist unangenehm und man möchte sie vor Ekel von sich schütteln. Die Abscheu lässt Übelkeit aufsteigen, aber man versucht, sich zurückzuhalten. Die kleinen Tierchen bleiben hartnäckig kleben. Nie zuvor habe ich eine bessere Beschreibung dafür gefunden, wie es sich anfühlt, wenn mich jemand berührt. Es ist dabei völlig egal, ob der Kontakt überraschend zustande kommt oder ob ich mich darauf einstellen konnte.

Hass ist gar kein Ausdruck für das, was ich empfinde, wenn mich jemand anfasst. Mein engster Kreis weiß das. Anna und Mike wissen das und dennoch passiert es öfter, als mir lieb ist, dass sie mir, ohne weiter zu überlegen, eine Hand auf die Schulter legen oder mich freudig umarmen. Ihnen fällt meine Angst meist erst ein, wenn es zu spät ist.

Ich kann es verstehen. Es ist nicht die Norm, dass jemand keinerlei Berührungen erträgt.

Ich bin nicht die Norm.

Ich bin abnormal.

»Lexi, hol Luft!«, mahnt Mike. Er sieht so hilflos aus, wie er mich betrachtet. Wie soll er mir helfen? Er kann mich nicht mal tröstend in den Arm nehmen, ohne die Sache schmerzvoller zu machen.

Als ich tief einatme, klinge ich eher wie ein Moped mit Startschwierigkeiten. Heiße Tränen fließen wie kleine Sturzbäche über meine Wangen. Mike beherrscht sich und streicht sie mir nicht aus dem Gesicht. Mit dem Ärmel meines Hoodies wische ich sie störrisch weg.

»Verdammt noch mal.« Mike seufzt und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Während die ergonomisch korrekte Sitzgelegenheit ihn etwas vor und zurück wippt, streicht er sich über das Gesicht. »Ich hätte da sein müssen. Du hast mich gebraucht, als …«

»Können wir nicht einfach essen gehen?«, unterbreche ich flehend. Mein Magen verkrampft sich bei dem Gedanken daran, dass ich etwas zu mir nehme. Mir ist der Hunger gehörig vergangen. Mein Onkel sieht, noch immer zurückgelehnt, zu mir herüber. Nach kurzem Überlegen, das mich mit einer unguten Vorahnung zurücklässt, erhebt er sich und geht zur Tür. Er öffnet sie und beauftragt seinen Assistenten, uns etwas beim Lieblingschinesen zu bestellen. Dann schließt er die Tür, und was meine Vorahnung in Wissen verwandelt, ist die Tatsache, dass er die gläserne Wand und das ebenso durchsichtige Türblatt durch das Herablassen der Jalousien blickdicht werden lässt.

Mike setzt sich und studiert weiter mein Notizheft. Nach der sechsten oder siebten Seite beginnt er an der Spitze seines Daumennagels zu nagen. Er liest die darauf folgende Seite wieder und wieder und wieder. Ich weiß, warum er an genau diesem Lied hängen bleibt. Warum genau dieser Song ihn anspricht. Sein Knie wippt nervös, als er von meiner Handschrift zu mir aufsieht.

»Du hast ihr künstlerisches Talent geerbt«, stellt er aufgewühlt fest. Langsam hält er mir die Schätze, die den Inhalt meines Herzens widerspiegeln, hin.

Zögerlich greife ich danach. Sein Blick gefällt mir nicht.

»Sing es mir vor.«

»Was?«, frage ich entsetzt.

»Sing es mir vor«, wiederholt mein Onkel nüchtern.

»Ich kann nicht singen«, sage ich, als ob er den Verstand verloren hätte.

»Lass mich das bitte beurteilen.« Mike geht zum Klavier und fegt die Papiere mit einer schwungvollen Bewegung seines Armes vom Deckel. Ich beobachte, wie das tote Holz zu Boden sinkt. Er klappt die Verkleidung der Tasten nach oben und sieht wartend herüber. »Bitte«, wiederholt er.

»Mike …« Ich seufze und mache keine Anstalten, mich von dem Sessel zu erheben.

»Lexi, du bist die Tochter meiner Schwester. Du musst eine Melodie im Kopf haben. Lass sie mich hören.«

»Nein«, beharre ich.

Mike setzt einen drauf. Er nimmt den Bilderrahmen von seinem überfüllten Schreibtisch und stellt ihn direkt auf das Klavier. Es wird wehtun, aber ich kann nicht anders, als das Bild anzusehen. Das Foto zeigt mich und meine Mama. Ich muss etwa neun Jahre alt sein. Sie trägt ihr Lieblingskleid, gelb mit dunklen Blumen um den Saum herum. Das Gelb sticht nicht ins Auge. Es ist eine friedvolle, zarte Farbe. Mein früheres, glückliches Ich grinst in die Kamera. Meine Mutter umarmt mich und lächelt liebevoll zu mir hinab. Ich liebe und hasse es zugleich.

»Dann sing es für sie.«

Ich weiß, dass mein Onkel Psychotherapie mit mir betreiben möchte. Nur was erhofft er sich dadurch? Dass ich auf einmal alle Macken ablege und geheilt werde?

Ich bezweifle es stark.

Dennoch erhebe ich mich. Meinen Onkel würdige ich keines Blickes. Ich bin wütend und weiß nicht wieso. Weil er mich dazu drängt? Weil ich es selbst will? Bin ich auf ihn oder mich oder auf die ganze ungerechte Welt wütend? Auf alle Fälle brauche ich ein Ventil, um all das rauszulassen, sonst zerberste ich und das wird nicht schön werden.

Ich setze mich vor das Instrument. Das Bild von meiner Mutter und mir steht direkt vor meinen Augen. Mike hat sein Feingefühl wiedergefunden und schweigt. Im Spiegelbild der Fenster sehe ich, wie er sich auf seinen Stuhl setzt. Mit den Ellbogen stützt er sich auf seine Knie und wartet.

Ich warte, nur weiß ich nicht, auf was. Meine Hände zittern, als ich sie auf die Tasten lege. Mit einem letzten Blick auf das Foto spiele ich das hohe E an. Ein Schauer durchfährt mich. Als ich meine linke Hand ebenfalls auf die Tasten lege, durchfließt mich ein Energiestoß, als ob der beidhändige Kontakt mit dem Instrument einen Kreislauf schließt. Alle Leitungen in mir stehen unter Hochspannung. Die Melodie spielt in meinem Kopf und ich teste aus, wie sie sich am Klavier anhört. Bevor ich die erste Strophe singe, habe ich einen Kloß im Hals. Erst beim dritten Anlauf bricht meine Stimme nicht mehr nach dem ersten Teilsatz.

Nur in meinen Träumen kann ich dich noch sehen

Die Welt dort ist still und freundlich zu uns

Du bist weg und ich muss gehen

Jeder Morgen ist der Erfolg eines grausamen Tributs.

Ich schlage die Augen auf und zähle die Stunden,

bis ich dir gegenübersteh

Jede Nacht verschwindet so schnell wie der erste

Schnee

Die Welt zieht an mir vorbei, bis die Sonne wieder

untergeht

Die Leute sehen nur, dass die Welt sich für mich

weiterdreht.

Die einen sagen feige zu dir, ich sage bravo

Alle schauen weg und ich verschließe meine Augen

nie.

Sie applaudieren deinen Liedern und deinem Cello

Sie ignorieren die Wahrheit darin in blinder

Ironie.

Abends lege ich meinen Kopf in deine Kissen nieder

Ich glaube nicht an Gott, aber bete, dass ich

aufwache. Nie wieder.

Dann verweigert meine Stimme ihren Dienst. Die Worte sind aus mir geflossen, als ob sie ein Teil von mir wären. Wahrscheinlich sind sie es. Ich habe sie schließlich zu Papier gebracht. Zum ersten Mal habe ich sie laut ausgesprochen. Die melancholische Melodie hallt lange in mir nach und auch Mike sagt zunächst nichts. Wenn ich meine Arme ausbreiten würde, würde ich unter Garantie anfangen zu fliegen, so leicht fühle ich mich.

»Lexi … das war großartig«, lobt mich mein Onkel leise, als ich die Tränen wieder einmal aus meinem Gesicht streiche. Mich ihm zuwenden kann ich erst, nachdem ich tief durchgeatmet habe. In seinem Gesicht spiegelt sich das Deckenlicht in der Flüssigkeit auf seinen Wangen. »Deine Mum wäre so verdammt stolz auf dich.«

»Danke«, sage ich leise und kann ihn dabei nicht ansehen. Ich bin erstaunt, wie angeschlagen meine Stimme nach nur einem Song ist. Wir verfallen in ein angenehmes Schweigen und ziehen uns beide in unsere Erinnerungen an sie zurück.

»Du weißt, ich bin nicht wie dein Vater«, wirft Mike nach einer Weile in den Raum und mein Hoch ist schlagartig vorbei. Ich sehe ihn an.

»Natürlich weiß ich das«, versichere ich ihm.

»Wenn du willst, und auch nur dann, könntest du dir vorstellen, Texte professionell zu schreiben?«

Das kommt überfallartig. Meine Songs? Meine Lieder sind meine Art des Tagebuchführens. Das mit anderen teilen? Mein tiefstes Inneres?

»Ich weiß nicht recht«, sage ich ehrlich. Aber es wäre eine Chance. Ich würde Mike nicht mehr auf der Tasche liegen und wäre unabhängig.

»Du hast ein verdammt großes Talent. Verstehe es bitte nicht falsch, dass ich jetzt mit meiner Arbeit anfange, aber ich versuche dir nur zu helfen. Ich habe eine Band unter Vertrag genommen, die sich nicht mehr weiterzuentwickeln scheint.«

Er redet seit Wochen von nichts anderem. Ich weiß, um wen es sich handelt.

»Der Leadsänger ist zu geleckt, zu clean. Ihm fehlen die Ecken und Kanten, das Nahbare … Dein Song, deine Art zu schreiben könnte ihm all das geben. Wenn du bereit wärst, ins Musikgeschäft einzusteigen. Ich verspreche dir, dass ich auf dich aufpasse und es niemals zulassen werde, dass dich jemand ausnutzt.« Mike betrachtet mich, wie ich ihm stillschweigend zuhöre. »Du musst dich nicht gleich entscheiden. Schlafe ein paar Nächte drüber.«

Ich nicke, damit er eine Art Antwort erhält. Es ist eigenartig, dass man selbst als Einziger das Bild nicht sieht, das andere von einem haben.

»Lexi, du hast ihr Talent und bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Es wäre schade, das zu verschwenden. Du könntest es weit bringen, wenn du es willst. Du bist sechzehn, du hast noch eine Menge Zeit, aber ich könnte Kontakte für dich knüpfen, von denen du eine Menge lernen könntest.«

Für heute bleibe ich meinem Onkel die endgültige Entscheidung schuldig. Ich werde meine Mutter diese Nacht fragen, was sie glaubt, was das Beste ist, wenn ich ihr in meinen Träumen wiederbegegne.

1 – Dark Blue

Lexi

Das Dark Blue ist brechend voll, obwohl es ein Donnerstagabend ist. Die After-Work-Party zieht viele der Arbeit überdrüssigen Angestellten an, die das Wochenende zum Greifen nah ahnen. Die meisten holen sich hier die Energie für den letzten Tag der Woche. Ich finde den Aufenthalt mit so vielen Menschen auf so engem Raum eher anstrengend. Meine beste Freundin Anna und ich vergnügen uns am Rande der Tanzfläche. Es ist eine Weile her, dass ich so ausgiebig getanzt habe.

Mit ihren langen dunklen Haare sticht Anna aus der Menge hervor. Ihr leicht exotisches Aussehen stellt für viele einen Blickfang dar, aber das ist Anna egal. Sie besitzt mehr Temperament, als man einer gebürtigen Iranerin normalerweise zutrauen würde. Sie weiß, dass sie bildhübsch ist, und unterstreicht ihre Vorzüge gekonnt, aber sie bildet sich nichts darauf ein. Das macht sie so liebenswert. Alle scheinen mit ihr tanzen zu wollen. Oder mir kommt es nur so vor, weil ich nur mit ihr tanzen will und verkrampfe, sobald uns jemand zu nahe kommt. Zu gerne würde ich über die Tanzfläche fegen, tanzend zum Beat – ohne an das Morgen zu denken. Doch dagegen spricht, dass ich am liebsten eine Haut hätte, die von Augen übersät ist, damit ich jeden im Blick habe, der mir zu nahe kommt.

Aber leider ist dem nicht so und ich muss mich am Rand der Menge begnügen. Anna ist anzusehen, dass sie sich liebend gern ins Getümmel stürzen würde. Der Tanzbereich ist aber so überflutet, dass ich keine Sekunde sicher wäre. Die ständige Angst, dass mich jemand absichtlich oder unabsichtlich berührt, lähmt mich. Der Großteil versteht ein Nein, aber es gibt immer ein paar Sonderexemplare, die sich dadurch eher angestachelt fühlen. Das Risiko, dass ich vor Überwältigung zur Salzsäule erstarre, ist mir zu hoch. Mit einzelnen Vorfällen komme ich zurecht, aber besonders bei Vertretern der männlichen Fraktion ist es schlimm. Auch heute fühlt es sich an, als würde die betroffene Hautstelle mit ätzender Säure überschüttet. Doch über die Jahre habe ich meine Tricks entwickelt, die mir die Besuche in solchen Einrichtungen erträglicher machen. Ich habe Wege gefunden, mit meinem Handicap über die Runden zu kommen, ohne dass ich das Gefühl habe, etwas von meinem Leben zu verpassen. Man arrangiert sich.

Als meine Füße zu protestieren beginnen, weil sie das ausgiebige Tanzen nicht mehr gewöhnt sind, deute ich Anna an, dass ich mich an die Bar zurückziehe und sie eine Runde durch die Menge drehen kann. Sie nickt grinsend und winkt mir zu, ehe sie von der Masse verschluckt wird.

Es gibt diesen einen Fleck neben der Bar, der immer frei zu sein scheint. Genau zwischen dem Ende der Theke und dem Beginn der Stehtische entsteht an der Wand meistens eine Lücke. Ich weiß nicht warum das so ist, aber dieser Platz ist meine erste Anlaufstelle, auch wenn es um einen Ausgangspunkt für meine Arbeit geht. Vielleicht liegt es daran, dass dort oft der Durchgang für die Barkeeper ist – und niemand will es sich mit ihnen verscherzen. Ich bin oft auf Konzerten und in Bars oder ähnlichen Etablissements. Mein Job bringt das automatisch mit sich. Erst recht in letzter Zeit, da ich darauf angewiesen bin, Mike anders als mit meinen Songs zu unterstützen.

Die Worte fließen seit Wochen, ach, was rede ich, seit Monaten nicht mehr. Wenn ich vor einem Klavier sitze oder eine Gitarre in der Hand halte, sind meine Finger steif, als hätten sie nie ein Instrument gespielt. Ich hänge fest und habe keine Ahnung, wie ich mich davon lösen soll. Die Trophäen in Mikes Büro, die meinen Künstlernamen tragen, verspotten mich immer aufs Neue, wenn ich bei ihm antrete. Ich habe über die letzten Jahre genügend verdient, aber es ist nicht das Geld, das mich beschäftigt. Seit ich Songs schreibe, ist dies meine erste Blockade. Vielleicht weiß ich deshalb nicht damit umzugehen und bin darum seit ein paar Wochen zurück in Berlin. Wenn man sich verliert, soll man sich seiner Wurzeln besinnen und dahin zurückkehren, wo alles angefangen hat.

Bisher habe ich davon nichts bemerkt. Meine Reisen haben mir viel Input gegeben und ich habe einen Song nach dem anderen rausgehauen. Seit einem knappen halben Jahr ist das anders. Es gab keinen Auslöser oder einen Grund, den ich benennen könnte. Die Worte wollten nicht mehr durch meinen Kopf in meine Hand und dann aufs Papier. Selbst das Komponieren stockt. Mike und Anna sagen, dass ich ausgebrannt bin und ein paar Gänge zurückschalten soll. Aber ich weiß nicht, was ich stattdessen mit meiner Zeit anstellen soll. Seit dem achtzehnten Geburtstag habe ich nonstop gearbeitet. Das sind inzwischen fünf Jahre. Vielleicht haben sie recht, vielleicht aber auch nicht. Für mich fühlt es sich eher an, als ob ich alles, über das es sich zu schreiben lohnt, bereits zu Papier gebracht habe.

Ich schüttle kurz den Kopf und versuche, aus meinen melancholischen Gedanken aufzuwachen. Ich lasse meinen Blick wieder durch das Dark Blue schweifen. Mit etwas Glück hat die Inspiration sich entschlossen, heute Abend zu mir zurückzukehren.

Die Bar hat sich über die Jahre verändert. Wände wurden eingerissen, damit die Bühne vergrößert werden konnte. Die Wandverkleidung wurde entfernt und das alte Mauerwerk mit den roten Backsteinen verleiht allem einen industriellen Touch. In Amerika habe ich diese Gebäude gehasst, aber hier in Berlin wirkt es authentisch und das Konzept überzeugt. Dass sich der Inhaber diesen umfangreichen Umbau leisten konnte, liegt nicht zuletzt an Mike und mir. Nachdem immer mehr Künstler Interesse an meinen Texten und Kompositionen bekommen hatten, haben wir an dem Tag, an dem ich volljährig wurde, unser eigenes Label gegründet. Wir sind ein vergleichsweise kleines Unternehmen, aber beliebt bei Bands und Solosängern. In den letzten Jahren haben wir allein über Auftritte im Dark Blue fünf Künstler unter Vertrag genommen, die sich zufriedenstellend in den Charts und in ihrer eigenen kleinen Community machen.

Heute folgt vielleicht Nummer fünf. Auf diese vier Jungs bin ich gespannt. Mike hat mir nichts von ihnen vorgespielt – er ist der Meinung, dass ich mich selbst von ihnen überzeugen muss. Das hat er noch nie getan. Aber das ist nicht das Einzige, das an dieser Band anders ist. Andere, zum Teil um einiges größere Plattenfirmen haben ihnen Verträge angeboten, aber sie haben abgelehnt. Unzählige Telefonate sind nötig gewesen, bis ich den Grund erfahren habe.

Die Jungs gibt es nur mit Anhang. Sie verlangen, dass ihr Songwriter ebenfalls einen Vertrag bekommt. Das ist eher unüblich. Unüblich, weil die meisten Texter als Freelancer arbeiten. Sicher gibt es auch hauseigene, aber das gleich als Newcomer zur Bedingung zu machen? Ich selbst biete meine Werke nicht nur unseren Künstlern im Label an. Meine Songs, solange mir denn welche einfallen, wurden nach Amerika, Großbritannien und in Deutschland verkauft. Ich schreibe inzwischen neben deutschen Songs auch englische. Aber noch mehr habe ich anderen dabei geholfen, ihre Stimme in den Texten zu zeigen. Umso makabrer, dass ich meine eigene in meinen nicht mehr zu finden scheine. Diese Band bekommt von mir allein dafür schon Pluspunkte, dass sie ihren Freund nicht zurücklassen und ihm ebenfalls einen Einstieg verschaffen wollen.

Bis ich mich davon überzeugen kann, dass sie die Umstände wert sind, ist etwas Geduld gefragt. Sie treten erst um halb elf auf. Die stickige Luft hat mich inzwischen durstig gemacht. Otto, der Barkeeper, und ich haben zusammen die Schulbank gedrückt und gemeinsam unsere Erdkundelehrerin überlebt. So eine Erfahrung prägt, sodass man den anderen selbst Jahre nach dem Abschluss solidarisch unterstützt. Sobald er in meine Richtung sieht, hebe ich die Hand und mache mich bemerkbar, und obwohl er von den ausgetrockneten Gästen überrannt wird, bedient er mich bevorzugt. Er gießt mir nicht nur ein Glas Wasser oder einen Softdrink ein, nein, er serviert mir ein buntes Getränk, das mit frischer Ananas und Orange garniert ist. Er weiß, dass ich keinen Alkohol mehr trinke, und so ist dieser jungfräuliche Cocktail bedenkenlos zu genießen. Das heißt, wenn ich dazu käme.

»Gott sei Dank«, höre ich Anna nur, als sie mir auch schon das Glas aus der Hand reißt. »Ich bin am Verdursten.« Ein wenig wehleidig und perplex sehe ich zu, wie sie den gesamten Cocktail hinunterkippt.

»Ich hoffe, er hat geschmeckt«, gebe ich trocken von mir. Hilfesuchend sehe ich mich nach Otto um. Er hat das ganze Schauspiel aus dem Augenwinkel beobachtet und grinst nach meinem Geschmack eine Spur zu schadenfroh. Er war damals in Anna verliebt und würde ihr noch heute so einiges durchgehen lassen. Kopfschüttelnd widmet er sich wieder der zahlenden Kundschaft. Wann und ob ich überhaupt einen neuen Durstlöscher von ihm erhalte, steht in den Sternen.

»Was hast du gesagt?«, ruft mir meine beste Freundin, die mir den Tod durch Verdursten zu wünschen scheint, über den lauten Bass hinweg zu.

»Das ist meiner gewesen«, rufe ich zurück und beuge mich ein wenig in ihre Richtung. Damit kein Spielraum für Missverständnisse entsteht, zeige ich auf das leere Glas in ihrer Hand.

»Ups.« Sie lacht ertappt. Während ich mir wenigstens das Obst gönne, kann ich deutlich beobachten, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht steigt. Ich habe ihr diesen unbedachten Stunt in dem Moment verziehen, in dem er passiert ist, aber dennoch darf ich es ein wenig genießen, wenn Anna ihr überstürztes Handeln bewusst wird. Sie sieht sich um, als würde sie in unmittelbarer Nähe eine Lösung für unser Problem finden. Otto ist schwer beschäftigt. Anscheinend will sich jeder stärken, bevor die Band ihren Auftritt hat. Von ihm braucht sie zumindest in den nächsten Minuten keine Hilfe zu erwarten. Aber Anna wäre nicht Anna, wenn sie einfach so aufgeben würde.

Als ich das letzte Stück Obst von dem Glasrand pflücke, verschwindet sie schon damit. Sie sieht sich um, dass keiner der Angestellten sie im Visier hat. Dann schleicht sie an den Rand der Theke, genau an die Stelle, die als Durchgang für die Mitarbeiter dient, und verschafft sich kurzerhand selbst Zutritt. Otto bemerkt sie entweder nicht oder hat sich entschieden, sie zu ignorieren. Er kennt diese Aktionen von ihr noch aus Schulzeiten. Und da ich durch meine Reisen eher mit Abwesenheit geglänzt habe, ist es Anna zuzutrauen, dass sie das nicht zum ersten Mal macht. Sie kehrt, ohne gefasst zu werden, zu mir zurück und drückt mir ein Glas Cola in die Hand. Es ist nicht der schicke Cocktail von eben, aber es befeuchtet meine Kehle.

»Ich habe dich auf der Tanzfläche vermisst«, beklagt sie sich über die Musik hinweg. Anna lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand hinter uns. Ich ahme es ihr nach.

»Ich weiß«, sage ich seufzend. »Ich vermisse es auch«, füge ich leiser hinzu, unsicher, ob meine beste Freundin mich gehört hat. Es ist am Ende egal. Sie weiß, warum ich mich in die Ecken der Konzerthallen verkrieche. Zumindest glaubt sie, annähernd zu wissen, woher diese Macke von mir stammt. Sie kennt nur die Spitze des Eisbergs, und damit schon mehr als jeder andere.

Für ein paar Minuten schweigen wir. Wir sehen den Körpern der Tanzenden zu, wie sie sich mal mehr und mal weniger erfolgreich passend zum Takt bewegen. Ich beneide sie. Der DJ legt erstklassige Lieder auf.

»Sie bauen auf«, ruft Anna vorfreudig und stößt mich lediglich leicht mit ihrem Ellbogen an. Und dennoch. Wie immer katapultiert es die Luft aus meinem Körper. Vor geraumer Zeit habe ich eine Dokumentation über Viehzucht gesehen. Darin wurden die armen Schlachttiere mit einem Bolzenschuss von ihrem Leid erlöst. Auch wenn es mir durchaus besser ergeht als den Tieren, habe ich Parallelen gefunden. Ich bin mein Leben lang zwar nicht in einem zu engen Stall aufgewachsen, den ich mir mit zu vielen anderen Tieren teilen musste, aber die zu enge Hülle meines Körpers sperrt mich mit meinen Gedanken und Gefühlen ein. Jedes Mal, wenn mich jemand berührt, beabsichtigt oder nicht, spüre und sehe ich diesen Bolzenschuss. Den Schuss empfinde ich so real, dass ich am liebsten schreien will. Selbst bei meiner besten Freundin. Über die Jahre habe ich gelernt, solche unbedachten Berührungen wegzuatmen. So auch jetzt. Nachdem sich mein Atem wieder normalisiert hat, folge ich Annas Blick. Sie steht inzwischen auf Zehenspitzen, um der Bühne ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Band »Entgleiste Helden« beginnt damit, ihr Equipment aufzubauen. Über den Namen müssen wir sicher verhandeln, aber ich folge dem Geschehen jetzt ebenfalls gespannt. Auf der Bühne wuseln vier junge Männer herum. Sie könnten zur Crew des Dark Blue gehören, wenn ich sie nicht von ein paar Fotos kennen würde.

Liam, der Leadsänger, sticht am meisten hervor. Seine etwas längeren Haare sind so stark blondiert, dass sie weiß wirken. Nur der minimal dunkle Ansatz verrät seine wirkliche Haarfarbe. Aus der Ferne erkenne ich, dass er seine Augen mit Eyeliner dramatisch in Szene gesetzt hat. Er ist verglichen mit seinen Bandkollegen eher klein. Endlich jemand, der mir auf Augenhöhe begegnet, denke ich grinsend. Liam stellt die Höhe seines Mikros ein und hilft dann seinen Kollegen. Keiner wartet darauf, dass der andere fertig wird, sondern fasst einfach unterstützend mit an. Der Zusammenhalt und die Kommunikation scheinen fließend zu laufen. Eine gute Voraussetzung, wenn sie lange zusammen musizieren wollen.

Der Drummer, Costa, wenn ich mich richtig entsinne, lächelt und grinst dann den Sänger an. So wie Liam in seiner Skinny Jeans und dem übergroßen Shirt auffällt, ist Costa unscheinbar. Er hat naturblonde Haare, die ihm in leichten Wellen bis über die Ohren reichen. Die Frisur erinnert mich an einen Surfer aus Australien. Er streicht sie sich immer wieder aus dem Gesicht. Seine Jeans sitzt eher locker auf seinen Hüften. Das Coldplay-Shirt und die dunkelgraue Sweatjacke machen seine Erscheinung lässig. Er scheint der Typ Kumpel zu sein, der an einem schlechten Tag mit dir trinken geht, dir zuhört und dir dann einen weisen Rat gibt, der dir die Augen öffnet. Das mag reine Hypothese sein, aber es hilft mir, Zugang zu fremden Menschen zu finden.

Dann sind da die eineiigen Zwillinge. Ich kann sie anhand ihrer Instrumente auseinanderhalten. Der Gitarrist ist Gabriel und am Bass steht Raphael. Der zweite Unterschied ist die Haarfarbe. Gabriel scheint seinem natürlichen Mittelbraun treu geblieben zu sein. Raphaels Mähne dagegen ist um einige Nuancen dunkler. Auf kurze Haare steht scheinbar kein Mitglied dieser Band. Im Gegensatz zu Liam und Costa könnten die Zwillinge geradewegs von einem Fotoshooting für ein Hochglanzmagazin kommen. Spätestens seit Oasis hat man im Hinterkopf, dass Geschwister in einer Band nicht unbedingt ideal sind. Selbst die Kelly Family hat sich irgendwann mal getrennt. Allerdings scheinen sie sich im Gegensatz zu den Gallagher-Brüdern meistens noch zu mögen. Die Zwillinge machen auf mich nicht den Eindruck, dass sie sich jeden Moment an den Hals springen und einander nach dem Leben trachten – was mir vorerst genügt.

Über den Rest mache ich mir Gedanken, wenn ich sie näher kennenlerne. Vorausgesetzt, ihre Musik überzeugt mich. Das ist die letzte und wichtigste Hürde, die sie nehmen müssen. Nur ich stehe zwischen ihnen und einem Vertragsangebot unserer Plattenfirma – dann müssen sie es nur noch annehmen. Für das Problem, dass sie ihren Writer unterbringen wollen, hat Mike sich etwas einfallen lassen. Wir wissen nicht, ob ihnen das ausreichen wird. Ich bin gespannt.

»Du wirst ihre Musik mögen«, sagt Anna überzeugt. »Luke, Jakes bester Freund, arbeitet mit ihnen zusammen.« Annas langjähriger Freund Jake ist selbst Künstler und so wundert es mich nicht, dass er Bekanntschaften in diesen Kreisen hat.

»Du hast mir gar nicht erzählt, dass du die Jungs kennst«, rufe ich erstaunt über den Bass hinweg. Anna schüttelt den Kopf.

»Über ein Hallo hat es noch nie hinausgereicht. Aber sie haben einen sehr sympathischen Eindruck hinterlassen.«

Mir schauert es, als immer mehr Menschen sich in das Dark Blue zu quetschen scheinen. Als würde jemand alle Einwohner Berlins genau hier in einen übervollen Koffer pferchen, auf den sich jemand draufsetzen muss, damit der Reißverschluss zugeht. Die Luft zum Atmen wird mir zu knapp und frischer Sauerstoff ist im Moment das höchste Gut, das ich mir vorstellen kann. Wenn der Zustrom nicht bald nachlässt, bezweifle ich, dass ich mich groß auf die Musik der Band konzentrieren kann. Anna scheint der Ansturm auch nicht zu entgehen. Ich spüre ihren Blick schon, bevor ich ihr mein Gesicht zuwende. Ihre Lippen teilen sich und sie will etwas sagen, doch sie stockt. Meine beste Freundin stößt sich von der Wand ab und greift in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Sie zieht ihr Smartphone hervor. Das Display leuchtet auf.

Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, wer sich am anderen Ende der Leitung befindet. Jake, ihr Freund. Ihr seliges Grinsen ist Beweis genug. Er war auf einem mehrtägigen Ausflug mit ein paar Freunden und die beiden haben sich schrecklich vermisst. Wenn man sie zusammen sieht, könnte man meinen, dass sie in der Rosarote-Brille-Phase stecken. Man vermutet nicht, dass sie seit drei Jahren zusammen sind.

Ich weiß, dass ich keine Chance habe, Anna zum Bleiben zu überreden. Würde ich sie bitten, würde sie mir zuliebe bleiben, aber sie würde es nicht genießen können. Sie beendet das Gespräch. Man sieht Anna ihr schlechtes Gewissen an, ehe sie nur ein Wort sagt.

»Es ist ekelhaft, wie verliebt ihr beide seid«, sage ich lächelnd und sie grinst. »Los, zieh schon ab und grüß Jake von mir.«

»Die Schlüssel hast du?«, versichert sie sich freudestrahlend. Mein derzeitiges Zuhause ist ihre oder Mikes Couch. An Tagen, an denen ich lange gearbeitet habe, hat mir auch schon das Besuchersofa im Label gereicht. Es ist sicher keine Geldfrage, aber ich war mir am Anfang unsicher, wie lange mein Aufenthalt in Berlin dauern würde. Ob es nur eine Durchreise ist oder etwas Längeres. Seit einer Woche suche ich nach einer freien Wohnung.

»Ja, habe ich«, bestätige ich und nicke, falls sie mich über den Lärm nicht verstehen kann. Grinsend winkt mir meine beste Freundin zu, ehe sie von dannen zieht.

Als ich sie in der Menge verliere, sehe ich stur auf die Bühne. Ich muss die Leute nur ausblenden. Das natürliche Blinzeln versuche ich zu unterdrücken, bis sich ein Tunnelblick einstellt. Ich beobachte wieder die vier Jungs und sonst nichts und warte darauf, dass sie beginnen und mich von ihrem Können überzeugen.

2 – Der Auftritt

Lexi

Mit dem flachen Rücken presse ich mich gegen die Wand, an der Anna und ich eben locker gelehnt haben. Mir kommt bisher niemand zu nah, aber damit dem so bleibt, versuche ich, mit dem Gemäuer zu verschmelzen. Otto hat mir angeboten, mich hinter den Tresen zu stellen, um einen besseren Blick auf die Bühne zu haben, aber ich habe abgelehnt. Ich habe gesehen, wie beschäftigt er und seine zwei Kolleginnen hin und her eilen und sich oft in die Quere kommen. Das sind mir eindeutig zu viele Körper in zu viel Bewegung auf zu engem Raum. Hier draußen bleibt mir mehr Raum zum Ausweichen als auf dem schmalen Gang zwischen Gläsern und Whiskyflaschen.

Die Entgleisten Helden sind bereit. Die Energie im Raum verlagert sich sofort, als das Licht ausgeht und nur die Bühne beleuchtet wird. Ein einzelner Scheinwerfer ist auf Liam gerichtet, der grinsend in die Menge sieht. Ich bezweifle, dass er jemanden erkennen kann, aber es gehört dazu, wenn man das Publikum begeistern will. Man bezieht sie ein und macht sich nahbar.

»Hallo. Hallo.« Seine Stimme ist heller, als ich erwartet habe. Doch die Sprechstimme muss nichts über die Singstimme aussagen. »Vielen Dank, dass ihr euch an einem Donnerstag hergetraut habt. Aber in den Öffentlich-Rechtlichen läuft schon lange nichts Gescheites mehr um diese Uhrzeit und ihr könnt euch morgen in den Bürostühlen ausruhen, wenn ihr euch durch den letzten Tag der Woche kämpft. Und für alle, die keinen Bürojob haben: Ihr habt meinen Respekt. Lasst uns den Abend rocken und das Beste aus ihm herausholen. Vergesst den Ärger zu Hause. Vergesst den Stress mit eurem Partner. Vergesst eure Probleme. Das alles ist nach dem Konzert auch noch da, aber wer weiß, vielleicht sieht die Welt in zwei Stunden schon ganz anders aus.«

Liam spielt einzelne Akkorde auf seiner Gitarre, während ihm sein Publikum grölend zustimmt. Es ist schwer zu beschreiben, aber diese angespannte Energie im Raum lässt meine Erwartungen an das musikalische Können der vier Jungs steigen und steigen. Die Fans lauschen gespannt auf den ersten Akkord des ersten Songs des Abends.

»Lasst uns den Abend rocken!«, ruft Liam in das Mikro. Über das freudige Geschrei und Gekreische hinweg kann ich den Drummer hören, wie er den Takt mit seinen Sticks vorgibt. Er zählt an und seine Bandkollegen steigen ein. Jeder trifft seinen Einsatz. Sie spielen die ersten Takte im Loop, bis sich die Schreie der Menge gelegt haben und sie die Melodie wahrnehmen können. Erst dann beginnt Liam zu singen – und was soll ich sagen? Seine Stimme ist eindrucksvoll. Auf ein Neues werde ich davon überzeugt, dass Musik etwas Inspirierendes ist. Ein Teil der beklemmenden Anspannung fällt von mir ab und ich richte mich locker auf. Die Wand muss mich nicht mehr stützen. Liam trifft Töne, die selbst für mich schwierig zu halten sind.

An sich erinnert mich das Gesamtbild der Songs an Linkin Park oder Fall Out Boy und ist dabei doch eigen. Ich liebe es. Die ersten beiden Lieder sind ein lockerer, gut gelaunter Einstieg, um die Leute in Stimmung zu bringen. Soweit ich das von meiner Position aus erkennen kann, kann der Großteil der Anwesenden die Texte auswendig. Wenn sie es geschickt anstellen, würde es die Band leicht auch ohne Vertrag weit schaffen. Sie sind fast zu schade für ein großes Label und ich glaube langsam, die Bedingung mit ihrem Songschreiber ist nicht der einzige Grund, warum bisher kein Vertrag zustande gekommen ist. In jeder Note kann man ihren Drang zur Eigenständigkeit heraushören. Produzenten gehen zu Beginn auf Nummer sicher, und erst wenn man ein paar erstklassig verkaufte Alben geliefert hat, kann man nett anfragen, ob man sich selbst verwirklichen kann. Die Entgleisten Helden machen auf mich nicht den Eindruck, als würden sie sich gerne diktieren lassen, was sie zu tun oder zu lassen haben.

Und dennoch will ich sie unter Vertrag nehmen. Ich muss ihnen nur die Vorteile schmackhaft machen, die so eine Verpflichtung mit sich bringt. Sie müssen sich kaum um die Vermarktung kümmern. Sie werden professionell betreut. Sie haben die Studiokosten nicht zu tragen.

Als sich alle auf den Auftritt der Band konzentrieren, nutze ich den Moment und setze mich an die Bar, an der inzwischen weniger Betrieb ist. Otto nickt mir lächelnd zu, während er Gläser reinigt. Ich erwidere das Lächeln und lehne mich gegen die Theke.

Liam dreht inzwischen voll auf. Er ist eindeutig in seinem Element, aber nicht der Einzige im Rampenlicht. Jeder bekommt seinen Moment, ohne dass es erzwungen wirkt. Besonders Gabriels Gitarrensolo ist beeindruckend und reißt die Menge mit. Mehr als einmal verursachen sie mir Gänsehaut oder rühren mich, nur um mich danach mit dem Gefühl zurückzulassen, dass ich alles schaffen kann. Sie sind Künstler mit Herzblut. Selbst wenn sie unser Angebot ausschlagen, mache ich mir keine Sorgen um ihre Zukunft. Dazu sind sie von zu guter Qualität. Und ihre Fans. Es ist ein bunt gemischter Haufen. Anzugträger, Jogginghosenträger, Beautyblogger, Instamädchen und Jungs und Mädchen von nebenan – sie vereinen alle. Als Musikliebhaber lässt das mein Herz aufblühen.

»Lexi!«, ruft Otto in einem ruhigeren Moment zwischen zwei Liedern. Als ich mich ihm zuwende, schiebt er mir einen frischen orangeroten Cocktail über die schwarze Arbeitsplatte. Mit einem breiten Grinsen bedanke ich mich.

Mein Glück ist leider auch dieses Mal nicht von langer Dauer. Ehe meine Finger sich um das kühle Glas schließen können, wird es vor meinen Augen weggeschnappt, sodass sich ein großer Schwapp über den Tresen ergießt. Otto scheint ebenso perplex und betrachtet den Fleck einen Augenblick, bevor er blinzelt. Erst dann greift er nach einem Tuch und beseitigt die Sauerei. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dass Anna zurückgekehrt ist. Doch diese Vermutung bestätigt sich nicht.

In großen Schlucken, sodass sein Kehlkopf deutlich auf und ab hüpft, vernichtet ein Unbekannter meine Saftmischung. Er holt tief Luft, als er den letzten Tropfen hinuntergeschluckt hat, stellt das Glas ab und lässt mir nur das Zierobst übrig. Sein Augenbrauenpiercing glänzt im Licht der Bar. Ich habe die Vermutung, dass er und Anna sich verstehen würden.

»Sorry«, sagt er außer Atem. »Ich war am Verdursten.«

»Ich ebenfalls«, sage ich knapp. Ehe ich mich Otto zuwende und frage, ob er mir ein drittes Getränk mixen kann, lasse ich meinen Blick über den dreist grinsenden Fremden schweifen. Seine dunklen Augen, die in dem schummrigen Licht der Bar schwarz erscheinen, sind das hervorstechendste Merkmal. Er ist einen knappen Kopf größer als ich. Annas Haut ist durch ihre südländische Abstammung immer gebräunt, obwohl sie weniger zu den Sonnenanbetern gehört. Seine Haut ist noch dunkler. Die Beleuchtung im Dark Blue lässt sie bronzefarben schimmern. Er erinnert mich sehr an den Rennfahrer Lewis Hamilton. Sein Dreitagebart steht kurz vor der Grenze zum Ungepflegtsein. Seine Haare dagegen sind auf den Punkt genau gestylt und gebändigt. Die schwarze Mähne ist an den Seiten kurz geschoren und oben schwungvoll nach hinten gelegt. Seine markanten Gesichtszüge würde ich als europäisch bezeichnen. In ihm scheint so viel Geschichte zu stecken, dass allein das ihn interessant macht.

»Otto, bist du noch mal so lieb?«, frage ich meinen ehemaligen Klassenkameraden, ehe mein Anstarren des Fremden zu merkwürdig wird und er sich einbildet, dass ihm allein aufgrund seines Aussehens verziehen ist. »Aller guten Dinge sind drei.« Ich seufze und weiß nicht mal, ob die Worte an Otto gerichtet sind oder ob ich mit mir selbst spreche. Otto nickt grinsend und greift nach dem Glas.

»Ich bezahle«, ruft der Typ neben mir Otto über den Tresen zu. Soll es am Ende gönnerhaft klingen?

»Nicht nötig«, sagen Otto und ich unisono. Der Unbekannte sieht uns belustigt an. Ich ignoriere ihn und hoffe, dass er von alleine wieder verschwindet. Selbst wenn er optisch punkten kann, muss er einiges mehr zu bieten haben, wenn er seinen ersten Eindruck wiedergutmachen will.

»Hier, Lexi«, sagt Otto. Er schiebt mir erneut einen Cocktail zu und achtet darauf, dass er erst loslässt, als das Glas sicher zwischen meinen Händen steht. »Luke, Finger weg!«, ermahnt Otto mit erhobenem Zeigefinger den Mann, der noch immer neben mir steht.

Meine Erinnerung meldet sich zu Wort, als ich seinen Namen höre. Das Getränk ist köstlich und bleibt mir dennoch fast im Halse stecken. Luke. Anna hat vorhin etwas von einem Luke erzählt. Der Songwriter!

Otto grinst Luke hämisch an. Dieser betrachtet ihn irritiert und immer verunsicherter. »Alles in Ordnung?«, fragt er Otto.

»Ich sollte euch vielleicht miteinander bekannt machen«, erklärt Otto. Ich möchte ihm seine Schadenfreude aus dem Gesicht wischen. »Lexi, das ist Luke Noack.«

Ich nicke knapp und wünsche mir, dass Otto doch etwas Alkohol in mein Getränk geschmuggelt hätte.

»Luke, das ist Alexandra Berger.«

»Hey«, richtet Luke seinen Gruß an mich. Er rätselt, ob er mich kennen sollte, oder er ist froh, dass er einen Grund hat, sich Ottos Blick zu entziehen. Dieser zieht den Moment seiner Schadenfreude unnötig in die Länge. Mit einem genervten Blick bewege ich ihn dazu, endlich auf den Punkt zu kommen.

»Lexi und ihrem Onkel gehört AlMik-Records«, setzt er Luke in Kenntnis und wartet gespannt, bis seine Information gesackt ist. Luke atmet hörbar ein und sein Blick durchbohrt mich, obwohl ich noch immer Otto böse anfunkle. Ich glaube sogar, ein leises »Fuck« zu vernehmen.

»Entschuldige, dass ich dir einfach deinen Drink geklaut habe«, sagt Luke überstürzt und klingt tatsächlich, als würde es ihm leidtun. Er hält mir seine Hand entgegen. Ich kann nur darauf starren. Ich kann seine Geste nicht erwidern. Alles in mir sträubt sich dagegen, die Haut eines anderen zu berühren. Fast entschuldige ich mich für mein Verhalten.

Lukes Finger entspannen sich und bilden eine lockere Faust. Verunsichert lässt er seine Hand sinken. Er glaubt sicher, dass er die Chance auf einen Vertrag im Label geschmälert hat. Dabei kann er nichts dafür. Ich vermute hingegen fast, dass es seinem Ego guttut, einen Dämpfer zu bekommen. Luke atmet erneut durch, ehe er seine Worte wieder an mich richtet. Es ist erstaunlich, was man inmitten eines Konzertes alles wahrnimmt, wenn man sich auf eine Person konzentriert.

»Was hältst du von den Jungs?«, fragt er und erkämpft sich seine Selbstsicherheit zurück. Er sieht seinen Freunden einen Augenblick dabei zu, wie sie auf der Bühne Spaß haben.

»Ich finde sie nicht schlecht«, erwidere ich. Luke seufzt und glaubt sicher, dass er endgültig bei mir unten durch ist. Er wendet sich an Otto.

»Haben sie schon den neuen Song gespielt?«, fragt er müde. Der Barkeeper reicht ihm ein Bier. Luke scheint des Öfteren hier aufzuschlagen. Oder er hat Otto unbemerkt ein Zeichen gegeben, dass er ihm eins zapfen soll. Meine Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, dass Luke mir nicht zu nah kommt – da kann es passieren, dass mir das eine oder andere entgeht. Otto lehnt sich mit seinen Unterarmen auf die Arbeitsplatte. Anscheinend wollen die beiden ihr Gespräch vertiefen. Oder Otto will weiter gaffen, wie sich diese Katastrophe zwischen Luke und mir entwickelt.

»Du meinst den Song, den du geschrieben hast?«, fragt Otto und wirft mir einen bedeutungsschweren Seitenblick zu. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder der Bühne zu und mache meinen Job und bilde mir mein Urteil über die vier Musiker. »Nein, Liam hat gesagt, dass er ihn erst spielt, wenn das Feeling stimmt. Was auch immer er damit meint.« Als hätte der Sänger nur darauf gewartet, hält die Band inne, als sie den letzten Song beendet haben.

»Heute haben wir euch etwas Neues mitgebracht«, verkündet Liam und einer der Zwillinge bringt ihm einen hohen Hocker. Ihm wird ebenfalls eine Akustikgitarre gereicht. Gespannt richte ich mich auf und vereinzelte Jubelrufe ertönen aus dem Publikum. Liam dankt dem Zwilling mit einem lächelnden Nicken. Ich bin zu neugierig auf das Kommende, um mich darauf zu konzentrieren, um welchen der beiden sich handelt. Beide Zwillinge legen die Hände auf den Körper ihrer Instrumente. Es sieht nicht so aus, als ob sie sie auf klassische Weise spielen werden.

»Ihr kennt die Lieder, die Luke uns schreibt.« Liam muss eine Pause einlegen, weil viele in Vorfreude rufen, grölen und pfeifen. »Ist ja gut. Ich weiß, wie sehr ihr seine Songs liebt.« Liam lacht und bedeutet den Fans, sich zu beruhigen. »Dann will ich euch gar nicht weiter auf die Folter spannen, obwohl ich euch noch so viel darüber erzählen wollte. Aber es ist wohl besser, wenn wir das Lied für sich sprechen lassen. Wundert euch nicht. Es ist unser erster nicht-deutscher Song.«

Lukes Blick folgt mir, als ich mich einen Schritt von der Bar entferne. Otto hält ihn locker an der Schulter zurück und bedeutet ihm, mir meinen Freiraum zu geben. Als ich mir sicher bin, dass er mir nicht auf die Pelle rückt, blicke ich nach vorne. Costa gibt einen Rhythmus vor und ich schließe die Augen. Dann werden wir mal hören, was Luke draufhat und was so originell an ihm sein soll, dass die Band für ihn so viele Möglichkeiten ausschlägt.

Costas Rhythmus wird bald von Klopfen und Streichen über Gitarren begleitet. Die Zwillinge. Das Lied baut sich langsam auf. Es ist unaufgeregt und trotzdem zieht es einen in seinen Bann. Liam zupft leise Akkorde, die dem Rhythmus eine Melodie geben. Ich fühle mich nackt. Genau so baue ich meine eigenen Songs auf: Rhythmus. Melodie. Text.

Es ist entwaffnend und pures Gefühl. Fast ergreife ich die Flucht, als Liams schonungslos ehrliche Stimme einsetzt und mir alles zu viel zu werden droht. Ich spüre die Aufregung in mir, die ich nur empfinde, kurz bevor mich eine Inspirationswelle heimsucht. Es ist nicht stark genug, dass ich mich mit meiner Gitarre in ein Zimmer einschließen und mein Herz auf Papier bluten lassen will. Aber das Kribbeln geht in die richtige Richtung.

First you forgot about the small things,

then you forgot about me.

I was helpless as you got frustrated with yourself

It took me a second to realise it was fear that numbed you

If eyes are mirrors to the soul

Then you lost yours along the way

There is nothing but lost space that’s looking back at me.

When you look at me I don’t see you anymore

But there are moments I feel a ray of hope

With the next blink of your eyes they’re gone

Such moments are few and far between

But I live for them and I hope you remember me.

Die Strophen reimen sich kaum, was ungewöhnlich ist, aber nicht unmöglich, wenn das Gesamtpaket stimmt. Hier stimmt es eindeutig. Es ist, als ob Liam eine Geschichte erzählt. Ich öffne meine Augen und sehe ein Meer aus erleuchteten Smartphonedisplays vor mir. Die Fans strecken sie in die Höhe und wiegen sie im Takt der Melodie langsam hin und her. Der Anblick ist besonders beeindruckend, da der Lichttechniker alle anderen Beleuchtungen um die Bühne herum gelöscht hat. Nur das blaue Neonlicht der Bar spiegelt sich auf den Rücken der letzten Fans vor mir. Nur ein einzelnes Spotlight ist auf Liam gerichtet.

Es ist einer dieser sagenhaften Momente eines Konzerts, den man nicht so leicht vergisst. Liam mag derjenige sein, der das Lied zum Leben erweckt und ihm eine Stimme gibt, aber geboren hat es Luke. Ich sehe über meine Schulter zu ihm. Seine Stirn ist in gespannte Sorgenfalten gezogen. Das locker Freudige ist aus seinen Gesichtszügen gewichen. Er sieht aus, als ob er aufgehört hat zu atmen und jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren kann. Otto wartet gespannt auf meine Reaktion.

Meine Wangen werden von Wärme durchflutet, als ich ihnen zulächele und nicke. Otto klopft Luke in einer Ich-habe-es-dir-doch-gesagt-Geste auf die Schulter und widmet sich einem durstigen Gast.

Und Luke? Luke atmet so befreit auf, dass ich glaube, dass er gleich vor Erleichterung zu schweben beginnt.

3 – Alexandra

Luke

Ihr Lächeln löst mehr als nur die Erleichterung, die ich empfinden sollte, in mir aus. Wenn in Filmen Zeitreisen oder Schwindelanfälle visualisiert werden, dann verschwimmt das Bild meist und man sieht den Darsteller doppelt bis dreifach. Erst wenn er wieder in den Fokus rückt, sieht man ihn wieder scharf und er kann klar denken. Ich weiß jetzt, woher die Filmemacher diese Idee ursprünglich genommen haben. Von so einem Moment, wie er mir eben widerfahren ist. Erst als Otto mir erneut auf den Oberarm klopft, bin ich endgültig zurückgekehrt.

»Zum Nervenberuhigen«, erklärt er und schiebt mir einen Shot über den Tresen.

»Mach zwei draus«, sage ich und deute unwirsch in Lexis Richtung. Ottos sonst freudvolles Gemüt bröckelt, als ob er in eine der Zitronen gebissen hätte, die neben ihm für die Cocktails bereitliegen.

»Lexi trinkt keinen Alkohol … mehr«, informiert er mich und fügt das letzte Wort eher zögerlich hinzu, unschlüssig, ob er mir diese Information weitergeben soll. Er mustert mich und entscheidet sich dafür, mir mehr zu erzählen. Er lehnt sich noch einmal über die Bar, damit keines seiner Worte in der Musik verloren geht. »Sei vorsichtig mit ihr.«

»Warum?«, will ich wissen. Seine Warnung ist keine eifersüchtige Drohung, dass ich meine Finger von ihr lassen soll. Es ist eher ein Rat. Wen von uns beiden er schützen will, kann ich nicht heraushören, aber dass genau das mein Interesse weckt, muss ich niemandem erklären. Otto scheint doch zu bereuen, dass er etwas gesagt hat, als er in ihre Richtung sieht. Er richtet sich wieder auf. Sein Mund öffnet sich mehrmals, als ob er nach den richtigen Worten sucht und sie schlichtweg nicht findet. Er klopft leicht mit einer Faust auf den Tresen und wendet sich von mir ab, ehe ihn doch die Wortkotze überkommt.

Im nächsten Augenblick lehnt sich Lexi schon wieder an ihren alten Platz neben mir. Ich muss nicht aufsehen, damit mir das klar ist. Mein Körper hat sich nach ihren Bewegungen ausgerichtet und ich weiß nicht mal, wann das passiert ist. Es wäre auf so vielen Ebenen falsch, wenn ich mich für die Person interessieren würde, die zwischen den Jungs und einem Vertrag steht. Wenn unsere Zukunft davon abhängt, ob ich meine Hose oben behalte oder nicht, hänge ich mir mit überschwänglicher Freude ein Vorhängeschloss an meinen Reißverschluss. Ich spüre ihren Blick auf mir, aber er schweift bald weiter zur Band und zu dem Publikum.