Kampf der Herzen - Kresley Cole - E-Book

Kampf der Herzen E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Eine dunkle Begierde

London, 1856. Ethan McCarrick hat der Liebe vor Jahren abgeschworen, als er zu Unrecht beschuldigt wurde, Sylvie Van Rowen verführt zu haben. Die Rache des Ehemanns entstellte Ethan so an Körper und Seele, dass er glaubte, nie wieder eine Frau zu finden, die ihn lieben kann. Das ändert sich jedoch, als er die wunderschöne und geheimnisvolle Madeleine trifft, zu der er sich sofort hingezogen fühlt. Als er aber erfährt, dass sie die Tochter der Van Rowens ist, überschattet sein Wunsch nach Vergeltung alle anderen Gefühle. Madeleine kommt ihm gerade recht für seine weiteren Pläne — denn nichts ist süßer als Rache, oder?

"Mit Energie und Leidenschaft bringt Kresley Cole die MacCarrick-Trilogie zu einem fulminanten Abschluss! Der Roman packt einen bis zum Ende!" Romantic Times





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Seitenzahl: 527

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungZitateProlog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546EpilogDanksagungDie AutorinDie Romane von Kresley Cole bei LYXImpressum

KRESLEY COLE

Kampf der Herzen

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

Zu diesem Buch

Als junger Mann musste Ethan MacCarrick großes Unrecht erfahren. Nach einer vermeintlichen Affäre mit Sylvie Van Rowen nahm der Ehemann grausam Rache. Er ließ Ethan so brutal foltern und zusammenschlagen, dass dieser Narben an Leib und Seele davontrug. Zehn Jahre sind nun vergangen, seit Ethan allen Gefühlen abgeschworen hat – bis er zufällig auf einem Ball in London einer faszinierenden Fremden begegnet. Zwischen den beiden brandet eine Leidenschaft auf, die in Ethan Schmerz und Sehnsucht gleichermaßen weckt. Nie hat er eine solch schöne und starke Frau getroffen, und noch nie war er sich seines entstellten Äußeren deutlicher bewusst. Als Ethan jedoch erfährt, dass die sinnliche Fremde niemand anders als Madeleine van Rowen ist, die Tochter seines ärgsten Feindes, kochen all die Wut und all der Groll, die schon so lange in dem düsteren Schotten brodeln, hoch. Ethan ist beseelt von dem Wunsch nach Rache, und Maddy kommt ihm gerade recht für seine Pläne. Doch so sehr er sich sträubt, die leidenschaftlichen Gefühle für die junge Frau lassen sich nicht so einfach unterdrücken. Aber welche Zukunft können sie haben, wenn die Vergangenheit so schwer wiegt?

Meinen Leserinnen gewidmet …

weil sie das Leben der MacCarricks mit mir teilen,

wofür ich ihnen zutiefst dankbar bin.

Die Liebe einer guten Frau?

Die einen verruchten Mann wie mich retten soll?

Niemals … denn eine solche Frau ist noch nicht geboren, die so gut ist, dass sie mich retten kann.

– ETHAN ROSS MACCARRICK,

OBERHAUPTDESMACCARRICK-CLANS,

ACHTEREARL OF KAVANAGH

Ich habe es nicht gestohlen – das schwöre ich!

Oh, als ob Ihnen noch nie was in die Tasche gefallen wäre!

– MADELEINE ISOBELVANROWEN,

GELEGENHEITSDIEBIN

Prolog

Iveley Hall, Buxton, England, Frühjahr 1846

Sie ist schön. Ethan MacCarrick wusste, dass es nur eine Vermutung sein konnte, denn nach wie vor trübte der reichlich genossene Whisky sein Wahrnehmungsvermögen. Und der ließ alle Frauen schön und verführerisch aussehen – da war die gelangweilte Ehefrau, mit der er die Nacht verbringen würde, keine Ausnahme.

Eine halbe Stunde war er durch die vom Wind gepeitschte Nacht zu ihrem Haus geritten, dennoch fühlte er sich immer noch betrunken, und sein Rausch schien sogar noch stärker geworden zu sein.

Auf jeden Fall benimmt sie sich so, als sei sie hübsch, dachte er, während er seine Jacke auszog und auf die Chaiselongue warf, sie jedoch verfehlte. Sogar in seinem benommenen Zustand nahm er jene seichte Albernheit wahr, die ein Mann bei einer Frau nur dann tolerierte, wenn sie eine wirkliche Schönheit war. Außerdem besaß sie genug Selbstvertrauen, sonst hätte sie ihn nicht im Schankraum dieser Spelunke in Buxton angesprochen. Sie hatte nicht im Mindesten daran gezweifelt, dass er einverstanden sein würde, die Nacht mit ihr zu verbringen.

Sie sprach mit französischem Akzent, und sie war recht groß, zumindest glaubte er das, denn sie räkelte sich bereits auf dem breiten Bett. In der Spelunke hatte er nur für den kurzen Moment neben ihr gestanden, in dem sie ihm das nach einem teuren Parfüm duftende Stück Papier mit der Wegbeschreibung zu ihrem Haus zugesteckt hatte. Dabei hatte sie ihm zugeflüstert, diskret zu sein, und was sie mit ihm zu tun gedachte, wäre er erst bei ihr.

Ethan war ein heißblütiger Mann von dreiundzwanzig Jahren – und ihre verruchten Absichten entsprachen genau dem, was er wollte.

Als er das luxuriöse Schlafzimmer durchquerte, um sich an dem auf einem Tisch bereitstehenden Whisky zu bedienen, kniete sie sich im Bett hin. »Haben Sie eine Viertelstunde abgewartet, nachdem ich mit meiner Zofe gegangen war?« Sie fürchtete, ihr Ehemann könnte nach der Rückkehr von seiner Reise von der Indiskretion seiner Frau erfahren.

»Aye, das habe ich«, entgegnete Ethan und schenkte sich einen Whisky ein. Er hätte sie so oder so nicht begleitet, weil für ihn die erste Faustregel eines Lebemanns galt: Reite immer mit deinem eigenen Pferd zu dem Rendezvous mit der Frau, mit der du schlafen willst, damit du sie verlassen kannst, wann es dir am liebsten ist. Sonst wird sie dich die ganze Nacht nicht gehen lassen.

Ethan verabscheute Frauen, die sich an einen Mann klammerten.

»Hat jemand Sie herkommen sehen?«, fragte sie.

»Keine Menschenseele.«

»Mein Mann darf keinesfalls erfahren, dass …«

»Das reicht!« Sie ging ihm bereits jetzt schon auf die Nerven, und er hatte sie noch nicht mal angefasst. »Sie sind nicht die erste verheiratete Frau, mit der ich zusammen bin«, erklärte er. »Ich habe so was schon oft gemacht.«

»Ja, natürlich haben Sie das«, stimmte sie ihm hastig zu. Als er sich ihr endlich näherte, flüsterte sie: »Du bist so ein gut aussehender junger Teufel, Ethan. So groß und so stark.«

Er trank wieder einen Schluck und schaute nachdenklich in sein Glas, als sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. Ihren Namen hatte er nicht richtig verstanden, als sie ihn ihm in der Schenke ins Ohr gehaucht hatte. Denn gleich darauf hatte sie ihm beschrieben, wie sie vor ihm knien und ihn verwöhnen wollte. »Junger Teufel? Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie so viel älter sind als ich«, erwiderte er, als er vor ihrem Bett stand.

»Nur ein bisschen«, meinte sie lachend. Er konnte ihr Gesicht jetzt deutlicher sehen, es passte zu einer Frau Anfang dreißig und war recht gefällig. »Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will. Und als ich dich sah, wusste ich, dich will ich haben.« Sie nahm ihm das Glas ab und stellte es auf den Nachttisch. »Aber ich möchte wetten, die Frauen werfen sich dir in Scharen zu Füßen, nicht wahr?«

»Wo ich gehe und stehe«, antwortete er und versuchte gar nicht erst, seine Arroganz zu überspielen. Es stimmte ja auch. Er war ein junger, reicher Laird, und den Frauen gefiel sein Aussehen. Zudem schien es, als begehrten sie ihn umso mehr, je betrunkener er war und je herzloser er sich gab.

»Wäre ich es also nicht gewesen, dann hätte es jede andere Frau in der Schenke sein können? Verstehe ich das richtig?«

»Absolut«, bestätigte er. Als er die Taverne verlassen hatte, hatte ihm das schwarzhaarige Schankmädchen einen enttäuschten Blick zugeworfen, ebenso wie dessen Schwester. Er hatte mit einem Schulterzucken reagiert, als würde es ihn nicht kümmern – was es auch nicht tat. »Ein oder zwei andere Frauen.«

»Warum dann ausgerechnet ich?«, hauchte sie auf der Suche nach einem Kompliment, das er ihr aber nicht machen würde.

»Verheiratete Frauen sind mir lieber, weil sie zweckmäßiger für mich sind.« Von ihnen hörte er nie wieder etwas. Eine verheiratete Frau verschwand als eine von vielen in seiner Erinnerung, und genau so sollte es auch sein. Und wenn ein Ehemann schwach und dumm genug war, sich betrügen zu lassen, dann verdiente er auch nichts Besseres, und Ethan sprang nur zu gern in die Bresche.

»Dann bin ich also nur eine Zweckmäßigkeit?« Verspielt zog sie einen Schmollmund, während sie mit flinken Fingern sein Hemd aufknöpfte.

»Aye, ganz genau.«

Sein verletzender Tonfall schien sie nur noch mehr zu entflammen. »Sag meinen Namen – dein Akzent klingt betörend«, forderte sie ihn auf.

»Ich kenne ihn nicht.«

Sie lächelte ihn an. »Ich heiße Sylvie …«

»Mehr muss ich nicht wissen«, fiel er ihr schroff ins Wort, was sie dazu brachte, vor Verlangen nach Luft zu ringen.

Er war Frauen gewöhnt, die einen kaltherzigen, arroganten Mann in ihrem Bett haben wollten, doch bei ihr kam es ihm so vor, als wünsche sie ihn sich noch grausamer und dominanter. Auf dem Weg hierher hatte er Zeit gehabt, sich die Situation durch den Kopf gehen zu lassen. Und mochte sein Verstand auch vom Alkohol umnebelt gewesen sein, so hatte sein Instinkt ihm gesagt, dass irgendetwas mit dieser Frau nicht stimmte.

Ihr Parfüm störte ihn, obwohl es nicht unangenehmer roch als das der Frau, bei der er die letzte Nacht zugebracht hatte. Sie war groß, lüstern und dunkelhaarig – also genau der Typ, der normalerweise sein Interesse weckte. Doch als sie über seine Brust leckte, während sie ihm das Hemd auszog, überkam ihn abermals das unbehagliche Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmte.

Schon seit geraumer Zeit sagte man Ethan nach, er habe nicht mehr Gefühle als ein Tier, und auch jetzt war es der reine Instinkt, der ihm riet, er solle diese Frau nicht nehmen. Während ihr Mund von seiner Brust zu seinem Bauchnabel und von dort tiefer zu seinem eindeutigen Ziel wanderte, stutzte Ethan und runzelte die Stirn.

Doch konnte die Warnung in seinem Kopf wirklich den Scotch und die Aussicht darauf übertönen, sich von ihr mit dem Mund verwöhnen zu lassen?

Aye, das kann sie, dachte er, schob ihre Hände weg von seiner Hose und wich stolpernd zurück.

»Was tust du?«

»Ich gehe.« Als er sich nach seinem Hemd bückte, taumelte er einen Moment, bekam sich jedoch schnell wieder in den Griff. Dass er in letzter Zeit zu viel getrunken hatte, war ihm durchaus klar. Er war der älteste Bruder und das Oberhaupt einer gestraften Familie, und die damit verbundene Verantwortung sowie die Unfähigkeit, etwas an diesem Zustand zu ändern, lasteten schwerer auf seinen Schultern, als es irgendjemand auch nur ahnte.

Aber an diesem Problem konnte er nichts ändern, wenn er sich immer wieder betrank.

»Gehen?«, rief sie. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

Er nickte nur knapp.

»Warum bist du dann hergekommen? Was habe ich getan?«

»Nichts.« Wo zum Teufel hatte er seine Jacke hingeworfen? »Ich habe nur keine Lust mehr.«

»Sag mir, was du willst, und ich tue es für dich. Egal was!«, flehte sie ihn in so kläglichem Ton an, dass es ihn vor Abscheu schauderte. Verdammt, sie ist eine von denen, die sich an einen Mann klammern!

Im Wegdrehen sagte er: »Ich will gar nichts von Ihnen, jedenfalls jetzt nicht mehr.«

»Das kannst du doch nicht machen!« Sie sprang auf und lief zu ihm. »Mich einfach stehen lassen, wie eine Frau, die du gekauft hast.« In ihrer Wut verwandelte sich die vornehme französische Aussprache in einen schneidenden Tonfall. Ethan hatte ihn schon woanders gehört – diesen Slang der Unterschicht. »Wie eine dahergelaufene Hure!«

»Sie müssen es ja wissen …«

»Von niemandem lasse ich mich so behandeln! Von niemandem!«

Sie baute sich vor ihm auf, und als er sich von ihr abwandte, folgte sie ihm. Was ihn wütend zu machen begann. Dass es klug von ihm gewesen war, sich zum Gehen zu entschließen, daran gab es keinen Zweifel mehr. »Dafür werde ich dich auspeitschen lassen!«

Endlich entdeckte er seine Jacke. »Gehen Sie mir aus dem Weg!«, herrschte er die Frau an.

»Ich werde dich höchstpersönlich auspeitschen!«

»Nur die Ruhe, Weib.« Zynisch betrachtete er sie. »Jetzt werde ich Sie ganzbestimmt nicht mehr vögeln.«

Kreischend stürzte sie sich auf ihn, krallte ihre Fingernägel in sein Gesicht und kratzte ihn, bevor er sie daran hindern konnte. Er drückte den Ärmel gegen seine Wange und sah die dunkelroten Flecken auf dem weißen Leinenstoff. »Du gottverfluchte Hexe! Du weißt ja nicht, was du damit anrichtest!«

Er ging zur Tür, während sie mit den Fäusten auf seinen Rücken trommelte und brüllte: »Weißt du, was ich dir hätte geben können?«

Ethan drehte sich abrupt zu ihr um. Tränen liefen über ihr Gesicht, und ihre Augen glühten vor Zorn. »Wenn du mich noch einmal anfasst, dann werde ich meinen Vorsatz brechen, keine verrückten Weiber zu verprügeln, die kein Nein akzeptieren.«

»Dann tu’s doch!« War das etwa ein Anflug von Vorfreude, der da über ihr Gesicht huschte?

Um ihr Angst zu machen, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ, holte er mit der Hand aus, als wolle er …

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf, und ein zorniger grauhaariger Mann stand im Flur vor dem Zimmer. Das muss der alternde Ehemann sein, dachte Ethan resigniert, während er die Hand sinken ließ. Wieder ein Duell im Morgengrauen, und wieder ein Mann, der durch meine Pistole stirbt.

»Er hat versucht, mir Gewalt anzutun!«, kreischte die in Tränen aufgelöste Frau.

Ethan sah zu ihr hin. »Bist du von Sinnen? Du hast mich doch hierher eingeladen!«

Weitere Männer tauchten an der Tür auf – die Handlanger des Ehemannes. Ein blonder Riese stellte sich dicht neben ihn und starrte Ethan ebenfalls wutentbrannt an.

»Niemals habe ich das getan!«, rief sie. »Er muss mir heute Abend vom Gasthaus gefolgt sein.«

Ihr Mann kniff die Augen zusammen und musterte Ethans Gesicht. Der wischte sich mit der Hand über seine Wange. »Verdammt, sie hat mich gekratzt, als ich gehen wollte.« Obwohl er noch immer die Wirkung des Whiskys spürte, fiel sogar ihm auf, wie albern sich diese Erklärung anhörte.

»Sylvie, bist zu verletzt?« Der Ehemann klammert sich daran wie an eine Rettungsleine.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sehen Sie denn nicht, dass sie lügt?« Ethan stieß einen verächtlichen Laut aus. »Diese Hexe hat mich hierher eingeladen. Ich schwöre …«

»Nein«, jammerte die Frau in so schrillem Ton, dass jeden Moment das Whiskyglas zerspringen musste. »Er wollte mir Gewalt antun, aber ich habe mich gewehrt. Siehst du sein Gesicht?«

Ethan starrte sie wütend an. »Fragen Sie im Gasthaus nach«, schlug er dem Ehemann vor. »Fragen Sie dort, wen Sie wollen. Jeder wird Ihnen sagen, dass sie mich zu sich eingeladen hat.« Aber sie war vorsichtig gewesen. Würde sich wirklich ein Gast finden, der bestätigen konnte, beide zusammen gesehen zu haben, da sie doch nur so kurz mit ihm gesprochen hatte?

Die Frau schüttelte vehement den Kopf. »Meine Zofe war mit mir im Gasthaus und kam auch mit mir zurück nach Hause. Frag Flora! Frag sie doch!« Sie legte eine Hand an die Stirn und ließ sich auf die Bettkante sinken. »Oh Gott«, flüsterte sie. »Ich hatte ja solche Angst.«

Ethan bekam vor Erstaunen den Mund nicht mehr zu. Verdammt, sie macht das richtig gut …

Mit einem lauten Schrei stürmte der alte Mann auf Ethan los, der instinktiv reagierte und einen Fausthieb austeilte, mit dem er seinem Gegenüber das Nasenbein brach. Blut spritzte umher.

»Dafür kommst du nach Newgate!«, brüllte der Geschlagene und presste die Hände an sein Gesicht.

Da war etwas, woran sich Ethan unbedingt erinnern wollte, nur … was war es? »Verdammt, ich habe dieser Frau nichts angetan … sie hat das alles eingefädelt.«

»Ergreift ihn!«, befahl der Alte seinen Männern.

Im gleichen Moment fiel Ethan ein, was er hatte tun wollen, und er griff nach seiner Jacke.

Ein brutaler Schlag traf ihn am Hinterkopf, und Ethan landete mit dem Gesicht auf dem Boden. Dann hagelte es Fausthiebe und Fußtritte. Er versuchte, sich so lange wie nur möglich gegen eine Ohnmacht und seine Angreifer zu verteidigen.

Aus weiter Ferne hörte er das Miststück auf den Ehemann einreden, voller Sorge über den Skandal, wenn das hier vor ein Gericht gebracht werden sollte … ihr Ruf, ihr Ansehen … andere Ehemänner mit seiner Macht würden so etwas selbst erledigen.

Ethan wusste, in diesem abgeschiedenen Teil des Landes waren die Lords so gut wie allmächtig, da sie ihre eigenen Gesetze hatten und immer über Handlanger verfügten, die bereit waren, für sie die Drecksarbeit zu erledigen. Und sie hassten Fremde, von Ausländern ganz zu schweigen.

Der Brief, der seine Erlösung bedeutete, steckte in der Jacke, und die lag nur einen Schritt weit von ihm entfernt. Vergeblich versuchte er zu sprechen, über seine Lippen kam jedoch nur ein schmerzerfülltes Stöhnen. Ein Versuch, nach der Jacke zu greifen, brachte ihm einen Tritt mit einem Stiefel gegen die Brust ein.

Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und er sah die Frau, die so sehr in Tränen aufgelöst war, dass es schien, als glaubte sie ihre eigene Lüge. »Ohne dich und Brymer im Haus war ich eine leichte Beute.«

Der Gehörnte beschwichtigte sie und legte seinen Mantel um sie. »Ich hätte dich niemals allein hier zurücklassen dürfen …«

»Di-dieser Teufel kam hierher, zu mir – zu Maddy!«, fügte sie mit besonderer Betonung an. Wer immer diese Maddy auch sein mochte, die bloße Erwähnung dieses Namens veranlasste den alten Mann, wieder Ethan anzusehen, während er seiner Frau versicherte, sie würden sich seiner auf ihre Weise annehmen. Niemand würde es je erfahren müssen. Diese Worte ließen Ethan vor Angst zittern.

Sie wollten eindeutig sicherstellen, dass der schottische Bastard in seinem ganzen Leben nie wieder einer Frau Gewalt antat.

Eine Entmannung! Kalter Schweiß brach Ethan aus, als er sich vorstellte, was sie ihm antun wollten.

Der alte Mann zögerte kurz, dann nickte er. »Brymer, bring ihn hinters Haus und sorg dafür, dass es erledigt wird.«

Brymer war der blonde Riese, in dessen Augen Mordlust aufblitzte. »Das wird mir ein Vergnügen sein.« Er zog Ethan vom Boden hoch und verpasste ihm einen brutalen Kinnhaken. Zwar versuchte Ethan, den Treffer nicht auf sich wirken zu lassen, doch im nächsten Augenblick umgab ihn nur noch Schwärze …

Als er irgendwann wieder zu sich kam, spürte er sofort, dass sich ein Seil in seine Handgelenke schnitt. Stechende Schmerzen strahlten von der Schulter bis zu den verkrampft gehaltenen Fingern aus. Er versuchte, die Augen zu öffnen, doch eines war so angeschwollen, dass er es nur einen winzigen Spaltbreit aufbekam. Es genügte jedoch, um zu erkennen, wo er jetzt war: in einer Art Stall, wo man ihn an einem Dachbalken aufgehängt hatte. In seinem Mund steckte ein blutgetränkter Knebel.

Ethan sah einen großen, stämmigen Mann auf einem Hocker sitzen, der unter seinem beträchtlichen Gewicht jeden Moment zusammenzubrechen drohte. Die Muskeln in seinen kräftigen Beinen zuckten, während er Ethan verstohlene, schuldbewusste Blicke zuwarf. Dem Mann war klar, dass man Ethan Unrecht angetan hatte. Natürlich hatte die Frau das nicht zum ersten Mal gemacht. Ethan zerrte an seinen Fesseln und versuchte, trotz des Knebels seinem Gegenüber von der Notiz in seiner Jackentasche zu erzählen.

Plötzlich öffnete sich hinter ihm knarrend eine Tür, dann hörte er Brymers Stimme. »Ist er wieder bei Bewusstsein, Tully?«

»Seit diesem Moment«, antwortete der und erhob seinen massigen Körper von dem Hocker. »Ich hab überlegt … vielleicht sollte einer von uns zur Taverne reiten und einige Fragen stellen.«

»Van Rowen will, dass wir unseren Auftrag erledigen. Also werden wir das auch machen.« Brymer wollte sich das offenbar nicht entgehen lassen.

Van Rowen. Warum klang der Name so vertraut? Sollte Ethan hier überleben, dann würde er Van Rowen mit bloßen Händen in der Luft zerreißen und dann umbringen. Dieser Mann ahnte nicht, was er sich und seiner Familie eingebrockt hatte …

Plötzlich hörte er das typische Geräusch einer Klinge, die aus der Scheide gezogen wurde. Verzweifelt versuchte Ethan, sich zu befreien.

»Ach, Brymer. Was würde es denn ausmachen, hinzureiten und …«

»Ich komme soeben von dort. Niemand hat etwas Unschickliches beobachtet.« Brymer machte ein paar Schritte und gelangte in Ethans Gesichtsfeld. »Man hat Mrs Van Rowen gesehen, wie sie mit Flora eine Mahlzeit einnahm. Nach etwa einer Stunde brachen sie auf.« Mit der Messerspitze kratzte er die Zwischenräume zwischen seinen Zähnen sauber. »Der Kutscher schwört, er hat niemanden sonst gesehen, als er die beiden nach Hause gebracht hat. Und Flora bestätigt das.«

»Aber manchmal … mir kommt es so vor, als würde Mrs Van Rowen …«

»Hinzu kommt«, fuhr Brymer fort und ignorierte Tully völlig, »dass er hier ein Ausländer ist, der sich kräftig betrunken hat. Das Schankmädchen sagte, dass er sich wie ein brutaler schottischer Raufbold aufgeführt habe.«

Dieses verfluchte Weibsbild … nur weil ich sie verschmäht habe …

»Für ihn sind die Würfel gefallen, Tully. Und was dich dagegen angeht … entweder du führst die Anweisungen aus, die man dir gibt, oder du kannst noch heute Abend Van Rowens Land verlassen.«

Nein, nein! Ethan würde ihm ein Vermögen bezahlen, wenn er die Anweisungen nicht befolgte.

Tully ließ die Schultern sinken.

Nein, verdammt noch mal! Nein!

»Halt seinen Kopf fest«, wies Brymer ihn an.

Tully legte seine dicken, fleischigen Arme um Ethans Kopf, während der sich nach Kräften zu wehren versuchte und Flüche ausstieß, die alle von seinem Knebel unterdrückt wurden.

»Wa-was hast du vor?«

»Zuerst werde ich beenden, was Mrs Van Rowen begonnen hat«, sagte Brymer und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kratzer in Ethans Gesicht. »Ich schätze, den Ladys gefällt sein Gesicht, aber wenn wir hier fertig sind, wird das nicht länger der Fall sein. Allerdings wird das dann seine geringste Sorge sein.«

Als Ethan die kalte Klinge auf der heißen Haut seiner rechten Wange spürte, wand er sich und setzte alle ihm noch verbliebene Kraft ein, um sich zu befreien, doch es war vergebens.

Die Klinge drang tief ins Fleisch ein, Ethan brüllte vor Schmerz.

»Halt ihn richtig fest!«, herrschte Brymer Tully an.

»Das versuche ich ja, aber er ist ein verdammt kräftiger Bastard!«

Brymer schnitt weiter und weiter, bis Ethan fast nicht mehr bei Bewusstsein und sein Hals blutüberströmt war.

»Was machst du da?«, wollte Tully wissen.

»Wenn du einen Streifen Fleisch aus der Mitte herausschneidest, wird der Schnitt nie wieder richtig zusammenwachsen, auch nicht, nachdem man ihn genäht hat.«

Das verzweifelte Verlangen, sich zu wehren, brannte in Ethan, doch sein Körper fühlte sich so schwer wie Blei an und wollte seinem Willen einfach nicht gehorchen. Als Brymer endlich fertig war, ließ Tully Ethan los, dem der Kopf auf die Brust sank.

Brymer packte ihn an den Haaren und zog Ethans Kopf hoch. Grinsend begutachtete er sein Werk. »Komm und sieh es dir an, Tully.«

Der Mann kam nach vorn, dann riss er die Augen weit auf, würgte ein paar Mal und lief weg, um sich ein Stück entfernt ins Heu zu übergeben.

Als Ethan den Streifen Haut und Fleisch auf dem Boden liegen sah, wurde ihm schwarz vor Augen. Stumm schwor er: Ich werde euch vernichten. Ihr werdet sterben, und zwar so langsam, wie ihr mich hier gequält habt … Dann fielen ihm die Augen zu.

Wütendes Gebrüll aus dem Haus holte ihn zurück aus seiner Bewusstlosigkeit, auch die Frau war zu hören, deren Kreischen und Keifen immer lauter wurde.

Eine Tür wurde aufgerissen … eilige Schritte … dann kam ein Diener in den Stall gerannt und rief außer Atem: »Halt! Lasst ihn frei!«

In einem Moment völliger Klarheit begriff Ethan, was sich zugetragen haben musste. Wieder zerriss ein Aufschrei der Frau die Nacht und verstummte dann jäh.

Ethan lachte, soweit sein Knebel das zuließ. Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Van Rowen hatte die Nachricht seiner Frau an Ethan gefunden.

1

London, Sommer 1856

Längst hatte sich Ethan daran gewöhnt, dass sich Angst auf den Gesichtern der Menschen zeigte, wenn ihnen klar wurde, dass er es war, der vor ihrer Tür stand. Aber in den Elendsquartieren des East End schien dies ausgeprägter zu sein als anderswo.

Viele von denen, die Ethan erblickten, liefen sofort davon.

Das Geräusch von hastigen Schritten auf nassem Kopfsteinpflaster war das Einzige, was Ethan hörte, als er dem betrunkenen Cockney hinterherlief – einem von vielen, die ihn mit Informationen versorgten.

Er machte einen Satz nach vorn und erwischte den Mann an den Schultern, dann stieß er dessen Kopf gegen die Mauer eines Mietshauses. Benommen sank der Mann auf dem Fußweg zusammen.

Ethan zog ihn hoch und drückte ihm den Lauf seiner Pistole an die Schläfe. »Wo ist Davis Grey?«

»Hab ihn nich gesehn«, pfiff der Mann durch die zahlreichen Zahnlücken. »Ich schwör’s, MacCarrick!«

Gemächlich spannte Ethan den Hahn der Pistole. Der Säufer kannte Ethans Ruf und wusste, er würde ihn in dieser düsteren Gasse erschießen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und warum bist du dann weggelaufen?«

»W-weil ich Angst vor Ihnen hab. Darum.«

Das war allzu verständlich.

»Hab nur gehört, dass Grey für Opium in Portugal ist. Und dass er vielleich zurückkommt. Mehr nich. Ich schwör’s!«

Nach kurzem Zögern entschied Ethan, dem Mann zu glauben und ihn laufen zu lassen. Die Information passte zu dem, was er wusste, und dieser Kerl würde es kaum wagen, durch eine Lüge Ethans Zorn auf sich zu ziehen. »Du weißt, was du zu tun hast, wenn du Grey siehst. Und du weißt auch, was ich mit dir machen werde, wenn du es mir nicht sagst.«

Der Cockney murmelte einen Dank dafür, dass Ethan sich so gnädig verhielt. Dann verschwand er in der Dunkelheit.

Seit Stunden hatte Ethan das Elendsviertel durchkämmt und auf all seine Ressourcen zurückgegriffen, um Davis Grey aufzutreiben, einen einstigen Landsmann und Freund der Familie – und nun das Ziel von Ethans Jagd.

Obwohl alles darauf gedeutet hatte, dass sich Grey nicht in England aufhielt, wollte Ethan sich Gewissheit verschaffen und war jeder denkbaren Spur nachgegangen, die London ihm bot. Morgen würde er die Stadt verlassen und anderswo die Jagd auf Grey fortsetzen.

Als Ethan durch die engen, gewundenen Gassen zurück zu seinem Pferd ging, lächelte ihn eine überraschend hübsche Hure an und ließ ihr Umschlagtuch sinken, um ihm ihre vollen, schweren Brüste zu präsentieren.

Er verspürte nichts bei diesem Anblick.

Er ging an der flackernden Gaslaterne vorbei und zeigte der Frau seine andere Gesichtshälfte, woraufhin sie sich angewidert von ihm abwandte und ihr Tuch bis zum Hals hochzog. Wegen Frauen wie dieser hatte er dem Sex abgeschworen.

Nach seiner Verunstaltung hatte er begriffen, dass er nie wieder eine Frau bekommen würde, die kein Geld von ihm verlangte. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich bereits vorgenommen, nach jener Nacht in Buxton keinen Alkohol mehr zu trinken. Für einen jungen Mann, der dem Alkohol und den Frauen entsagte – zwei seiner liebsten Zeitvertreibe –, war ein Posten in einer königlichen Geheimorganisation, dem Netzwerk, eine verlockende Aussicht. Gemeinsam mit seinem Bruder Hugh hatte er sich zu diesem Dienst gemeldet, jedoch nicht, ohne zuvor noch dezent, aber entschieden Rache an seinen Feinden zu üben.

Während Hugh für das Netzwerk als Scharfschütze arbeitete und seine Aufträge schnell und sauber erledigte, griff Ethan zu Mord, Spionage und Erpressung, um das zu tun, was man von ihm erwartete. Ethan arbeitete mit viel Geschick und erledigte erfolgreich jene Aufträge, die niemand sonst übernehmen wollte. Seine Brüder bezeichneten ihn gern als einen mörderischen Alleskönner.

Nachdem Ethan zu seinem Pferd zurückgekehrt war – einem edlen Wallach, der seinen Reiter nicht leiden konnte –, saß er auf und beschloss, am Londoner Stadthaus Edward Weylands vorbeizureiten, seinem und Hughs Vorgesetzten. Vielleicht waren Neuigkeiten eingetroffen. Und wenn nicht, so gab es ohnehin nichts anderes, womit er sich die Zeit hätte vertreiben können.

Als Ethan dort ankam, traf er auf Quin Weyland, der sich anschickte, in den Sattel zu steigen und fortzureiten. »Ist dein Onkel zu Hause?«, fragte Ethan. Quin arbeitete ebenfalls für die Organisation und wurde darauf vorbereitet, diese eines Tages zu leiten.

»Nein, er ist nicht in der Stadt. Aber vor ein paar Minuten sah ich Hugh.«

»Nur Hugh? Court nicht?«

Quin schüttelte den Kopf.

Verdammt, Hugh hätte bei ihrem jüngeren Bruder Court sein sollen, um dafür zu sorgen, dass er vom Kontinent nach London zurückkehrte.

Gereizt fuhr Quin fort: »Du hattest uns doch gesagt, Hugh sei in der Lage, diese Angelegenheit mit Davis Grey zu regeln.«

»Aye, und das wird er auch machen.«

»Du hättest seinen Gesichtsausdruck sehen müssen, als ich ihm von der Bedrohung berichtete.«

»Seine Reaktion ist nur zu verständlich«, gab Ethan ungeduldig zurück. »Grey ist ein gefährlicher Mörder, der einen Plan verfolgt.« Grey hatte ebenfalls für das Netzwerk gearbeitet – und er war Hughs Ausbilder gewesen.

»Nein, ich meine, als ich ihm sagte, Jane sei in Gefahr.« Er sprach von Jane Weyland, der hübschen Tochter Edward Weylands.

Ihnen war zu Ohren gekommen, dass Grey Jane ermorden wollte, um sich an Weyland zu rächen, indem er ihm nahm, was diesem das Kostbarste auf der Welt war. Um seine Tochter zu schützen, hatte Weyland Ethan auf Grey angesetzt, ihn zu töten, während Hugh Jane als ihr Leibwächter ihr auf Schritt und Tritt folgen würde.

Letzteres sollte kein Problem sein, da Hugh ihr nur zu gern folgte.

»Grey sagte mir, dass Hugh sie liebt«, fügte Quin hinzu.

Erstaunt zog Ethan eine Augenbraue hoch. »Unterhalten wir uns neuerdings mit Grey?«

»Das ist schon Jahre her. Bevor er zur anderen Seite überlief.«

Ein Verrückter auf der falschen Seite. Grey war dafür bekannt, eine heitere Miene zur Schau zu stellen und sich stets höflich und zugänglich zu geben, selbst wenn er einem seiner Opfer die Kehle aufschlitzte.

»Und? Stimmt es?«, hakte Quin nach.

»Mag sein, dass Hugh für sie geschwärmt hat, als sie noch jünger waren«, entgegnete Ethan ausweichend. In Wahrheit war Hugh mit Sicherheit immer noch in hohem – und höchst peinlichem – Maß in dieses Mädchen verliebt. »Er hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen.« Und ihr nie gesagt, was er für sie empfand.

»Heute Abend ist er ihr ziemlich schnell gefolgt.«

»Wo ist sie denn um diese Zeit noch unterwegs?«, wunderte sich Ethan.

»Sie ist heimlich aus dem Fenster ihres Zimmers gestiegen, um sich mit meinen Schwestern und deren junger Freundin zu treffen, die zu Besuch in London ist.«

»Und wo?«

»Haymarket Street«, antwortete Quin nach einem Moment. »Und genau genommen bin ich jetzt auf dem Weg dorthin.«

»Ginkneipen und Prostituierte«, überlegte Ethan. Die Mietskasernen waren verwahrlost, aber Haymarket war verrufen. »Was wollen sie ausgerechnet dort?«

»Sie wollen in den Bienenkorb.«

»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Ethan ungläubig. Der Bienenkorb, ein Lagerhaus, das man zu einem Tanzlokal ohne Konzession umgebaut hatte, war berüchtigt für die dort stattfindenden Ausschweifungen. »Wie erfahren die Frauen in deiner Familie überhaupt von solchen Veranstaltungen?« Die zwei Schwestern und sechs Cousinen Quins bildeten zusammen die Acht Weylands, und waren in der guten Gesellschaft berüchtigt für ihr Treiben. Sie wollten fortschrittlich sein, liebten alles Moderne und hatten sich selbst den Namen »die Sensationshungrigen« gegeben.

Für Ethan waren sie nur die »verwöhnten Gören mit zu viel Geld und zu viel Freiheiten«.

Quin schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, das wüsste ich.«

»Ich kann nicht glauben, dass sie freiwillig diesen Ort aufsuchen. Dir ist doch klar, dass deine Schwestern nicht in der gleichen Verfassung zurückkehren werden, in der sie aufgebrochen sind.«

»Ach, scher dich zum Teufel, Kavanagh …«

»Nenn mich nicht so«, fuhr Ethan ihn an. Er verabscheute es, an diesen Titel und das damit verbundene Leben erinnert zu werden. »Warum ziehst du ihnen nicht die Ohren lang und bringst sie nach Hause?«

»Um dann gezwungen zu sein, Jane zu erklären, warum sie plötzlich nicht mehr die gewohnte Freiheit genießen kann?«

»Sie weiß nicht, dass sie in Gefahr schwebt?«

Quin reagierte mit einem Kopfschütteln. »Wir hoffen, du kannst Grey früh genug unschädlich machen, damit Jane nie etwas über unser Netzwerk erfahren muss.« Er drehte sich um, als Ethan sein halsstarriges Pferd vorwärts dirigierte. »Du willst weiterreiten?«

»Aye, ich muss meinen Bruder sprechen.« Und sicherstellen, dass er seine Arbeit richtig macht. »Was findet heute Abend im Bienenkorb statt?«

»Ein illegaler Kurtisanenball«, murmelte Quin.

Ethan lachte ohne einen Funken Humor auf. Er empfand schon jetzt Mitleid mit der ahnungslosen »jungen Freundin, die zu Besuch in London« war. Das Mädchen würde eine unerwartete Lektion über Sittenlosigkeit erteilt bekommen.

Bedauerlicherweise sah Ethan den verliebten Gesichtsausdruck seines Bruders nicht zum ersten Mal.

Obwohl Hugh einer der besten und erfolgreichsten Scharfschützen der Welt war, setzte sein Verstand aus, sobald er sich in Jane Weylands Nähe aufhielt. Er bekam kaum einen vernünftigen Satz heraus, und wie bei einem schüchternen kleinen Jungen standen ihm Schweißperlen auf der Stirn.

Erst vor wenigen Minuten hatte Ethan seinen Bruder in diesem Zustand entdeckt – in einer kleinen Gasse, die von der Haymarket Street abzweigte. Hugh war völlig von Janes Anblick gebannt, während er beobachtete, wie sie mit ihrem Damengefolge in Richtung Haymarket schlenderte. Er bemerkte nicht, dass Ethan sich ihm näherte.

Normalerweise war Hugh nicht so unaufmerksam, aber an diesem Abend hätte ihn ein herrenloser Handkarren überrollen und mitschleifen können, ohne dass es ihm aufgefallen wäre.

Für jemanden wie Ethan, der noch nie ein anhaltendes Interesse an einer Frau verspürt hatte, war diese Situation zwischen Hugh und Jane ein Buch mit sieben Siegeln. Des Öfteren hatte Ethan seinen Brüdern klargemacht, er sei gegen derart verwickelte Liebschaften immun.

Doch aus einem unerfindlichen Grund war es Hugh nicht peinlich, dass eine Frau ihn so schwach werden lassen konnte. Und allem Anschein nach waren seine Gefühle für sie nicht erloschen, obwohl er sie zehn Jahre nicht gesehen hatte.

Nachdem Ethan sich in der Gasse zu ihm gesellt hatte, begannen die beiden wie üblich zu streiten, wenn auch dieses Mal in gedämpftem Ton.

Hugh war es ein Dorn im Auge gewesen, dass Ethan nicht nur bereit gewesen war, Grey zu töten, sondern sich auch freiwillig für diese Tat gemeldet hatte. Einst waren Hugh und Grey Freunde gewesen. Ethan wiederum konnte kein Verständnis dafür aufbringen, dass Hugh sich in Jane verliebt und sich damit eine so offensichtliche Bürde aufgeladen hatte. Ethans Bürde war die Verantwortung gegenüber seinen Brüdern, an der er nichts ändern konnte, da diese Aufgabe ihm als Erstgeborenem zwangsläufig zufiel.

»Ich wette, du wünschst dir spätestens jetzt, dass mein Angebot, Grey zu töten, angenommen worden wäre«, sagte er zu Hugh. Sogar im Flüsterton schwang seine Überheblichkeit mit. »Aber keine Sorge, kleiner Bruder, das wird inzwischen geschehen sein. Weyland wird alles tun, um seine Tochter zu beschützen.« Mit dem Kinn deutete er auf Jane und ihre Begleiterinnen, die soeben an der Quergasse vorbeigingen. Er schaute zu Hugh und starrte dann gleich wieder zu der Gruppe.

Die vierte Frau in der Gruppe – ein zierliches Mädchen mit glänzendem blonden Haar – hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

Die junge Freundin, die zu Besuch in London war …

Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit kurzer Pelerine, die ihren Hals wie ein enger Kragen umschloss, dazu eine passende Maske, die zu beiden Seiten ihrer leuchtenden Augen spitz zulief. Im flackernden Gaslicht beobachtete Ethan, wie ihre dunkelrosa Lippen sich zu einem rätselhaften Lächeln verzogen, jedoch nicht in den Momenten, in denen ihre Freundinnen über etwas lachten. Es schien, als würde sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt bewegen.

Auch wenn sie einen lebhaften, wachen Eindruck machte, nahm er bei ihr einen gewissen Lebensschmerz wahr – von der gleichen Art, die auch ihm so sehr zu schaffen machte.

Verdutzt stellte er fest, dass sein Herz schneller zu schlagen begann …

Hugh hatte ihn gegen eine Hauswand gedrückt und presste seinen Unterarm gegen Ethans Hals, bevor der reagieren konnte.

Was um alles in der Welt …? Ethan verdrehte die Augen. »Beruhige dich. Ich habe nicht die Absicht, deine kostbare Jane zu begaffen.«

Schließlich ließ Hugh ihn los, schaute ihn jedoch ungläubig an. »Wer dann hat dein Interesse geweckt? Claudia? Die mit der roten Maske?« Als Ethan nicht antwortete, forschte er weiter nach: »Belinda? Die große Brünette?«

Bedächtig schüttelte Ethan den Kopf, ohne den Blick von der Blonden zu wenden.

Die ungewöhnliche Aufmerksamkeit seines Bruders für diese Frau verblüffte Hugh. »Ich kenne sie nicht. Aber sie muss zu Janes Freundinnen gehören. Sie sieht jung aus. Nicht älter als zwanzig, also viel zu jung für dich.«

Ethan war dreiunddreißig, und er spürte jedes einzelne Jahr in seinen Knochen. Sie dagegen war jung. Wie konnte sie da diese Melancholie ausstrahlen? »Wenn ich so verdorben bin, wie Court, du und der gesamte Clan behaupten, dann werde ich sie deshalb wohl umso verlockender finden, nicht wahr?« Er bemühte sich um einen gelangweilten Tonfall, doch er vermutete, dass seine Verbitterung herauszuhören war. In Wahrheit war er nicht so schlecht, wie sie alle glaubten.

Er war noch viel schlechter.

Blut klebte an seinen Händen, und sein Herz war so kalt, dass er von den drei Brüdern als der Böse galt – obwohl es sich bei den anderen beiden um einen Scharfschützen und einen Söldner handelte. Er war nur der verdammte Laird, und doch fürchteten sich die meisten im Clan vor ihm und wollten nichts mit ihm zu tun haben. Und so war es schon gewesen, bevor ihm die Narbe zugefügt worden war.

Der Gedanke an sein Aussehen veranlasste ihn, sich abzuwenden. Würde er sich einer Schönheit wie dieser blonden Frau zu nähern versuchen, dann musste sie beim Anblick seines Gesichts unweigerlich die Flucht ergreifen. Kehr zurück in den Schatten, wo du hingehörst. Vergiss, dass du sie je gesehen hast …

Doch in diesem Moment näherte sich ihnen ein Ballbesucher, der eine Halbmaske nach der neuesten Mode trug – mit einem Stück Stoff vor dem Gesicht. Ethan verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, das seine Gesichtshaut anspannte. Perfekt.

Im Bruchteil einer Sekunde hatte Ethan die Maske an sich genommen. Der wesentlich kleinere Mann wollte eben zu einem Protest ansetzen, doch als Ethan ihm einen mörderischen Blick zuwarf, suchte er in aller Eile das Weite.

»Spiel nicht mit ihr, Ethan.«

»Hast du Angst, ich ruiniere dir deine Chancen bei Jane?«, fragte Ethan, während er die Maske aufsetzte. »Tut mir leid, dass ich dich daran erinnern muss, lieber Bruder, aber die waren bereits verdorben, bevor du Jane das erste Mal begegnet bist. Und du hast ein Buch, das es dir beweisen kann.«

»Dein Schicksal ist nicht weniger finster als meines«, erinnerte ihn Hugh, »und trotzdem bist du versessen auf diese Frau.«

»Richtig. Aber ich laufe nicht Gefahr, mich in sie zu verlieben. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass es ihr das Leben raubt, wenn ich sie ein wenig verwöhne.«

Mit einem ärgerlichen Schnauben folgte Hugh seinem Bruder zum Eingang des ehemaligen Lagerhauses, wo sie bei einem kahlköpfigen Mann mit Schweinsmaske den Eintritt entrichteten. Im Gebäude drängten sich die betrunkenen Menschen so dicht, dass sich mindestens tausend Gäste eingefunden haben mussten.

Oh ja, das Mädchen würde wirklich eine Lektion erteilt bekommen. Ringsum schmückten obszöne Gemälde die Wände, und halb nackte Huren liebkosten schamlos in aller Öffentlichkeit halb nackte Männer.

Ethan konnte die Gruppe um Jane in der Menschenmenge nicht wiederfinden, woraufhin er und Hugh sich auf die Empore begaben, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Schließlich entdeckten sie die Frauen vor einer kleinen, erhöhten Bühne, wo sie ein Ausstellungsstück inspizierten, das aus zwei Frauen und einem Mann bestand – die alle drei nackt und mit Lehm bedeckt waren und als griechische Statuen posierten.

In einer solchen Atmosphäre des Verfalls machte die junge Frau einen … gelangweilten Eindruck.

Als Jane den nackten Mann mit abschätzenden Blicken musterte, ballte Hugh die Fäuste. Die Blonde tat das Gleiche, aber Ethan verspürte nicht den Wunsch, irgendetwas zu zertrümmern. Er hatte ja gewusst, dass er immun war …

Die Frauen begaben sich zu einem Getränkestand, an dem eine halb nackte Kurtisane bediente, doch dort angekommen, drehte sich die Blonde zur Bühne um und hauchte mit einem sinnlichen Grinsen auf den Lippen dem Mann auf der Bühne einen Kuss zu. Ethan stutzte. Das gefällt mir gar nicht. Verdammt, aber warum nicht?

»Ich dachte, Blonde sind nicht dein Typ », meinte Hugh und klang beunruhigt.

Ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden, entgegnete Ethan. »Sind sie auch nicht.«

»Auch nicht die Schlanken oder die Zierlichen.«

»Groß und drall sollen sie sein«, antwortete er geistesabwesend und beobachtete, wie sie ein Glas Bowle annahm, erst vorsichtig daran roch und dann einen kräftigen Schluck nahm.

»Und was ist dann mit ihr?«

»Weiß nicht.« Ethans Antwort war nur eine Halbwahrheit. Warum er sich zu ihr hingezogen fühlte, wusste er sehr wohl – es war ihre außergewöhnliche Schönheit, die auch die Maske nicht verbergen konnte. Jedoch war ihm nicht klar, warum er eine so starke Anziehung verspürte.

Er hatte mehr als einmal das Bett mit Frauen geteilt, die genauso reizend waren wie sie. Warum also regte sich in ihm dieser dringliche Wunsch, sich zu ihr zu gesellen? Weil er sie haben wollte? Ethan wusste, er konnte sie jederzeit wiederfinden, da sie mit den Weylands befreundet war. Aber warum wollte er ausgerechnet jetzt, in diesem Augenblick zu ihr?

»Wirst du sie tatsächlich ansprechen?«, fragte Hugh.

»Darauf kannst du verdammt noch mal wetten.«

»Ich dachte, ich sollte mich Jane gegenüber nach Möglichkeit nicht zu erkennen geben. Sie wird dich wiedererkennen, wenn du in ihrer Nähe auftauchst.«

»Nicht in dieser Maske«, widersprach Ethan, dann fragte er: »Warum benimmst du dich so, als sei mein Interesse von so verdammter Konsequenz?«

»Weil du in deinem ganzen Leben noch nie solches Interesse an einer Frau gezeigt hast.«

Bis zu jener Nacht in Buxton war das auch nicht nötig gewesen, weil die Frauen stets auf ihn zugekommen waren. Und nach jener Nacht hatte er sich nicht die Mühe machen wollen.

»Nicht mal bei deiner Verlobten«, fügte Hugh hinzu.

Nein, Ethans Verlobte war ihm praktisch auf einem Silbertablett serviert worden – und das hatte Sarah das Leben gekostet. Ihm war nicht klar gewesen, dass er einen anderen Menschen zerstören würde, wenn er versuchte, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, nachdem er in die Fänge der Van Rowens geraten war …

Er verscheuchte diese Erinnerungen, die er am liebsten ganz vergessen hätte, und begab sich zur Treppe, um der Blonden zu folgen, doch Hugh hielt ihn mit einem groben Griff zurück.

»Ethan, was ist denn nur los mit dir?«

»Fass mich nie wieder so an, Bruder, sonst schicke ich dich zu Boden.« Hugh war der Einzige, der es je wagte, ihn so herauszufordern. »Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass ich sie einfach nur ins Bett bekommen will?«

»Nur das? Mehr nicht?« Hughs Miene zeigte sein Unbehagen. »Nein, der Gedanke ist mir nicht gekommen.«

Ethan kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Dann hatte Hugh also eine Vermutung, oder er wusste sogar die Wahrheit über ihn. Es hätte Ethan längst klar sein sollen, dass sich das Geheimnis seiner Enthaltsamkeit im Netzwerk herumgesprochen haben musste. Immerhin tratschten dessen Mitglieder mindestens so gern wie ein Haufen Waschweiber am Dorfbrunnen.

Zehn Jahre waren vergangen, seit man sein Gesicht so schrecklich zugerichtet hatte. Wie von ihm vorausgesehen, war es ihm seitdem nur noch möglich gewesen, mit jenen Frauen zu schlafen, die sich dafür bezahlen ließen. Aber selbst dabei konnte ein Mann es nur für eine gewisse Zeit ertragen, im Gesicht der jeweiligen Frau ihre kaum verhüllte Abscheu vor ihm abzulesen – vor allem, nachdem er ihr das Geld gegeben hatte.

Eine unbefriedigende Begegnung nach der anderen forderte schließlich ihren Tribut, und nach einer Weile schien es seinem Körper schlicht zu viel zu werden, sich noch länger nach einer Frau zu sehnen. Wenn er sich von einer Frau angezogen fühlte, dann war das nur ein Schatten dessen, was er früher empfunden hatte. Obwohl seine Männlichkeit in jener Nacht unversehrt geblieben war, hätte auch das Gegenteil der Fall sein können, denn seit Jahren hatte er keine Frau mehr im Bett gehabt.

Und was noch beunruhigender war – es hatte ihm auch nicht allzu sehr gefehlt.

Bis jetzt …

»Sie ist eine Lady«, beharrte Hugh. »Sie ist keine Frau, die du einfach benutzen kannst.«

»Und was hat sie dann hier zu suchen?« Mit einer ausholenden Geste zeigte er auf das Lagerhaus.

»Das Gleiche wie Jane. Sie suchen nach einem Nervenkitzel; sie sind typische reiche Londonerinnen.«

»An einem Ort wie diesem ist sogar eine Lady eine leichte Beute.«

»Du weißt nicht, ob sie nicht unschuldig ist.« Mit ernster Miene ergänzte Hugh dann: »Ethan, du … so schlecht kannst du einfach nicht sein.«

Ethan zog die Augenbrauen hoch.

»Verdammt, Ethan. Wenn du unbedingt einen Grund brauchst, um sie in Ruhe zu lassen, dann tu es, damit du dich ganz auf die Jagd nach Grey konzentrieren kannst.« Hugh fuhr sich durchs Haar. »Wenn ich mich nicht darauf verlassen kann, dass du Grey erledigst, während ich auf Jane aufpasse …«

»Hast du schon vergessen, mit wem zu redest?« Ethans Geduld war am Ende, er riss sich die Maske vom Gesicht und warf seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu. »Seit Jahren will ich Grey eine Kugel zwischen die Augen jagen! Ein Dutzend Mal war er in Schussweite, und mein Finger lag auf dem Abzug, aber ich drückte nicht ab, weil du glaubtest, der Mann könnte für die Organisation zurückgewonnen werden.«

Ethan hatte Grey wiederholt nachgestellt und ihn nicht aus den Augen gelassen. Er war auch der Einzige im ganzen verdammten Netzwerk, der dahintergekommen war, dass Grey auf eigene Rechnung mordete. »Jetzt, da Jane betroffen ist, nimmst du auf einmal Vernunft an. Wie kannst du da nur einen Augenblick lang glauben, ich würde meine Gelegenheit versäumen, jemanden zu töten, dessen Tod ich herbeisehne?« Hugh schien von seinen Worten nicht überzeugt, woraufhin Ethan erklärte: »Ich werde jetzt was gegen dieses Kribbeln in meinen Fingern unternehmen, und dann begebe ich mich an die Arbeit.« Tonfall und Ausstrahlung hatten etwas Gelangweiltes an sich.

Er drehte sich um, doch die junge Frau war verschwunden. Dass sie sich nicht mehr bei ihren Freundinnen aufhielt, beunruhigte ihn auf das Äußerste. Dies hier war ein gefährlicher Ort, und sie war ganz allein.

Oder etwa nicht?

Vielleicht traf sie sich hier mit jemandem. Womöglich war sie verheiratet und hatte bereits eine Affäre. Während er die Treppe hinunterging, setzte er die Maske wieder auf. Hughs letzte zugerufene Warnung ignorierte er und stürzte sich ins Getümmel.

Er wollte sie wiederfinden, was ihn zutiefst verwunderte. Er mochte lüsterne dunkelhaarige Frauen, die im Bett so gut geben wie nehmen konnten. Und Hugh hatte recht, wenn er sagte, dass er von sich aus kein Interesse an Frauen zeigte oder ihnen gar nachstellte.

Aber wenn eine zierliche, engelsgleiche Blonde nötig war, um seinem Körper nach so langer Zeit wieder eine Reaktion zu entlocken, dann würde er das Objekt seiner Begierde ganz sicher nicht entwischen lassen.

Und er schwor sich, dass sie noch in dieser Nacht ihm gehören würde.

2

Sollte Madeleine Van Rowen je ihre Unschuld verlieren, ohne zuvor einen rechtmäßigen, gültigen Ehevertrag unterzeichnet zu haben, dann an diesen hochgewachsenen Mann mit der schwarzen Halbmaske, auf den sie vor einer Weile aufmerksam geworden war. Eben hatte er begonnen, sich einen Weg durch die Besuchermenge im Bienenkorb zu bahnen, jenem extravaganten Tanzlokal, in das es sie an diesem Abend verschlagen hatte.

Von ihrem Platz auf dem erhöhten, mit Schwänen und lüsternen Satyrn dekorierten Podest aus beobachtete Maddy den Mann über den Rand ihres zweiten Glases Bowle hinweg. Sie fühlte sich ein wenig beschwipst und vermutete, dass ihr Getränk nicht nur mit Rum – dem spirit du jour – versetzt worden war, doch es kümmerte sie nicht sonderlich. Nach diesem strapaziösen Tag würde es ihr nichts ausmachen, wenn sie einen Rausch bekam.

Heute hatte sie erfahren, dass es ihr nicht gelungen war, den Mann zur Heirat zu bewegen, für den sie von Paris nach London gereist war. »Madeleine, ich bin einfach nicht der Typ Mann, der heiraten möchte«, hatte er zu ihr gesagt. »Es tut mir leid.«

Da sie ihren Kummer lieber für sich allein ertränkte, hatte sie sich von ihren Freundinnen, den Weyland-Frauen, getrennt: Maddys Freundin aus Kindheitstagen Claudia, ihre Schwester Belinda und ihre Cousine Jane. Die drei Londoner Weylands verzehrten sich bereits nach dem nächsten Nervenkitzel, und genau den sollte der Bienenkorb ihnen verschaffen.

Jane Weyland, die Wortführerin der Gruppe, hatte Maddy angewiesen, sich nicht wieder von den anderen zu entfernen, weil Damen um jeden Preis zusammenbleiben mussten, wenn sie abends in London unterwegs waren. Über diese Anweisung konnte Maddy nur lachen.

Ach, ihr ahnungslosen Schäfchen, hätte Maddy am liebsten entgegnet. Auch wenn es auf diesem Maskenball nicht ausschließlich von Prostituierten und ihren wollüstigen Freiern wimmelte, sondern auch von Dieben und Schwindlern, war das alles harmlos im Vergleich zu Maddys Alltag – ihrem heimlichen Alltag.

Sie erzählte jedem, sie lebe mit ihrer Mutter und dem Stiefvater im teuren Pariser Stadtteil St. Roch, doch in Wahrheit war ein Elendsviertel namens La Marais – was so viel bedeutete wie der Sumpf – ihr Zuhause, und Abend für Abend schlief sie begleitet von einer Geräuschkulisse aus Schießereien und Schlägereien ein.

Sie war eine gerissene Taschendiebin, die einen Diamanten ebenso leicht stehlen konnte wie einen Apfel. Nicht einmal vor einem gelegentlichen Einbruch schreckte sie zurück. Hätte Maddy die Weylands nicht als ihre Freundinnen angesehen, wären die gut damit beraten gewesen, sich vor ihr in Acht zu nehmen.

Nachdem sie ihre saphirblaue Pelerine zurechtgezogen und den Sitz ihrer blauen Glacémaske korrigiert hatte, machte sie es sich auf der Bank auf dem Podest bequem und genoss den Anblick des großen Mannes. Mit seinen knapp zwei Metern Größe überragte er fast jeden im Saal, seine breiten, muskulösen Schultern füllten die Jacke so aus, dass sie sich spannte.

Die schwarze Halbmaske, die er trug, war um ein Stück Stoff ergänzt worden, sodass Madeleine von ihm nur Stirn, Lippen und das markante Kinn erkennen konnte, nicht aber den Rest des Gesichts. Er hatte volles, glattes schwarzes Haar, und sie hätte darauf gewettet, dass seine Augen dunkel und eindringlich waren.

Er war eindeutig auf der Suche nach jemandem, als er sich aggressiv durch die Menge drängte und mal in diese, mal in jene Richtung schaute. Plötzlich stellten sich ihm eine Schar barbusiger Dirnen in den Weg, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch er zog nur die Brauen zusammen. Ob es aus Überraschung oder Verärgerung geschah, vermochte sie nicht zu sagen.

Was würde sie nicht alles dafür geben, um ihr erstes Mal mit einem außergewöhnlichen Mann wie diesem zu erleben! Schließlich war sie eine Kennerin, was schöne Männer anging. Ihre Freundin kicherte jedes Mal, wenn Maddy auf der Straße den Kopf schräg legte und einen Mann musterte, der ihnen entgegenkam. Einen Gentleman in Verlegenheit zu bringen, indem sie ihn so unübersehbar taxierte, gehörte zu den Dingen, die das Leben lebenswert machten.

Aber wenn der heutige Tag ein Vorbote dessen sein sollte, was sie erwartete, dann würde ihr Ehemann und erster Liebhaber der Comte Le Daex sein, ein widerwärtig reicher Lebemann, der dreimal so alt war wie sie selbst. Und er war so altmodisch, dass er noch eine Perücke trug. Sie bemühte sich, das Gute daran zu sehen – er wollte sie heiraten – und der Tatsache keine Beachtung zu schenken, dass er jede seiner drei vorangegangenen jungen Ehefrauen überlebt hatte.

Als letzten Versuch, eine Ehe mit diesem Mann zu vermeiden, war Maddy nach London gereist und hatte sich an Claudia, ihre Freundin aus Kindheitstagen, gewandt, um deren Bruder Quinton Weyland um den Finger zu wickeln. Doch der Mann mit dem lockigen Haar, den strahlend grünen Augen und dem dicken finanziellen Polster wollte zu ihrem großen Bedauern nicht heiraten.

Damit war der Moment gekommen, sich ihre drei noch verbliebenen Möglichkeiten vor Augen zu führen.

Zum einen konnte sie so wie seit vielen Jahren allein nach La Marais zurückkehren; zum anderen konnte sie den Weylands all ihre Lügen beichten, ihnen ihre momentane, beklagenswerte Situation gestehen und sie anflehen, sie zu deren Wohltätigkeitsfall zu machen. Oder aber Maddy heiratete Le Daex.

Der bloße Gedanke, Quin und Claudia zu gestehen, dass ihr Leben im Luxus eine einzige Lüge war, ließ sie vor Entsetzen erstarren. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, wie Quin sie voller Abscheu ansehen würde. Maddy schüttelte energisch den Kopf und schwor sich, den beiden niemals die Wahrheit zu gestehen.

Aber in La Marais warteten ein Berg Schulden und ein kalter Winter voller Ungewissheit auf sie. Ein Winter, in dem sie würde hungern müssen. Und wenn sie eines hasste, dann war es Hunger.

Also blieb nur noch Le Daex. Wie unerträglich …

Um sich von diesen unerfreulichen Aspekten ihres künftigen Lebens abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf den großen Mann, der jetzt am Rand der Halle entlangging. Seine methodische, entschlossene Art des Suchens faszinierte sie genauso wie jede seiner Bewegungen. Schließlich blieb er stehen, fuhr sich durchs Haar und drehte sich langsam um seine eigene Achse. Es stimmte sie traurig, dass er seine Geliebte nicht finden konnte, nach der er so intensiv suchte. Sie trank auf ihn und wünschte ihm Glück.

Plötzlich schaute er in ihre Richtung, und sein Blick blieb an ihr hängen. Sofort näherte er sich auf diese aggressive Art dem Podest mit seinen Schwänen und Satyrn.

Verwirrt ließ Maddy ihr Glas sinken, denn außer ihr saß hier niemand. Er musste sie mit jemandem verwechseln. Ob sie diese Verwechslung ausnutzen sollte, um ein paar Küsse von ihm zu genießen? Oh, das würde wunderbar sein. Allein die Vorstellung, sich an diesen muskulösen Schultern festzuhalten, während seine Lippen sie berührten …

Während er sich ihr näherte, nahm er nicht den Blick von ihr und fesselte sie so sehr, dass alles ringsum verblasste. Weder sah sie die betrunkenen Männer, noch nahm sie das hohe, falsche Lachen der Kurtisanen vor dem Podest wahr.

Mit schnellen Schritten kam er zu ihr, und als er vor ihr stehen blieb, musste sie ein Keuchen unterdrücken. Sie war auf Augenhöhe mit seinen Lenden, und es gab keinen Zweifel an der Tatsache, dass er erregt war! Langsam hob sie den Kopf.

Er sah sie an und bot ihr wortlos seine große Hand an. Seine Augen waren tatsächlich dunkel und so eindringlich, wie sie es noch nie gesehen hatte. Zitternd atmete sie ein.

Le coup de foudre!

Ein Blitz aus heiterem Himmel! Nein, nein, keine Blitze für mich!, wehrte sie hastig ab. Maddy dachte immer praktisch, nie unrealistisch. Sie wusste nicht, woher dieser Gedanke gekommen war, denn le coup de foudre hatte noch eine zweite, tiefergehende Bedeutung.

Der Wunsch, nach seiner Hand zu greifen, war überwältigend. Mit einer Hand hielt sie krampfhaft ihr Glas fest, die andere hatte sie in ihre Röcke gekrallt. »Es tut mir leid, Sir. Ich bin nicht diejenige, nach der Sie suchen. Und ich bin auch keine … ähm … keine von diesen anderen Frauen.«

»Das ist mir klar.« Er fasste sanft, aber entschlossen ihren Ellbogen und half ihr aufzustehen. »Wären Sie so wie diese anderen Frauen, dann hätte ich nicht nach Ihnen gesucht.« Er sprach mit einem markanten schottischen Akzent, seine Stimme war so tief und rau, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief.

»Ich kenne Sie doch gar nicht«, sagte sie atemlos.

»Das wird sich bald ändern, Mädchen.« Seine Antwort ließ sie stutzig werden. Bevor sie etwas erwidern konnte, nahm er ihr Glas und stellte es weg, dann fasste er ihre Hand und half ihr vom Podest herunter.

Maddy hatte zwei Schwächen, die beide dazu angetan waren, zu ihrem Untergang zu führen: eine ausgeprägte Neugier und einen nicht minder ausgeprägten Stolz. Sie stellte sich beide Schwächen als Pferde in einem jener Rennen vor, bei denen sie manchmal etwas Geld verwettete. Im Augenblick war die Neugier stärker, und die verlangte von ihr, sich anzuhören, was der Schotte von ihr wollte – auch noch, als ihr bewusst wurde, dass er sie in einen der Räume führte, die die rückwärtige Wand des Lagerhauses säumten. Abermals stutzte sie, denn dies waren die Räumlichkeiten, in denen Prostituierte sich ausgiebiger um ihre Freier kümmerten.

Er öffnete die erste Tür; in dem schwach beleuchteten Zimmer kniete eine Frau vor einem jungen Mann und verwöhnte ihn mit dem Mund, während er sich vorbeugte und sie in ihre aufgerichteten, geröteten Brüste kniff.

»Raus«, wies der Schotte die beiden mit einem unterschwellig bedrohlichen Tonfall an. »Sofort.«

Die Frau erkannte die Drohung offensichtlich schneller als ihr Freier, da sie den betrunkenen Mann von sich stieß, ihr Mieder hochzog und hastig aufstand.

Während das Paar nach draußen schwankte, schaute der Schotte Maddy an, als wolle er ihre Reaktion auf das ergründen, was sie soeben mitangesehen hatten. Sie zuckte nur mit den Schultern. Eine ihrer besten Freundinnen und zugleich ihre Nachbarin von gegenüber war eine Prostituierte, und Szenen wie diese spielten sich ständig dort ab, wo sie lebte. An jeder Ecke stieß man auf eine andere Art von Sünde.

Mit ihren einundzwanzig Jahren hatte Maddy längst alles gesehen.

Kaum waren sie allein, schloss er die Tür und verkantete einen Stuhl unter dem Türgriff, damit niemand hereinkommen konnte. Wieso war sie nicht beunruhigt? Wo blieb ihr so ausgeprägter Selbsterhaltungstrieb? Das Zimmer wurde von einem ausladenden, mit leuchtend scharlachroter Seide bezogenen Bett beherrscht. Niemand konnte sie hier schreien hören, und falls doch, würde man glauben, eine Prostituierte liefere einen besonders überzeugenden Auftritt ab.

Doch aus einem unerfindlichen Grund fühlte sie, dass dieser Mann ihr nicht wehtun würde, und ihre Instinkte waren erwiesenermaßen unfehlbar, was Männer anging – in La Marais eine Gabe von unschätzbarem Wert.

Und falls die Dinge doch keinen guten Verlauf nehmen sollten, wäre dies nicht das erste Mal, dass das Gemächt eines Mannes mit ihrem Knie und sein Adamsapfel mit ihrer Faust Bekanntschaft schließen würden. Wenn er Arges im Schilde führte, dann würde er sich noch wundern, wie heftig und mit welch schmutzigen Tricks sich diese so zierliche Mademoiselle zur Wehr setzen würde.

Als er mit der Tür fertig war, stellte er sich vor Maddy, kam ihr dabei aber viel zu nahe, als es die Höflichkeit zuließ. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu schauen. »Wie ich Ihnen bereits sagte, Sir, bin ich keine von diesen Frauen. Ich gehöre nicht in dieses Zimmer, und Sie … Sie sollten mich nicht so mitnehmen, wie Sie es getan haben.«

»Und wie ich Ihnen bereits sagte, hätte ich Sie gar nicht erst mitgenommen, wenn Sie eine Kurtisane wären. Ich weiß, Sie sind eine Lady. Was ich nicht weiß, ist der Grund, der Sie auf diesen Maskenball führt.«

Ich versuche zu vergessen, dass ich bald in die Hölle zurückkehren muss …

Sie riss sich zusammen. »Ich bin mit meinen Freundinnen hier, weil wir auf ein Abenteuer aus sind.« Das galt zumindest für die anderen. Sie beabsichtigte, ihre Fähigkeiten als Taschendiebin zum Einsatz zu bringen, sobald die Gäste genug Bowle getrunken hatten.

»Und mit ›Abenteuer‹ meinen Sie sicherlich eine Affäre.« Sein Tonfall kam ihr zunehmend verärgert vor. »Eine gelangweilte junge Ehefrau, die nach einem Liebhaber Ausschau hält?«

»Keineswegs. Wir sind nur hier, um uns zu entrüsten, damit wir etwas in unsere kleinen Tagebücher schreiben können.« Als ob sie das Geld für ein Tagebuch oder die Zeit zum Schreiben hätte!

»Haben Sie mir deshalb erlaubt, Sie hierher zu bringen? Weil Sie dachten, Sie könnten über mich etwas in Ihrem Tagebuch notieren?«

»Ich habe es Ihnen erlaubt, weil jede Gegenwehr sinnlos gewesen wäre«, erwiderte sie. »Ich habe schon andere Männer wie Sie ähnlich entschlossen dreinblicken sehen. Hätte irgendetwas Sie davon abhalten können, mich in eines dieser Zimmer zu bringen?«

»Nichts und niemand hätte mich davon abhalten können«, erklärte er und sah ihr in die Augen.

»Genau. Und deshalb dachte ich mir, bevor ich mich von Ihnen über die Schulter legen und wegtragen lasse, kann ich Ihnen auch an einen ruhigen Ort folgen, um Ihnen dort darzulegen, dass ich an dieser Sache kein Interesse habe.«

Er kam noch etwas näher, und sie wich zurück, stieß gegen einen schmalen Tisch an der mit Seidenpapier verkleideten Wand. »Meine Absicht war es nicht nur, mit Ihnen allein zu sein, Mädchen. Und diese Absicht habe ich keinesfalls aufgegeben.«

3

Sie reagierte überraschend gefasst, ihre strahlend blauen Augen musterten ihn gelassen, als wäre es für sie an der Tagesordnung, dass ein hünenhafter Highlander sich ihr in einem abgedunkelten Zimmer näherte, das dem Sex diente.

Aus der Nähe konnte Ethan sie nun genauer ansehen. Vermutlich war sie nicht älter als zwanzig Jahre, aber sie war selbstsicher und noch viel reizender, als er es sich erträumt hatte, nachdem sie ihm auf der Straße aufgefallen war.

»Und was genau ist Ihre Absicht?«, fragte sie. Ihr Atem mochte etwas flacher gehen, als er mit unverhohlenen Blicken ihre Brüste betrachtete. Die Frau war schlank, viel schlanker, als es seinem üblichen Geschmack entsprach, doch ihre kleinen Brüste hatte sie gekonnt zur Schau gestellt, indem sie von ihrem engen Mieder hochgedrückt wurden. Am liebsten hätte er sich die Maske abgerissen und sein Gesicht gegen die cremefarbene Haut gepresst.

»Meine Absicht ist es« – zum ersten Mal seit drei Jahren wieder eine Frau unter mir zu spüren –, »Sie zu küssen.«

»Ihre Küsse« – sie betonte das Wort, als bezweifle sie, dass er wirklich nur das von ihr wollte – »werden Sie sich bei einer der Kurtisanen da draußen holen müssen.«