Karambolage - Hermann Bauer - E-Book

Karambolage E-Book

Hermann Bauer

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Beschreibung

Wien, zur Osterzeit. Nach einem Billardturnier im Kaffeehaus „Heller“ wird der Sieger, Georg Fellner, vor ein Auto gestoßen. Niemand hat etwas Genaues gesehen, denn es ist Nacht und, bedingt durch einen Stromausfall, stockfinster. Der erste Verdacht fällt auf seinen Kontrahenten Egon Sykora, der das Café nach einer Unsportlichkeit Fellners unter wilden Drohungen verlassen hat. Aber es gibt eine ganze Reihe weiterer Verdächtiger, denn Fellner war ein Zyniker und Provokateur, den kaum jemand leiden konnte. Neben Oberinspektor Juricek machen sich auch Chefober Leopold und sein Freund Korber auf die Suche nach dem Täter. Während sich Korber im „Billardklub Alt-Floridsdorf“ umhört, verfolgt Leopold die Spur einer Kinokarte, die er neben der Leiche gefunden hat ...

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Hermann Bauer

Karambolage

Ein Wiener Kaffeehauskrimi

Zum Buch

TÖDLICHER ZUSAMMENSTOSS Wien, zur Osterzeit. Nach einem Billardturnier im Kaffeehaus »Heller« wird der Sieger, Georg Fellner, vor ein Auto gestoßen. Niemand hat etwas Genaues gesehen, denn es ist Nacht und, bedingt durch einen Stromausfall, stockfinster. Der erste Verdacht fällt auf seinen Kontrahenten Egon Sykora, der das Café nach einer Unsportlichkeit Fellners unter wilden Drohungen verlassen hat. Aber es gibt eine ganze Reihe weiterer Verdächtiger, denn Fellner war ein Zyniker und Provokateur, den kaum jemand leiden konnte. Neben Oberinspektor Juricek machen sich auch Chefober Leopold und sein Freund Korber auf die Suche nach dem Täter. Während sich Korber im »Billardklub Alt-Floridsdorf« umhört, verfolgt Leopold die Spur einer Kinokarte, die er neben der Leiche gefunden hat …

Hermann Bauer wurde 1954 in Wien geboren. Dreißig wichtige Jahre seines Lebens verbrachte er im Bezirk Floridsdorf. Bereits während seiner Schulzeit begann er, sich für Billard, Tarock und das nahe gelegene Kaffeehaus, das Café Fichtl, zu interessieren, dessen Stammgast Bauer lange blieb. Von 1983 bis Anfang 2019 unterrichtete er Deutsch und Englisch an der BHAK Wien 10. Er wirkte in 13 Aufführungen der Theatergruppe seiner Schule mit. Im Jahr 2008 erschien sein erster Kriminalroman »Fernwehträume«, dem 14 weitere Krimis um das fiktive Floridsdorfer Café Heller und seinen Oberkellner Leopold folgten. »Schachmatt mit Melange« ist der 15. Kaffeehauskrimi des Autors. Er lebt mit seiner Frau Andrea in Wien und Eisenstadt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © neelz / photocase.com,

ISBN 978-3-8392-3012-1

Widmung

Für meine liebe, geduldige Frau Andrea.

1

Ostern ist das große Fest der Christenheit. Aber wenn die Christen feiern, dann gehen sie höchstens in die Kirche und nicht ins Kaffeehaus. Viele Menschen, ob Christen oder Nichtchristen, nehmen sich überhaupt zu den Festtagen eine Auszeit von der Stadt, scheren aus in den ländlichen Ruheraum oder den schon etwas wärmeren Süden und lassen die rauchgeschwängerte Luft und die Kaisermelange weit hinter sich.

Das sind schlechte Zeiten für das Café Heller in Wien-Floridsdorf. Nur wenige Stammgäste kommen auf einen Anstandsbesuch, trinken ihren kleinen Braunen und empfehlen sich wieder. Hie und da trifft sich abends eine gemütliche Runde, aber die Leute gehen früher als sonst. Noch ein Getränk? Nein, danke! Es ist Ostern, und da hat man auch anderwärtig etwas vor. Im Kaffeehaus ist die wahre Fastenzeit ausgebrochen.

Noch ehe der Herr Jesus Christus auferstanden ist, schließt das Café Heller deshalb in Demut seine Pforten – und feiert am dritten Tage danach, an einem schönen Dienstag, seine ganz private, eigene Auferstehung, wenn sich die wohlbekannten Gesichter wieder blicken lassen und feststeht, dass die kleine Pause nichts an den alten Gepflogenheiten geändert hat: Hier kommt das Achterl Rotwein hin, da der Gugelhupf und dort die heiße Schokolade.

So war’s auch diesen Dienstag. Die Sonne schien zum Fenster herein, und dem Oberkellner Leopold lachte das Herz im Leibe, als er die unzähligen kleinen Staubkörnchen in ihrem Lichtschein tanzen sah, die sich während der paar Ruhetage angesammelt hatten. Jetzt war wieder alles in Bewegung!

Bald würde noch weit mehr in Bewegung sein. Das große Dreiband-Billardturnier der Wiener Kaffee­sieder stand ins Haus.1

Eine der Vorrunden der Veranstaltung, bei der alle teilnahmeberechtigt waren, die Lust und Laune dazu hatten und ein kleines Nenngeld zahlten – außer den wirklichen Turnierspielern –, fand im Café Heller statt. Stärker eingeschätzte Spieler, also etwa der überwiegende Teil derjenigen, die in einem Klub eingeschrieben waren, mussten schwächeren Gegnern Punkte vorgeben. Für den Sieg benötigte man insgesamt 15 Punkte, und der Verlierer schied aus. Die Gewinner aller Vorrunden stiegen ins große Finale in der Wiener Stadthalle auf. Zusätzlich gab es Pokale und Sachpreise zu gewinnen.

Diese Vorrunde sollte schon heute beginnen und bis Donnerstag dauern. Also musste gleich das ganze Kaffeehaus auf Hochglanz gebracht werden. Die Billardbretter waren während der Feiertage frisch überzogen worden, die Queues aussortiert und repariert, ein Spielplan erstellt. Jetzt arbeitete man an den letzten Kleinigkeiten: Spielbälle polieren, Queuekreiden auspacken und Platz für möglichst viele Zuschauer schaffen, ohne die Spieler einerseits beziehungsweise den üblichen Kaffeehausbetrieb andererseits allzu sehr zu stören. Denn Herr Heller rechnete an allen Tagen des Turniers mit Hochbetrieb.

Mit stiller Andacht und nur begleitet vom Geräusch der Kaffeemaschine saugte Leopold noch einmal die Bretter ab, die für drei Tage die Welt bedeuten sollten. Dabei wurde ihm wieder klar, wie viel das Billardspiel über den Charakter der Menschen aussagte, die es regelmäßig betrieben.

Da gab es einmal jene Spieler, die unbeschwert und frisch von der Leber weg agierten und sich so von Stoß zu Stoß, von Stellung zu Stellung und von Punkt zu Punkt weiterarbeiteten, ohne erst große Überlegungen anzustellen. Im Prinzip überließen sie die Dinge dem Zufall, so wie ein anderer ohne viele Gedanken in den Tag hineinlebt. Das waren meist liebenswerte, aber unzuverlässige Typen, unterhaltsam, aber ohne rechte Ordnung in ihrem Leben. Dann gab es im Gegenteil solche, die jede Stellung minutiös berechneten, im Vorhinein schon wussten, wie sich die Bälle nach dem nächsten Stoß wieder zusammenfinden würden: solide, auf Genauigkeit und Kontinuität bedachte Menschen, erfolgreich, aber langweilig – und leicht aus den Angeln zu heben. Wehe, wenn sie eine Entwicklung des Spiels nicht richtig vorausahnten und plötzlich zum Spielball des Zufalls wurden. Dann waren sie dem Schicksal hilflos ausgeliefert. Andere wiederum streichelten und liebkosten die Bälle so, als handle es sich um delikate Frauenzimmer. Jeder Ballberührung wohnte ein Hauch von Zartheit inne. Es waren die wirklichen Liebhaber des Spiels, aber im Allgemeinen mangelte es ihnen an der nötigen Durchschlagskraft: Irgendwann fiel ein Stoß zu schwach aus, und der eigene Ball blieb hilflos auf dem grünen Filz liegen, ehe er den anderen, zur Vollendung des Punktes nötigen, berührt hatte. Und es gab die großen Schauspieler, die sich in Pose warfen und mit unwiderstehlicher Eleganz dem Spiel einen Hauch von Erotik verliehen, gleich, welchen Alters sie waren oder wie es um ihre sonstige körperliche Beschaffenheit stand. Sie hatten den Drang, gesehen zu werden, und litten unter einer ständigen Sehnsucht nach Anerkennung und Bewunderung. Aus ihren Augenwinkeln heraus suchten sie nach Verehrerinnen, die jedoch kaum jemals anwesend waren, und dachten neidisch an Fußballer oder Skistars. Ihr trauriges Schicksal bestand dann nicht selten darin, zum Idol einer alternden Handarbeitslehrerin zu werden, die ab und zu eine Partie beobachtete, während sie ihren Kaffee einnahm.

Es gab gute und schlechte Verlierer, ruhige und weniger ruhige Spieler. In manchen Runden wurde heftig diskutiert und gescherzt, während solches in anderen Kreisen streng verpönt war. Manch einer versuchte, seinen Gegenspieler durch gezielte und laute Ablenkungsmanöver aus dem Rhythmus zu bringen, dieser schwieg wiederum den ganzen Nachmittag oder Abend wie ein Grab, sodass man nur seine knarrenden Schritte auf dem Holzboden und ab und zu sein Schlürfen aus der Kaffeetasse hören konnte.

Allen aber war gemeinsam, dass sie das Karambolespiel liebten und ihm oft mehr Zeit und Energie opferten als irgendeiner anderen Sache. Leopold erinnerte sich an einen Weihnachtsabend vor etlichen Jahren, als die Sperrstunde bereits zum wiederholten Mal ausgerufen worden war, zwei ältere Herren aber partout nicht ihre Billardpartie beenden wollten. Beide hatten ein Zuhause, eine geliebte Frau sowie Kinder und Enkelkinder, die sich zur Bescherung angesagt hatten. Aber als Frau Heller ihnen untersagte, ihr Spiel fortzusetzen, schraubten sie nur traurig ihre Queues auseinander, schüttelten sich mit einem matten »Fröhliche Weihnachten« die Hände und stapften freudlos hinaus in die kalte Winternacht. Aus war’s, vorüber die festliche Stimmung, und kein Geschenk, kein weihnachtlich leuchtender Baum konnte ihnen die abgebrochene Billardpartie ersetzen. Sie fühlten sich in ihrem Inneren tot wie der gefrorene Boden unter ihren Füßen.

So weit konnte die Leidenschaft also gehen. Und wenn es ernst wurde, der Gruppensieg in einem Turnier in Aussicht stand, ein Höchstmaß an Genauigkeit, Konzentrationsvermögen und Fantasie gefordert war, wenn selbst ein ungeübter Unterhaltungsspieler nicht als Verlierer vom Brett gehen wollte, dann hingen oft die Nerven an einem seidenen Faden, und man wusste nie, wie ein Teilnehmer in einer extremen Situation reagieren würde.

An all das dachte Leopold, während er die letzten Staubkörner aus den Ecken saugte und alle Bälle auf Hochglanz brachte. Er freute sich auf das bevorstehende Ereignis. Er würde viele Bekannte wiedersehen, von denen er schon länger nichts gehört hatte. Vor allem aber hoffte Leopold, dass in der Atmosphäre knisternder Spannung ›etwas passieren‹ würde. Seit er seinem alten Schulfreund, Oberinspektor Juricek, einmal geholfen hatte, einen Kirchendiebstahl aufzuklären, spürte er nämlich einen Hang zum Kriminalistischen. An der Lösung eines Mordfalles war er immerhin schon beteiligt gewesen. Das hatte seinen Ehrgeiz aber erst so richtig geweckt. Jetzt wartete er täglich darauf, dass sich ihm wie damals gleichsam von selbst ein neuer Fall zutragen würde, irgendeine größere Sache, womöglich wieder ein Mord.

»Nur schön sauber machen, Leopold«, riss ihn da seine Chefin, Frau Heller, aus seinen Gedanken. »Und richten Sie mir alle Tische und Sessel so her, wie ich es Ihnen gesagt habe. Es muss überall noch ein Platz sein, wo die Leute durchkönnen. Und hinten, bei den Kartentischen, müssen die Spieler trotzdem ihre Ruhe haben. Sie wissen ja, unsere Stammgäste, die Tarockpartie …«2

»Jawohl, Frau Chefin, bin ja eigentlich fast schon fertig«, unterbrach Leopold sie und warf einen prüfenden Blick um sich. Dann schnippte er einmal kurz mit den Fingern, so als ob ihm etwas Wichtiges eingefallen sei, wandte Frau Heller den Rücken zu und öffnete seine heilige, ihm allein zur Benützung anvertraute Lade. Eine Weile kramte er darin herum, dann schien er gefunden zu haben, wonach er suchte: einen viereckigen weißen, beschriebenen Pappkarton mit einer Schnur dran. »Sagen Sie mir bitte nur noch, wo ich das hinhängen soll, damit es auch jeder sieht«, sagte er.

»Vielleicht neben die Theke, an einen der Queueschränke?«, schlug Frau Heller verwundert vor. »Aber zeigen Sie doch einmal her, was ist denn das?« Neugierig nahm sie ihm den Karton aus der Hand und las: »Ein Ober ist auch nur ein Mensch. Wenn es Ihnen bei uns gefallen hat, bitte ich um eine kleine Turnierspende. Leopold«

»Also Geld wollen Sie jetzt auch noch eintreiben? Und das in meinem Lokal?«, fragte Frau Heller entrüstet.

»Es ist doch nur, weil wir jetzt so drankommen, unser zweiter Ober, der Waldi Waldbauer, und ich, und kaum einer von uns eine Pause hat in diesen Tagen. Das geht wirklich schon an die Grenzen der Belastbarkeit. Außerdem ist es für einen guten Zweck.«

»Ach ja, guten Zweck«, lächelte Frau Heller. »Das hätte ich mir denken können. Für welchen denn?«

»Jetzt, wo’s so schön wird, hätte ich halt gern ein Fahrrad«, sagte Leopold. »Da könnte ich dann ganz billig und umweltfreundlich zur Arbeit fahren.«

*

Mittwoch, nachösterlicher Schulbeginn im gleich an das Café Heller angrenzenden Gymnasium, dem wichtigsten Nachwuchslieferanten und Devisenbringer für das Kaffeehaus. Als Thomas Korber – groß, Ende 30, nicht mehr ganz schlank, Professor für Deutsch und Englisch – die Stiegen zum Lehrerzimmer hinaufhetzte, befanden sich seine Kollegen schon auf dem Weg in ihre Klassen. Er war ein wenig außer Atem und schlecht gelaunt, weil er sich offensichtlich verspätet hatte. So etwas passierte ihm normalerweise nie, und gleich am ersten Schultag nach den Osterferien würde das wahrscheinlich einen schlechten Eindruck hinterlassen. Dabei hatte er den vorigen Abend – ganz gegen seine sonstigen Gepflogenheiten – solide vor dem Fernseher verbracht, allein, wie er es nun schon geraume Zeit war, und mit einer Kanne englischem Spezialtee. Jedenfalls hatte der Tee seine Energien für den darauffolgenden Morgen beträchtlich gelähmt, der Wecker war ungehört verhallt, und jetzt hatte er die Bescherung. Direktor Marksteiner, sonst ein sehr verständnisvoller Mensch, schätzte nämlich keine Unpünktlichkeit.

Hastig ging Korber zu seinem Platz, um die Sachen für den Unterricht in der ersten Stunde zusammenzuklauben. Draußen im Stiegenhaus war es bereits verdächtig ruhig. Kein gutes Zeichen.

Plötzlich vernahm er hinter sich ein kurzes Räuspern. Er drehte sich um und blickte in das säuerliche Lächeln von Elvira Pohanka, der Schulsekretärin. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit einer Diskretion, die das Schlimmste befürchten ließ, »aber Herr Direktor Marksteiner wünscht Sie zu sprechen.«

»Der Herr Direktor? Jetzt gleich?«, fragte Korber mit erhobenen Augenbrauen.

»Natürlich, jetzt gleich, Herr Professor«, nickte Frau Pohanka betulich. »Ihr Kollege Neururer betreut inzwischen die 2A. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.« Und schon trippelte sie voran in Richtung Direktion.

Der Tag fing also wirklich schlecht an. Ein Dienstgespräch mit dem Direktor war das Letzte, was Korber sich im Augenblick wünschte. Was konnte nur der Grund dafür sein? Eine Beschwerde? Korber hatte zwar ein reines Gewissen, aber ganz so sicher durfte man sich ja nie fühlen. Oder lag Marksteiner wieder sein Lebenswandel am Herzen, und er hatte deswegen sofort auf seine kleine Verspätung reagiert? Zuzutrauen war es ihm. Jedenfalls stand etwas Unangenehmes ins Haus, und er musste sich wieder einmal irgendwie aus einer Sache herauswursteln, dessen war er sich sicher.

Korber rückte noch einmal die Krawatte zurecht, während Frau Pohanka sorgsam anklopfte und die Direktionstüre öffnete. Was er dann sah, überraschte ihn aber so, dass es ihm gleichsam die Sprache verschlug.

Gegenüber von Direktor Marksteiner saß eine ihm unbekannte Frau, deren Aussehen seine Laune sofort wieder sprunghaft anhob. Ihr nicht ganz schulterlanges, dunkles Haar hing in leichten Wellen herunter, die graublauen Augen und der schmale, rot geschminkte Mund strahlten ihn zur Begrüßung an. Eine weiße Bluse und ein BH bedeckten wohlgeformte Brüste, die Korber in einer imaginären Skala einzuordnen versuchte. Die schlanken Beine steckten in bequemen schwarzen Hosen und waren lässig übereinandergeschlagen. Sie war so ziemlich das hübscheste weibliche Wesen, das er in letzter Zeit an der Schule gesehen hatte.

»Guten Morgen«, lächelte die Unbekannte und schickte Korber das Blitzen ihrer weißen Zähne hin­über.

»Ah, da sind Sie ja, Herr Kollege«, begrüßte Marksteiner Korber jovial und so gar nicht Unheil verkündend. »Schön, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben. Das ist Professor Thomas Korber, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, und das ist unsere neue Kollegin aus der Steiermark, Frau Professor Hinterleitner.«

»Sehr erfreut.« Korber streckte seinem attraktiven Gegenüber noch immer leicht verwirrt die Hand zum Gruß entgegen. Nur langsam begriff er, dass er hier nicht zu einem disziplinären Gespräch eingeladen war, sondern dass es offensichtlich um etwas völlig anderes ging.

»Frau Professor Hinterleitner hat, wenn Sie sich erinnern können, bereits in unserer letzten Semesterkonferenz Erwähnung gefunden«, fuhr Marksteiner fort. »Es war vorgesehen, dass sie im Herbst von ihrer Stammschule in Hartberg in der Oststeiermark an unser Gymnasium wechselt. Aber die Dinge haben dann einen ganz anderen Lauf genommen. Unsere liebe Kollegin Stieglitz ist, wie Sie ja wissen, leider ab heute in Krankenstand und kann in diesem Schuljahr nicht mehr unterrichten. Frau Hinterleitner hat andererseits ihre Zelte in Hartberg so gut wie abgebrochen und möchte sich in Wien häuslich niederlassen. So ist es uns gelungen, sie bereits mit heutigem Tag für den Unterricht an unserer Schule zu gewinnen. Sie wird Kollegin Stieglitz zunächst bis zum Sommer vertreten und dann ab Herbst im Rahmen einer vollen Lehrverpflichtung bei uns bleiben.«

Na großartig, sinnierte Korber. Die Unterredung begann, ihm Spaß zu machen.

»Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, lieber Korber, was das Ganze mit Ihnen zu tun hat. Nun, Frau Hinterleitner unterrichtet Deutsch und Englisch, genau wie Sie, und zum Großteil auch in denselben Klassen wie Sie. Da liegt es sozusagen auf der Hand, dass ich Sie bitte, die neue Kollegin an Ihre pädagogische Brust zu nehmen. Wir haben zwar alle schriftlichen Unterlagen von Frau Professor Stieglitz, aber es geht mir in erster Linie ums Feingefühl, wenn Sie verstehen, was ich meine. Machen Sie Frau Hinterleitner vertraut, was hier bei uns so der Brauch ist, Korber, und gehen Sie die schwierigen Fälle mit ihr durch, damit wir bei Notenschluss keine Probleme haben. Sie kennen unsere Pappenheimer ja in- und auswendig. Selbstredend haben Sie von mir schon jetzt alle erdenklichen Freiheiten, Frau Kollegin, trotzdem bitte ich Sie, ein wenig auf unsern Korber und seine Ratschläge zu hören.«

»Aber das ist doch selbstverständlich«, lächelte die Angesprochene und zwinkerte Korber zu. »Ich freue mich schon auf eine gute Zusammenarbeit.«

»Na, dann ist ja alles in bester Ordnung«, vermerkte Marksteiner zufrieden. »Nützen Sie noch den Rest der Stunde und gehen Sie zusammen die Unterlagen der armen Stieglitz durch. In der Pause werden Sie dann von mir dem gesamten Kollegium vorgestellt, ja, Frau Professor? Und wenn der liebe Korber Ihnen näher als dienstlich erlaubt kommt, seien Sie streng.«

»Ich werde mich zu wehren wissen«, sagte Frau Professor Hinterleitner und sah gar nicht so aus, als ob sie das tun wollte.

»Na, dann wünsche ich erst einmal gutes Gelingen. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns bald wohlfühlen, Frau Kollegin. Und Sie, Korber, bleiben mir brav.« Mit diesen Worten schüttelte Marksteiner beiden die Hand, hakte geistig einen Tagesordnungspunkt ab und komplimentierte die zwei anschließend auf den nüchternen, kühlen Gang hinaus.

»Sind Sie denn so ein Frauenheld, dass man vor Ihnen Angst haben muss?«, fragte die Hinterleitner.

»Nein, nein, eher das Gegenteil«, wehrte Korber ab. »Aber es gab einmal eine Beschwerde wegen einer Schülerin gegen mich. Gott sei Dank ist die Sache im Sand verlaufen.«

»Ach so! Entschuldigen Sie, wahrscheinlich bin ich wieder einmal viel zu neugierig. Ich sollte nicht so viele Fragen stellen. Ich heiße übrigens Maria.«

»Und ich Thomas. Es wäre mir überhaupt viel lieber, wenn wir uns duzen würden.«

»Na klar, Thomas.«

»Dann möchte ich dich jetzt etwas fragen. Wie hat es dich eigentlich zu uns verschlagen?«

Maria lachte laut auf: »Oh, das ist eine lange Geschichte. Ich bin frisch geschieden, und mein Mann arbeitete an derselben Schule wie ich. Du wirst verstehen, dass mir nicht viel daran gelegen ist, in Hartberg zu bleiben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und ich weiß nicht, irgendwie hat es mich schon immer gereizt, einmal in Wien zu leben.«

»Du hast also vor, in Wien zu bleiben?«

»Ja, zumindest für die nächsten paar Jahre. Natürlich ist alles viel schneller gegangen, als ich erwartet habe, deswegen muss ich auch noch ein bisschen auf eine Wohnung warten. Aber es geht schon. Derzeit wohne ich in einem kleinen, netten Appartement draußen am Stadtrand in Stammersdorf, einer Art Ferienwohnung, die zu einer Pension gehört. Das genügt mir, bis ich eine ständige Bleibe habe.«

»Verstehe. Ich wohne übrigens in Jedlersdorf, sozusagen auf der Strecke von hier nach Stammersdorf«, sagte Korber. Sie waren mittlerweile wieder im Lehrerzimmer angekommen und begannen, die einzelnen Klassen, Schüler und Vorbereitungen miteinander durchzugehen. Aber wenigstens Korber schien eher danach zu sein, sich weiter über private Dinge zu unterhalten. Er wollte die neue, hübsche, ihm anvertraute Kollegin nicht gleich nach dem Läuten wieder an die Allgemeinheit verlieren. »Gleich um die Ecke ist übrigens ein nettes Kaffeehaus, das Café Heller. Darf ich dich nachher noch auf ein Getränk dort einladen?«, fragte er.

Wieder lächelte Maria schelmisch. »Kannst du dich nicht daran erinnern, was der Direktor gesagt hat?«, mahnte sie ihn. »Nein, aber ohne Spaß, ich habe so viel um die Ohren, dass ich im Augenblick nicht weiß, wo mir der Kopf steht.«

Korber wagte sich noch ein Stück weiter vor. »Gehen wir vielleicht heute Abend wohin? Ich kenne einige gemütliche Lokale, und hier kommen wir ja doch nicht weiter.«

»Heute Abend habe ich mich schon mit einer Freundin verabredet. Tut mir leid.«

»Dann morgen?«, ließ Korber nicht locker.

»Also gut! Morgen Abend dürfte ich Zeit haben. Und wohin willst du mich entführen?«

Korber war sichtlich überrascht über die erlösende Antwort: »Ja, wie gesagt, es gibt ein paar gemütliche Lokale hier im Bezirk, zum Beispiel gleich in der Nähe deiner Pension, aber wenn du willst, können wir natürlich hinein in die Stadt fahren …«

»Innenstadt klingt nicht schlecht«, sagte Maria. »Und wo treffen wir uns?«

»Am besten vorne, am Bahnhof Floridsdorf. Auto habe ich leider keines«, zuckte Korber entschuldigend die Achseln.

»Macht ja nichts. Um sieben?«

»Ist gut, um sieben«, sagte Korber erleichtert.

Dann läutete es auch schon. Nach und nach kamen die Lehrer aus den Klassenzimmern herbei und warfen einen neugierigen Blick auf die neue Kollegin. Gleich würde die offizielle Vorstellung durch Direktor Marksteiner erfolgen.

Mit der angenehmen Ruhe war es also vorbei. Korber war es egal. Schon morgen durfte er mit Maria Hinterleitner allein sein. Er sog das bisschen laue Frühlingsluft, das durch das einzige geöffnete Fenster im Raum strömte, tief in sich ein.

*

Nachmittag. Korber lehnte jetzt mit einem Ellenbogen an der Theke des Café Heller, hatte einen kleinen Braunen vor sich stehen und rauchte eine Zigarette. Er blies kleine Wölkchen in die Luft und sinnierte. Er stellte sich gerade vor, wie er Hand in Hand mit Maria Hinterleitner durch die engen, romantischen Gassen der Wiener Innenstadt lustwandelte und sie nachher, bei einem guten Glas Wein, in eine zärtliche Umarmung nahm.

Sein Freund Leopold riss ihn aus seinen Träumen. »Na, wo warst du denn gestern Abend?«, fragte er grantig. »Ich habe schon damit gerechnet, dass du auf einen Sprung vorbeischaust.«

»Entschuldige, aber ich hab einfach keine Lust gehabt vor dem ersten Schultag«, sagte Korber gleichgültig.

»Ach so, du hast keine Lust gehabt«, ereiferte sich Leopold. »Und woher wir unser Geld nehmen, wenn die Stammgäste ausbleiben, das ist dir egal. Genauso, wie es dir wurscht ist, ob ich nach einem anstrengenden Tag noch Lust auf ein kleines Plauscherl habe. Hauptsache, ich bin für dich da, wenn du ein Problem hast und dein Herz bei mir ausschütten willst. Na, du bist mir ein wahrer Freund.«

»Versteh mich doch, Leopold«, seufzte Korber. »Ich will nicht jeden Abend im Kaffeehaus verenden. Hast du noch nie gute Vorsätze gehabt?«

»Selbstverständlich! Aber sie haben noch nie etwas mit dem Kaffeehaus oder meinen Freunden zu tun gehabt.«

Korber versuchte sich gerade vorzustellen, wie sich ihm Maria behutsam von der Seite näherte, ihre Wange an die seine drückte und flüsterte: »Danke für den schönen Abend, Liebling.« Stattdessen hörte er nur wieder Leopolds kratzbürstige Stimme: »Das Turnier ist schon im vollen Gange, Thomas!«

»Das … ach ja, das Dreibandturnier«, sagte Korber wie ferngesteuert und dämpfte seine Zigarette aus.

»Könntest ruhig mehr Interesse zeigen. Vor Ostern warst du noch Feuer und Flamme. Sag, was ist mit dir? Kommst du heute?«

»Nein. Ich habe noch zu tun. Es ist der erste Tag nach den Ferien, und außerdem, du weißt: meine guten Vorsätze.«

»So kenne ich dich ja gar nicht. Morgen vielleicht?«

Korber winkte ab. »Da habe ich leider schon etwas anderes vor.«

Schweigen. Beide hatten sich in einen heiligen Griesgram hineingesteigert, aus dem es schwer war, wieder he­rauszufinden. Korber war ganz in Gedanken versunken und betrachtete jeden Ablenkungsversuch sozusagen als Störung seiner Privatsphäre. Das wiederum wollte Leopold nicht so ohne Weiteres hinnehmen. Wer ins Kaffeehaus kam, hatte gesellig zu sein. Und wenn sein Freund Thomas, wie so oft, ein Problem hatte, dann hatte er ihn gefälligst in die Sache einzuweihen.

Leopold reagierte sich ab, indem er wahllos ein paar Getränke einschenkte und zu den hinteren Tischen trug. Dabei war seine Trefferquote überraschend hoch. Nur ein Cola blieb über, für das sich partout kein Abnehmer finden wollte. Er trank es in großen Zügen aus, dann machte er eine tadelnde Bewegung mit dem Zeigefinger und sagte: »Da steckt bestimmt ein Weibsbild dahinter.«

»Na ja, so direkt kann man das nicht sagen.«

»Stimmt’s, oder hab ich recht?«

»Also schau, Leopold, es ist nicht so, wie du dir denkst. Wir haben eine neue Kollegin bekommen, die sich erst einarbeiten muss. Ich soll ihr dabei ein bisschen helfen, weil wir auch etliche Klassen gemeinsam unterrichten. Deshalb treffen wir uns morgen Abend zu einem dienstlichen Gespräch.«

»Dienstliches Gespräch kennen wir«, spöttelte Leopold. »Immerhin besser, als sich des Nachts mit den eigenen Schülerinnen zu treffen und dafür fadenscheinige Ausreden zu gebrauchen. Aber du versäumst etwas. Morgen ist doch das große Turnierfinale. Und alles spitzt sich auf einen Zweikampf zu: Fellner gegen Sykora.«

Leopold ließ die beiden Namen bedeutungsschwer in der Luft hängen. Korber blickte nur verträumt in die Weite des Kaffeehauses. »Fellner gegen Sykora«, murmelte er. »So, so.«

»Ja, die beiden Erzrivalen. Du kennst sie doch von ehedem. Die haben sich noch nie leiden können. Kannst du dich nicht erinnern, wie oft sie früher miteinander gestritten haben? Der Sykora wollte dem Fellner immer beweisen, dass man nicht in einen Klub zu gehen braucht, um gut Billard zu spielen. Darum hat er auch diesen unnatürlichen Ehrgeiz entwickelt. Dann die eine Partie, die mit einem Schreiduell endete, weil Sykora behauptet hat, Fellner habe falsch gezählt. Seither haben sie, glaube ich, kein Wort mehr miteinander gesprochen und sind sich aus dem Weg gegangen, wo immer sie konnten. Und jetzt sieht es ganz so aus, als würden sie sich einander morgen im Finale gegenüberstehen und um den Siegespokal und den Aufstieg ins Finalturnier kämpfen. Bis jetzt hat der Chef ja die Partien so geschickt angesetzt, dass der eine schon weg war, wie der andere gekommen ist. Aber bald schlägt die Stunde der Wahrheit.«

»Lass sie nur schlagen«, bemerkte Korber gleichgültig. »Ich weiß nicht, ich habe im Augenblick einfach keinen Kopf dafür. Ich muss mich wieder mehr auf die Schule konzentrieren.«

»Ja, ja, auf die Schule! Und auf deine neue Kollegin natürlich auch. Dass du dich nicht in diese Stimmung versetzen kannst, diese knisternde Spannung, die herrschen wird, wenn sie nach so langer Zeit wieder aufeinandertreffen«, fuhr Leopold unbeirrt fort. »Der Klubspieler und der reine Amateur, der mit dem großen Mundwerk und der Ehrgeizling. Das polarisiert. Das Kaffeehaus wird zum Platzen voll sein. Und weißt du, was das bedeutet?«

»Dass du dir eine ganz schöne Menge Trinkgeld erschnorren wirst«, sagte Korber lakonisch.

»Ach, Unsinn.« Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du weißt, ich habe da meine eigene Theorie des Verbrechens, und einer der Kernpunkte lautet: Je mehr Leute, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein krimineller Akt geschieht. Ich werde dir das anhand eines kleinen Beispiels erläutern: Im Augenblick etwa ist hier herinnen nicht viel los, und es hängen auch nur ein paar leichte Mäntel und Jacken herum. Da würde man schnell bemerken, wenn sich jemand einfach ein Stück schnappt und damit abhaut. Ist aber das Kaffeehaus am Abend gut besucht und die ganze Garderobe voll mit Gewand, dann ist es nicht mehr so leicht, festzustellen, was wem gehört. Der ausgefuchste Dieb kommt mit einem alten, verlotterten Mantel und geht mit einem neuen davon. Wer soll das schon bemerken? Außerdem: Für Garderobe keine Haftung. Du verstehst doch, was ich meine?«

»Einstweilen kann ich dir noch folgen.«

Korber kannte seinen Freund. In seiner Begeisterung fürs Kriminalistische war er kaum zu bremsen. Zeitweilig sah er aus jeder Ecke das Böse kommen, und jeder Kaffeehausgast war für ihn nicht zuletzt ein potenzieller Täter. Auch jetzt bekamen Leopolds Augen wieder einen seltsamen Glanz.

»Das ist nur ein Beispiel für ein geringfügiges Vergehen«, fuhr er fort. »Aber, und ich sag’s nicht gerne, die Masse verleitet natürlich auch zu schlimmeren Taten, bis hin zu einem Mord. Die Menschen werden anonym, die Situation ist unüberschaubar … wie leicht kann da etwas passieren. Morgen Abend zum Beispiel: eine angespannte Situation, ein Gedränge, die Nerven flattern. Plötzlich entlädt sich alles in einer Gewalttat. Aber keinem fällt etwas auf. Das wäre doch genial: Ein Lokal voll möglicher Täter, ein Lokal voll mit Zeugen, dennoch bleibt ein Mörder unerkannt, weil niemand etwas gesehen hat.«

»Leopold, du spinnst«, sagte Korber. »Komm, ich möchte zahlen.«

Während er sein Geld auf die Theke legte und dabei auch nicht eine kleine Turnierspende zu entrichten vergaß, ahnte keiner der beiden Herren, wie schnell sich Leopolds Prophezeiung erfüllen sollte. Und Thomas Korber hatte überhaupt im Sinn, dem Turnierfinale am nächsten Tag fernzubleiben. Aber wieder einmal kam alles ganz, ganz anders.

1 Die Dreibandpartie ist eine beliebte Variante des Karambolespiels, bei welcher der Spielball über mindestens drei Banden gegangen sein muss, ehe der Punkt vollendet ist, d. h. die anderen beiden Bälle getroffen sind.

2 Die ›legendäre‹ Tarockpartie, bestehend aus Herrn Hofbauer, einem Herrn Adi,einem Herrn Kanzleirat und einem liebevoll ›Herr Kammersänger‹ genannten Heurigensänger ist aus dem Kaffeehaus nicht wegzudenken.

2

Als sie einander am nächsten Tag in der Schule begegneten, war noch alles beim Alten. Maria versicherte Korber, dass sie um Punkt sieben Uhr abends zur Stelle sein werde. Sie freue sich schon.

Angesichts des prächtigen Wetters – es war schon beinahe zu warm für diese Jahreszeit – war Korber nicht abgeneigt, ein wenig hinauszufahren und den Abend in einem heimeligen Heurigengarten zu verbringen. Warum nicht? Die laue Frühlingsluft in Verbindung mit einem guten Gläschen Wein in romantischer Umgebung eröffnete verheißungsvolle Aussichten. In die Stadt konnte man ein andermal fahren. Aber aus Erfahrung wusste er, dass Frauen immer andere Ideen hatten als man selbst.

Man würde sehen. Zunächst einmal bereute er es, in seinem Übereifer so früh zum vereinbarten Treffpunkt vor dem Bahnhof gekommen zu sein. Von Maria keine Spur. Nur eine etwas scheu und ängstlich wirkende junge Frau mit einer auffälligen roten Haube stand so herum, als ob sie ebenfalls auf jemanden warten würde, und biss sich dabei sämtliche Fingernägel ab. Er ärgerte sich, dass er Maria nicht um ihre Telefonnummer gefragt hatte. Konnte es sein, dass sie nicht herfand? Dass sie woanders auf diesem großen Platz wartete? Oder war sie einfach nur unpünktlich?

Unruhig ging Korber vor dem Bahnhof umher. Dabei ließ er seinen Blick in der Bahnhofshalle auf und ab schweifen, um sich ein wenig abzulenken. Der neu umgebaute Bahnhof Floridsdorf bot dabei keine schöne Ansicht. Er wirkte auf ihn ebenso kalt und ohne Charakter wie der alte, den er ersetzte, nur eben viel größer. Mussten alle Zweckgebäude so hässlich sein? Tausende von Menschen eilten hier täglich zu ihren Zügen und hatten dabei wohl keine Zeit, etwas von der architektonischen Trostlosigkeit auszumachen, die sie durchquerten. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, niemand blieb länger als unbedingt notwendig. Nur die üblichen zwielichtigen Gestalten, die sonst nirgendwo Unterschlupf fanden, hielt es zwischen den nüchternen, grauen Wänden. Sie vervollständigten das allgemeine Bild des Jammers.

Korber wurde immer ungeduldiger. Wo blieb Maria bloß? Er wollte sich so schnell wie möglich von diesem unfreundlichen Ort entfernen.

Das nervöse Rotkäppchen stand immer noch da und bearbeitete seine Fingernägel. Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie winkte jemandem freudig erregt zu. Korber glaubte die Person zu kennen, die bei seiner Nachbarin ein solches Entzücken hervorrief und jetzt rasch durch das allgemeine Gewirr von Menschen näher kam: Es war Maria.

»Da seid ihr ja schon, alle beide«, sagte sie mit aus Verlegenheit deutlich gerötetem Gesicht. »Ich hoffe, ich habe euch nicht zu lange warten lassen. Ingrid, das ist mein Kollege Thomas Korber, von dem ich dir schon erzählt habe. Thomas, das ist meine Freundin Ingrid Grabner.«

Ingrid lächelte kurz, als sie einander zur Begrüßung die Hand gaben. Trotzdem merkte man die Spannung, die zwischen beiden herrschte.

»Ach, Ingrid, hol mir bitte schnell eine Schachtel Zigaretten«, sagte Maria. »Ich denke, die Trafik hier im Bahnhof hat noch geöffnet.«

Ingrid verschwand artig. Kaum war sie außer Hörweite, versuchte Maria, Korber, dem sein Ärger deutlich anzusehen war, zu beruhigen: »Tut mir leid, Thomas, aber Ingrid ist sehr anhänglich. Sie war einmal meine Schülerin, und jetzt bin ich so etwas wie eine Ersatzmutter für sie. Sie hatte eine schwere Kindheit, doch davon werde ich dir ein anderes Mal erzählen. Jedenfalls haben wir uns gestern einen Film angesehen, waren aber dann zu müde, um noch etwas zu unternehmen. Na ja, und heute Nachmittag hat sie mich dann angerufen und gefragt, ob es uns stört, wenn sie mitgeht.«

»Und ob!«

»Sei nicht böse, Thomas. Ingrid ist wirklich nett. Wir haben uns einfach schon lange nicht mehr gesehen, weil ich erst seit Kurzem in Wien bin und sie hier studiert und jobbt. Deshalb ist ihre Sehnsucht nach mir sehr groß, versteh das doch bitte. Es ist nicht so, dass ich nicht mit dir ausgehen will, aber verschieben wir unser kleines Rendezvous noch ein wenig. Und heute brauchen wir ja nichts Großartiges zu unternehmen. Gehen wir einfach in dein Kaffeehaus, von dem du gestern so geschwärmt hast, und plaudern ein bisschen. Du wirst sehen, das wird noch ein gemütlicher Abend.«

Innerlich hatte Korber Maria schon verziehen, dennoch genoss er es, seinen Unmut jetzt so richtig zur Schau zu stellen. »Sonst gerne«, pfauchte er mürrisch. »Aber gerade heute ist dort das Finale vom Dreiband-Billardturnier. Da ist die Hütte gerammelt voll, und mit der Gemütlichkeit ist es nicht weit her.«

»Richtig, das Billardturnier. Stell dir vor, Herr Fellner, mein Zimmerwirt, spielt auch mit. Ingrid hat mir davon erzählt, als sie mich gestern in der Pension abholte. Es hängt zwar ohnehin ein Riesenplakat dort, aber ich habe es glatt übersehen. Da wollen wir eigentlich auch zuschauen. Eine bessere Möglichkeit, uns in dein Stammlokal einzuführen, hast du gar nicht.«

Korber erinnerte sich. Georg Fellner gehörte die Pension ›Olga‹ im Bezirksteil Strebersdorf, das heißt, eigentlich gehörte sie seiner Frau, Olga Fellner, deren Familie sie seit zwei Generationen führte. Dem Vernehmen nach ging der Betrieb immer noch recht gut. Vor ein paar Jahren waren deshalb auch zwei Ferienwohnungen dazugebaut worden, und in einer davon wohnte jetzt offensichtlich Maria Hinterleitner.

»Außerdem haben sie für die nächsten Stunden einen Wettersturz angesagt, da zahlt es sich nicht aus, weiß Gott wohin zu fahren«, redete Maria weiter auf ihn ein.

»Na schön, versuchen können wir’s ja«, sagte er ohne großen Enthusiasmus. Beziehungsmäßig konnte er den Abend vergessen. Vor allem: Wie stand er jetzt vor Leopold da? Immerhin würde er doch noch das Endspiel sehen, ein schwacher Trost.

»Fein! Da kommt Ingrid schon mit den Zigaretten. Gehen wir«, hörte er Maria und trabte den beiden Damen brav hinterher.

*

Das Café Heller war zum Bersten voll. Sogar die Rauchwolken, die über den Billardtischen hingen, schienen gespannt auf das Finale zu warten.

»Ganz schön stickig hier«, keuchte Ingrid, während sie versuchte, sich einen Weg zu den Kleiderhaken freizukämpfen. Trotz der milden Witterung hingen hier genug Jacken, Mäntel und Schirme, da alles mit dem vorhergesagten Schlechtwettereinbruch rechnete. Freien Sitzplatz konnte Korber keinen ausmachen. Er hielt verzweifelt nach Leopold Ausschau.

»Das habe ich mir gedacht, dass du jetzt daherkommst«, hörte er plötzlich eine aufgebrachte Stimme hinter sich. »Jetzt, wo gleich das Finale anfängt. Und mit zwei Damen auch noch dazu. Typisch. Hättest du gestern etwas gesagt, hätte ich ein Platzerl für dich freihalten können, aber da haben der Herr ja geglaubt, dass er ein anderes Etablissement aufsuchen wird.«

»Leopold, glaube mir …«

»Egal ob ich dir glaube und was ich dir glaube, ich kann jetzt praktisch gar nichts machen. Wir sind froh, wenn alle, die da sind, noch etwas sehen und wir selbst mit den Getränken durchkönnen. Das heißt, gegen eine anständige Turnierspende – für einen guten Zweck, wohlgemerkt – wäre es mir unter Umständen möglich, vorne beim Waldi bei den Zeitungslesern ein paar alte Damen zu verscheuchen, die schon seit drei Stunden bei einem Kaffee sitzen – natürlich nur, wenn du aufgrund deiner weiblichen Gesellschaft auf die Partie verzichtest.«

»Aber wir wollen das Spiel doch sehen«, meldete sich Ingrid zu Wort, die kurz in der Menge untergetaucht war und jetzt plötzlich wieder neben Korber stand.

»Überlegt euch das schnell, ich hab keine Zeit, ich muss servieren«, wurde Leopold ungeduldig. »Fellner gegen Sykora, wie ich gesagt habe. Und der Fellner hat seine ganze Anhängerschaft aus dem Klub mitgebracht. Da geht was weiter.«

Korber hatte Maria mittlerweile aus den Augen verloren. Ingrid, die ohne ihr rotes Häubchen etwas erwachsener aussah, zuckte mit den Achseln. Beide schienen nicht so richtig zu wissen, was sie tun sollten, als Korber plötzlich eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte. Die Berührung war kurz, aber gar nicht hastig und vertrauenerweckend.

Es war Angela ›Geli‹ Bauer, ehemalige Schülerin des Gymnasiums, jetzt treuer Kaffeehausstammgast, vielleicht keine absolute Schönheit, aber immer heiter und ausgeglichen – und laut Leopold eine junge Frau, die viel besser zu Korber passte als alles andere Weibliche, mit dem er sich sonst umgab.

»Wenn Sie wollen, können Sie unseren Platz haben, Herr Professor«, sagte sie. »Sie sehen von dort recht gut auf den Spieltisch. Wir haben ein bisschen gewürfelt, aber jetzt, wo so viele Leute herinnen sind, macht es uns keinen Spaß mehr. Viel Vergnügen.«