Rachemokka - Hermann Bauer - E-Book

Rachemokka E-Book

Hermann Bauer

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Im Café Heller treffen Befürworter und Gegner eines touristischen Projekts auf der Eichendorff-Höhe am Bisamberg aufeinander. In derselben Nacht wird die Anführerin der Gegenpartei, die Lehrerin Marion Kirchner, erschlagen beim Denkmal des Dichters aufgefunden. Bei seinen Ermittlungen im Umfeld beider Parteien findet Oberkellner Leopold heraus, dass mehrere Verdächtige die Tote aus ihrer früheren Heimat kannten. Leopold macht sich daran, den Fall zu lösen, und versucht, die Geschehnisse der Mordnacht vor Ort zu rekonstruieren.

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Seitenzahl: 326

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Hermann Bauer

Rachemokka

Wiener Kaffeehauskrimi

Zum Buch

Kaffeekännchenduell Durch Zufall finden die Versammlungen der Befürworter und Gegner eines touristischen Projekts, der Romantik-Erlebniswelt am Bisamberg rund um den Dichter Eichendorff, zur selben Zeit im Café Heller statt. Es kommt zu hitzigen Auseinandersetzungen. Nach Mitternacht entdeckt Oberkellner Leopold Marion Kirchner, das Oberhaupt der Gegner des Vorhabens, erschlagen beim Eichendorff-Denkmal. Nicht nur der Streit um das Projekt kommt als Ursache in Frage, sondern auch in Marions privatem Umfeld finden sich mögliche Motive für das Verbrechen. Leopold gerät bald in eine Zwickmühle. Denn eine schöne Unbekannte bittet ihn, nach einem Dokument zu suchen, das Marion angeblich im Heller bei sich hatte. Frau Heller und Erika Haller hoffen auf ihn als Mitstreiter gegen die für sie fatalen Pläne des Unternehmers Ludwig Bergmann. Und immer mehr Spuren führen in Marions frühere Heimat. Zur Lösung des Rätsels versucht Leopold, die Geschehnisse der Mordnacht vor Ort zu rekonstruieren.

Hermann Bauer wurde 1954 in Wien geboren. Dreißig wichtige Jahre seines Lebens verbrachte er im Bezirk Floridsdorf. Bereits während seiner Schulzeit begann er, sich für Billard, Tarock und das nahe gelegene Kaffeehaus, das Café Fichtl zu interessieren, dessen Stammgast Bauer lange blieb. Von 1983 bis Anfang 2019 unterrichtete er Deutsch und Englisch an der BHAK Wien 10. Er wirkte in 13 Aufführungen der Theatergruppe seiner Schule mit. Als Hermann Bauer 1993 seine Frau Andrea heiratete, verließ er ihr zuliebe seinen Heimatbezirk. Im Jahr 2008 erschien sein erster Kriminalroman »Fernwehträume«, dem 13 weitere Krimis um das fiktive Floridsdorfer Café Heller und seinen Oberkellner Leopold folgten. »Rachemokka« ist der 14. Kaffeehauskrimi des Autors.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Rachemokka (2021)

Grillparzerkomplott (2020)

Mordsmelange (2019)

Mord im Hotel (2018)

Stiftertod (2017)

Kostümball (2016)

Rilkerätsel (2015)

Schnitzlerlust (2014)

Lenauwahn (2013)

Nestroy-Jux (2012)

Philosophenpunsch (2011)

Verschwörungsmelange (2010)

Karambolage (2009)

Fernwehträume (2008)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Yadid Levy / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6974-9

 

 

Kapitel 1

Dienstag, 23. Juni, nachmittags

»Hallo!«

Dieser laute Ruf eines neu eintretenden Gastes zerschnitt die frühnachmittägliche Ruhe im Floridsdorfer Café Heller wie ein Schwerthieb. Oberkellner Leopold W. Hofer, der gerade dabei war, seinem Freund, dem Gymnasiallehrer Thomas Korber, ein Krügerl Bier zu zapfen, wurde sofort in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Betrat man ein Wiener Kaffeehaus und war kein Stammgast, so gehörte diese Art, auf sich aufmerksam zu machen, nicht zum guten Ton.

»Der Herr belieben zu telefonieren?«, fragte Leopold deshalb.

Der Gast schaute Leopold mit verwunderten, hinter einer getönten Brille versteckten Augen an. Er mochte um die 50 Jahre alt sein, war von stattlicher Größe und hatte sein leicht angegrautes, schütteres Haar streng nach hinten gekämmt. »Nee, ich grüße bloß die Leute hier«, rechtfertigte er sich.

Leopold hatte eine leise Ahnung. »Bei uns sagt man Grüß Gott oder Guten Tag, wenn man in ein Lokal kommt«, wies er den Neuankömmling zurecht.

Der setzte sich breitbeinig an einen Tisch unmittelbar vor der Theke, genau in Leopolds Blickfeld. »Mensch, ist das nicht egal, was ich sage, wenn ich reinkomme?«, ereiferte er sich. »Warum seid ihr Österreicher immer so wahnsinnig kompliziert?«

Ihr Österreicher! Leopold fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt. Bei dem Gast handelte es sich offenbar um einen Menschen aus Deutschland. Oft verirrte sich diese Spezies ja nicht ins Café Heller. Umso vorsichtiger musste man sein!

Leopold fand es vorerst nicht der Mühe wert, sich zu seinem Tisch zu bemühen. Ohne näher auf seine Äußerung einzugehen, fragte er ihn aus der Distanz: »Was bekommen Sie?«

»Einen Kaffe«, meldete der Gast sofort, das Wort dabei provokant auf der ersten Silbe betonend.

»Und was für einen Kaffee?«, korrigierte Leopold die Aussprache überdeutlich.

»Mit Sahne und Zucker«, antwortete der Gast, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.

»So einfach ist das nicht, lieber Herr«, teilte Leopold ihm herablassend mit. »Erstens nehmen wir keine Sahne, sondern Milch. Zweitens gibt es die verschiedensten Sorten: kleiner Brauner, großer Brauner, Melange, Verlängerter, Häferlkaffee, Kapuziner – was darf’s denn sein?«

Nun saß der Mann ein wenig ratlos da. »Die sind alle mit Milch und Zucker? Könnten Sie mir vielleicht mal den Unterschied erklären?«

Leopold gab es einen leichten Stich. Er hätte doch nicht so bedenkenlos aufzählen sollen. Nun ging es darum, Souveränität zu bewahren. »Ein Brauner ist ein Espresso mit Milch«, begann er. »Klein und groß versteht sich wohl von selbst. Ein Verlängerter wird zusätzlich noch mit ein wenig Wasser gestreckt. Bei einer Melange handelt es sich um einen Kaffee mit viel heißer Milch und einem Hauberl aus Milchschaum. Ein Häferlkaffee wird mittels einer Filtertüte zubereitet …«

»Das kenn ich! Das ist ein Kännchen Kaffe«, unterbrach der Gast stolz. »Mit Milch und Zucker!«

»Nein, mein Herr! Das ist ein Häferlkaffee«, beharrte Leopold.

»Von mir aus! Ist ohnehin dasselbe!«

Leopold überhörte diese letzte Bemerkung. »Beim Kapuziner handelt es sich schließlich um einen Espresso mit einem Schuss Obers«, schloss er seine Ausführungen ab.

Der Gast verzog ungläubig das Gesicht. »Mit was für ’nem Schuss?«

»Einem Schuss Sahne«, half ihm da Thomas Korber auf die Sprünge und heimste dafür einen giftigen Blick von seinem Freund Leopold ein. »Ein paar Tropfen ergeben die schöne braune Färbung einer Mönchskutte, daher der Name. Sie kennen ihn wahrscheinlich unter der Bezeichnung Cappuccino.«

»Also doch Sahne«, murmelte der Gast. »Nee, so was kann ich nicht brauchen«, wehrte er ab. »Bin schon längere Zeit aus der Kirche ausgetreten. Dann nehme ich eben das Kännchen.«

»Kännchen gibt’s bei uns nicht«, machte Leopold ihn aufmerksam.

»Also dann meinetwegen diesen Filterkaffe. Mit Milch und Zucker. Mensch, seien Sie doch nicht so stur!«

»Warum bist du denn wirklich so komisch?«, wollte Korber wissen, als sich Leopold anschickte, die Filtermaschine anzuwerfen.

»Wenn einer schon mit ›Hallo‹ bei der Tür hereinkommt, ist das eine denkbar schlechte Basis für eine geschäftliche Beziehung«, raunte Leopold ihm kopfschüttelnd zu. »Außerdem hat er es nicht ein einziges Mal der Mühe wert gefunden, ›Häferl‹ zu sagen!«

Nachdem der Deutsche seinen Kaffee bekommen hatte, trank er ihn langsam und mit Genuss. Dabei schaute er sich interessiert im Lokal um, an dem er offensichtlich Gefallen fand. Das eine oder andere Mal hüstelte er auffällig und rümpfte die Nase. Schließlich rief er Leopold zum Zahlen herbei und gab ihm sogar einen Euro Trinkgeld.

»Verbindlichsten Dank, der Herr«, bemühte sich Leopold trotz seines inneren Widerstandes um Höflichkeit. »Und baldige Besserung!«

»Ist gar nichts, bin kerngesund«, winkte der Gast ab. »Das macht nur die Luft herinnen. Wirkt ziemlich verraucht. Dabei habt ihr in eurem schönen Land doch jetzt auch endlich ein Rauchverbot, oder täusche ich mich?«

In eurem schönen Land. Wieder so ein Satz, der Leopolds Nervenkostüm strapazierte. Gott sei Dank würde der Mann aus dem Nachbarland in wenigen Augenblicken aus seinem Leben verschwunden sein. »Vor dem Verbot ist aber geraucht worden«, ließ er ihn wissen. »Ziemlich viel und stark, wie es sich gehört hat. Der Rauch hängt noch herinnen. So etwas hat eine Halbwertszeit von etlichen Jahren. Sie sind der erste Gast, den das stört. Wenn jemand frische Luft haben möchte, geht er ohnehin nicht ins Kaffeehaus.«

»Ihr Wiener seid schon ein komisches Völkchen«, lachte der deutsche Gast da auf. »Daran werde ich mich gewöhnen müssen. Sonst ist es hier ja sehr gemütlich. Also tschüss und bis zum nächsten Mal!«

Leopold hatte sich offenbar zu früh gefreut. Allem Anschein nach war dieser Mann gekommen, um zu bleiben.

*

»Ich weiß nicht, was du hast«, kritisierte Thomas Korber seinen Freund, während er bedächtig weiter an seinem Bier trank. »Es ist doch heutzutage ganz normal, dass in ein Kaffeehaus Gäste aus einem anderen Land kommen, selbst in unserem Floridsdorf nördlich der Donau. Und bei einem Deutschen gibt es wenigstens keine Verständigungsschwierigkeiten.«

»Grad da«, widersprach Leopold. »Du hast es ja selbst gehört! Kännchen! Dass ich nicht lache!«

»Sei nicht so pitzelig. Das war ein bisschen Schattenboxen, nichts weiter. Jeder von euch hat genau gewusst, was der andere meint.«

»Da bin ich mir nicht so sicher!«

»Die Deutschen bilden jedenfalls die größte Migrantengruppe in Österreich«, stellte Korber fest. »Eigentlich ist es seltsam, dass sie im Heller bisher kaum zu sehen waren. Sie müssten hier öfter auftauchen.«

»Gott bewahre«, verzog Leopold gleich das Gesicht. »Die sollen bei ihresgleichen bleiben. Für solche Touristen gibt’s genügend Lokale im innerstädtischen Bereich. Die brauchen nicht extra zu uns zu kommen!«

»Die leben hier, Leopold! Wie du und ich«, bemerkte Korber amüsiert.

»In Floridsdorf?«, wunderte Leopold sich.

»Selbstverständlich! Du wirst das akzeptieren müssen. Europa wächst zusammen«, belehrte Korber ihn. »Aber auch bei den Touristen ist es nicht mehr selbstverständlich, dass sie ihre Aktivitäten auf die Innenstadt, den Prater und Schönbrunn beschränken. Die Stadt Wien überlegt im Gegenteil, wie sie des wachsenden Besucherandrangs Herr wird, indem sie die Massen sinnvoll auf das gesamte Stadtgebiet verteilt.«

»Verteilt? So wie Flüchtlinge?«, fragte Leopold skeptisch.

Korber schüttelte den Kopf. »Nein, hier geht es um Anreize«, fuhr er fort. »Die Beliebtheit Wiens als Reiseziel führt dazu, dass immer mehr Menschen kommen, um sich unsere schöne Stadt anzuschauen. Dadurch staut es sich an den neuralgischen Punkten bereits derart, dass Gegenmaßnahmen erforderlich sind. Und eine Möglichkeit wäre, die Touristen zu neuen Plätzen zu locken, die genauso schön, aber noch nicht so bekannt sind.«

»Den Leuten an diesen Plätzen ist es sicher lieber, wenn die Touristen dort aufeinander picken, wo sie unter sich sind, und sie in Ruhe lassen«, gab Leopold zu bedenken.

»Wie auch immer du darüber denkst, ein großer Flächenbezirk wie Floridsdorf mit über 100.000 Einwohnern wird sich hier nicht ausschließen können und wollen«, machte Korber ihn aufmerksam.

»Man hätte doch nicht so viele Brücken über die Donau bauen sollen«, ätzte Leopold. »Andererseits: Was soll sich ein Urlauber, der von was weiß ich wo herkommt, bei uns schon anschauen? Den Wasserpark? Die Donaufelder Kirche?«

»Es gibt bereits Überlegungen den Bisamberg betreffend«, eröffnete Korber seinem Freund. »Die Lage dort ist ideal: die Natur, der herrliche Blick auf Wien, die gemütlichen Heurigen in Stammersdorf und Hagenbrunn. Es fehlt nur noch ein knalliger Aufhänger, um die Leute in Scharen anzulocken.«

»Und was soll das sein?«, wollte Leopold wissen.

»Die Sache klingt interessant, ruft aber genügend Gegner auf den Plan«, antwortete Korber. »Joseph von Eichendorff, einer der berühmtesten Vertreter der deutschen Romantik, ist während seiner Studienzeit in Wien oft am Bisamberg und um ihn herum spazieren gegangen. Er hat eine besondere Affinität zu diesem Ort entwickelt. In Erinnerung daran wurde im Jahr 1957 auf der sogenannten Eichendorff-Höhe ein Denkmal des Dichters errichtet.«

»Die Donau blitzt aus tiefem Grund. Der Stephansdom auch von ganz fern guckt übern Berg und säh mich gern«, deklamierte Leopold. »So steht’s auf dem Stein. Erika und ich sind erst unlängst bei einem Spaziergang dort vorbeigekommen. Hat er nett gedichtet, der Herr von Eichendorff. Aber wie soll dieses schlichte Denkmal, das eher unscheinbar am Wegesrand steht, Touristen anziehen? Da ist doch nichts Knalliges dran.«

»Wenn du mir nicht dreingeredet hättest, wüsstest du’s schon«, ärgerte sich Korber und bedeutete Leopold gleichzeitig, dass er eine erneute Füllung seines Bierglases wünschte.

»Kommt’s mir nur so vor, oder trinkst du wieder mehr?«, fragte Leopold.

»Kann dir egal sein«, entgegnete Korber schnippisch. »Darf ich fortfahren? Das Denkmal wird zu einem entsprechenden Blickfang ausgebaut. Es soll zum Ausgangspunkt für ein touristisches Projekt werden. Man bedient sich der allgemeinen Ansicht, dass Teile von Eichendorffs berühmter Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts hier angesiedelt sind. Der Bisamberg wird somit als Landschaft der Romantik präsentiert, und der Name Eichendorff soll vor allem deine deutschen Freunde anlocken.«

»Und du glaubst, die kommen dann alle?« Mit diesen Worten stellte Leopold ein frisch gezapftes Krügel vor Korber hin.

»Dafür muss zwar noch einiges geschehen, aber es gibt bereits intensive Beratungen zwischen Wien und den niederösterreichischen Gemeinden rund um den Bisamberg«, schilderte Korber. »Ich weiß es von einer Kollegin, die in Hagenbrunn wohnt. Der große Spielplatz unterhalb der Eichendorff-Höhe soll zu einem Erlebnisbereich umgestaltet werden. Da wird man wohl auch gastronomisch ein Schäuferl drauflegen. Von einem Eichendorff-Romantik-Feriendorf oberhalb der Stammersdorfer Kellergasse ist ebenfalls die Rede.«

Leopold kratzte sich am Kopf. »Das klingt bedrohlich«, stellte er fest. »Hat man den Bisamberg nicht zum Landschaftsschutzgebiet erklärt?«

»Von den Befürwortern des Projekts wird wohl sehr trickreich argumentiert werden«, setzte Korber ihm auseinander. »Man wird behaupten, dass, wenn überhaupt, nur ganz geringfügig in die Landschaft eingegriffen wird. Die große Wiese, die zum Festgelände werden soll, gibt’s ja bereits, auch Parkmöglichkeiten in der näheren Umgebung. Man wird die Senderstraße verbreitern und noch einen zentralen Parkplatz schaffen. Angeblich muss dabei kein einziger Baum dran glauben. Und das Feriendorf entsteht sowieso außerhalb der sensiblen Zone. Also wird es gemacht, weil es für alle ein Riesengeschäft ist.«

»Dann wird’s da oben laut und ungemütlich«, dämmerte es Leopold. »Und man kann wegen des Lärms und der vielen Leute nicht mehr in Ruhe spazieren gehen. Ich befürchte das Schlimmste! Überall trifft man nur mehr auf Piefke, Schlitzaugen, Katzelmacher …«

»Schön sprechen, Leopold«, wurde er da unsanft von Frau Heller unterbrochen, die durch ihre kleine Küche das Lokal betreten und den letzten Teil der Unterhaltung mitverfolgt hatte. »Das ist ja furchtbar, was Sie da von sich geben! Da verschlägt es sogar einer gestandenen Floridsdorferin wie mir die Sprache. Ihre Phobie gegenüber allem, was nicht unserem Bezirk entstammt, nimmt beängstigende Formen an. Ich bitte mir ein bisschen mehr Unvoreingenommenheit aus!«

»Aber Frau Sidonie«, bemühte sich der überraschte Leopold um Schadensbegrenzung, »es geht mir um unsere schöne Natur am Bisamberg und den Umweltschutz im Allgemeinen. Das ist heutzutage ein wichtiges Thema! Da habe ich nicht umhin können, auf die Gefahren hinzuweisen, die durch einen überzogenen Tourismus entstehen können.«

»Sie haben das auf eine sehr unflätige Art getan. Das müssen Sie sich schleunigst abgewöhnen!«

»Dann gewöhn ich mir’s halt ab«, bemerkte Leopold leichthin. »Eigentlich spielt sich alles ohnehin dort oben ab und kann uns egal sein.«

»Es kann uns nicht egal sein«, beeilte Frau Heller sich zu sagen. »Wenn es tatsächlich, wie ich hoffe, zu den geplanten Maßnahmen am Bisamberg kommt, bedeutet das auch für das Zentrum Floridsdorfs ein gesteigertes Interesse aus aller Welt. Schließlich kommen die Leute auf ihrem Weg dorthin direkt bei uns vorbei. Wir müssen nur darauf achten, dass sie uns nicht links liegen lassen. Ich werde die neue Situation demnächst mit anderen Geschäftsleuten des Bezirkes diskutieren, damit wir die geeigneten Akzente setzen. Da ist übrigens auch Ihre Freundin Erika dabei.«

Erika Haller hatte vor Kurzem den Standort ihrer Papeterie im neunten Bezirk aufgegeben und war in ein Floridsdorfer Geschäftslokal in der Nähe des Bahnhofs und des Café Heller gezogen. »So habe ich mir das vorgestellt«, stöhnte Leopold. »Wenn sie diese Invasion unterstützt, sehe ich schöne Zeiten auf unsere Beziehung zukommen.«

»Stellen Sie sich nicht so an«, munterte ihn Frau Heller auf. »Es ist höchste Zeit, dass Floridsdorf aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Endlich tut sich etwas, das dem Bezirk jene Bedeutung verleiht, die er auch verdient. Auch wir werden uns ein wenig herausputzen müssen. Unser Schanigarten wird in neuem Glanz erstrahlen. Außerdem schwebt mir ein neues Schild über dem Eingang vor: ›Café Heller – Das romantische Wiener Traditionscafé mit dem internationalen Flair‹. Na, wie klingt das?«

»Furchtbar«, war das Einzige, was Leopold dazu einfiel. »Was ist an unserem Kaffeehaus denn romantisch?«

»Fragen Sie nicht, passen Sie lieber auf, dass Ihnen in nächster Zeit keine fremdenfeindlichen Äußerungen mehr herausrutschen«, nahm ihn Frau Heller ins Gebet. »Wer zahlt, schafft an! Der Kunde ist König, egal, woher er kommt! Merken Sie sich das!«

»Ich bin immer höflich, wenn der Gast einigermaßen in der Lage ist zu sagen, was er will«, merkte Leopold an.

»Dann haben wir uns ja verstanden. Ich möchte in dieser Hinsicht in nächster Zeit keine Beschwerden hören, sonst lernen Sie mich von einer anderen Seite kennen.« Mit diesen mahnenden Worten verschwand Frau Heller wieder durch die kleine Küche.

»Das klingt überhaupt nicht gut«, maulte Leopold in Richtung Korber. »Du kennst ja unsere Chefin, wenn sie sich für eine Idee begeistert. Ich fürchte, wir werden demnächst von lauter Fremden überrannt. Ich rechne mit dem Schlimmsten!«

»Du darfst das nicht so dramatisch sehen«, versuchte Korber, ihn zu beruhigen. »Dir fehlt eine gewisse Weltoffenheit. Das kommt daher, dass du nirgendwo hinfährst. Würdest du etwa einmal nach Deutschland reisen, könntest du feststellen, wie freundlich die Menschen dort sind.«

»Ich war noch nie in Deutschland und ich werde dort auch nie hinfahren, das kann ich dir jetzt schon versprechen«, brummte Leopold.

»Ich habe zwei Semester in Heidelberg studiert«, geriet Korber ins Schwärmen. »Es waren einige der schönsten Monate meines Lebens.«

»Und warum bist du dann nicht dortgeblieben?«

»Wenn es einem wo gefällt, heißt das noch lange nicht, dass man niemals mehr von dort zurückmöchte«, beeilte Korber sich zu sagen. »Im Gegenteil, zu Hause ist es ja dann auch wieder schön. Aber man hat eine Abwechslung gehabt und neue Menschen kennengelernt. So etwas kannst du nicht verstehen.«

Leopold murrte nur etwas Unverständliches. Danach war es eine Zeit lang still zwischen den beiden. Korber widmete sich seinem Bier und Leopold seiner Arbeit. Schließlich fragte Leopold seinen Freund doch noch: »Findest du das, was für den Bisamberg geplant ist, wirklich in Ordnung?«

»Man muss abwarten, was letzten Endes herauskommt«, gab sich Korber bedeckt. »Aber eines ist klar: Es wird, fürchte ich, diesbezüglich in naher Zukunft einiges an Unruhe geben. Es gefällt nicht jedem, dass es Veränderungen an diesem schönen Fleckchen Erde geben soll.«

»Einer, dem das sicher nicht gefällt, wird, wenn ich mich nicht sehr täusche, heute noch im Kaffeehaus vorbeischauen«, kündigte Leopold an. »Da bin ich schon sehr gespannt darauf, was er sagt.«

*

Thomas Korber hatte sich auf einen Platz beim Fenster zurückgezogen, um kurz vor Notenschluss noch ein paar Deutschhefte durchzusehen. Er hatte bei Leopold ein weiteres Krügel Bier bestellt. In letzter Zeit verspürte er wieder mehr Verlangen nach Alkohol. Es schmerzte ihn, dass Leopolds uneheliche Tochter Sabine Patzak nicht mehr bei ihm wohnte.

Korber und Sabine waren einander ohne Leopolds Wissen nähergekommen. Als die Burgenländerin ein Studium in Wien beginnen wollte, hatte Korber ihr deshalb eine Wohngemeinschaft mit ihm angeboten, bis sie eine eigene Bleibe hatte. Das Zusammenleben hatte gut funktioniert. Obwohl ihm Sabine klargemacht hatte, dass es sich dabei um ein Arrangement auf Zeit handelte, hatte Korber bis zum Schluss gehofft, dass sich daraus etwas Dauerhaftes entwickeln würde. Deshalb war nun die Enttäuschung groß, weil sie, wie angekündigt, ausgezogen war.

Er suchte die Schuld bei sich, fragte sich, welche Fehler er gemacht hatte. Er grübelte, ob er, jenseits der 40, zu alt für die Beziehung mit einer 22-Jährigen war. Aber so sehr er auch nachdachte, es nützte nichts. Derzeit waren ihm die Hände gebunden. Das Semester neigte sich, ebenso wie das Schuljahr, dem Ende zu. Sabine würde zu ihrer Mutter nach Halbturn fahren und dort den Großteil des Sommers verbringen. Zwischendurch würde sie sicher noch die eine oder andere Reise unternehmen. Es würde Wochen, vielleicht Monate dauern, bis er sie wieder zu Gesicht bekam. Ob er dann wieder den geeigneten Draht zu ihr finden würde, stand in den Sternen.

Korber trank während des Verbesserns schneller. Wie es aussah, würde er sich in der nächsten Zeit und in den Sommerferien treiben lassen, und das war gefährlich. Nicht erst einmal hatte ihn das Trinken in unliebsame Situationen gebracht. Zunächst jedoch dachte er nicht darüber nach und übte sich in Selbstmitleid.

Seine Arbeit erforderte keine allzu große Konzentration. Deshalb blickte Korber ab und zu auf und schaute, wer zur Tür hereinkam. Gerade bemerkte er eine Frau seines Alters, die ihr dunkelblondes schulterlanges Haar aus der Stirn streifte und einen hilfesuchenden Eindruck machte. Er vermeinte, ihr Gesicht bereits einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber wo? Daran konnte er sich nicht erinnern. Sie kam ihm jedenfalls bekannt vor. Da rief sie schon: »Thomas? Was machst du denn hier?«

Jetzt dämmerte ihm, wen er vor sich hatte. »Marion! Was für eine Überraschung«, grüßte er sie. »Eigentlich sollte ich dich fragen, was du hier tust. Wien ist meine Heimat, und du kommst immerhin aus Deutschland. Zumindest haben wir einander dort das letzte Mal gesehen.« Korber kannte Marion Kirchner von seiner Studienzeit in Heidelberg. Das war allerdings schon eine Weile her.

»Entscheidend ist nicht, wo man herkommt, sondern wo man sich im Augenblick befindet«, gab Marion zurück und ging dabei lächelnd auf ihn zu. Sie umarmten und drückten sich fest. »Immer beim Verbessern, was?«, bemerkte sie mit einem Kennerblick auf die Aufgabenhefte.

»Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin Lehrer geworden«, gab ihr Korber Bescheid. »Und du?«

»Ich doch auch«, ließ Marion ihn wissen. »Und wie es der Zufall will, unterrichte ich seit zwei Jahren in eurem schönen Österreich, in Korneuburg.«

Korber schüttelte lachend den Kopf. »Wie klein die Welt ist. Magst du etwas mit mir trinken? Das ist mein Stammlokal, quasi mein zweites Wohnzimmer, und Leopold, der Oberkellner, ist mein Freund. Er hat nur gerade hinten bei den Kartentischen zu tun.«

Marion wehrte gleich ab. »Ich habe nicht viel Zeit«, erklärte sie. »Darum wäre es gut, wenn der Ober schnell käme. Ich bin nur da, um einen Tisch für übermorgen Abend zu reservieren.«

»Das kann ich doch machen«, bot ihr Korber an. »Übermorgen bin ich sicher auch hier. Vielleicht kommen wir da zum Plaudern.«

Marion lächelte verlegen. »Ich glaube nicht, dass das geht. Wir sind eine größere Gruppe und haben etwas Wichtiges zu besprechen.« Sie beugte ihren Kopf nun vertraulich zu ihm herab. »Es geht um das Eichendorff-Projekt am Bisamberg«, sagte sie merklich leiser. »Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast.«

»Klar«, nickte Korber. »So etwas spricht sich schnell herum.«

»Die machen Ernst«, teilte Marion ihm flüsternd mit. »Wir sind der Meinung, dass man die Zerstörung dieses Naherholungsgebietes nicht widerspruchslos hinnehmen kann. Deshalb tun wir uns zusammen.«

»Und warum trefft ihr euch hier und nicht in Korneuburg?«, wollte Korber wissen.

»Die Politiker dort sind Feuer und Flamme für das Projekt«, weihte Marion ihn ein. »Wir wären zu nahe am Feind. Was wir brauchen, ist ein ruhiger Ort, wo wir uns stressfrei unsere Vorgangsweise überlegen können. Das Heller ist für alle Teilnehmer gut erreichbar, und hier vermutet uns keiner.« Sie warf Korber einen besorgten Blick zu. »Du wirst uns doch nicht verraten!«

»Wo denkst du hin?«, wehrte Korber sofort ab. »Ich habe ja auch meine Zweifel, ob da alles mit rechten Dingen zugeht.«

»Dann bin ich beruhigt«, seufzte sie. Marion wirkte aber gar nicht ruhig, sondern ziemlich nervös. Besorgt warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie schien wirklich in Eile zu sein.

»Du musst nicht auf Leopold warten«, versicherte Korber ihr. »Wenn du mir vertraust, übernehme ich die Reservierung.«

Marion überlegte. »Das würdest du wirklich tun?«, fragte sie.

»Selbstverständlich! Das ist mein Stammcafé, Leopold ist, wie gesagt, mein Freund, und die Chefin kenne ich auch. Wir machen es auf meinen Namen, da kann nichts schiefgehen«, setzte Korber ihr auseinander. »Sag mir nur, für wann und für wie viele Personen.«

»Wir sind zu zehnt und treffen uns übermorgen um 19.30 Uhr«, gab Marion an.

»Also Donnerstag um 19.30 Uhr, zehn Personen«, notierte Korber sich. »Da wird man euch nach hinten zu den Kartentischen setzen. Um diese Zeit habt ihr dort genügend Platz.«

»Danke«, atmete Marion kräftig durch. »Bitte zu niemandem ein Wort über den Zweck unseres Treffens, das ist sehr wichtig! So, jetzt muss ich aber!«

Korber versprach, dass er alles zu Marions vollster Zufriedenheit erledigen würde. Sie verabschiedeten sich mit einer weiteren Umarmung, ehe sie nach draußen flüchtete. Korber schaute ihr gedankenverloren nach. Selbstverständlich würde er am Donnerstagabend auch da sein. Er hoffte, dass sich trotz der Versammlung eine Gelegenheit ergeben würde, mit ihr ein wenig über vergangene Zeiten zu plaudern. Er erinnerte sich daran, mit ihr in Heidelberg viel Spaß gehabt zu haben. Jetzt wirkte sie ernster und ein wenig gezeichnet von den Spuren vergangener Jahre.

Korber hatte Marion damals sehr gemocht, war aber nie richtig in sie verliebt gewesen. Nun schloss er die Anbahnung einer intensiveren Beziehung nicht aus. Dabei fiel ihm ein, dass sie wahrscheinlich schon vergeben war. Ob sie wohl noch, wie ehedem, den Familiennamen Kirchner trug? Egal. Er speicherte sie vorerst so in seinem Gedächtnis ab. In seiner augenblicklichen Situation suchte er weibliche Nähe, das war das Wichtigste. Er hoffte deshalb, dass sich am Donnerstag etwas ergeben würde.

Als Leopold wieder nach vorne kam, zahlte er und tätigte ohne jeden weiteren Kommentar die Reservierung bei seinem erstaunten Freund. Dann verließ auch er das Café Heller.

Kapitel 2

Dienstag, 29. Juni, abends

Leopolds Lebensgefährtin Erika Haller konnte zufrieden sein. Ihr neues Buch- und Papiergeschäft, das sie vor kurzer Zeit von Herrn Lederer übernommen hatte, lief besser, als sie es erwartet hatte. Thomas Korber hatte sie zu dem Wechsel überredet, und seine Einschätzung der Lage hatte sich als richtig erwiesen. Sie profitierte von der Nähe des Gymnasiums, des Bahnhofs und dem großen Einzugsgebiet, und wenn sie die Ärmel aufkrempelte, konnte sie hier noch viel erreichen.

Natürlich gab es gerade am Anfang viel Stress und Überstunden, aber die Gewissheit, dass sie auf dem richtigen Weg war, beflügelte Erika. Ständig kamen ihr neue Ideen, wie sie das Geschäftslokal attraktiv gestalten und einen zufriedenstellenden Umsatz erzielen konnte. Nach getaner Arbeit machte sie dann einen Sprung ins Café Heller, das in unmittelbarer Nähe lag. Anfangs freute sich Leopold noch über ihre Besuche, doch als er merkte, dass sie zur ständigen Einrichtung werden sollten, schwand seine Begeisterung rasch. Das Kaffeehaus war seine Arbeitsstätte, wo er seine Ruhe haben wollte, für das Familienleben gab es die gemeinsame Wohnung im Bezirksteil Jedlesee. Er hatte aber keine Chance. Erika und Frau Heller waren dicke Freundinnen geworden, duzten einander, hatten sich für gewöhnlich eine Menge zu erzählen und ließen sich durch seinen Grant nicht dabei stören.

Auch jetzt kam Erika wieder aufgekratzt zur Tür herein und drückte Leopold mit einem herzlichen »Guten Abend, Schnucki!« einen Kuss auf die Wange.

»Bist du heute wieder gut drauf«, bemerkte er irritiert.

»Sogar außergewöhnlich gut«, teilte sie ihm mit. »Die Geschäfte gehen hervorragend, Schnucki! Die Leute werden auf mich aufmerksam. Es gibt richtig viel zu tun. Ich denke, ich werde das mit einem Glas Prosecco feiern. Trinkst du auch eines, Sidonie?«

»Aber selbstverständlich«, antwortete Frau Heller gut gelaunt. »Es freut mich, dass dein neuer Laden so wunderbar anläuft.« Leopold füllte zwei Gläser mit der prickelnden Flüssigkeit. Indessen wandte sich die Chefin vertraulich an Erika Haller: »Wer weiß, vielleicht wird alles bald noch besser, wenn es mit dem Eichendorff-Projekt ernst wird.«

»Ich habe mir dazu schon einiges überlegt«, erwähnte Erika. »Mit der Hilfe von Thomas werde ich mein Sortiment in Richtung Eichendorff und die literarische Romantik erweitern. Aber das ist nur der Anfang. Mit einiger Fantasie lässt sich mit dem Begriff Romantik noch einiges machen. Ich denke zum Beispiel an eine Romantik-Ecke mit Liebesromanen für jugendliche Leserinnen und Leser, an romantische Postkarten, Aufkleber, Briefpapier und so weiter!«

»Oh la la«, schnalzte Frau Heller mit der Zunge. »Das klingt verdammt gut! Dann lass uns auf die vielversprechenden Entwicklungen in unserem Bezirk anstoßen. Prost, Erika!«

»Prost, Sidonie!« Sie ließen die Gläser klingen. »Magst du auch einen Schluck, Schnucki?«, fragte Erika, nachdem sie getrunken hatte.

»Bedaure, bin im Dienst«, lehnte Leopold dankend ab. »Außerdem weiß ich nicht, was es da zu feiern gibt.«

»Freust du dich denn gar nicht mit mir?«, wollte Erika wissen, und es klang enttäuscht.

»Ich kann mich nicht freuen, wenn alles nur mehr darauf aufgebaut ist, möglichst viele Fremde in unseren Bezirk zu karren, die unsere letzten Grünoasen verwüsten«, setzte Leopold ihr auseinander. »Leider ist das so, auch wenn du davon profitierst.«

»Wir werden alle davon profitieren«, schwärmte Frau Heller. »Das ist ja der Sinn der Sache! Darum werden wir als Floridsdorfer Geschäftsleute uns gewissenhaft auf die Zukunft vorbereiten. Du bist doch übermorgen auch dabei, Erika?«

»Wobei?«, erkundigte sich Erika gut gelaunt. Der Alkohol hatte sie rasch in Stimmung gebracht.

»Bei unserer Versammlung«, erklärte Frau Heller. »Wir besprechen, wie wir als Unternehmer das Maximum aus der sich anbahnenden Entwicklung herausholen können. Ich habe dazu eingeladen. Das Ganze findet am Donnerstagabend in aller Ruhe statt. Wir sind sozusagen unter uns.«

Leopold spitzte seine Ohren. »Was, hier im Kaffeehaus?«, rutschte es ihm heraus.

»Natürlich«, beeilte Frau Heller sich zu sagen. »Wo denn, glauben Sie? Auf der Straße? Die überlassen wir den Demonstranten. Es soll ja auch Menschen geben, die gegen das Projekt sind. Die sollen dort von mir aus einen Wirbel machen. Wir hingegen werden uns hier gemütlich zusammensetzen und konstruktiv Ideen sammeln, wie wir diese einmalige Chance nutzen können. Ich denke, dass dieses Treffen auf reges Interesse stoßen wird.«

»Hoffentlich geht sich das aus«, gab Leopold zu bedenken. »Es gibt für übermorgen bereits eine Reservierung für zehn Personen bei den Kartentischen. Die möchten auch ungestört sein.«

»In meinem eigenen Haus werde ich hoffentlich noch tun und lassen können, was ich will, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen«, reagierte Frau Heller unwirsch. »Wenn es jemandem nicht passt, soll er woanders hingehen. Wer hat denn reserviert?«

»Unser Thomas Korber«, informierte Leopold seine Chefin.

»Korber? Komisch! Der kommt doch sonst immer allein«, grummelte Frau Heller.

»Den Thomas dürfen wir nicht vergrämen«, meldete sich Erika Haller zu Wort. »Er steht mir jetzt ständig mit seinen guten Ratschlägen zur Seite.«

»Das wird überhaupt kein Problem«, lenkte Frau Heller beschwichtigend ein. »Es ist genug Platz da, um uns ein wenig auseinander zu setzen. Herr Korber kommt mit seiner Gruppe in die Ecke hinter den Billardtischen, wir nehmen schräg gegenüber Platz. So hat jeder ein bisschen Luft, und auf den Tischen dazwischen kann man sogar noch Karten spielen. Den vorderen Teil überlassen wir den anderen Gästen. Mein Heinrich wird Sie mit vollen Kräften unterstützen, und alles ist in bester Ordnung!«

Leopold glaubte nicht so recht daran. Er sah schwere Zeiten auf sich zukommen. Zwei Gesellschaften, und als Hilfe nur der Chef höchstpersönlich, der die Anstrengung mied wie der Teufel das Weihwasser. Zudem saßen auf der einen Seite Erika und Frau Heller, auf der anderen sein Freund Thomas, von dem er noch dazu gar nicht wusste, mit welcher Gruppe er plötzlich angetanzt kommen würde. Bei seiner derzeitigen Stimmungslage war alles möglich. Also beschloss Leopold, nicht viel nachzudenken und diesen Abend einfach auf sich zukommen zu lassen.

*

Nach ihrem Glas Prosecco hatte Erika noch ein zweites getrunken und war dann in blendender Stimmung nach Hause gegangen. Draußen regnete es mittlerweile intensiv und anhaltend. Das Heller leerte sich rasch, was eine zeitige Sperrstunde vermuten ließ. Es war nicht anzunehmen, dass jetzt noch jemand bei der Tür hereinschneien würde. Leopold begann mit dem Abkassieren. Aber wie so oft, wenn man nicht damit rechnete, kam noch ein später Gast daher.

»Othmar! Welche Überraschung«, rief Leopold aus.

Ein großer, durchtrainierter Mann mit Dreitagesbart, Regenjacke und Filzhut stellte sich an die Theke. »Es ist zum Heulen! Nichts lässt sich anfangen bei dem Sauwetter«, klagte er. »Aber irgendwo muss der Mensch ja hin! Hast du für mich noch ein Bier auf die Schnelle?«

Leopold nickte. Mit einem Besucher wie Othmar Demmer blieb er gern noch ein wenig stehen, um über dieses oder jenes zu plaudern. Wobei man mit Othmar nur über ein Thema reden konnte: die erotisierende Wirkung der Natur auf Mann und Frau. Wollte man ihm glauben, so funktionierten seine Verführungskünste im Freien am besten. Böse Zungen behaupteten, dass er in einem geschlossenen Raum nichts zusammenbrachte. Er brauchte den Himmel über sich und einen angenehmen lauen Wind, der seine Lenden streichelte. Dann konnte ihn keiner bremsen. Bei einer solch regnerischen Witterung aber waren seine Libido und damit auch seine Laune beim Teufel.

Demmer steckte seine Lippen beim ersten Schluck andächtig in den Bierschaum. »Der Sommer beginnt schlecht«, sinnierte er. »Kühl und feucht. Wie soll ich da in Form kommen?«

»Vielleicht beschränkst du dich vorläufig auf das herkömmliche Umfeld: ein Bett in einem Zimmer«, schlug Leopold vor.

»Unmöglich«, wehrte Demmer gleich ab und umarmte dabei sein Bierglas wie einen zarten Frauenkörper. »Wo bleibt da die Sinnlichkeit? Freie Liebe, freie Natur. Glaube mir, ich könnte mir überall eine Frau aufreißen, sogar in eurem Kaffeehaus, und sie dann in meine Wohnung abschleppen. Aber ein wirklicher Hochgenuss ist es nur, in weinseliger Stimmung bei einem Heurigen in der Stammersdorfer Kellergasse eine Frau kennenzulernen, mit ihr ein Glas Wein zu trinken und sie dann bei einem abendlichen Spaziergang am Bisamberg zu verführen. Gerade hat man noch den Sonnenuntergang bewundert, jetzt geht man fest aneinandergedrückt durch die einbrechende Dunkelheit auf den Wald zu. Du spürst die Unsicherheit deiner charmanten Begleiterin, wohin sie ihre Schritte setzen soll, und gleichzeitig ihr Bedürfnis nach Zweisamkeit. Du tust so, als ob alles Schicksal oder Zufall wäre, während du genau auf den Platz zusteuerst, den du für den prickelnden Abschluss des Abends auserkoren hast. Und rein zufällig hast du in einer umweltfreundlichen Tasche über der Schulter eine Decke mit, die du sonst immer unterlegst, wenn du des Nachts von einem Bankerl zur Donau hinunterschaust – sagst du ihr zumindest …«

Leopold hatte amüsiert zugehört. »Und dass in der Nacht alle Katzen grau sind, stört dich dabei gar nicht?«, wollte er wissen.

»Was bist du nur für ein fantasieloser Mensch«, rügte Othmar Demmer ihn. »Wichtig sind nicht die Details der weiblichen Rundungen, obwohl die natürlich auch sehr schön sind. Aber an so etwas sieht man sich heutzutage im Internet satt. Wichtig ist der ehrfürchtige Schauer, der einen inmitten der Natur ergreift und die urtümlichen Triebe in dir auslöst. Du fühlst dich frei und bereit zu genießen, was früher nur der Fortpflanzung diente.«

»Redest du aber heute geschwollenes Zeug daher, Othmar«, befand Leopold.

»Es hat mit Inspiration zu tun, und der Bisamberg inspiriert mich eben«, erklärte Demmer. »Der Bisamberg und natürlich auch sein bekanntester Bewohner, Florian Berndl: Pionier der Naturheilkunde und Naturbursch, Begründer des berühmten Gänsehäufels und schon um die Wende zum 20. Jahrhundert entschiedener Befürworter des gemeinsamen Badens von Mann und Frau. Später spärlich bekleideter Sonderling, der einsam am Bisamberg hauste, und dessen Anblick wohl manches keusche Mädchenauge erschreckte. Sein Geist schwebt immer noch über diesen Höhen.«

»Er ist aber schon eine ganze Weile tot«, erinnerte Leopold seinen späten Gast.

»1934 gestorben. Tot, aber nicht vergessen«, beeilte Demmer sich zu erwähnen. »Immerhin gibt es ein schönes nach ihm benanntes Bad am Fuß des Berges.«

»Ein anderer, der noch länger tot ist, macht ihm derzeit gehörig Konkurrenz«, machte Leopold ihn aufmerksam. »Joseph von Eichendorff. Der ist am Bisamberg nur ein paarmal auf und ab gewandert. Nichtsdestotrotz hat man ihm vor etlichen Jahren ein Denkmal gesetzt und möchte es jetzt zum Zentrum eines Tourismusprojektes machen.«

»Eichendorff war ein großer Dichter, der wohl ähnlich wie ich empfand«, geriet Demmer ins Schwelgen. »Kennst du sein Gedicht Mondnacht?

Es war, als hätt’ der Himmel

die Erde still geküsst,

dass sie im Blütenschimmer

von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,

die Ähren wogten sacht,

es rauschten leis’ die Wälder,

so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

weit ihre Flügel aus,

flog durch die stillen Lande,

als flöge sie nach Haus.

Kaum jemals wurden die Gefühle eines Menschen beim nächtlichen Stelldichein unter freiem Himmel treffender beschrieben. Wer den Autor dieser romantischen Zeilen allerdings für die Umgestaltung des Bisambergs zu einem Vergnügungspark missbrauchen will, ist eine traurige Gestalt, die ihre vier Wände noch nie für ein Liebesabenteuer verlassen hat.«

»Ich fürchte, du wirst umdenken müssen. Deine Platzerl sind dadurch doch in höchster Gefahr, oder?«, reizte Leopold ihn.

»Man weiß noch nichts Genaues«, relativierte Demmer. »Aber wenn es dort auf einmal Kiosks, beschriebene Wege, allerlei Attraktionen und jede Menge Leute gibt, ist es mit der Romantik vorbei. Dann wird ein natürlicher Paarungsraum vernichtet. Das muss auf jeden Fall verhindert werden. Aber wie?« Seine Hände verkrampften sich bei dieser Frage um das Bierglas.

»Ich sag dir jetzt was, aber das hast du nicht von mir«, wurde Leopold vertraulich. »Übermorgen am Abend treffen sich bei uns einige Geschäftsleute und besprechen, wie sie den neuen Hotspot für sich ausnutzen können. Da erfährt man vielleicht, wie die Sache steht.«

»Interessant«, nickte Demmer. »Andererseits muss ich natürlich meinen Gefühlen freien Lauf lassen, solange es noch geht. Wenn das ein lauschiger Frühsommerabend wird …« Er schaute fragend hinaus in die Dunkelheit.

»Immerhin geht es um deine Liebesnester«, gab Leopold zu bedenken.

Demmer kniff vertraulich ein Auge zu. »Kannst du nicht ein bisserl für mich aufpassen, was da geredet wird?«, drang er in Leopold.

»Ich muss arbeiten«, wehrte Leopold ab. »Wenn es dir wichtig ist, solltest du selber da sein. Ich könnte dir einen Platz freihalten, wo du mithören kannst. Deine Gefühle hast du nach der Unterredung auch noch.«

»Na gut, ich überleg’s mir«, zwinkerte Demmer ihm zu. Nachdem er gegangen war, erinnerte sich Leopold daran, dass seine Erika auch an der Versammlung teilnahm. Sie brauchte das Projekt für ihr neues Geschäft. Ihre Beziehung stand also wieder einmal vor einer großen Herausforderung.

Kapitel 3

Mittwoch, 24. Juni

Thomas Korber erwachte mit einem heftigen Brummen im Schädel. Mit halb geöffneten Augen riskierte er einen Blick auf die Uhr. Es war bereits nach 7 Uhr. Er musste den Wecker überhört haben. Jetzt hieß es flott auf die Beine kommen, damit er es bis 8 Uhr in die Schule schaffte.

Gott sei Dank hatte er in der ersten Stunde nur eine zweite Klasse, wo ihn der Unterricht nicht so anstrengen würde. Aber pünktlich sein musste er, um keine Abmahnung durch Direktor Marksteiner zu riskieren. Zu Unterrichtsbeginn wieselte dessen Sekretärin, Frau Pohanka, immer am Gang vor der Eingangstür auf und ab, um zu spät kommende Lehrer und Schüler zu ertappen.

Korber tastete sich ins Bad, hoffend, dass der kalte Strahl der Dusche seine Geister wiederbeleben würde. So ganz klappte es nicht, aber er fühlte sich allmählich frischer. Was war gestern bloß noch gewesen? Er war am Nachmittag aus dem Heller nach Hause gegangen, hatte dort seine Tasche mit den Schulsachen abgestellt und war wieder los, erst zum Heurigenlokal Fuhrmann gleich ums Eck, und dann …

Er war in die Innenstadt gefahren, in sein Lieblingslokal Botafogo, wo eine Mischung aus räumlicher Enge, Livemusik und Alkohol bei ihm meist zu jener unseligen Stimmung führte, in welcher er sich zu unkontrollierten Handlungen hinreißen ließ, an die er sich nachher kaum erinnern konnte. Häufig war dabei eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts im Spiel, deren Gestalt und Gesicht im Dämmerlicht appetitlicher wirkten, als sie es tatsächlich waren.

Vielleicht fand sich in seiner Jacke etwas, das als Hinweis dienen konnte. Korber kramte in den Taschen, wobei ihm immer noch scharfer Schweißgeruch entgegenschlug, den das Kleidungsstück als Gedächtnisstütze aufbewahrt hatte. Tatsächlich fand er einen zerknitterten Zettel, auf dem mit Lippenstift »Auf bald, Schmusekönig« geschrieben stand. Mehr wollte er gar nicht wissen. Wahrscheinlich hatte ihn sein ramponierter Zustand davor gerettet, neben dem Faltengesicht einer überholten Lady aufzuwachen, die sich so in ihn verliebt hatte, dass er sie nur unter großen Anstrengungen wieder loswerden würde. Es hatte den Anschein, als sei er mit einer überhöhten Taxirechnung davongekommen.