Grillparzerkomplott - Hermann Bauer - E-Book

Grillparzerkomplott E-Book

Hermann Bauer

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Kaum hat David Panozzo seine Arbeit im Café Schopenhauer angetreten, wird er des Mordes an der ehemaligen Schauspielerin Katja Winkler verdächtigt. Von seiner Unschuld überzeugt, nimmt Oberkellner Leopold Davids Stelle im Schopenhauer ein. Dabei ist er von einer Mauer des Schweigens umgeben und mit Anschlägen gegen seine Person konfrontiert. Dennoch ergibt sich bald ein Kreis von Verdächtigen, die alle durch eine mysteriöse "Grillparzer-Geschichte" miteinander verbunden zu sein scheinen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 315

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hermann Bauer

Grillparzerkomplott

Wiener Kaffeehauskrimi

Zum Buch

Kaffeehausdoppel Oberkellner Leopolds Freund David Panozzo trägt im Zuge seiner neuen Arbeit als Ober im Café Schopenhauer der gehbehinderten ehemaligen Schauspielerin Katja Winkler ihre Einkäufe in die Wohnung. Dabei findet er ihre Leiche. Er wird vom Mörder niedergeschlagen und gerät unter Mordverdacht, als er nach einer kurzen Ohnmacht panisch reißaus nimmt. Auf Bitte von Oberinspektor Juricek springt Leopold im Schopenhauer für David ein. Er arbeitet nun in zwei Kaffeehäusern gleichzeitig, um dessen Unschuld zu beweisen. Katjas schauspielerische und private Vergangenheit beschäftigt Leopold dabei ebenso wie die fragwürdigen Umstände, die zu ihrer Verletzung führten. Rasch machen sich einige Schopenhauer-Gäste verdächtig. Außerdem erfährt Leopold von einem Telefonat, das David mithörte, und in dem Katja mit einer »Grillparzer-Geschichte« in Verbindung gebracht wird. Ist es die entscheidende Spur? Leopold ist davon überzeugt, doch der Mörder bleibt nicht untätig …

Hermann Bauer wurde 1954 in Wien geboren. Dreißig wichtige Jahre seines Lebens verbrachte er im Bezirk Floridsdorf. Bereits während seiner Schulzeit begann er, sich für Billard, Tarock und das nahe gelegene Kaffeehaus, das Café Fichtl zu interessieren, dessen Stammgast Bauer lange blieb. Von 1983 bis Anfang 2019 unterrichtete er Deutsch und Englisch an der BHAK Wien 10. Er wirkte in 13 Aufführungen der Theatergruppe seiner Schule mit. Als Herman Bauer 1993 seine Frau Andrea heiratete, verließ er ihr zuliebe seinen Heimatbezirk. Im Jahr 2008 erschien sein erster Kriminalroman »Fernwehträume«, dem zwölf weitere Krimis um das fiktive Floridsdorfer Café Heller und seinen Oberkellner Leopold folgten. »Grillparzerkomplott« ist der 13. Kaffeehauskrimi des Autors.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Das wunderschöne Alt-Wiener Café Schopenhauer in der Staudgasse 1 im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing nahe der Volksoper gibt es jedoch wirklich und ist einen Besuch wert.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Senta Wagner, Wien

ISBN 978-3-8392-6582-6

Widmung

Für Martin Berger, der mir die entscheidende Idee zu diesem Buch gegeben hat.

Kapitel 1

Montag, 8. Oktober, bis Donnerstag, 11. Oktober

Leopold W. Hofer saß im Kaffeehaus und ließ sich sein Frühstück munden. Er bestrich eine Semmel mit Butter und Marmelade und nahm zwischendurch einen Schluck vom Kaffee. Allerdings tat er dies nicht im Café Heller in Floridsdorf, wo er als Oberkellner arbeitete, sondern im Café Schopenhauer auf der anderen Seite der Donau, im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing, in der Nähe des Gürtels. Dementsprechend handelte es sich um ein Schopenhauer-Frühstück: zwei Gebäck, Eierspeise mit zwei Eiern, Schinken, Käse, Salami, hausgemachter Aufstrich, hausgemachte Marmelade, Butter, frisches Gemüse und 1/8 Orangensaft.

Wenn Leopold seinen Heimatbezirk verließ und noch dazu die Donau überquerte, musste das einen bestimmten Grund haben, denn so etwas kam nicht oft vor. Er besuchte David Panozzo, den er durch die glücklose Beziehung seines Freundes Thomas Korber zu dessen Mutter Christa kennengelernt hatte. David arbeitete seit Kurzem als Ober im Schopenhauer, und Leopold hatte ihm zu dieser Stellung verholfen. Er kannte Moritz Bäcker, den Seniorchef des Kaffeehauses und Vater des jetzigen Chefs Herbert Bäcker von früher. David, der seine Ausbildung abgebrochen und zuletzt im Hotel Floridus als Rezeptionist gejobbt hatte, hatte eine Arbeit mit angenehmeren Dienstzeiten ohne Nachtschicht gesucht. Da hatte Leopold bei Moritz Bäcker ein gutes Wort für ihn eingelegt, als er gehört hatte, dass man im Schopenhauer nach einem Oberkellner Ausschau hielt.

»Du solltest hier ein wenig länger bleiben als im Hotel«, machte er David aufmerksam, als der ihm die Eierspeise brachte. »Sonst hab ich eine schlechte Nachrede.«

»Auf jeden Fall«, bestätigte David. »Hier komme ich vor Mitternacht von der Arbeit nach Hause und habe damit viel mehr Zeit für mein Privatleben.« Er stellte dabei Salz- und Pfefferstreuer vor Leopold hin.

»Du bist ein wankelmütiger Geist«, erinnerte Leopold ihn. »Lang hast du’s noch nirgendwo ausgehalten.«

David zuckte mit den Achseln. »Mir gefällt’s hier gut«, bemerkte er. »Ich habe sehr nette Kolleginnen und Kollegen, und der Chef kümmert sich in geradezu rührender Weise um mich.«

Leopold nickte. Herbert Bäcker hatte also wie sein Vater früher immer ein offenes Ohr für die Sorgen seines Personals. »Und die Gäste?«, fragte er neugierig.

»Erste Klasse«, geriet David sofort ins Schwärmen. »Das Schopenhauer hat halt eine ganz andere Lage als das Heller. Das Cottageviertel mit seinen Villen ist nicht weit weg, und auf der anderen Seite vom Gürtel befindet sich die traditionsreiche Volksoper. Gleich nebenan haben wir das Evangelische Krankenhaus mit seinen Ärzten und Patienten. Da kommt einiges an anspruchsvollem Publikum zustande.«

»Anspruchsvoll?« Leopold zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wie äußert sich denn das?«

»Bei der Zubereitung der Speisen etwa sind manche sehr heikel«, erklärte David. »Nehmen wir zum Beispiel das beliebte Ham and Eggs. Die einen wollen den Dotter der Spiegeleier ganz weich, sodass sie wie ein Pudding schwabbeln, die anderen fester und mit milchiger Farbe. Oder die Gulaschsuppe: Manche mögen sie ganz heiß, andere auf Körpertemperatur, damit sie sich nicht den Mund verbrennen. Bei uns musst du wirklich bei jedem Stammgast wissen, was zu tun ist, um ihn zu verwöhnen, sonst kommt er gleich ein paar Tage nicht.«

»Bei uns haben die Leute auch ihre Extrawürste«, entgegnete Leopold. »Aber das mit der Suppentemperatur finde ich überkandidelt. Wenn sie zu heiß ist, kann man sie ein paar Minuten auskühlen lassen. Wo liegt das Problem? Bei uns hat sich einmal ein Gast über den Kaffee beschwert und auch etwas von Körpertemperatur erwähnt. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass ich seinen kleinen Braunen für eine halbe Minute in meinen Mund nehme und dann in seine Tasse zurückbefördere, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Das hat ihm dann auch nicht gepasst.«

David musste lachen. »Das war aber nicht sehr aufmerksam. Du solltest dich in solchen Fällen ein wenig mehr bemühen.«

»Das ist mir viel zu anstrengend!«

»Aber es gehört nun einmal zu unserem Beruf. Ist es nicht schön, als freundlicher Oberkellner seinen Gästen jeden nur erdenklichen Wunsch von den Augen abzulesen?«

»Genau das Gegenteil ist richtig«, widersprach Leopold. »Du musst als Ober einen grantigen Eindruck machen und für eine Ordnung sorgen, die dir genehm ist, sonst glauben deine Gäste, sie können dich mit ihren Extrawünschen terrorisieren. Und kommen tun sie alle wieder, weil’s woanders nicht besser ist. Letztendlich ist alles eine Frage der Erziehung.«

»Das ist halt der Unterschied zwischen einem Café wie dem Heller in der Vorstadt und dem Schopenhauer«, merkte David an.

»Ach was«, tat Leopold seine Worte ab. »In einem sind sich alle Kaffeehäuser gleich: In ihnen verkehren oft äußerst seltsame und närrische Typen, denen man nicht immer gleich nachgeben muss.« Er fixierte dabei einen verwirrt aussehenden Mann mit zerzaustem Haar in einfacher, aber sauberer Kleidung. Er setzte sich, ohne aufzublicken, an einen freien Tisch und summte in schrecklich falschen Tönen immer dieselbe Melodie.

»Das ist Herr Burckhardt«, gab David Auskunft. »Ein äußerst genügsamer Mensch. Ein kleiner Brauner und jede halbe Stunde ein frisches Glas Wasser dazu.«

»Mag sein«, konzedierte Leopold. »Aber dieses furchtbare Gesumme hält man ja kaum aus.«

David machte eine wegwerfende Handbewegung. »In genau fünf Minuten hört er damit auf«, informierte er seinen Freund. »Das kannst du auf deiner Uhr stoppen.«

*

Einige Stunden später – es war schon Nachmittag und Leopold war längst zu seinem Dienstantritt im Heller aufgebrochen – betrat eine ältere, gut aussehende Dame mit gewelltem halblangem Haar, das leicht ergraut war, das Schopenhauer. Sie wusste sich zu kleiden und herzurichten. Ihr dunkelblaues Kostüm wirkte elegant, aber unauffällig. Die Schminke nahm dem Gesicht nichts von seiner Natürlichkeit. Nur mit dem Gehen tat sie sich etwas schwer. Deshalb setzte sie sich gleich an den ersten freien Tisch neben der Tür.

Sie bestellte ein Glas Rotwein. Ein paar Gäste blickten auf und nickten ihr grüßend zu. »Hallo, Katja, wie geht’s?«, rief ein schon weißhaariger, aber sportlich wirkender Mann mit leicht anzüglichem Ton in der Stimme.

Katja Winkler reagierte nicht darauf. Sie hatte offenbar nicht die Absicht, sich länger im Kaffeehaus aufzuhalten. Zügig leerte sie ihr Glas und rief David zum Zahlen. »Ach«, fragte sie dabei wie beiläufig. »Wären Sie wieder so nett, mir meinen Einkauf aus dem Supermarkt in die Wohnung zu bringen?«

David nickte: »Selbstverständlich, gnädige Frau. Ich habe ohnehin gleich Dienstschluss.«

»Dann bis später«, sagte sie und ging.

David hatte Katja Winkler vor einigen Tagen schon einmal diesen Dienst erwiesen. Es war offenbar eine Marotte von ihr, sich die Sachen nicht vom Supermarktpersonal, sondern einem Kaffeehausober nach Hause befördern zu lassen. »Ein Oberkellner wie Sie ist wohlerzogen und hat gutes Benehmen, was man von einem dahergelaufenen Verkäufer nicht behaupten kann«, hatte sie zu David gesagt und ihm dabei fünf Euro Trinkgeld zugesteckt. Warum sollte er ihr nicht noch einmal den Gefallen tun? Sie wirkte sympathisch und hatte immer noch eine faszinierende Ausstrahlung. Wie David erfahren hatte, war sie als Schauspielerin an vielen Bühnen Wiens beschäftigt gewesen. Jetzt wollten halt ihre Füße nicht mehr so richtig. Und sie wohnte im zweiten Stock ohne Lift.

Also holte David Frau Winklers Waren im Supermarkt ab, trug sie zu ihrer Wohnungstür und läutete. Sie öffnete in einem schlichten Hausanzug, in den sie sich mittlerweile umgezogen hatte. »Kommen Sie doch auf einen Sprung herein«, bat sie ihn.

»Eigentlich habe ich einen dringenden Weg«, behauptete David. Das stimmte zwar nicht, aber er verspürte keine Lust, der Einladung Folge zu leisten.

»Ist er wirklich sooo dringend?«, versuchte Katja, ihn zum Bleiben zu überreden. »Trinken Sie doch ein Glas mit mir, das dauert nicht lange.« Am Wohnzimmertisch stand eine offene und bereits halb leere Rotweinflasche, an der sie sich gütlich tat. Sie nahm ein zweites Glas aus dem Schrank.

»Sehr aufmerksam, aber ich fürchte, das geht sich nicht aus«, versuchte David, standhaft zu bleiben.

Plötzlich hatte Katja einen Zehn-Euro-Schein in der Hand. »Ich bin bereit, Sie für Ihre Hilfsbereitschaft anständig zu entlohnen«, lockte sie ihn. »Und es wird noch mehr Geld, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten. Sie gefallen mir! Sie sind so ein netter junger Mann.«

Widerwillig setzte sich David zu ihr. Er fühlte sich so gar nicht geeignet als Tröster einsamer Herzen, die ihre Lebensmitte bereits überschritten hatten.

»Ich kann Ihnen genug zahlen, wenn Sie mir den einen oder anderen Wunsch erfüllen«, fuhr Katja fort. »Ich habe Geld, und Schmuck besitze ich auch nicht zu knapp. Wollen Sie sich überzeugen? Sie brauchen nur den Safe im Schrank drüben zu öffnen.« Sie steckte ihm einen Zettel mit dem Code zu.

»Ich glaube, ich gehe jetzt doch lieber!« David fühlte sich unwohl und stand wieder auf.

»Aber, aber! Nur keinen Genierer! Schauen Sie sich in Ruhe die prächtigen Halsketten, Armbänder und Ringe an. Vielleicht ist etwas für Ihre Freundin dabei«, bearbeitete Katja ihn.

»Ich habe keine Freundin«, gestand David. Er öffnete den Safe nun doch, weil er neugierig geworden war. Die Schmuckstücke waren wirklich eine Augenweide.

»Umso besser! Dann können Sie sich aussuchen, wem Sie es schenken«, ließ Katja nicht locker.

David besann sich. »Ich denke, ich mag nichts davon«, erklärte er.

»Das ist aber schade. Dann geben Sie die Stücke zurück in den Safe. Jetzt wissen Sie ja, wo sie sind. Sie können jederzeit etwas davon haben«, offerierte Katja Winkler ihm. »Sie haben ja noch gar nichts getrunken«, warf sie ihm dann vor.

Um nicht unhöflich zu erscheinen, nahm David einen Schluck von dem Wein, während Katja ihm zuprostete. »Warum haben Sie eigentlich keine Freundin?«, fragte sie ihn. »Sie haben gute Manieren und sehen blendend aus. Sogar mein altes Herz bringen Sie durcheinander.« Sie fuhr mit der Hand durch sein Haar, dann streichelte sie über seine Wange. »Bist du etwa unerfahren?«, hauchte sie ihm dabei ins Ohr. »Wahrscheinlich bist du viel zu rücksichtsvoll für die Damenwelt von heute. Trau dich ruhig. Ich kann dir vieles zeigen, was du später einmal gut gebrauchen kannst.«

Ihre Lippen waren plötzlich nah den seinen. David sprang wie von der Tarantel gestochen auf und stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. »Ich muss jetzt wirklich«, stieß er hervor. »Ich habe noch einen Weg, und …«

»Du brauchst mir nichts zu erklären, ich kenne mich schon aus«, lächelte ihn Katja Winkler lasziv an. »Du musst erst deine Schüchternheit ablegen, das geht nicht von heute auf morgen. Vielleicht hast du das nächste Mal länger Zeit. Wie wär’s mit einem kleinen Vorschuss?«

Katja war es gelungen, David vollends aus der Fassung zu bringen. Er hatte nur noch einen Gedanken, nämlich, schnellstmöglich aus ihrer Wohnung zu kommen. »Warte, ich habe abgesperrt«, rief sie ihm nach. Beim Öffnen der Tür legte sie noch einmal ihre Hand auf die seine. »Du hilfst mir doch wieder?«, fragte sie ihn dabei.

David nickte, ehe er die Treppe hinunterhuschte. So merkwürdig sich Katja Winkler ihm gegenüber heute verhalten hatte – richtig anlassig war sie gewesen –, so sehr war es seine Pflicht als Oberkellner des Café Schopenhauer, die Wünsche seiner Stammgäste zu erfüllen. Wenn er Frau Winkler die Einkäufe hinauf zu ihrer Wohnung brachte, handelte es sich um keine private Gefälligkeit, sondern gehörte zu den Erfordernissen seines Berufs. Beim nächsten Mal würde er die Einkäufe im Vorzimmer abstellen und damit eine peinliche Situation wie soeben vermeiden.

Aus Gewohnheit griff er in seine Sakkotaschen, als er das Haus verließ. Dabei machte er eine Entdeckung, die ihn nicht sonderlich erfreute. Katja Winkler hatte ihm doch tatsächlich eine ihrer Halsketten zugesteckt, die zudem wertvoll aussah. Für einen Augenblick überlegte er umzudrehen und noch einmal hinaufzulaufen. Dann aber verwarf er den Gedanken. Es würde bloß zu einer Debatte und weiteren Anzüglichkeiten führen. Sicher würde David bald wieder von Frau Winkler gebeten werden, ihre Einkäufe aus dem Supermarkt zu holen. Da konnte er ihr die Halskette dann zurückgeben.

*

Als Leopold sich das Mascherl zum Zeichen seines Dienstantrittes im Café Heller richtete, atmete er einmal kräftig durch. Er war wieder in der Heimat angekommen. Der Besuch im Schopenhauer war ja schön gewesen und das Frühstück hatte ausgezeichnet gemundet, aber nach so einem Ausflug lernte man die eigene Arbeitsstätte wieder zu schätzen. David Panozzo mochte sich von manchem Gast mit seinen Sonderwünschen terrorisieren lassen. Es war seine Angelegenheit, ob er die Gulaschsuppe jedes Mal mit einem Thermometer kontrollierte, ehe er sie servierte. Hier im Heller hatte Leopold dafür gesorgt, dass eine Ordnung herrschte, die gewährleistete, dass es in erster Linie nach seinen Wünschen ging. Man musste seine Gäste erziehen, damit sie sich darauf einstellten, was man von einem Oberkellner verlangen konnte. Darin bestand die hohe Kunst dieses Berufsstandes.

Frau Heller holte ihn aus seinen Gedanken. »Na, wie war’s? Kommt David gut zurecht?«, erkundigte sie sich bei ihm.

»Er hat sich schon recht ordentlich eingelebt«, antwortete Leopold.

»War der Moritz auch da?«

»Nein, Frau Sidonie. Ich glaub, der geht nicht mehr so oft ins G’schäft. Macht jetzt alles der Herbert.«

Leopold schmunzelte. Auf diese Frage hatte er gewartet. Frau Heller hatte ja angeblich, noch bevor er seine Tätigkeit als Oberkellner in ihrem Kaffeehaus begonnen hatte, ein Pantscherl mit Moritz Bäcker gehabt. Sie soll damals allerdings bereits mit Herrn Heller liiert gewesen sein.

»Aber er muss doch ein bisserl auf die alten Stammgäste schauen«, bemerkte Frau Heller. »Und seinem Sohn würde es auch nicht schaden, wenn ihm der Moritz unter die Arme greifen würde.«

»Die jungen Leute haben das heutzutage nicht so gern«, erwiderte Leopold, wobei ihm einfiel, dass Herbert Bäcker auch schon die 40 überschritten hatte. »Außerdem läuft das Geschäft, glaube ich, recht gut.«

Jetzt war Frau Heller hellwach. »Besser als bei uns?«, erkundigte sie sich.

»Das kann ich nicht beurteilen«, antwortete Leopold ausweichend. »Sie erfüllen ihren Gästen im Schopenhauer halt jeden Wunsch.« Dabei verdrehte er seine Augen missbilligend nach oben zur Decke.

»Aber das tun wir doch auch«, behauptete Frau Heller.

»Wenn es sich tatsächlich um einen Wunsch handelt«, stellte Leopold klar. »Meistens sind es ja nur Einbildungen: Wie weich ein Ei zu sein hat und welche Kaffeetemperatur gerade angenehm erscheint. Das ist Firlefanz und davon abhängig, mit welchem Fuß die Leute aufgestanden sind. Auf so etwas kann man keine Rücksicht nehmen, sonst ist die ganze schöne Ordnung zum Teufel.«

»Sie könnten sich ruhig ein wenig mehr bemühen«, wies ihn Frau Heller zurecht.

»Bei einem wirklichen Wunsch, wohlgemerkt«, beharrte Leopold. »Wenn ein Gast zum Beispiel gerade flach ist und mich um einen Fünfziger anschnorrt, habe ich noch nie Nein gesagt. In so einer Situation möchte ich einmal den David sehen, der selbst kein Geld eingesteckt hat. Oder wenn jemand wünscht, dass ich seiner Frau erzähle, er sei am Vortag hier gewesen, obwohl er sich gerade bei seiner Freundin aufgehalten hat …«

»Von Ihren zwielichtigen Arrangements möchte ich gar nichts wissen«, schnitt ihm Frau Heller das Wort ab. »Mir geht es darum, dass Sie freundlicher zu unseren Gästen sind. Unlängst hat sich etwa der Herr Emmerich beschwert, dass Sie ihn erst nach einer Viertelstunde bedient haben.«

»Er war selber schuld. Er ist ganz ungünstig gesessen«, rechtfertigte Leopold sich. »Alle anderen Gäste waren an den Tischen neben der Theke versammelt. Der Herr Emmerich hat sich im hintersten Winkel platziert, wohin man den doppelten Weg gehen muss, obwohl es gar nicht notwendig war.«

»Wollen Sie den Leuten etwa vorschreiben, wo sie zu sitzen haben?«, fragte Frau Heller gereizt.

»Immer bei der Schar«, antwortete Leopold achselzuckend.

Frau Heller wollte zu einer längeren Tirade ansetzen, da vernahmen ihre Ohren das irritierende Geräusch einer mit Inbrunst, aber völlig falsch gesummten Melodie. Leopold kamen diese Töne bekannt vor. Er hatte sie heute schon einmal gehört. Im Schopenhauer. Tatsächlich erspähte er aus dem Augenwinkel denselben zerzausten Herrn, nur diesmal im Heller.

»Der vertreibt mir ja alle Gäste«, mokierte sich Frau Heller. »Sagen Sie ihm, dass er sofort damit aufhören soll.«

»In fünf Minuten ist Schluss, das können Sie mit Ihrer Uhr stoppen«, informierte Leopold sie. »Kleiner Brauner?«, wandte er sich dann an Herrn Burckhardt.

Der nickte und summte in aller Seelenruhe weiter, sodass sich bereits ein paar Leute umdrehten. Erst als ihm Leopold seinen Kaffee brachte, hörte er auf.

»Gehen Sie mit Ihrem Lied jetzt von Kaffeehaus zu Kaffeehaus auf Tournee?«, konnte sich Leopold einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.

»Was meinen Sie?«, reagierte Burckhardt irritiert.

»Ich hab Sie heute schon einmal gehört, nämlich im Schopenhauer«, klärte Leopold ihn auf.

»Das Schopenhauer ist mein Stammcafé. Dass ich heute hier bin, ist reiner Zufall«, erklärte Burckhardt barsch. »Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe!« Zur Bekräftigung dieses Wunsches summte er kurz zwei Takte.

Dann sollen sie sich im Schopenhauer auch weiterhin mit ihm herumärgern, dachte Leopold bei sich. Er staunte nicht schlecht, als da eine hübsche junge Frau, die aussah, als sei sie Schülerin des benachbarten Gymnasiums, schwungvoll bei der Tür hereinkam und sich mit leicht gerötetem, aber freudigem Gesicht zu Burckhardt gesellte. Sie unterhielt sich rege mit ihm und trank dabei eine Flasche Limonade. Das hatte Leopold diesem zerzausten und verwirrten Kerl nicht zugetraut.

Nach einer Viertelstunde verließen die beiden das Heller. Durch die großen Glasscheiben der Kaffeehausfenster beobachtete Leopold, wie sie in einen dunklen BMW stiegen, mit dem die junge Frau anschließend losfuhr. Ob das Summen nur eine Masche von ihm ist?, fragte er sich. Jedenfalls hat er es faustdick hinter den Ohren. Aber der Erfolg gibt ihm recht.

Kapitel 2

»Ich soll also bei dir leben, bis ich meine Wohnung beziehen kann?«, fragte Sabine Patzak.

»Fällt dir etwas Besseres ein?«, antwortete Thomas Korber mit einer Gegenfrage.

»Ich könnte auch wieder beim Papa wohnen.«

Korber druckste herum. »Bei mir ist es problemloser. Du hast mehr Platz und ein eigenes Zimmer«, führte er ins Treffen. »Außerdem kann dich dein Vater nicht so gut kontrollieren. Der spürt dir sonst wieder auf Schritt und Tritt nach.«

In Wahrheit musste sich Korber eingestehen, dass er in Leopolds Tochter Sabine verliebt war. Wie aus dem Nichts war sie aus ihrem burgenländischen Heimatort Halbturn im Frühsommer in Wien aufgetaucht, um Leopold nach 21 Jahren mitzuteilen, dass er ihr Vater sei. Leopold hatte es zunächst nicht geglaubt, dann aber starke väterliche Gefühle für sie entwickelt. Mit seinem Freund, dem Gymnasiallehrer Thomas Korber, hatte sie sich ohne sein Wissen auf eine kurze Affäre eingelassen, ehe sie wieder nach Hause gefahren war. Nun war sie Anfang Oktober zurückgekehrt. Sie hatte an der Universität Wien inskribiert, um ein Lehramtsstudium für Deutsch und Englisch zu absolvieren. Ob sie bis zum Bezug ihrer ständigen Bleibe bei Korber wohnen wollte, wie es beide vor ihrem Abschied noch angedacht hatten, dessen war sie sich nicht mehr so sicher.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wenn der Papa da draufkommt!«

»Dann kommt er eben drauf. Du bist erwachsen und kannst tun und lassen, was du willst«, versuchte Korber weiterhin, sie zu überreden.

»So einfach ist es nicht«, konterte Sabine.

»Vor einer Woche am Telefon waren wir uns noch einig«, erinnerte Korber sie.

»Ich fühle mich schäbig. Ich hätte Papa darüber informieren müssen, dass ich zum Studieren nach Wien komme«, plagten Sabine Gewissensbisse.

»Als du das letzte Mal hier warst, hat er nicht einmal gewusst, dass du seine Tochter bist«, gab ihr Korber zu bedenken. »Da hast du dir auch keine Vorwürfe gemacht.«

Beide standen noch immer im Vorzimmer von Korbers Wohnung, wo Sabine Patzak ihre Reisetasche vorläufig abgestellt hatte. »Im Augenblick ist alles ungewohnt. Bei Erika und beim Papa habe ich mich damals schnell eingelebt«, überlegte sie.

»Mein Vorschlag: Du bleibst fürs Erste hier«, drängte Korber auf eine Entscheidung. »Du kannst immer noch zu Erika und Leopold wechseln.«

»Und ihnen sagen, dass ich von dir komme?«

»Natürlich nicht! Du hast bei einer Freundin gewohnt, zum Beispiel bei Natalie, mit der du mich bei deinem letzten Aufenthalt besucht hast. Mach doch nicht alles so kompliziert!«

Sabine seufzte. »Papa kommt mit seinem detektivischen Gespür sicher drauf. Dann ist er für alle Ewigkeit auf dich und mich böse. Aber ich riskier’s unter einer Bedingung: Du vergisst, was kurzzeitig zwischen uns war, und wir bilden eine ganz normale Wohngemeinschaft. Dann hole ich meine restlichen Sachen aus Halbturn und ziehe in ein paar Tagen bei dir ein.«

»Selbstverständlich«, stimmte Thomas Korber zu. Er sah ein, dass im Augenblick nicht mehr drin war. So hatte er Sabine wenigstens in seiner Nähe.

Sabine wiederum wusste, dass sie sich auf eine heikle Sache eingelassen hatte. Sie war sich über ihre Gefühle Thomas Korber gegenüber nicht im Klaren. Einerseits mochte sie ihn sehr, andererseits wollte sie sich keinesfalls an ihn binden, schon gar nicht am Beginn eines Studiums. Studentin sein hieß doch, unbegrenzte Freiheiten zu haben und sich einfach auf Erlebnisse und Bekanntschaften einzulassen.

Sie hatte dabei vor, ihren Vater Leopold möglichst oft zu sehen. Sie freute sich schon auf ihn und seine Freundin Erika. Sie freute sich auch auf das Café Heller, in dem er arbeitete. Vielleicht durfte sie dort wieder einmal aushelfen. Und wenn sie Glück hatte, war ihr Vater sogar wieder mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt.

*

Katja Winkler saß in ihrem großen Fernsehsessel. Jetzt, wo sie dem Alkohol bereits über das verträgliche Maß zugesprochen hatte, ergriffen die Ereignisse aus der Vergangenheit wieder Besitz von ihren Gedanken. So muss es sein, wenn man stirbt, dachte sie. Das ganze Leben zieht in wenigen Zehntelsekunden an einem vorüber. In diesen Momenten dauerte es freilich etwas länger, und sie musste feststellen, dass ihre Erinnerung lückenhaft war.

Es gab zwei Brennpunkte in ihren Träumereien. Da war einerseits ihre Karriere als Schauspielerin und Bühnenliebling. Im Burgtheater und in der Josefstadt hatte sie nicht gespielt, aber sonst beinahe überall in Wien. Die Leute hatten sie fest ins Herz geschlossen. Der Applaus klang ihr noch immer in den Ohren, und sie roch den Duft der Blumen, die sie von ihren zahlreichen Verehrern bekommen hatte. Viele davon hatten eine oder mehrere Nächte mit ihr verbracht.

Dann der andere Brennpunkt: der Unfall, der komplizierte Bruch. Trotz Operation war der Fuß im Eimer gewesen, die Bühnenkarriere damit beendet. Hätte ich damals nicht gleich sterben können, fragte sie sich. Denn was war aus ihrem Leben anderes geworden als ein einziges Warten auf den Tod? Sie saß in ihrer Wohnung, lebte in der Vergangenheit und schaute sich ihren Schmuck an. Manchmal ging sie ins Schopenhauer, damit sie unter Leute kam. Dort gafften sie dann ein paar ältere Männer an, wenn sie sich allein an einen Tisch setzte. Die Auswahl war nicht gerade berauschend. Katja Winkler war immer noch attraktiv, sie pflegte sich, und der Alkohol hatte kaum sichtbare Spuren hinterlassen. Aber Männer von Qualität bekam sie keine mehr. Sie hatte es zuletzt deutlich bei diesem netten Oberkellner gemerkt.

Freunde oder Bekannte gab es praktisch keine, das Verhältnis zu ihrer Tochter war schlecht, genauso wie das zu ihrem Ex-Mann. Katja meinte deshalb, allen Grund zu haben, auf die Welt böse zu sein und anderen Menschen Böses anzutun. Bei ihren Reisen in die Vergangenheit erinnerte sie sich in erster Linie an Zwistigkeiten, Eifersüchteleien und Zerwürfnisse. Darauf gründete sie ihre Aktivitäten. Hier hatte sie etwas, wo sie anderen Menschen das Leben schwer machen konnte.

Gerechtigkeit durfte man nicht verlangen, niemand hatte Anspruch darauf. Aber jeder Mensch hatte die Möglichkeit, böse Dinge, die ihm widerfahren waren, durch ähnliche Gemeinheiten auszugleichen. Diese Dinge beschäftigten Katja, wenn sie abends zu Hause bei einer Flasche Rotwein saß. Im Kopf war sie noch sehr aktiv, und sie hatte in genug Dramen mitgewirkt, um sich ihre eigenen auszudenken.

Den Betroffenen gefiel das ganz und gar nicht. Aber darauf konnte Katja Winkler keine Rücksicht nehmen. Strafe musste eben sein.

*

Der Wind wurde in diesen Tagen heftig und kühl. Es war der erste Temperatursturz Anfang Oktober, der das Ende des Sommers einläutete und den Herbst ankündigte. Urteilte man nach den Gesichtern der Menschen an diesem Vormittag im Café Schopenhauer, so stand bereits der Winter vor der Tür. Grimmig sahen sie drein, als würden sie gegen eine unmittelbar bevorstehende Erkältung ankämpfen. Mancher trug bereits einen Schal um den Hals. »Ist denn gar nicht eingeheizt?«, fragte ein Glatzkopf mit Drahtbrille und weißem Vollbart vorwurfsvoll.

»Gleich drehen wir die Heizung auf«, beruhigte ihn Herbert Bäcker, wobei er mit ›gleich‹bewusst ein Adverb mit höchst nebuloser Bedeutung verwendete. Er hatte nicht vor, sich wegen eines griesgrämigen Gastes in Unkosten zu stürzen. Auch ein heißer Tee wärmte.

David Panozzo schaute nicht gern in die Gesichter dieser mieselsüchtigen Gäste. Wo er konnte, wich er ihnen aus. Am liebsten stand er an so einem Tag hinter der Theke und blickte melancholisch zum Fenster hinaus, bis wieder etwas zu tun war.

Dabei schnappte er die Fetzen eines Telefongespräches auf, die ihn die Ohren spitzen ließen: »Sie wärmt schon wieder die alten Sachen auf. … Ja, die ›Grillparzer-Geschichte‹ … Unangenehm. … Katja kann einen bis aufs Blut ärgern. … Aber bei mir kommt sie damit nicht durch.«

War damit etwa Katja Winkler gemeint? Unwillkürlich war es Davids erster Gedanke, dass es um sie ging. Der Mann, der telefonierte, saß weiter vorn mit dem Rücken zu ihm.

»Nein, sie ist nicht gekommen … Gehört wohl zu ihrer Taktik … Ich hätte es mir gleich denken können.« Der Mann redete leise, aber David verstand trotzdem erstaunlich viel. Deshalb, weil ihn die Sache interessierte? Er beugte sich ein wenig nach vorn.

»Du brauchst keine Angst zu haben. … Ich lasse mir das nicht gefallen. … Dieses Mal nicht. … Ich werde ihr das Maul stopfen, ein für alle Mal. …« Der Mann wurde eine Spur heftiger, nahm sich dann jedoch wieder zurück. Für einen Augenblick schien es David, er wolle sich umschauen, ob ihm jemand zuhörte. Schließlich tat er es doch nicht.

Was er sagte, klang für David ziemlich bedrohlich. Ich muss wissen, wer das ist, ging es ihm durch den Kopf. Da stand der Mann auch schon auf und wandte sich zum Gehen. Richtig, er hatte ein paar Minuten vorher bezahlt. Aber wie hatte er ausgesehen? Jetzt rächte sich Davids Gleichgültigkeit den griesgrämigen Gesichtern der Kaffeehausgäste gegenüber. Er konnte sich nur mehr flüchtig an das äußere Erscheinungsbild des Mannes erinnern. Längeres schwarzes Haar, das über den Kragen hing, aber nicht bis zu den Schultern ging, das sah man jetzt noch. Und sonst? Eine dicke Sonnenbrille hatte er auf. Die trugen ja alle Menschen, die etwas zu verbergen hatten. Ein dünner Schnurrbart, die Lippen ebenfalls eher dünn. Das war’s dann auch schon. Alter? Keine 40 mehr, aber sicher noch keine 60. Kleidung? Jetzt dunkelblauer Mantel, vorher vermutlich graues Sakko. Ergab insgesamt keine zufriedenstellende Personenbeschreibung. David hätte sich ohrfeigen können.

Als er nach vor stürmte, um sich den Mann noch einmal genauer anzusehen, war dieser bereits durch die Tür hinaus verschwunden. Leopold hätte sich in einem solchen Fall wahrscheinlich an die Verfolgung gemacht, aber David, der erst seit Kurzem im Schopenhauer arbeitete, konnte sich so etwas nicht leisten. Er musste den Unbekannten wohl oder übel ziehen lassen.

Was blieb, waren Vermutungen über das rätselhafte Gespräch, das er aufgeschnappt hatte. Hatten sie tatsächlich jener älteren Dame gegolten, der David gelegentlich die Einkäufe hinauftrug? Wer wollte ihr Böses und warum? Sollte David ihr etwas darüber mitteilen, wenn er sie das nächste Mal sah? Oder schickte sich das denn doch nicht?

Er beschloss, es auf die Situation ankommen zu lassen. Aber zunächst ergab sich keine Gelegenheit dazu, da sich Katja Winkler während der nächsten Tage nicht im Schopenhauer blicken ließ.

Kapitel 3

Dienstag, 16. Oktober

Dann war sie plötzlich wieder da. Sie wirkte jedoch so desinteressiert, dass David sich nicht traute, ihr etwas über den seltsamen Zwischenfall zu erzählen. Sie trank ein Glas Rotwein, ging gleich wieder und schaute ihn beim Zahlen nicht einmal an.

Am nächsten Tag rief sie vormittags im Schopenhauer an und verlangte David zu sprechen. »Mir geht es schlecht. Ich kann heute nicht ins Kaffeehaus kommen«, eröffnete sie ihm. »Ich habe deshalb eine große Bitte an dich. Ich habe Lebensmittel im Supermarkt bestellt. Wenn du deinen Dienst beendet hast, sind sie fertig zum Abholen. Bring sie mir bitte wie gewohnt in meine Wohnung. Das tust du doch für mich, oder?«

»Selbstverständlich, gnä’ Frau«, zeigte sich David erbötig. »Ich hoffe nur, ich komme nicht ungelegen, wenn Sie sich nicht gut fühlen.«

»Aber geh, du störst doch nie«, versicherte Katja ihm. »Im Gegenteil! Und es soll dein Schaden nicht sein.«

»Machen Sie sich bitte keine Umstände«, beeilte sich David zu sagen. Katjas Worte erinnerten ihn an die Halskette, die er ihr unbedingt zurückgeben musste. Doch davon wollte er am Telefon nichts erwähnen. Er nahm sich stattdessen vor, konsequent zu bleiben, ihr höflich, aber bestimmt mitzuteilen, dass derartige Zuwendungen den erlaubten Rahmen überschritten, und sich von ihr unter keinen Umständen in eine verfängliche Situation bringen zu lassen.

David holte also nach seinem Dienstschluss Katjas Einkäufe aus dem Supermarkt, die dort schon für ihn bereitstanden. Es war deutlich weniger als bei den letzten Malen, aber schließlich fühlte sie sich nicht gut. Da brauchte sie wohl nur das Nötigste. Ob sie bettlägerig war? Beinahe tat sie David ein bisschen leid.

Er ging zu dem Haus in der Semperstraße, das er bereits kannte, läutete an und meldete sich durch die Gegensprechanlage. Sofort wurde ihm aufgemacht. Als er im zweiten Stock ankam, war die Tür bereits offen. Trotzdem klopfte David kurz an, um sich anzukündigen, und trat mit einem »Ich bin’s, Frau Winkler« ein.

Was ihm dabei sofort auffiel, war die merkwürdige Stille in der Wohnung. Vielleicht schlief Katja. Aber nein, das konnte nicht sein, sie hatte ihn doch eben hereingelassen. Egal, er wollte sich nicht lange aufhalten. Eigentlich genügte es, wenn er die Einkaufstasche im Vorzimmer abstellte und wieder ging.

Da erinnerte David sich an die Halskette. Die musste er Katja Winkler noch zurückgeben. Sie sollte wissen, dass er ihr Geschenk nicht annahm. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als kurz ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Es war ihm jedoch unangenehm, in der Wohnung nach ihr zu suchen. »Frau Winkler?«, rief er deshalb fragend.

Als sie nicht antwortete, nahm er sich ein Herz und ging ein paar Schritte weiter. Im Wohnzimmer war alles leer, nicht einmal die übliche Flasche Rotwein stand auf dem Tisch. Also schaute er ins Schlafzimmer daneben. Dort lag sie, aber nicht im Bett, sondern auf dem Boden. War ihr etwa schlecht geworden?

David blickte in den gequälten Ausdruck ihres Gesichtes, die weit aufgerissenen Augen. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie tot war. Er wollte sich zu ihr niederbeugen, da spürte er einen Schlag auf den Kopf und ihm wurde schwarz vor den Augen.

*

Als David Panozzo wieder zu sich kam, dröhnte sein Schädel. Für einen Augenblick hoffte er, alles sei nur ein böser Traum gewesen. Doch Katja Winklers Leiche vor ihm belehrte ihn rasch eines Besseren. An den Malen an ihrem Hals erkannte er, dass sie stranguliert worden war. Sie war nur mit einem blauen Morgenmantel, Slip und BH bekleidet.

David fuhr mit der Hand über seinen Kopf. Jemand hatte ihn niedergeschlagen, so viel stand fest – mit aller Wahrscheinlichkeit der Mörder oder die Mörderin. Er oder sie hatte sich offensichtlich noch in der Wohnung befunden, als David mit der Einkaufstasche hereingekommen war, hatte ihm sogar die Tür geöffnet. Ihn schauderte.

Wie lang war er da gelegen? Genau ließ sich das nicht feststellen, da er vorher nicht auf die Zeit geachtet hatte, aber sicher einige Minuten. An der bedrückenden Situation hatte sich jedenfalls nichts geändert. Irgendwo tickte eine Uhr, sonst war es vollkommen still. Katja Winklers Augen starrten ins Leere, und doch kam es David vor, als ob sie ihn fixierten. Ihr Mund, der im entscheidenden Augenblick nicht mehr zum Atemholen gekommen war, sah aus, als hätte er noch etwas sagen wollen, Worte, die nun endgültig erstickt blieben. David Panozzo merkte, wie schwach seine Füße waren. Am liebsten hätte er sich für unbestimmte Zeit wieder auf den Boden gelegt. Er sollte wohl die Polizei verständigen. Aber dazu fehlte ihm der entscheidende Mumm. Wenn er den Notruf betätigte, würde man ihm sicher mitteilen, er solle sich nicht vom Fleck wegrühren, bis die Beamten eingetroffen seien. So lange hielt er es aber allein neben der Leiche nicht aus.

»Wenn Leopold jetzt hier wäre, wäre alles einfacher«, sagte David zu sich. Gemeinsam mit ihm und seinem Kollegen von der Rezeption hatte er im Hotel Floridus schon einmal ein Mordopfer entdeckt. Dabei hatte er sich besser gefühlt. Leopold strahlte in solchen Situationen Ruhe aus und verhielt sich so, als sei das Auffinden eines Toten die selbstverständlichste Sache der Welt. Aber Leopold war im Augenblick nicht hier, er versah seinen Dienst im Café Heller jenseits der Donau. David musste also allein zurechtkommen.

Er schaute nochmals auf die Tote, die mit leerem Blick zurückstarrte. Ihn schwindelte. Er hielt es nicht länger hier aus. Hinaus, war sein einziger Gedanke, zumindest für ein paar Minuten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Er lief zur Tür und stand unversehens vor einer sehr jungen Frau, die gerade hereinkam. Sie hatte dunkles Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und trug einen grauen Pulli, Jeans und Stiefel. »Was tun Sie hier?«, fragte sie nach einer Schrecksekunde.

»Dasselbe würde ich gern von Ihnen wissen«, reagierte David nervös.

»Wo ist meine Mutter?«, kam es resolut von der Frau.

Es handelte sich also um Katja Winklers Tochter. Das machte die Sache auch nicht gerade leichter. »Hören Sie … Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen …«, stotterte David, der mit der Situation nun gänzlich überfordert war.

Die junge Frau stieß ihn zur Seite und lief in die Wohnung. Gleich darauf hörte David ihren Aufschrei: »Sie haben sie umgebracht, Sie Mörder!«

Nun verlor David Panozzo endgültig den Kopf. Ohne über die Folgen nachzudenken, rannte er panisch aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße.

*

Dort landete er direkt in den Armen von Inspektor Bollek. »Schau an, schau an! Wo kommen Sie denn her?«, wunderte der sich, David wiedererkennend, über die unerwartete Begegnung.

David stammelte unbeholfen: »Ich war in dem Haus … bei einer Bekannten.«

»Und die haben Sie so eilig verlassen?«, meldete sich nun auch Oberinspektor Richard Juricek zu Wort. Raschen Schrittes, sein Markenzeichen – den Sombrero – tief ins Gesicht gezogen, ging er auf David Panozzo zu.

Es half wohl nichts mehr, um den heißen Brei herumzureden. Davids Situation war schlimm genug. Offenbar war die Polizei nicht zufällig da, sondern hatte bereits eine Information bekommen. »Sie ist tot«, räumte er kleinlaut ein.

»So etwas Ähnliches haben wir befürchtet«, teilte ihm Juricek mit und kratzte sich dabei an der Schläfe. »Allerdings nicht, dass Sie damit in Zusammenhang stehen.«

»Ich habe bloß die Leiche gefunden«, verteidigte David sich sofort.

»Sie kommen am besten mit uns hinauf und erklären uns oben alles«, schlug Juricek vor. David war das gar nicht recht, aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Als er sich zähneknirschend anschickte mitzugehen, fiel Bollek etwas an ihm auf. Er stieß Juricek an und deutete auf David Panozzos Sakkotasche. Juricek zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Was haben wir denn da?«, fragte er. Dann streifte er Handschuhe über und zog sorgfältig einen Nylonstrumpf heraus.

»Wenn der nicht zur Leiche gehört, gehe ich von da zu Fuß nach Hause«, raunte Bollek ihm zu.

David stand wie zur Salzsäule erstarrt da. »Ich kann mir das nicht erklären«, beteuerte er.

Juricek ließ das Beweisstück einpacken und durchsuchte anschließend Davids Taschen genauer. Nun kam auch Katja Winklers Halskette zum Vorschein, die David Panozzo in der Aufregung bei sich behalten hatte, anstatt sie wie geplant zurückzugeben. Alles schien sich gegen ihn zu verschwören. »Wenn die nicht zur Leiche gehört, gehe ich von mir daheim wieder hierher zurück«, frohlockte Bollek.

»Ihr Erklärungsbedarf wird immer größer«, ließ Juricek David wissen. »Aber schauen wir einmal nach oben. Dort sollten wir auf Jennifer Winkler, die Tochter der Toten, treffen.«