Karl Marx - Rolf Hosfeld - E-Book

Karl Marx E-Book

Rolf Hosfeld

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Beschreibung

Das Werk des Philosophen Karl Marx zieht noch immer viele Tausende Leser in seinen Bann – im Jahr seines 200. Geburtstags mehr denn je. Warum ist zeitweise fast die Hälfte der Menschheit seinen Ideen gefolgt? Rolf Hosfeld bringt uns den gescheiterten Revolutionär und sein umstrittenes wie grundlegendes Werk nahe. Er wirft einen unverstellten Blick auf das unruhige Leben des Philosophen und Politikers, auf die Irrtümer und Fehleinschätzungen ebenso wie auf die bahnbrechenden Ideen.
Das Buch erschien bei Piper unter dem Titel »Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie«.

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Seitenzahl: 345

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Rolf Hosfeld

KARL MARX

PHILOSOPH UND REVOLUTIONÄR

Eine Biographie

Pantheon

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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografieim Piper Verlag, München.Erste Auflage

Februar 2018Copyright © 2009, 2018 by Rolf Hosfeld

Copyright © 2018 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,

unter Verwendung einer Illustration von Isabel Klett, Stuttgart/Barcelona

Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu

ISBN 978-3-641-22433-2V001www.pantheon-verlag.de

Inhalt

IDEEN

Weltgeist

Liberalismus

Rätsel der Moderne

Prädestination

Phänomenologie des Kommunismus

Die Erfindung der Einfachheit

Neues Geschlecht

TATEN

Futurismus

Weltkrieg

Trauma des Exils

Verlorene Illusionen

ENTDECKUNGEN

Das furchtbare Geschoss

Krise und Endzeit

FOLGEN

Zur Sonne, zur Freiheit

Das Heil aus dem Osten

ANHANG

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Namenregister

Gescheiterte Prophezeiungen sind oft eine inspirierende Lektüre.

RICHARD RORTY

IDEEN

Weltgeist

Im Jahre 1844 schrieb Karl Marx im Pariser Exil: »Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen.«1 Das war – nicht nur, aber auch – das Resümee einer persönlichen Erfahrung. Nehmen wir diesen Satz des damals Sechsundzwanzigjährigen zunächst als autobiografische Mitteilung.

Der Zensurverhältnisse wegen war er am 18. März 1843 als Chefredakteur der liberalen ›Rheinischen Zeitung‹ zurückgetreten.2 Das Jahr hatte für ihn bereits unter reichlich trüben Auspizien3 begonnen, doch nun war ihm die Waffe der Kritik aus der Hand geschlagen. An der preußischen Zensur sind damals manche fast irregeworden. Radikalisiert hat sie viele. Marx wurde nicht zuletzt durch diese Erfahrung zu dem Radikalen, als den ihn die Nachwelt in Erinnerung behalten hat. Auch er war ein Kind seiner Zeit.

Mehr oder weniger zeichnete Zar Nikolaus I. persönlich dafür verantwortlich, denn die Entscheidung gegen das Kölner Blatt war nicht ganz ohne Druck aus Russland zustande gekommen. Antirussische Artikel, in denen die Abhängigkeit Berlins von Petersburg kritisiert wurde, missfielen dem Zaren, und er legte dagegen entschiedenen Protest ein. Der preußische Gesandte wurde bei einem Hofball zur Rede gestellt. Es folgte ein geharnischter Brief aus dem Winterpalais nach Potsdam. Die ›Rheinische Zeitung‹ wurde verboten. Marx musste gehen. »In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen«, schrieb er Anfang 1843. »Man verfälscht sich hier selbst.«4 Ein richtiges Leben im falschen? Nein, das war unmöglich. Er ging nach Paris, die europäische Weltstadt, in die es Jahre zuvor schon den deutschen Dichter Heinrich Heine aus gleichem Grund gezogen hatte.

Heine war damals den Verheißungen der Pariser Julirevolution gefolgt. »Sonnenstrahlen, eingewickelt in Druckpapier«5, nannte er die ersten Zeitungsnachrichten von den Freiheitskämpfen in der französischen Hauptstadt, als sie ihn erreichten. Es war für ihn wie eine Reise aus dem Hades ins Leben. Der Juli 1830 bedeutete eine Zäsur für das ganze Jahrhundert. »Jene Straßenkämpfe von Paris«, schrieb Benedetto Croce in seiner ›Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert‹, »gewannen die Bedeutung einer Weltkriegsschlacht: den ängstlich nach rückwärts Blickenden erschienen sie wie Nebel und wie dunkle Wolken am politischen Horizont Europas, durch die mit einem Schlage die Sonne hervorbricht: die Julisonne.«6 Und Hegel meinte 1831 lakonisch zu seinen Berliner Studenten, mit der nach Napoleons Untergang auf dem Wiener Kongress wieder eingesetzten Bourbonenherrschaft sei kaum mehr als eine fünfzehnjährige Farce inszeniert worden.7

Ein Geschöpf der Heiligen Allianz war unversehens in sich zusammengebrochen und bot den Zeitgenossen das Schauspiel einer zerbrochenen Ewigkeit. Es hatte keine Weltgeschichte geschrieben, doch die lang erwartete Niederlage der Restauration in Frankreich war, wie Hegels Schüler Eduard Gans zu berichten wusste, ein großes europäisches Ereignis.8 Damit hatte sich vor allem gezeigt, dass das Prinzip der Revolution, nicht das der Restauration, den weiteren Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts bestimmen würde. Die erste Folge war die Unabhängigkeit Belgiens. England erlebte 1832 eine Wahlrechtsreform, Spanien erhielt 1834 eine konstitutionelle Charta. In Deutschland sammelten sich 1832 Liberale und Demokraten auf Schloss Hambach zu einem Fest der Völkerverbrüderung. Im gleichen Jahr gründete Giuseppe Mazzini die Freiheitsbewegung La giovine Italia und öffnete sie dem europäischen Gedanken.

Der Pariser Julisieg ließ allerdings schon den Beginn einer neuen Spaltung zwischen bourgeoisie und peuple ahnen. Eugène Delacroix’ berühmtes Gemälde ›Die Freiheit auf den Barrikaden‹ hat das ins Bild gefasst. Es war die Überraschung des alljährlichen Pariser Kunstsalons von 1831. Eine Allegorie der Freiheit? Ja. Aber sie konnte nur noch mühsam die Balance zwischen den Bürgern und den auf Barrikaden vorwärtsstürmenden proletarischen Gestalten aus den Faubourgs halten. »Alles Seiende führt zur Trauer«, meinte der Maler in einer kurzen, ›Metaphysik‹ betitelten Notiz.9 Etwas Ungewisses, fast Melancholisches lag über dieser barbusigen Apotheose der Freiheit aus den heroischen Julitagen. Im gleichen Jahr trat Karl Marx als Quartaner in das Trierer Friedrich-Wilhelm-Gymnasium ein.

Er gehörte gewissermaßen zur ›Generation Revolution‹ seines Jahrhunderts. 1831 und 1834 erhoben sich in Lyon die Seidenweber mit dem Schlachtruf »Vivre en travaillant ou mourir en combattant«,arbeitend leben oder kämpfend sterben. 1835, drei Jahre nach dem Hambacher Fest, wurde Marx Student. 1840 erlebte er mit der Rheinkrise eine hochemotionale Aufwallung des Deutschtums und des Franzosenhasses, die jedoch keine Spuren in ihm hinterließ. Als getaufter Trierer Jude konnte er den im Gefolge der antinapoleonischen Befreiungskriege entstandenen Nationalismus, der durch den französischen Ruf nach Annexion der linksrheinischen Gebiete neuen Auftrieb erhielt, ohnehin kaum nachvollziehen. Das war nicht seine Welt. Man hatte seine Probleme mit Preußen, aber die Erinnerungen an die Franzosen wurden eher von nostalgischen Zügen geprägt. Es waren die glücklichen Jahre, als der Code Civil an der Mosel eingeführt und die Judenemanzipation verkündet wurde. Im Jahr 1840 erschien aber auch Justus Liebigs ›Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie‹, ein Meilenstein auf dem Weg zu einer rationellen Landwirtschaft und modernen Welt.

Die Reise von Koblenz nach Bonn zu seinem ersten Semester legte Marx mit dem Dampfboot zurück. Seit 1827 gab es eine regelmäßige Linie zwischen Mainz und Köln, und sie veränderte schlagartig alle Vorstellungen von Raum und Zeit. »Die Dampfschiffe fahren zu schnell«, beklagt sich die Heldin Wally in einem Roman Karl Gutzkows aus dem Jahre 1835. Man brach aus dem Zeitalter der Langsamkeit irritiert auf in ein neues Tempo. Fortschritt, das Zauberwort des 18. Jahrhunderts, wurde in der Landschaft sichtbar. Erste Industrieansiedlungen entstanden, die Dampfschiffe gehörten plötzlich zur Silhouette des romantischen Rheins, und bald würde die Eisenbahn sichelschnittartig in die arkadische Natur eingreifen. Der Umbruch war gewaltig. Zukunft wurde die neue Parole in einer über Jahrhunderte auf Traditionen beruhenden Welt. Auch das prägte die ›Generation Revolution‹.

Berlin, seinen zweiten Studienort, musste Marx im Oktober 1836 noch mit der Postkutsche ansteuern. Die erste Eisenbahn – zwischen Berlin und Potsdam – würde es erst in zwei Jahren geben. Es dauerte von der Mosel bis an die Spree, in gewohnter Langsamkeit, also eine gute Woche. Die Industrialisierung der trotz Gasbeleuchtung noch weitgehend ländlich geprägten preußischen Hauptstadt machte damals allererste zaghafte Schritte. August Borsig, der spätere Lokomotivenkönig, beschäftigte zur Zeit von Marx’ Ankunft gerade einmal fünfzig Arbeiter.

Das Studium in Berlin war ein Wunsch seines Vaters, denn die dortige Hochschule hatte den Ruf einer Arbeitsuniversität, ganz anders dem Fortkommen des Zöglings förderlich als die von liederlichem Corpswesen beherrschte Bonner Alma Mater. Marx selbst dürfte allerdings eher der Ruf der akademischen Freiheit angezogen haben. Noch hatte dort der Kulturminister Stein zum Altenstein das Sagen, der Wilhelm von Humboldts Ideal eines weitgehend staatsfreien Wissenschaftsraums als politisches Programm pflegte. Die Hochschule Unter den Linden galt als der einzige mehr oder weniger zensurfreie öffentliche Raum in Preußen, und die Atmosphäre Berlins zeichnete sich nach den Worten des Hegel-Schülers Karl Rosenkranz durch eine fast fieberhafte intellektuelle Neugier aus. Hier würde Marx in den nächsten Jahren zu den Waffen der Kritik geführt werden.

Seine erste Idee entwickelte sich aus einer intensiven Begegnung mit der Philosophie Hegels auf einer Halbinsel zwischen Spree und Rummelsburger See während eines Erholungsaufenthalts. Anfang 1837 war der Student dem Arzt wegen Brustschwäche und periodischen Blutspuckens aufgefallen und wenig später wegen Reizbarkeit der Lungen zum Invalidenerklärt worden. Im Sommer trat Marx die erste der vielen Kuren an, die sein Leben begleiten würden. Krankheit war geradezu eine Mode in jener übersensiblen Biedermeierzeit, in der er aufwuchs. Er hätte sich mit seinen Dispositionen leicht dem verbreiteten Kultus des Weltschmerzes anheimgeben können, von dem der Romancier Karl Immermann 1836 sagte, der Fluch des gegenwärtigen Geschlechts sei, »sich auch ohne alles besondere Leid unselig zu fühlen«. Er tat es nicht, doch sind seine Briefe immer wieder voll von Mitteilungen über den Zustand seiner Lunge und seiner Bronchien, seiner Galle und Leber und seiner Furunkulose; zeit seines Lebens kämpfte er gegen seine schwache Gesundheit an. Nun sollte die frische Landluft im Fischerdorf Stralau vor den Toren der preußischen Hauptstadt den bleichsüchtigen Schmächtling erst einmal wiederherstellen.

Er hatte soeben sein zweites Berliner Semester abgeschlossen. Anfangs war ihm die groteske Felsenmelodie der Hegel’schen Philosophie etwas fremd geblieben, doch nun kam sie seinem Bedürfnis nach Ruhe überaus entgegen. Der Patient vertiefte sich beim Mondschein am Ufer des Rummelsburger Sees in Hegel vom Anfang bis zum Ende, lief wie toll im Garten an der Spree schmutzigem Wasser umher, fiel am Ende dem Feind in den Arm und wurde Hegelianer. Dies ist das Fazit eines Neunzehnjährigen:

»Von dem Idealismus, den ich, beiläufig gesagt, mit Kantischem und Fichteschem verglichen und genährt, geriet ich dazu, im Wirklichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Zentrum derselben geworden.«

Die Welt war in sich vernünftig, auch wenn sie in sich widersprüchlich war. Ein zweites Fazit der Stralauer Sommerwochen: »Im konkreten Ausdruck lebendiger Gedankenwelt, wie es das Recht, der Staat, die Natur, die ganze Philosophie ist, hier muss das Objekt selbst in seiner Entwicklung belauscht, willkürliche Einteilungen dürfen nicht hineingetragen, die Vernunft des Dinges selbst muss als in sich Widerstreitendes fortrollen und in sich seine Einheit finden.«10 Wissenschaft, das hatte er von Hegel gelernt, bedeutete, »sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben«11, und aus ihm selbst durch gedankliche Abstraktion die Begriffe und Kategorien zu destillieren, die ihn klassifizieren und einordnen. Dieser Anspruch auf ein potenziell absolutes Wissen wird ihn sein ganzes Leben begleiten. Nur wenig später sollte Marx behaupten, nicht Hegel, sondern erst er habe dazu den wirklichen12, weil materiellen Schlüssel gefunden.

Zunächst einmal fand er in Hegel jedoch den Schlüssel zu dem, was in seinem künftigen Wortgebrauch Kritik heißen wird. Die Gegenwart »kritisch« betrachten hieß für ihn und seine Generation von jungen Hegelianern, sie nicht als Gegebenes hinzunehmen, sondern aus ihren inneren Widersprüchen jene Prinzipien und Tendenzen herauszuarbeiten, die über sie hinaus in die Zukunft wiesen. Ein Biergarten am Stralauer Spreeufer wurde zum Laboratorium solcher Gedankenexperimente. Hier traf sich im Sommer 1837 der Berliner Doktorclub, ein exzentrischer Zirkel kritischer Hegelschüler, zu dem der junge Student Marx sich jetzt auch zählte; und in diesem etwas bohemienhaften Ambiente offenbarte sich manche widerstrebende Ansicht13, vermutlich mitunter recht übermütig und lautstark. Der Theologe Bruno Bauer, der auf Marx den stärksten Einfluss ausüben sollte, gehörte anfangs nicht dazu. Er war zu dieser Zeit noch ein orthodoxer Hegelianer. Im Stralauer Wirtshaus und bei regelmäßigen Literatentreffen in einem Café in der Französischen Straße, nicht etwa in akademischen Seminarräumen oder Vortragssälen, entstanden die Anfänge jener Hegel’schen Linken, ohne die Marx’ weitere Entwicklung kaum vorstellbar ist. Sie behauptete, Hegel etwas vereinseitigend, dass weniger die Wirklichkeit in sich vernünftig, als dass vielmehr die Vernunft die eigentliche Wirklichkeit sei. Und die Vernunft war wesentlich negierend, eben »kritisch«.

Unmittelbar politisch konnte diese abstrakte Fragestellung werden, wenn man sie auf den preußischen Staat bezog. War er für Hegel bereits ein in sich vernünftiges Gebilde, oder hatte sich in ihm die Vernunft erst noch zur Wirklichkeit auszubilden? Forderte nicht die Hegel’sche Gestalt der Idee, der Freiheit, fragte Marx wenig später, auch und notwendig die Freiheit der unbeschränkten öffentlichen Meinungsäußerung?14 War Preußen also noch ein in sich höchst unvernünftiges Staatswesen?

Hegel hätte vermutlich geantwortet: im Prinzip nein, im Detail ja. So hatte er es jedenfalls in einem Brief an Staatskanzler Hardenberg formuliert, als er ihm ein Exemplar seiner ›Rechtsphilosophie‹ zusandte.15 Doch Hegel war schon sechs Jahre tot, als Marx sich in seine Werke vertiefte. Er hatte dessen Philosophie im Wesentlichen durch seinen begabtesten Schüler Eduard Gans kennengelernt, und das war bereits ein liberal korrigierter Hegel. Gans war zu dieser Zeit ein gefeierter Mann an der Berliner Universität. Im Wintersemester 1838/39, Marx’ fünftem Berliner Semester, nahm er seine »tagesgeschichtlichen« Vorlesungen über Politik und soziale Fragen im modernen Europa wieder auf, die er fünf Jahre zuvor unter dem Druck der Behörden eingestellt hatte. Er war ein hinreißender, fast hypnotisch wirkender Redner, in dessen Veranstaltungen nicht selten mehrere hundert Hörer strömten, und er galt, wie sein Vorbild Mirabeau, als Verkünder neuer liberaler Zuversicht in einer Zeit preußischer Agonie. Die Hörsäle konnten dem Andrang kaum gerecht werden, und die Studenten brachten ihm begeisterte Fackelzüge dar.

Hegel hatte gelehrt, dass der Staat der »Gang Gottes in der Welt«, eine Wirklichkeit der sittlichen Idee sei.16 Das glaubte Gans zwar auch, doch war er im Unterschied zu Hegel der Ansicht, dass diese »Wirklichkeit« in der modernen Zeit nur noch durch öffentliche und freie Meinungskonkurrenz, durch »Opposition« herzustellen sei. »Hat der Staat es nicht mit der Opposition zu tun«, verkündete er, »so verfällt er in Faulheit.« Und sollte dabei – beispielsweise wegen Unterdrückung der Opposition – ein Ausgleich zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat nicht möglich sein, käme es irgendwann unvermeidlich zu einer Revolution17, die »jeder bessere und fortschreitende Mensch«18 regelrecht herbeiwünschen müsse. Es war Vormärz. Das alte Europa, das wusste auch der Restaurationsarchitekt Fürst Metternich, befand sich am »Anfang seines Endes«, ohne jede Aussicht auf»ehrenhafte Capitulationen«19.

Die Vorstellung, dass in Preußen ein Ausgleich zwischen der Regierung und einer sich zügig modernisierenden Gesellschaft möglich sein könnte, rückte nach 1840 in immer weitere Ferne. In diesem Jahr wurde Friedrich Wilhelm IV. König in Preußen. Anfangs sah es so aus, als ob der neue König der preußischen Herrschaft nach den Worten des russischen Gesandten Peter von Meyendorff nun »une certain couleur libérale«, eine gewisse liberale Färbung verordnen wolle. Er erließ eine Amnestie für politische Strafgefangene und hofierte einige bekannte Helden der Befreiungskriege und Gegner des Systems Metternich. Die Landtage und die Presse wurden freier, und schon der Thronwechsel war von einer Welle der Begeisterung begleitet. Sehr bald sollte sich allerdings zeigen, dass Friedrich Wilhelm keineswegs ein Liberaler war.

Marx zählte zu den wenigen, die das früh erkannten. »Er rechtfertigte schon bei der Huldigung in Königsberg meine Vermutung, dass nun die Frage rein persönlich werden würde«, meinte er im Rückblick. »Er erklärte sein Herz und sein Gemüt für das künftige Staatsgrundgesetz der Domäne Preußen, seines Staates.«20 Er hatte in Königsberg ein gewaltiges und kunstvolles Schauspiel inszeniert, das von dem Wunsch getragen war, eine sakrale Tradition der preußischen Monarchie – die es nicht gab – neu zu erfinden. Er war ein vergangenheitssüchtiger Romantiker, der die kalte Metternich’sche Machtwelt mit etwas Extravagantem21 überraschen wollte. Dieses Extravagante war Friedrich Wilhelms »christlicher Staat«, das Phantasieprodukt einer spätromantischen Kunstreligion, die von christlicher Erneuerung aus dem Geist eines eher ästhetisch als religiös aufgefassten Urchristentums und dem göttlichen Ursprung der Königswürde schwärmte. Er hatte seine »Standesherren« und seine »Ritterschaft« und träumte von einer sakralen Unio mystica mit seinen Untertanen, so zuckerglasig, wie die Christusfigur im Hof seiner Potsdamer Friedenskirche schützend und segnend ihre Hände ausbreitet. Und was er sich anfangs von einer gewissen Liberalisierung der Presse versprach, war nichts anderes als eine in die ständische Ordnung seiner persönlichen Herrschaft eingefügte »anständige Publizität«22. Er war das lebende Dementi des rationalen Staats friderizianischer Prägung, in den Hegel und in abnehmendem Maße seine Schüler alle Hoffnungen auf innere Reformierbarkeit gesetzt hatten.

In Preußen, meinte Marx lakonisch, sei in Wirklichkeit der König selbst das System, und es sei nur eine Frage der Zeit, wann die lächerliche Historienkomödie dieses neuen Ritters in einer Tragödie enden werde. Denn während bei Hofe altdeutsch phantasiert würde, sei man andernorts schon längst dazu übergegangen, neudeutsch zu philosophieren. Man hatte, mit anderen Worten, die Unverschämtheit besessen, den Menschen zum Menschen machen zu wollen23, und ihn so dem angeblich gottgewollten Korsett der Stände und Untertanen entrückt.

Es war ein radikaler Bruch im Denken, nicht nur gegenüber der königlichen Romantik. Für Marx’ weitere Entwicklung sollte dabei von großer Bedeutung sein, dass dieser Bruch einen theologischen Ausgangspunkt hatte. Im Berliner Doktorklub war um 1840, angeführt von Bruno Bauer, den ein Freund damals einen »Robespierre der Theologie«24 nannte, eine regelrechte »Schreckenszeit der Wissenschaft«25 angebrochen. In der Konsequenz hatte man die »Auflösung« der Idee der Religion und mit gleichem Federstrich auch die des christlichen Staats verkündet. »Zeitgeist« war seit Jahren ein Modewort, und der Dichter Georg Herwegh meinte in diesem Jahr, das »Schwert der Revolution« mache sich in der Literatur immer zunächst als »kritisches Messer« bemerkbar. Mit dem Stil habe sich auch die Sprache verändert. Sie sei rasch geworden, »wie der Gang der Zeit, schneidend, wie ein Schwert, schön wie die Freiheit und der Frühling«26. Unter den jüngeren Hegelianern verbreitete sich die Auffassung, dass man an der Schwelle einer in der Geschichte einzigartigen neuen Aufklärungsperiode stehe, und man begann tatsächlich, in den eigenen Reihen nach den künftigen deutschen Robespierres und Marats Ausschau zu halten. Man fühlte sich, vertraute Marx damals den handschriftlichen Arbeitsnotizen zu seiner Doktorarbeit an, wie Prometheus, der das Feuer vom Himmel gestohlen hatte und anfing, Häuser zu bauen und auf der Erde sich anzusiedeln.27 Es war eine ziemlich überspannte Atmosphäre, in der das alles gedieh.

Als Marx sein Studium in Berlin begann, zeigte sich die Debatte unter den Schülern Hegels noch ganz von der als Provokation empfundenen Streitschrift ›Das Leben Jesu‹ des Tübinger Theologen David Friedrich Strauß bestimmt. Der Hegelianer Strauß war ein Mythenforscher. Er ging davon aus, dass die ganze Christologie der historischen Figur des Jesus von Nazareth angedichtet wurde, aber er betrachtete dies im Unterschied zu den Atheisten der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht als bewussten Betrug oder schlaue Erfindung, sondern als eine Mythe, die in der Form einer unbewussten Vorstellung eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck bringt28 – nämlich die der Menschwerdung Gottes. Diese Wahrheit sei aber nicht darauf zu reduzieren, ob Jesus wirklich auf die von den Evangelisten geschilderte Weise gezeugt worden sei, gelebt habe und wiederauferstanden sei. Die eigentliche Botschaft bestehe vielmehr darin, dass der Mensch »in seinem unmittelbaren Bewusstsein sich eins mit Gott wisse«29. Diese Sicht konnte sich mit einem gewissen Recht auf Hegel berufen, der ebenso gegen die für ihn abstrakte Priestertrugstheorie des 18. Jahrhunderts polemisiert und dagegen geltend gemacht hatte, dass auch die Religion über Wahrheit verfüge, nur eben »in Form der Vorstellung«30. Strauß war darüber hinaus ein Zeitgenosse der Grimm’schen Sagen- und Märchenforschung und der Niebuhr’schen Quellenkritik.31 Mit historischen Quellen konnte man nicht mehr so naiv und unbefangen verfahren, wie das noch Hegel und Goethe getan hatten – ein Anspruch, der auch Marx nicht unbeeinflusst ließ. Die spekulative Philosophie musste sich, vor allem beim Gang in die Einzelwissenschaften, zunehmend den Herausforderungen des Faktischen und empirisch Nachprüfbaren stellen.

Zunächst einmal stellte sie sich jedoch den inneren Widersprüchen der Theorie. Dabei war der Theologe Bruno Bauer für einige Jahre die alles überragende Figur im Kreis des Berliner Doktorklubs. Er lehrte seit 1834 an der Universität Unter den Linden und machte 1835 zum ersten Mal auf sich aufmerksam, als er, von dem orthodox-pietistischen Theologen Ernst Wilhelm Hengstenberg dazu veranlasst, einen Verriss der Leben-Jesu-Schrift von Strauß veröffentlichte. 1840 hatte er allerdings eine vollständige Kehrtwendung vollzogen und bezeichnete Strauß’ Schrift nun als Ereignis, das wie ein Blitz der Reflexion in das Reich der theologischen Seligkeit eingeschlagen sei. Wenig später veröffentlichte er seine ›Kritik der Synoptiker‹, in der er, wie der theologisch durchaus gebildete Marx damals meinte, durch gründlichste Exegese nachwies, dass die Berichte der Evangelisten schon aufgrund ihrer Ungereimtheiten keine zuverlässigen Aufzeichnungen historischer Tatsachen sein könnten.32 Es war in der Tat eine solide kritische Arbeit, und noch Albert Schweitzer schrieb in seiner ›Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‹, Bauers Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker sei ein Dutzend gute Leben-Jesu wert. Es sei bis dato das genialste und vollständigste Repertorium der Schwierigkeiten des Lebens Jesu, das überhaupt existierte.

Damals fuhr Bauer mit seinen Auffassungen jedoch gegen eine Wand, zumal er aus seiner Kritik sehr radikale Schlussfolgerungen zog. Die Evangelien, behauptete er, seien das Produkt eines Zeitgeists, zu dem Leben-Jesu-Erzählungen ebenso gehörten wie Versatzstücke jüdischer, alexandrinischer, griechischer und römischer Mythen und Philosophien. Sie seien, mit anderen Worten, nichts als ein spätantikes Durchgangsstadium des menschlichen Selbstbewusstseins, das in der christlichen Religion institutionalisierte Formen angenommen und sich so verselbstständigt und konserviert habe.

Marx war Ende der Dreißigerjahre ein Bauer-Schüler, besuchte seine Kollegien an der Universität und galt unter den Freunden des Doktorklubs als ein wahres Arsenal an Gedanken. Bauer lud ihn zur Mitarbeit an einer Neuausgabe der Hegel’schen Vorlesungen über die Philosophie der Religion ein, was Marx zu der nie realisierten Idee veranlasste, selbst etwas Vergleichbares schreiben zu wollen. Der Ältere zeigte sich von dem überbordenden intellektuellen Esprit des Jüngeren tief beeindruckt. Wie umgekehrt der Einfluss des Theologen Bruno Bauer auf Marx kaum zu überschätzen ist.

»Es war alles jetzt, das Ich, und doch war es leer«, so Bauer im dritten Band seiner Kritik der Synoptiker über das frühe Christentum, »es wagte sich nicht als alles und als die allgemeine Macht zu fassen, d.h. es blieb noch der religiöse Geist und vollendete seine Entfremdung, indem es seine allgemeine Macht als eine fremde sich selbst gegenüberstellte und dieser Macht gegenüber in Furcht und Zittern für seine Erhaltung und Seligkeit arbeitete.«33 Also hatte sich in der Religion ein Gebilde der Phantasie des menschlichen Selbstbewusstseins zu einem eigenen Wesen verselbstständigt. Ein erstarrtes Produkt des menschlichen Geistes begann die Lebenden zu beherrschen. In der Religion, meinte Bauer, werde der Mensch um sich selbst gebracht, das ihm geraubte Wesen in den Himmel versetzt und so zum Unwesen, zum Unmenschlichen gemacht.34

Aus dem Bannkreis dieser Denkfigur einer umgekehrten Theologie würde Marx nie wieder herausfinden. Noch das Kapital des modernen Wirtschaftsprozesses wird für ihn dieser allgemeine, selbst erzeugte Demiurg sein, der sich dem Menschen als eine fremde und ihn beherrschende Gewalt gegenüberstellt. Es war die grandiose Vision einer Welt ohne Götter, in der der Mensch die wahre Ursache aller Gesellschaft, Politik, Ideenwelt und Geschichte war, ihre eigentliche, aber entäußerte und entfremdete »causa sui«35, deren Wahrheit er jedoch erst erkennen konnte, wenn die Kritik ihm die Augen geöffnet hatte.

Als Bauer 1842 die Schrift ›Das entdeckte Christentum‹ verfasste, fühlte er sich bereits ganz in der Rolle eines radikalen Aufklärers, wie die Anspielung auf den Titel von Paul Henri Thiry d’Holbachs achtzig Jahre zurückliegende atheistische Kampfschrift ›Le christianisme dévoilé‹ deutlich machen sollte. Er wollte durch die Kritik der Religion das »Delirium der Menschheit« brechen und sie so wieder zur Erkenntnis ihrer selbst führen.36 Friedrich Wilhelms christlicher Staat war die erste politische Zielscheibe, denn ein Staat, der nach Bauer eine Schöpfung des Selbstbewusstseins sein würde, konnte nicht mehr der christliche sein. Es bedurfte als Mindestvoraussetzung einer legalen aufgeklärten und kritischen Opposition.37 Politisch gesehen war das ein liberaler Standpunkt.

Bauer wurde jedoch durch die preußischen Verhältnisse in eine weitere Radikalisierung getrieben. 1839 wurde er als Ergebnis einer literarischen Fehde mit dem mächtigen Hengstenberg vorsorglich nach Bonn versetzt, zunächst als Privatdozent, allerdings mit der Aussicht, dort bald eine Professur zu erhalten. Er wollte Marx so schnell wie möglich zu sich holen, drängte ihn, sein »lumpiges Examen« doch endlich zu machen, und stellte ihm in Aussicht, im folgenden Sommer in Bonn bereits Vorlesungen halten zu können.38 Doch dann starb Altenstein und mit ihm der letzte Exponent einer liberalen Wissenschaftspolitik in Preußen. Sein Nachfolger Friedrich von Eichhorn sorgte ab 1840 für ein gründliches Revirement.

Friedrich Julius Stahl, der den Staat als eine notwendige Folge der sündigen menschlichen Natur betrachtete, wurde 1840 Nachfolger des früh verstorbenen liberalen Eduard Gans, und 1841 wurde der alte Schelling aus München nach Berlin berufen, um mit seiner Autorität das ganze Nest der lästig gewordenen Hegelei auszuräuchern, die »Drachensaat des Hegel’schen Pantheismus, der flachen Vielwisserei und der gesetzlichen Auflösung häuslicher Zucht«, wie Friedrich Wilhelm ihm über einen Vertrauten mitteilen ließ.39 Ebenfalls 1841 wurden Studenten der Universität Halle, die eine Petition zur Berufung von David Friedrich Strauß als Professor einreichten, einer polizeilichen Untersuchung zugeführt. Nur noch ein Theologe, meinte Marx wenig später, könne bei den Auseinandersetzungen der Zeit glauben, dass es dabei um die Religion als Religion gehe.40 Es ging in Wirklichkeit um die ideologischen Grundpfeiler des christlichen Staats. Auch Bruno Bauer wurde nicht in erster Linie seine kritische Theologie zum Verhängnis, sondern seine Berufung auf Hegel, als er während eines Berlinbesuchs des süddeutschen Liberalen Carl Theodor Welcker öffentlich einen Toast auf Hegel und besonders auf seine konstitutionell-rechtsstaatliche Auffassung des Staats ausbrachte.41 Der König selbst wies Eichhorn nach diesem Auftritt umgehend an, Bauers Verhältnis als Privatdozent in Bonn aufzulösen und ihm jede weitere akademische Karriere zu verbauen.

Die Angriffe auf Hegel hatten Ende der Dreißigerjahre zugenommen. Nicht nur, meinte der schlesische Monarchist Karl Ernst Schubarth 1839, stellte Hegels Theorie des konstitutionellen Staats einen Angriff auf das Persönlichkeitsprinzip der reinen Monarchie dar. Sie galt ihm geradezu als Aufforderung zu Empörung und Rebellion, und die ganze spekulative Dialektik mit ihren sogenannten bestimmten Negationen in Wirklichkeit nichts als eine verdeckte schwarze Messe, in der Gott den Teufel demütig bitten müsse, »dass er ihm als die Negation, die sich aufheben lasse, zu seiner Allerhöchsten Existenz behilflich sei«42. Recht so, replizierte der aus allen bürgerlichen Bahnen hinausgeworfene Bruno Bauer. Hegel war eigentlich ein Atheist, verkündete er in der Schelmenrolle eines streng orthodoxen Pietisten, der sich nur gut zu tarnen wusste, in Wirklichkeit aber mit der Botschaft, dass Gott als Person tot sei, die »Wurzel der Bosheit« darstellte. Seine Theorie war, genau genommen, »die Revolution selbst«43. Ein satirisches »Ultimatum« von Zitaten aus seinen gesammelten Werken, die im Oktober 1841 anonym erschienene ›Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen‹, sollte das als öffentliche Provokation vorführen. An diesem intellektuellen Karneval war vermutlich auch Marx beteiligt, zumindest sollte er an der Fortsetzung in einem zweiten Ultimatum mitarbeiten.44

Marx hielt sich zu dieser Zeit in Bonn auf. Die Pietisten, spottete ihm Bauer noch nach Berlin entgegen, hätten eine feine Nase, das »Vorgefühl einer Krisis, wie die Tiere vor dem Wechsel des Naturlebens«. Doch was man ihnen entgegenzuhalten gedenke, werde für sie zu einer Katastrophe, »furchtbar, tief eingreifend« und »größer und ungeheurer« als diejenige, mit der das Christentum in die Welt getreten war.45 Das hatte etwas unfreiwillig Dandyhaftes an sich, ebenso wenn die beiden jungen »Kritiker« Bauer und Marx feiertags auf Eseln durch Godesberg ritten, dabei die sittsame Bonner Gesellschaft tief verstörten und sich köstlich über die Philister der rheinpreußischen Beamtenstadt amüsierten. Wollte man den exzentrischen Fürsten Pückler kopieren, zu dessen Lieblingsauftritten es gehörte, Unter den Linden in Berlin mit einem Hirschgespann vorzufahren? Oder hatte Marx, als Rheinländer, gar die karnevalistische Tradition der Eselsmesse im Sinn? Man lebte (und zechte), wie gesagt, mitunter in der überreizten Stimmung eines frühadoleszenten Überlegenheits- und Grenzenlosigkeitsgefühls.

Dann wurde die ›Posaune‹ verboten. Die Fastnachtszeit der Philosophie, von der Marx in den handschriftlichen Notizen zu seiner Dissertation schrieb, war nun kein gangbarer Weg mehr. Am 15. April 1841 war er mit einer Arbeit über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie promoviert worden. Mit der Entlassung seines Mentors Bauer von der Bonner Universität zerschlug sich plötzlich und ein für alle Mal jede Hoffnung auf eine künftige akademische Karriere. Jetzt war nicht mehr der intellektuelle Spaß im Elfenbeinturm halber Gemüter gefordert, sondern die Ansicht ganzer Feldherrn46.

Liberalismus

Man konnte gezwungen sein, schrieb Marx schon als Doktorand, wie Themistokles, als Athen die Verwüstung drohte, es vollends zu verlassen und auf einem anderen Elemente ein neues Athen zu gründen47. Man musste sich nun, mit anderen Worten, entschieden der liberalen politischen Opposition, die als Partei des Begriffes allein zu realen Fortschritten in der Lage war48, zuwenden. Marx war zweiundzwanzig Jahre alt, als er diese Worte zu Papier brachte. Mit vierundzwanzig befand er sich auf dem besten Weg, eine bekannte Persönlichkeit in Deutschland zu werden. Er wurde politischer Journalist.

Die Tatsache, dass die preußische Regierung die Herausgabe der ›Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe‹ zum 1. Januar 1842 nicht nur zuließ, sondern regelrecht begünstigte, hatte ihre Ursachen in den konfessionellen Streitigkeiten des Rheinlandes. Das Verhältnis Berlins zu seinen katholischen Untertanen am Rhein war seit dem Streit um Mischehen 1837, der mit einer Festungshaft für den widerspenstigen Kölner Erzbischof Droste zu Vischering endete, äußerst angespannt. Zwar bemühte sich Friedrich Wilhelm IV. um Ausgleich und inszenierte das Kölner Dombaufest 1842 sogar als eine Art ökumenischer Veranstaltung in gesamtdeutsch-christlichem Geist, doch der Eigenwille des Rheinlands machte sich weiter bemerkbar. Besonders der ›Kölnischen Zeitung‹ des Verlages DuMont-Schauberg, die mit ihren achttausend Abonnenten zu den führenden Zeitungen in Deutschland zählte und in Berlin als ein störendes Sprachrohr des katholischen Ultramontanismus galt, wollte man gern etwas Wirkungsvolles entgegensetzen. So kam es, dass die Konzession für die ›Rheinische Zeitung‹ relativ unproblematisch bewilligt wurde.

Köln erlebte damals mit der Dampfschifffahrt und dem beginnenden Eisenbahnbau einen beachtenswerten Wiederaufstieg nach langer Zeit der Agonie. Industrielle und Bankiers wie Gustav Mevissen, Ludolf Camphausen, David Hansemann und Salomon Oppenheim repräsentierten eine selbstbewusste Schicht neuen rheinischen Großbürgertums, die nach politischem Einfluss drängte. Die Industrie sei inzwischen zu einer selbstständigen Macht erstarkt, meinte Mevissen 1840, und wo die Industrie als Macht stark sei, da sei auch politische Kraft und Freiheit. Man gehe unweigerlich auch politisch einer neuen Ära entgegen. Mevissen, unter anderem Direktionsmitglied der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft und nach dem Urteil Hans-Ulrich Wehlers ein früher Sozialliberaler49, war ohne Zweifel die interessanteste Figur dieser in einem Kölner Kreis zusammengeschlossenen Liberalen. Dazu gehörte auch der aus reicher jüdischer Familie stammende Moses Hess, dem das Verdienst zukommt, als Erster neben dem konservativen Hegelianer Lorenz von Stein die kommunistischen Ideen Frankreichs in Deutschland bekannt gemacht zu haben.

Für Marx war Hess der erste Kommunist, dem er persönlich begegnete. Beide waren sie Rheinländer, beide aus bürgerlicher Familie, und beide standen sie unter dem Einfluss der Philosophie Hegels. Hess war von Marx tief beeindruckt, als er ihn im September 1841, noch zu dessen Bonner Zeit mit Bruno Bauer, kennenlernte. Er machte einen »imposanten Eindruck« auf ihn, und schon nach der ersten Begegnung überfiel ihn die Ahnung, dem »größten, vielleicht einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen« begegnet zu sein, der nächstens – und Hess meinte damit vorläufig noch die Hörsäle der Bonner Universität – »die Augen Deutschlands auf sich ziehen wird«50.

Hess spielte bei den Verhandlungen zur Gründung der ›Rheinischen Zeitung‹ eine führende Rolle. In intellektueller Hinsicht war er sogar der Geist des ganzen Unternehmens und Vorsitzender eines sozialistischen Clubs, zu dem auch Gustav Mevissen und der wohlhabende Advokat Gustav Jung, ein ehemaliges Mitglied des Berliner Doktorklubs, zählten.

Die Geister lebten noch nahe beisammen. Liberalismus und Sozialismus standen, im Unterschied zu Friedrich Wilhelms christlichem Staat, philosophisch auf dem Boden des Immanentismus, des Glücks auf Erden. Der Liberalismus, in Ostpreußen mehr den Ideen Kants, im Westen den Traditionen der Französischen Revolution und der napoleonischen Zeit verhaftet, war im Wesentlichen eine nachrevolutionäre Bewegung, ganz wie die Philosophie Hegels eine nachrevolutionäre Philosophie der Französischen Revolution. Dass man sich, auch in den großbürgerlichen Kreisen um die ›Rheinische Zeitung‹, deshalb den radikalen Intellektuellen aus dem Umfeld der Hegel’schen Schule nahe fühlte, kann nur auf den ersten Blick verwundern. Zu ihren grundlegenden Forderungen gehörte das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit, während Konservative die Ansicht vertraten, es dürfe nur eine Freiheit der von ihnen selbst definierten Wahrheit geben. Des Weiteren verlangten die Liberalen wirkliche Repräsentationen und verstanden sie in einem durchaus Hegel’schen Sinn als Institutionen der realisierten Vernunft. Überall, so Thomas Nipperdey, gab es damals eine Art Kryptopolitik und deren Umschlag in wirkliche Politik. Hinter allen Parteien stand im Grunde eine metapolitische Philosophie, eine verweltlichte Theologie.51

Metapolitisch war auch die Koalition der ›Rheinischen Zeitung‹, als das Blatt mit einem Aktienkapital von 20000 Talern ins Leben gerufen wurde. Nicht zuletzt hatte Dagobert Oppenheim, der in Berlin unter die Junghegelianer geraten war und jetzt als Mitinhaber des Bankhauses Salomon Oppenheim jun. & Cie in Köln lebte, die Finanzierung 1841 mit einem Prospekt für eine Commandit-Gesellschaft zur Gründung einer neuen Zeitung eingefädelt.

Marx’ erster Artikel in der ›Rheinischen Zeitung‹ erschien am 5. Mai 1842, und er behandelte die Debatten über die Pressefreiheit im rheinischen Landtag. Er war, bemerkenswert für eine Zeit des räsonierenden Ideenfeuilletons, gekennzeichnet von im Detail konkret ausrecherchierter Berichterstattung und, wenn man so will, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich sein Autor aus der philosophischen Spekulation auf die ebene Erde hin bewegte. Einzelne Redner werden zitiert, man erhält ein Bild der bornierten Interessenlage der einzelnen Landstände und ist am Ende davon überzeugt, dass ein Zensurgesetz kein Gesetz, sondern eine Polizeimaßregel darstellt, dagegen nur ein freies Pressegesetz ein wirkliches Gesetz sein könne, weil es das positive Dasein der Freiheit ist52. Das war Hegel’sche Rechtsphilosophie, angewandt auf konkrete Tagesereignisse, und die rheinischen Liberalen um Mevissen und Camphausen dachten in dieser Frage kaum anders. Auch in Marxens scharfer Polemik gegen die historische Rechtsschule konnten sie sich verstanden fühlen, zielte diese Polemik doch in Wirklichkeit auf den König selbst und warf ihm vor, er vertrete das Recht der willkürlichen Gewalt53. Wenn es jemals einen christlichen Staat in der Geschichte gegeben habe, so Marx, dann sei es Byzanz gewesen, denn nur in diesem cäsaropapistischen Gebilde waren Dogmen zugleich Staatsfragen.54 Alles das bewegte sich noch auf Hegel’schen Pfaden.

Doch die geschichtliche Erfahrung der Generation von Marx war bereits eine völlig andere als diejenige Hegels. Als dieser seine ›Rechtsphilosophie‹ veröffentlichte, gab es noch keine preußischen Provinzialstände. Aus den Ständen begannen sich nun aber, was der Freiherr vom Stein schon kurz vor seinem Tod 1831 als positive Entwicklung betrachtete55, zunehmend Parteien zu formieren, und die Stände selbst konnten immer weniger, wie bei Hegel noch vorgesehen, die bürgerliche Gesellschaft repräsentieren. Stände waren im Grunde genommen »Natur« oder, wie Marx sagen würde, Zoologie – während Parteien das der Moderne angemessene Prinzip des vernünftigen oder wenigstens verständigen Geistes repräsentierten. »Ohne Parteien keine Entwicklung«, schrieb Marx am 14. Juli 1842, dem Jahrestag der Französischen Revolution, in der ›Rheinischen Zeitung‹, »ohne Scheidung kein Fortschritt.«56 Auch darin konnte er sich mit den rheinischen Liberalen einig wissen, so sehr, dass David Hansemann als preußischer Finanzminister noch nach der Märzrevolution von 1848 mit dem Gedanken spielte, den begabten jungen Mann für das politische Geschäft nach Berlin zu holen.

Marx war fünfundzwanzig Jahre alt, als er am 15. Oktober 1842 zum Redacteur en Chef der ›Rheinischen Zeitung‹ berufen wurde. Er fand sich bereits seit dem Sommer immer mehr in die redaktionelle Arbeit involviert, zumal der damalige Chefredakteur Adolf Rutenberg, sein bester Freund aus Zeiten des Stralauer Doktorklubs, sich zunehmend wegen alkoholischer Exzesse diskreditierte. Faktisch hatte Marx Rutenberg bereits im Juli ersetzt. Er sei gänzlich impotent, meinte er damals zu Arnold Ruge, dem Herausgeber der junghegelianischen ›Deutschen Jahrbücher‹ in Dresden, und über kurz oder lang werde man ihm wohl den Weg weisen müssen.57 Die Diktion der »Diktatur von Marx«, wie die preußische Zensurbehörde die Zeit seiner Chefredaktion nannte, deutete sich in diesen Worten schon deutlich an. Mevissen beschrieb ihn als »herrisch, ungestüm, leidenschaftlich« und »voll unermesslichen Selbstgefühls«, dabei aber »tief ernst und gelehrt«58. Vor allem aber war Marx oft innerlich unruhig, mitunter etwas getrieben, wie ihn der Journalist und Zeitgenosse Karl Heinzen schildert, dabei jemand, der gern seine Macht über andere ausspielte. »Ich werde dich vernichten«, fauchte er Heinzen einmal anlässlich einer Kontroverse über die preußische Bürokratie an.59 Für die Auseinandersetzung mit Rutenberg gab es aber auch sachliche Gründe.

Rutenberg hatte seinen Berliner Freunden, den sich immer bohemienhafter gebärdenden »Freien« des ehemaligen Doktorklubs, allzu freie Hand gelassen. Edgar Bauer beispielsweise wetterte Anfang Juni in der ›Rheinischen Zeitung‹ gegen das »juste milieu« des Großbürgertums, das genaue Gegenteil jener, die wie er radikalkritisch »die Prinzipien bis zu deren Extrem« vorantreiben wollten.60 Sehr substanziell war der Schwertstreich nicht, doch Artikel wie diese führten bei den Herausgebern zu erheblichem Unmut und veranlassten Marx in einem Brief an Dagobert Oppenheim, eine Korrektur der redaktionellen Linie anzukündigen. Er wollte auf keinen Fall durch sinnlose Provokation die Zensur herausfordern. Vor allem aber hatte er grundsätzlich etwas gegen diese Art von luftigem Provokationsfeuilleton. »Die wahre Theorie«, teilte er Oppenheim mit, »muss innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt werden.«61 Er forderte, mehr Sachkenntnis an den Tag zu legen und nicht etwa kommunistische und sozialistische Dogmen en passant und unpassend in Theaterkritiken und ähnliche Erbauungsartikel einzuschmuggeln.62 Kurz gesagt wollte er einen Journalismus auf ebener Erde und im empirischen Detail und nicht nach der Art seiner alten Freunde, die er bald als die Inspiriertengemeinde einer neuen Heiligen Familie verspottete.

»Sie wissen schon, dass die Zensur uns täglich schonungslos, sodass oft kaum die Zeitung erscheinen kann, zerfetzt«, meldete er Ende November an Ruge: »Dadurch fielen eine Masse der Artikel der ›Freien‹. Ebensoviel, wie der Zensor, erlaubte ich mir selbst zu annullieren, indem Meyen und Konsorten weltumwälzungsschwangere und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismus (den die Herren nie studiert haben) versetzt, haufenweise uns zusandten, bei Rutenbergs gänzlichem Mangel an Kritik, Selbstständigkeit und Fähigkeit sich gewöhnt hatten, die Rh.Z. als ihr willenloses Organ zu betrachten, ich aber nicht weiter dies Wasserabschlagen in alter Weise gestatten zu dürfen glaubte. Dies Wegfallen einiger unschätzbaren Produktionen der ›Freiheit‹, einer Freiheit, die vorzugsweise bestrebt ist, ›von allen Gedanken frei zu sein‹, war also der erste Grund einer Verfinsterung des Berliner Himmels.«63 Und Ruge antwortete, diese »Albernheiten einer studenticosen Flachheit«, die bedenkenlos mit Schlagworten wie »Atheismus, Kommunismus, Köpfen und Guillotinieren« nur so um sich werfe, müsse man sich um jeden Preis vom Leibe halten.64 Am 8. Dezember 1842 erschien die letzte Korrespondenz aus der Feder eines Berliner »Freien« in der ›Rheinischen Zeitung‹.65 Es war die erste große politische Scheidung aus Prinzipiengründen in Marx’ Leben, der noch viele weitere folgen sollten.

Die Auflage der Zeitung aber stieg spürbar an – von unter Tausend im Oktober auf Dreieinhalbtausend vor Weihnachten 1842 –, seit sie sich vom zeitgeisträsonierenden Berliner Feuilleton verabschiedet und sich zunehmend Fragen des wirklichen Staats, praktischen Fragen66und den konkreten Problemen des Rheinlands zugewandt hatte. Immer wieder war sie, schon in ihren Anfangszeiten, von Eingriffen und Verboten bedroht, doch ihr grundsätzlich preußenfreundlicher norddeutscher67, gegen den Ultramontanismus der ›Kölnischen Zeitung‹ gerichteter Geist verschaffte ihr selbst bei Eichhorn eine vorübergehende Ausnahmestellung.

Marx lernte bei dieser Arbeit die konkrete Politik kennen. Den Landtag mit seinen nach Status und Besitz qualifizierten Ständen und bornierten Interessenlagen, dessen Realität so ganz dem Idealzustand der Hegel’schen Rechtsphilosophie widersprach. Die Not des Pauperismus, die er anlässlich einer Landtagsdebatte über das Holzdiebstahlgesetz zum Thema machte, war ein vorindustrielles Problem, das im Übrigen auch Mevissen stark beschäftigte. Es hatte erhebliche Ausmaße. Kinderarbeit und schlecht bezahlte Frauenarbeit waren üblich. Armut war seit 1830 in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden, und die Kölner Armenliste verzeichnete Mitte der Vierzigerjahre rund 25000 Personen – bei 95000 Einwohnern.68 Ärger brachte Marx jedoch vor allem seine Rechtfertigung des Berichts seines Moselkorrespondenten über die durch die offenen Grenzen des Zollvereins verursachte Notlage der Moselbauern ein, die er mit den Worten eröffnete, bei lebendiger Pressbewegung werde Zug um Zug die ganze Wahrheit in Erscheinung treten.69 Er lieferte Details, Fakten, Statistiken, die bis nach Berlin drangen und selbst die uninformierten Räte des Königs in Verlegenheit brachten, die etwas hilflos von unvermeidlichen Übergangserscheinungen faselten. Es war schon ein Skandal für sich, dass die Dinge überhaupt an die Öffentlichkeit kamen, denn Friedrich Wilhelm IV. hatte die Parole ausgegeben, Preußen habe als ein gesegnetes und glückliches Land zu gelten. Berichte über soziale Notlagen, auch die Hungersnot in Oberschlesien, wurden von der Zensur in der Regel energisch unterdrückt.

Die investigativen Berichte von der Mosel, mit der höchste Staatsbeamte und die Zensur blamiert wurden, die scharfe Kritik an der Zensur selbst und nicht zuletzt der Zar persönlich beendeten schließlich die bescheidene Freiheit der liberalen Kölner Presse. Dr. Marx mit seiner »merkwürdigen Begabung« und »bewunderungswürdigen Dialektik«, meinte damals die ›Mannheimer Abendzeitung‹, sei ohne Zweifel der leitende Geist der ›Rheinischen Zeitung‹ gewesen, die erst mit ihm ihre historische Bedeutung erhalten habe.70 Doch das Verbot der »Hurenschwester«71, wie Friedrich Wilhelm sich ausdrückte, bedeutete für Marx das vorläufige Aus für die exklusiven Waffen der Kritik.

Rätsel der Moderne

Die ›Rheinische Zeitung‹, notierte Marx nach dem Verbot, habe immer nur das ihrer Überzeugung nach Vernünftige geltend gemacht, mochte es nun von dieser oder jener Seite ausgehen. Die königliche Reaktion dagegen erschien ihm wie eine Neuauflage jener Dunkelmänner, die einst gegen jede Vernunft das Kopernikanische Weltsystem auf den Index setzten und für ungültig erklärten.72 Das Verbot der ›Rheinischen Zeitung‹ hatte deutlich gezeigt, dass die in Preußen herrschenden Gedanken mit aller Gewalt die Gedanken der zu seiner Zeit herrschenden Klasse bleiben sollten, so unvernünftig und unzeitgemäß sie auch waren. Marx’ erste Idee war die einer vernünftigen Freiheit. Sie scheiterte an den preußischen Verhältnissen seiner Zeit, und ihr Scheitern führte ihn auf den Weg der Revolution.

Marx hatte sich, wie seine langjährige Braut Jenny von Westphalen ihm beim Eintritt in die Redaktion der ›Rheinischen Zeitung‹ schrieb, in das »Halsbrechendste mengelirt«, was man sich damals vorstellen konnte, in die Politik. Alle Hoffnungen, als Chefredakteur endlich die honette Position einer guten Partie als Ehemann erlangt zu haben, waren plötzlich verflogen. Das vermutlich durch Jennys Halbbruder und späteren preußischen Innenminister Ferdinand eingefädelte Angebot, sich von Preußen kaufen zu lassen und in den Berliner Staatsdienst einzutreten, schlug er aus.73 Er war, wie der Kölner Zensor Saint-Paul in seiner abschließenden Beurteilung nicht ohne heimliche Bewunderung nach Berlin schrieb, jemand, dem man »eher alles andere, nur nicht Gesinnungslosigkeit«74