Karl und der Waschbär - Barbara Bilgoni - E-Book

Karl und der Waschbär E-Book

Barbara Bilgoni

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Beschreibung

Karl, ledig, ein ehemaliger Staatsdiener im Passamt Wien Meidling, ist nunmehr in Pension und etwas eigenbrötlerisch. Durch Stefan, einen aufgeweckten Nachbarsbuben, öffnet er sich wieder mehr dem Hier und Jetzt und schließt den Kleinen in sein Herz. Als dieser an Karls Handgelenk einen sonderbaren Leberfleck entdeckt, das einem kleinen Raubtier ähnelt, nimmt das bisher eintönige Leben des alten Mannes plötzlich eine abrupte Wendung. Die Vergangenheit holt ihn ein und Erinnerungen werden wach. Was hat es mit diesem Mal auf sich?

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Barbara Bilgoni

Karl und der Waschbär

Ein Mann, ein Waschbär und ein Berg voller Erinnerungen

© 2025 Barbara Bilgoni

Lektorat/Korrektorat von: Frau Carolin Kretzinger,

Covergrafik von: Barbara Bilgoni/CanvaDruck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Softcover 978-3-384-65705-3

e-Book978-3-384-65706-0

Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1

Karl und der Waschbär

K

arl stieg langsam Schritt für Schritt die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, die im zweiten Stock lag. Der Weg dorthin wurde immer mühsamer, ein Aufstieg auf den Nanga Parbat kam ihm dagegen wie ein Osterspaziergang vor.

Na ja, so war das eben im Alter. Das wurde ihm jeden Tag mehr bewusst.

„Karl“, dachte er bei sich, „altes Haus. Wirst halt auch nicht jünger. Siebzig Jahre hast du schon auf dem Buckel. Das ist ja immerhin schon ein beachtliches Alter.“

Ja, früher, da war er ein noch klein wenig fit gewesen. Wobei ein Außenstehender hätte seine körperliche Betätigung damals sicher nicht als sportlich bezeichnet. Karl pflegte nämlich zu der Zeit, als er noch berufstätig gewesen war, zumindest fünf Mal die Woche eine Runde im Schlosspark Schönbrunn zu drehen. Er ging unten beim Meidlinger Tor in die prächtige Gartenanlage, dann um den Apothekertrakt und die Orangerie herum. Dort tummelten sich auch nie so viele Touristen wie im grünen Park mit seinen herrlichen Blumenbeeten. Er mochte lieber allein und in Ruhe seinen Spaziergang absolvieren und seinen Gedanken nachhängen. Da konnte er von der täglichen Mühsal im Amt abschalten. Nicht, dass seine Arbeit sehr nervenaufreibend gewesen wäre. Er war im Passamt in der Hufelandgasse tätig. Damals trugen die Beamten noch graue Ärmelschoner, um die Hemdsmanschetten vor vorzeitigem Verschleiß zu schützen. Seinen Schreibtisch sowie das erbsengrüne Festnetztelefon teilte er mit einem unsympathischen Kollegen, dem Alfred Wurbala. Sparen war auch bei der Gemeinde Wien angesagt in den Siebzigerjahren. Und die Kunden, damals noch Parteien genannt, hatten devot eine Nummer zu ziehen und dann geduldig am Gang mit den wenigen Sesseln zu warten, bis sie eintreten durften. Die meisten mussten eh stehen. Dann wurden sie per Nummer aufgerufen und konnten dem Beamten ihr Anliegen schüchtern vortragen. Nicht, dass die so vielfältig waren. Es war ja, wie der Name schon sagte, ein Passamt! Also war die Materie eher eintönig. Abwechslung gab’s da nicht viel.

Karl saß also dort in dem trostlosen Kämmerlein mit dem geölten Boden seine Arbeitsstunden ab und sprach mit dem Kollegen Alfred nur das Allernötigste. Er war die ständigen Querelen leid. Der andere war zugluftempfindlich, wollte also nie das Fenster öffnen. Zu allem Überfluss aß er in der kurzen Mittagspause meistens eine Beamtenforelle, so hieß damals die Knackwurst mit Senf und Zwiebel, was die Büroluft olfaktorisch enorm belastete. Und nachher rülpste er zudem noch des Öfteren. So eine Wurst wollte ja schließlich auch verdaut sein. Wär ja noch schöner!

So war Karl nach Dienstschluss immer froh, dem engen muffigen Verlies zu entkommen, und da bot sich der wunderschöne Schlosspark, der fußläufig zu erreichen war, natürlich geradezu an. Jeden Arbeitstag zog er also dort seine ausgedehnten Runden.

Nach der Orangerie ging er am prunkvollen Schloss vorbei, das seinerzeit Maria Theresia zum prächtigen Sommersitz der kaiserlichen Familie erkoren hatte. Der Prunkbau war in dieser Zeit fast durchgehend von einem mehrere hundert Personen umfassenden Hofstaat bewohnt und wurde zu einem kulturellen sowie politischen Mittelpunkt des Habsburgerreiches.

Hier geriet Karl manchmal ins Schwärmen und stellte sich selbst dort auf der herrschaftlichen Treppe vor, wie er dem jubelnden Volke huldvoll zuwinkte. Aber diese Anwandlungen gingen rasch vorüber, denn seine Runde war lang und er wollte immer vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause eintreffen. Er schritt also entlang der Wagenburg und nunmehr bereits in Hietzing angelangt, führte ihn sein Weg vorbei am Palmenhaus, er stapfte dann bergauf bis auf die Höhe der Gloriette, umrundete somit den Tiergarten, den er unter der Woche niemals besuchte. Dazu war nicht genug Zeit. Angelangt bei der Tivolibrücke führte ihn der Weg wieder bergab und zurück zum Meidlinger Tor. Dort verließ er den historischen Park und machte sich auf den Heimweg in die Theresienbadgasse, wo er etwa seit seinem zwanzigsten Lebensjahr in einer Altbauwohnung logierte. Die war zwar, weil die Räume leider sehr hoch waren, schwer zu heizen, aber sie war ihm dennoch ans Herz gewachsen.

Und nun, da er alt war und alles beschwerlicher wurde, wollte er trotzdem nicht mehr übersiedeln. Ja, manchmal machte er sich schon Sorgen, wie er bei einem eventuellen körperlichen Gebrechen wohl die spiralförmig gewundenen Stiegen hinauf und wieder hinunter schaffen würde, jedoch schob er diesen Gedanken am liebsten weit von sich. Das würde man dann schon sehen. Kommt Zeit, kommt Rat! Man sollte sich nicht vor der Zeit schon mit solchen Gedanken belasten. Viel Wissen machte Kopfweh.

Geheiratet hatte Karl nie, er hatte auch keine Eltern mehr und keine Geschwister. So war er auf seine Art ein wenig eigenbrötlerisch, ja grantig und sogar eigen geworden. Ihn störte das jedoch nicht und die anderen waren ihm auch herzlich egal. Nun war er schon zehn Jahre in Rente und täglich froh, dass er diesen schrulligen Alfred nicht mehr zu sehen brauchte. Der immer mit seinen blöden Zwiebeln und der Wurst!

Er bereitete sich ein Butterbrot mit Schnittlauch zu und aß es mit gutem Appetit. Dann kümmerte er sich um Kasimir, seinen kleinen Goldhamster. Der brauchte auch Futter und ein wenig Ansprache. Karl streichelte ihm über den winzigen Rücken und sprach leise zu ihm. Sein Kasi war sein ein und alles und ein putziges Tierchen. Den Hamster hatte er einmal in einer Zoohandlung in der Reschgasse in der Auslage gesehen. Und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Mit einem Hund, der viel mehr Ansprüche an seinen Besitzer stellte, wollte er sich nicht belasten. So war eben der Kasi bei ihm eingezogen. Sie waren ein reiner Männerhaushalt. Und das war gut so.

Umständlich legte er sich sodann ins Bett, nachdem er noch ein kleines, aber entspannendes Tannennadel-Schaumbad in seiner Sitzbadewanne genommen hatte. Dies half ihm beim Abschalten sehr gut.

Ja, so war das mit den Altbauwohnungen. Die hatten eigentlich weder eine Toilette noch ein Badezimmer. Das Klo war auf dem Gang und duschen musste man im Tröpferlbad, wenn man ein reinlicher Mensch war. Das war eine öffentliche Badeanstalt, wo man nach dem Bezahlen eine bestimmte Zeit ein Brausebad nehmen konnte.

Karl, der eigentlich ein Sparfuchs war, hatte sich vor zehn Jahren ein winziges Badezimmer mit der erwähnter Sitzbadewanne einbauen lassen. Dazu hatte er einen Teil der Küche opfern müssen, was ihn aber gar nicht weiter kümmerte. Er war eh kein leidenschaftlicher Koch und einen Toast oder eine Eierspeise konnte er auch in seiner Miniküche zubereiten. Mittags dinierte er oft in einem Beisel. So ging das schon irgendwie.

Karl nahm nun ein Buch zur Hand. Derzeit las er gerade „Nice Girls Verrückte Hühner - leicht ergraut“ von Barbara Bilgoni. Er liebte das quirlige Kuddelmuddel um die betagten Ladies, die immer noch ihren Abenteuern früherer Tage nachhingen.

Allmählich wurden seine Lider schwer, er gähnte herzhaft und beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Morgen war auch noch ein Tag! Kasi lief eifrig in seinem Laufrad herum. Hamster waren eher nachtaktiv. Aber das hörte der Karl schon nicht mehr. 

2

R

umms! Krach! Was war hier los? Erschrocken fuhr Karl aus dem Tiefschlaf hoch. Nun, in Pension, durfte er schlummern, so lange er wollte. Oder eben konnte, denn dieser Lärm war ja nicht auszuhalten.

Karl war ziemlich erbost, dass man ihm dies antat, wo er doch gerade von einer kleinen Bootsfahrt im Mittelmeer geträumt hatte. Schnell blickte er auf das Bild seiner Lisa, das er auf dem Nachttisch stehen hatte. Das mit ihr war schon so lange her! Mindestens vierzig Jahre. Gedankenverloren strich er über sein Handgelenk. Aber dann sprang er doch aus dem Bett und eilte erbost zur Tür. Das war ja eine Frechheit! Gott sei Dank hatte er sich irgendwann in die alte dunkelbraune Wohnungstür einen Spion einbauen lassen. Durch den spähte er nun vorsichtig und geräuschlos nach draußen. Zuerst sah er einmal gar nichts. Da musste offenbar etwas das kleine Guckloch verdecken. Vorsichtig öffnete er die Tür. Da merkte er, dass daran wohl etwas angelehnt worden war, denn das Gewicht des Gegenstandes drückte vehement gegen die Tür und er musste sich gehörig dagegen stemmen, um auf den Gang blicken zu können. In seinen ausgetretenen Hausschlapfen hatte er Mühe, nicht wegzurutschen.

Nun hörte man draußen Stimmen: „Oh, mein Schuhschrank bewegt sich. Heinrich, kannst du mal schauen, bitte? Ich glaub, der fällt grad um.“ Eine Frauenstimme!

„Was zum Teufel ist denn hier los zu so unchristlicher Zeit?“, rief Karl entrüstet und räusperte sich eindringlich und erbost. Das erschreckte nun die junge Frau. Ein brauner Haarschopf erschien schräg hinter dem angelehnten Kasten.

„Oh, ich hab Sie doch nicht aufgeweckt, oder? Ist ja eh schon nach neun Uhr. Wir ziehen hier heute ein, mein Sohn und ich. Mein Name ist Maria Nemec.“

Als Karl gerade antworten wollte, fuhr sie gleich fort: „Sie müssen sich aber auch nicht gar so anstellen. Ist ja kein Friedhof hier und auch kein Seniorenheim. Ein bisschen Verständnis kann man schon von den Nachbarn erwarten“, gab die Frau nun unwirsch von sich und kehrte ihm brüsk den Rücken, den er aber eh nur halb sah hinter dem großen Schrank.

Karl fand das alles unerhört, ja geradezu frech. Die Nebenwohnung war schon zwei Jahre leer gestanden und es war herrlich ruhig gewesen, denn in diesem Stockwerk waren nur zwei Parteien. Und nun plötzlich solch ein Radau, na, das konnte was werden! So eine junge Nachbarin hatte sicher einen ziemlich kleinen Sohn, einen Lümmel, und wenn der derart ungestüm und laut und frech war wie die Mutter, dann würde das in einem Fiasko enden. Ein Debakel für alle drei. Aber er würde sich das nicht bieten lassen! Niemals! Er würde der Dame schon zeigen, wo es langging. Wehret den Anfängen!

Da begann auch schon ein dünnes Stimmchen lauthals und wie eine Sirene zu brüllen: „Mama, Onkel Willi hat mir den Finger eingezwickt. Aua! Aua! Ich blute! Da, schau! Mama! Wehweh.“

Nun begann auch der genannte Onkel zu plärren: „Stell dich nicht so an, Kleiner. Da kleben wir einfach ein Pflaster drauf und schon ist es wieder gut. Maria! Maria! Wo hast du die Pflaster verstaut? Schnell, dein Kleiner stirbt uns sonst gleich weg. Er ist ein ziemlicher Hypochonder.“

„Das weiß ich doch nicht. Falls du es noch nicht mitbekommen hast, ich übersiedele gerade. Wie soll ich da wissen, wo der Erste- Hilfe-Kasten ist?“, brüllte die Frau zurück. Und an Karl gewandt meinte sie nun etwas freundlicher: „Lieber Herr Nachbar, könnten Sie uns bitte mit einem kleinen Pflaster aushelfen? Es wäre dringend. Mein Sohn ist sehr wehleidig und glaubt immer gleich, er überlebt es nicht“, kroch sie nun doch etwas kleinlaut zu Kreuze.

Karl, immer noch grantig, lief rasch in sein Minibad und suchte das Gewünschte, denn dieses Geschrei machte ihn wahnsinnig. Wortlos schob er das kleine beige Streifchen durch den schmalen Spalt und schloss abrupt die Tür. Man wollte schließlich kein Unmensch sein, überhaupt wenn es um Kinder ging. Der Kleine konnte ja am wenigsten dafür. Aber dieses laute Pack konnte ihm gestohlen bleiben. Das wusste er jetzt schon. Mit denen wollte er in Zukunft nichts zu tun haben. Die würden seine geliebte Ruhe stören und wer weiß, was die noch alles vorhatten. Das kannte man ja. Zuerst sind sie frech und unfreundlich und dann stehlen sie dir die Post aus dem Brieffach und stoßen dich die Treppe runter. Seine Fantasie ging mit ihm durch. Er war halt ein grantiger, alter Mann geworden, der seine Ruhe wollte.

Zum Weiterschlafen war es nun zu spät. Die Müdigkeit hatte sich ob der morgendlichen Ereignisse bereits verflüchtigt. Er trat zu Kasis Käfig und sprach beruhigende Worte zu dem kleinen Tierchen. Eigentlich wusste er gar nicht, ob es recht lärmempfindlich war. Er tröstete es trotzdem. Man wusste ja nie. Nun warf er sodann seine Filterkaffeemaschine an, strich sich eine Buttersemmel und legte sie auf einen kleinen Frühstücksteller. In der Zwischenzeit war auch sein Getränk fertig. Er trug alles ins Wohnzimmer, drehte den Fernseher auf und machte es sich bequem.

Auf ORF 1 lief gerade der Kasperl. Der fehlte ihm noch! Er zappte weiter und fand auf 3sat das Alpenpanorama. Na, da gab’s wenigstens schöne Landschaften zu sehen. Immer noch erbost lehnte er sich in seinem bequemen Fernsehsessel zurück. In einer Hand das alte Häferl, das er schon im Amt so geliebt hatte, weil auf der Vorderseite seine Lieblingsschauspielerin Sophia Loren in einem roten Kleid abgebildet war. An manchen Tagen glaubte er, dass sie ihm begehrlich zuzwinkerte, und ihr wundervolles Dekolleté war auch nicht zu verachten. Ja, das wär schon was für den Karl! Heute aber schaute sie etwas sauertöpfisch drein und das passte zu der morgendlichen Begebenheit. Er war ja auch ziemlich grummelig. Ein klein wenig missmutig biss er in seine Buttersemmel, die weich und zäh war, denn sie war von gestern. Aber was wollte man machen? Für den bequemen täglichen Frühstücksservice, der ihm von einer hartnäckigen Lieferfirma schon mehrmals angeboten worden war, hatte er bis jetzt nicht sein schwer verdientes Geld ausgeben wollen. Honig hatte er heute keinen genommen. Manchmal war ihm danach, dann wieder nicht. Später, wenn der Radau auf dem Gang vor seiner Tür endlich vorbei war, würde er einkaufen gehen. Immer noch rumpelte und knarrte und schepperte es draußen. Na, das konnte ja was werden!

Hier im Haus lebten lauter ältere Herrschaften, die hörte und sah man kaum. Man traf sich höchstens einmal beim Greißler ums Eck oder im Stiegenhaus, grüßte verhalten und ging sodann seines Weges, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Pensionisten wollten ihre Ruhe. Sie suchten keine Gesellschaft.

Karl hatte nun sein Frühstück beendet und trug sein Geschirr wieder in die Küche. Er wusch es sogleich und trocknete es ab, denn zum Auftürmen war da sowieso kein Platz. Also räumte er es auch gleich wieder in den Hängeschrank. Dann ging er zurück in sein Schlafzimmer, um sein Bett zu machen, da war er penibel. Über dem Kopfteil hing an der Wand ein altes Ölgemälde mit einer Berglandschaft, sehr hoch und felsig und schneebedeckt, dennoch sehr dunkel. Das hatte er zum Abschied von seinen Kollegen im Amt bekommen. Ein ekelhafter Monsterschinken. Was hatte ein Wiener schon mit Bergen am Hut? Eigentlich gefiel ihm das Bild gar nicht, aber wegwerfen wollte er es auch wieder nicht. Da war er nicht der Typ dafür. Immerhin hatte ja irgendwer Geld dafür bezahlt.

Nun überlegte er, was er heute sonst noch machen könnte. Er entschied sich für einen gemütlichen Spaziergang über die Meidlinger Hauptstraße und dann rüber zum Meidlinger Markt. Dort gab’s zeitig in der Früh noch das frischeste Gemüse und die besten Leckerbissen. Bloß Ungeübte warteten mit dem Einkauf bis zum Mittag. Da waren die Schmankerln schon alle ausverkauft und man bekam nur mehr die welken, matschigen Reste der Standler. Das, was halt noch unbedingt wegmusste.

Vorsichtig trat Karl nun aus seiner Wohnung und achtete penibel darauf, von keinem vorbeigeschobenen Möbelstück getroffen zu werden. Fehlte gerade noch, dass er sich hier die Hüfte brach, ins Krankenhaus musste, dort vielleicht eine Lungenentzündung bekam, wo sich dann sehr schnell, ratzfatz, der Tod dazugesellte. Er schaffte es vorbei an dem hektischen Gewusel und entfernte sich zügig, denn er wollte diesen rüden Menschen nicht mehr begegnen.

Unten in seinem Gässchen schlug er auch sofort die geplante Richtung ein. Nach drei Minuten kam er an seinem alten Amt vorbei.

„Ist auch nicht mehr das, was es früher mal war.“

Damals hatte es noch einen Paternoster dort gegeben statt des nun eingebauten Lifts. Den kannten viele heute gar nicht mehr, denn der Paternoster war stets in Bewegung gewesen, ähnlich einer Rolltreppe. Man musste flink hineinspringen oder eben auf die nächste Kabine warten. Heute konnten die Kunden ja viele Amtswege schon am Computer erledigen. Das hatte es zu seiner Zeit nicht gegeben. Da war ein Beamter noch ein Beamter und erfreute sich großen Ansehens. Staatsdiener nannte man sie auch großspurig. Heute waren sie Angestellte wie Krethi und Plethi, wie in einer x-beliebigen privaten Firma, dachte er mürrisch bei sich.

Schnell versuchte er einen Blick in seine ehemalige ebenerdige Amtsstube zu erhaschen, aber auch hier sah alles ganz anders aus und das alte Festnetztelefon gab es nicht mehr. Er war froh, dass er bereits im Ruhestand war.

Also schritt er weiter voran Richtung Hauptstraße. Dort waren früher der 8er und der 9er, zwei Straßenbahnlinien mit Holzwaggons und auch Autos gefahren. Heute gab es hier eine neumodische Fußgängerzone, so wie überall in großen Städten. Na ja, wer’s mag!

Am Markt kannte er seit Langem einige Verkäufer. Der Milos hatte die besten Karotten, der Jannis hatte frischen Fisch. Beim Walter bekam Karl gute Fleischlaibchen und knackige Frankfurter. Da nahm er immer gleich zwei Paar mit. Alle grüßten ihn stets freundlich. Na Kunststück, die wollten ja ihr Geschäft machen. Da war die Höflichkeit an der Tagesordnung wie das tägliche Brot.

„Hallo, Karl! Na, bist auch schon mal besser gelaufen. Hast es wohl im Rücken, oder?“, rief Anni, die Äpfelfrau, und hielt ihm eine pralle rotwangige Frucht knapp vor die Nase.

Er konnte den appetitlichen Duft direkt riechen und schnupperte genießerisch.

„Anni, guten Morgen. Nein, der Rücken tut’s derweil noch. Gott sei Dank! Aber das Knie ist ein bissl beleidigt. Das muckt eh schon länger herum. Bin wohl heute zu eilig aus dem Bett gesprungen.“

Und dann berichtete er ihr die Geschichte mit der Nachbarin und dem Kind und dem Pflaster. Am Ende der Erzählung war er fast erschöpft und abermals sehr empört. Er hatte sich wieder in Rage geredet.

„Ach geh! Stell dich doch nicht so an. Was soll da ich sagen? Ich habe drei Kinder, zwölf Enkel und sogar vier Katzen, dann noch zwei Wellensittiche und meinen Mann, Egon, natürlich auch. In genau dieser Reihenfolge! Man muss ein bisschen mit der Zeit gehen. Du bist doch ein strammer Kerl. Igle dich nicht so ein. Bei euch im Haus schadet ein wenig Lärm und Kinderlachen sicher nicht. Ihr seid ja nicht auf dem Friedhof. Warte erst mal ab. Das wird schon noch. Nur Mut!“

Sie packte ihm drei Äpfel in ein Papiersackerl und drückte es ihm beherzt in die Hand.

„Zahlen tust morgen und jetzt geh und stell dich bei deiner Nachbarin höflich vor. Kinder sind gar nicht so schlimm, wie du vielleicht glaubst. Und sie beißen auch nicht.“

Karl grüßte die alte Anni und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Die Rede der Äpfelfrau war ihm ein wenig gegen den Strich gegangen, denn er hätte sich ein bisschen mehr Mitgefühl von ihr gewünscht. Er spazierte die Niederhofstraße vor und dort am Platzl betrat er sein altes Stammcafé, das Milchhaferl, wo er immer die Tageszeitung zu lesen pflegte. Das hatte gleich mehrere Vorteile. Erstens brauchte er dann für das Blatt nicht zu bezahlen, zweitens trank er sodann nochmals einen Vormittagskaffee und drittens traf er dort auch einige Bekannte. Alle waren in seinem Alter und die meisten wie er alleinstehend, ledig oder verwitwet.

Der stets grantige Ober Hubsi kannte das Lieblingsgetränk von jedem Stammgast schon und brachte es in der Sekunde unaufgefordert. Heute war nur der Herr Professor Navratil hier, ein ehemaliger Medizinalrat. Hubsi stellte daher Karls Milchkaffee sofort auf den Tisch des Akademikers, weil Karl sich, so wie jedes Mal, ohnehin dorthin setzen würde. Die Herren begrüßten sich etwas steif und umständlich und nahmen sogleich jeder eine Zeitung zur Hand. Bedächtig und wahrscheinlich auch genau lasen sie alle Nachrichten sowie Klatsch und Tratsch aus den Königshäusern. Keiner hätte es je zugegeben, aber sogar das interessierte die beiden.

Gegen Mittag war auch dieser Tagespunkt erledigt. Man verabschiedete sich also in dem Bewusstsein, sich ohnehin am nächsten Tag wieder zu treffen, und jeder ging sodann seiner Wege.

Am Gang vor Karls Wohnung waren nun Gott sei Lob und Dank keine Möbel und Kartons mehr zu sehen, dafür hatte die gute Frau Nemec offenbar ihr Radio gefunden und auch die passende Steckdose. Man hörte von drinnen infernalischen Lärm. Fast hatte man den Eindruck, die Tür vibrierte im Takt der tiefen Bässe mit.

Karl seufzte indigniert und betrat seine Wohnung – froh, im Inneren nur mehr die gedämpfte Version von „Der Stern, der deinen Namen trägt“ zu hören. Na, das konnte was werden! Er würde sich keinesfalls bei der Nachbarin offiziell höflich vorstellen. Die sollte ihm gestohlen bleiben. Da konnte ihm die Anni noch so gut zureden. Er würde da konsequent bleiben.

Am nächsten Tag, als er gerade das Haus verlassen wollte, traf er im Stiegenhaus einen kleinen Buben mit einem Mistkübel. Das Kind blickte ihn freundlich an.