Kein Sex!
Über Menschen, die ES nicht tun
Bianca Demel
Stefan Meyer
Contents
Title Page
Copyright
Achtung!
Was ist (nicht) drin?!
Gar nicht gibt's!
Einsatzfähig
Unten ohne
Nicht ohne
Exklusive
Besser ohne
Verschlossen geschlossen
Später vielleicht
Ergänzung: Therapeutisch später
Unbefriedigt befriedigt
Draußen
Erreichbar
Fetisch: Gespräche über bizarre sexuelle Leidenschaften
kink! Erotische Gespräche über Bondage, Dominanz, Demut, Sadismus & Masochismus
Impressum
Copyright by Bianca Demel & Stefan Meyer, 2o23
Herausgeber: Bianca Demel & Stefan Meyer
Kontaktanschrift: Büro Heinrich Bien (BHB), Lauthstrasse 54, 8o999 München / E-Mail:
[email protected]Wichtige Informationen für die Nutzer dieses Buchs:
Herausgeber und Autoren haben größtmögliche Sorgfalt aufgewendet, dieses Buch zu publizieren. Alle Informationen in diesem Buch sind sorgfältig von Herausgeber und Autoren erwogen und geprüft. Für die Richtigkeit der Informationen kann keine Garantie übernommen werden. Der Herausgeber und die Autoren übernehmen keine juristische Verantwortung für die Nutzung der publizierten Inhalte und Informationen. Eine Haftung der Autoren, des Herausgebers und seiner beauftragten Personen für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
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1. Auflage, November 2o23
Autoren: Bianca Demel & Stefan Meyer
Projektleitung und technische Publikation: Stefan Meyer
Titelgestaltung & Fotos: Hermann Zeichen
Achtung!
Alle Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden. Die hier beschriebenen Praktiken (ob sexuell oder nicht) sind Fiktion und sollten nicht in die Tat umgesetzt werden, denn sie können die Gesundheit aller Beteiligten gefährden. Also: Nur lesen, nicht nachmachen!
Hinweis zu den Fotos: Sämtliche Bilder, Collagen und Zeichnungen dienen nur der Illustration der Kapitel. Die erwähnten Personen sind auf den Bildern nicht dargestellt.
Und weil es gerade ein aktuelles Thema ist: Die Texte in diesem Buch sind frei von künstlicher Intelligenz und von richtigen Menschen mit zwanzig fleißigen Fingern getippt worden. Sie werden von uns professionell unterhalten und nicht mit sinnfreien Leertexten überschwemmt. Alles, was Sie hier lesen, ist von zwei gut ausgebildeten und routinierten Gehirnen so sorgsam wie möglich aufs (elektronische) Papier gebracht worden!
Und: Hier geht es vor allem um Sex – auch wenn der Titel das Gegenteil behauptet. Also bitte:
Was ist (nicht) drin?!
Gibt's nicht? Gibt es doch! Nach fünf Büchern über Sex (vorwiegend BDSM und Fetisch) haben wir uns (zunächst zum Spaß) überlegt, was eigentlich das Gegenteil von Sex ist.
Ein Ritual von uns am Ende einer fertigen Geschichte ist der Trinkspruch, dass wir uns vornehmen, das nächste Mal über das Gegenteil zu schreiben – tun wir natürlich fast nie. Aber nach Abschluss des letzten Buchs kamen wir doch ins Grübeln…
Geht nicht? Geht doch! Tatsächlich haben wir es geschafft, Menschen zu finden und mit ihnen zu sprechen, die keinen Sex haben, obwohl sie gleichzeitig doch (irgendwie) Sex haben. Dies ist also definitiv ein Buch über Geschlechtsverkehr in sehr ungewöhnlichen Varianten von unerfahrener Zärtlichkeit, zurückhaltender Prostitution, über lustfreie Orgasmen bis zu den düsteren Machenschaften in SM-Beziehungen, bei denen Sklaven ganz und gar auf Ejakulationen verzichten und tatsächlich glücklich dabei sind.
Dies ist kein düsteres Buch über Menschen, die nicht können, nicht wollen, biologisch oder chemisch auf der falschen Spur sind und deswegen auf lustvolle und befriedigende Sexualität verzichten müssen. Dieses Buch handelt von Menschen, die Spaß haben, allerdings oft auf sehr spezielle, komische oder eine ganz andere Art und Weise, die uns nach den Gesprächen oft zum Nachdenken über (unsere) langweiligen Machenschaften im Bett – wie zum Beispiel die Missionarsstellung – gebracht haben.
Als Anleitung sind die folgenden Kapitel aber nicht gedacht – es sei denn, Sie haben sehr spezielle Vorlieben. Lesen Sie die Geschichten zur Unterhaltung, zum Staunen und vielleicht auch, um wenig Inspiration für das zu bekommen, was bei Ihnen nachts im Bett vor sich geht.
Aber probieren Sie es zumindest im Kopf selbst aus und denken Sie darüber nach, wie Sex aussieht, wenn Sie auf den Höhepunkt, die Penetration, vielleicht sogar ganz auf jeglichen Kontakt des Geschlechtsteils mit irgendetwas verzichten würden!? Neugierig auf Menschen, denen das gelingt – manchmal sogar viele Jahre lang oder ein ganzes Arbeitsleben? Dann sollten Sie dieses Buch unbedingt lesen!
Hier ein paar Appetithappen aus den Kapiteln:
● Eine Prostituierte, die in ihrem gesamten Berufsleben keinen Sex hatte, obwohl alle Kunden mit ihr mehr als zufrieden waren.
● Eine Frau, die sich den Geschlechtsverkehr bis zur Ehe aufgespart hat, aber davor durchaus nicht unschuldig gewesen ist. Denn das Versprechen der Reinheit bietet ein paar deftige juristische Schlupflöcher.
● »Weniger Arbeit bei besserer Bezahlung« ist das Motto einer professionellen Domina, die viele ungewöhnliche Dinge mit ihren Kunden tut, diese aber nicht in die Nähe ihrer Geschlechtsteile kommen lässt.
● Über ein Paar, das normalen Sex nie richtig gelernt hat und stattdessen sehr befriedigende Alternativen praktiziert.
● Wir erleben eine schauerliche Mini-Kreuzigung und lernen einen Mann kennen, der sich seiner Partnerin unterwirft und ganz und gar auf Höhepunkte verzichtet – und das schon sehr, sehr lange.
● Wie das Verschieben und der Verzicht auf den Höhepunkt den Sex so verlängert, dass er ein ganzes (chinesisches) Wochenende andauert und nicht unbedingt in einer Ejakulation enden muss.
● Orgasmus ohne Lustempfinden? Eine Ehefrau stimuliert ihren Mann über Stunden und dann entscheidet der Würfel oder eine Münze, ob er auch den Schluss in vollen Zügen genießen darf – oder eben auch nicht.
Noch ein kurzer Hinweis in eigener Sache: Dieses Buch sowie die Berichte und Erzählungen der Menschen sollen einen intimen Einblick in ihr Sexleben geben und als Inspiration für unsere Leser dienen (oder auch als schauerlich abschreckendes Vorbild).
Wer Masturbationsvorlagen und pornografische Übertreibungen erwartet, der wird hier nicht fündig werden. Dies ist ein Ausschnitt aus dem echten Leben, auch wenn wir ganz spezielle Vorlieben durch die Brille professioneller Journalisten betrachten.
Gar nicht gibt's!
Ohne? Nix? Nada! Totalausfall! Ebbe? Vollverzicht?! Keine Art oder Sorte von Sex geht nicht, oder? Mindestens Selbstbefriedigung ist Pflichtprogramm vor oder nach den Spätnachrichten. Wir können uns mühelos vorstellen, wie selbst Quasimodo sich mit Geduld und Spucke unter der fadenscheinigen Decke hoch oben im Glockenturm von Notre-Dame einen ordentlichen Abspritzer verpasst.
Oder würden wir jemandem glauben, der Enthaltsamkeit von vorne bis hinten predigt und das auch konsequent auslebt? Kein bisschen! Die große platonische Liebe im kitschigen Streifen aus Hollywood dauert bis zum Kuss am Happy End – und dann wird munter drauf los gevögelt, während wir längst im Bus auf dem Weg vom Kino nach Hause sitzen. Lange muss man dann nicht mehr warten, bis die Darsteller mit ihren herausragenden Sex-Gelüsten in den Klatschmedien auftauchen. Um die Rolle zu bekommen, haben sie sich ohnehin durch das komplette Team von Produzenten gef.ckt! Soviel zur erfolglosen Theorie der Enthaltsamkeit.
Fünf Bücher über Sexualität (von BDSM bis Fetisch) haben wir in den letzten zwei Jahren geschrieben, wobei die Recherchen dazu zwei weitere Jahre in Anspruch genommen haben. Abstinent waren wir in dieser Zeit natürlich nicht, auch wenn das Schreiben aufwendig und einnehmend war, zumal wir nicht nur diese Bücher, sondern hauptsächlich Texte für Nachrichtenmedien verfassen.
Mitten im Schreiben so richtig abschalten und etwas anderes denken oder tun – das können wir nicht! Was bei rasch geschriebenen Reportagen noch in Ordnung ist, füllt bei Büchern nicht nur die knappe Freizeit am Tag, sondern auch Träume in der Nacht mit Ideen und geistigen Textentwürfen. Licht einschalten, aufschreiben und versuchen, weiter zu schlafen. Bis es dann endlich und irgendwann geschafft ist.
Wenn wir mit einer Geschichte fertig sind, haben wir einen Standard-Witz, den wir gerne machen, während wir auf das gerade abgeschlossene Projekt (Fetisch! Gespräche über bizarre sexuelle Leidenschaften) anstoßen: »Beim nächsten Mal schreiben wir über das Gegenteil!«
Diesmal war es zunächst wieder nur ein Witz – ein paar Worte, um das fertige Werk aus dem Kopf zu kriegen. Allerdings hatten wir beide gleichzeitig für einen – zu langen – Moment die Luft angehalten und über das Ausgesprochene nachgedacht. »Kein Sex ist auch keine Lösung«, sagte Stefan, brach damit das Schweigen und zitierte einen bekannten Schilder- und Postkarten-Spruch, der statt von Geschlechtsverkehr eigentlich von Bier oder anderen alkoholischen Getränken handelt.
Der nächste Arbeitstag in einem unserer Stamm-Cafés im Zentrum von Enschede begann mit einem dringenden Umweltthema: Ein Schiff in der Nordsee drohte zu sinken und wir lieferten Hintergrundmaterial von Verbänden, Parteien und Wissenschaftlern an ein Dutzend Medien in ganz Deutschland.
Der übliche Trubel: Aber bei einem so dringenden wie komplexen Thema keine leichte Aufgabe, bei der praktisch ununterbrochen telefoniert und gleichzeitig auf den Laptops geschrieben wird. So ein Tag zehrt an den Nerven und ist erst vorbei, wenn das digitalisierte Publikum von den Online-Medien am Abend auf die Streaming-Unterhaltung wechselt und die Nachrichtenredaktionen sich langsam leeren. Früher beendete meist die öffentlich-rechtliche Tagesschau um acht Uhr solche Tage. Heute hat sich das durch die zeitliche Flexibilität der Film-Portale eine gute Stunde weiter nach hinten verschoben.
Das Personal unseres Arbeits-Lokals kennt diese Ausnahme-Tage ebenfalls gut – und nutzt sie schamlos aus, weil wir dann den Kaffee nicht mehr am Tresen holen, sondern die uns servierten (untergeschobenen) Tassen geistesabwesend hinunterschlucken, um das Hirn mit den Nährstoffen aus der Milch und dem Zucker in Gang zu halten. Das biologische Ergebnis ist hochgradig gesundheitsschädlich, denn die Mitarbeiter der Cafés versorgen uns umsatzfreundlich mit sehr, sehr vielen Tassen Kaffee im ständigen Wechsel zwischen Espresso, Cappuccino und Latte.
Erschöpft, ausgelaugt und gleichzeitig durch die Massen von Koffein aufgeputscht versuchen wir, die Kaffee-Konzentration in unserem Blut am Abend mit unterschiedlichen Mischungen aus Alkohol und Wasser (in der Regel mit Bier) wieder auf ein vernünftiges Niveau zu bekommen. Übersetzt: Wir gönnen uns einen Drink mehr, als wir eigentlich vertragen. An solchen Abenden sind wir grundsätzlich nicht mehr produktiv, aber gelegentlich unprofessionell kreativ. Und irgendwie kam uns gerade dieses Thema wieder in den Sinn.
Aber was ist das Gegenteil von Sex? Ein paar Antworten sind uns recht schnell eingefallen, darunter Spielarten wie Sadomasochismus, Fetische und ein Haufen un-delikater, ausgefallener und schräger Perversitäten. Ganz abgesehen vom Kurzprogramm im Alleingang, entweder unter der Bettdecke oder auf der Toilette. Ist Selbstbefriedigung Sex mit sich selbst oder nur die pragmatische Regulierung des eigenen Hormonspiegels?
Und umgekehrt: Was ist Sex, wenn wir nicht wissen, was das Gegenteil von Sex ist? »Die hochgradig konservative Missionarsstellung«, lautete unsere erste, gemeinsame Antwort, die wir uns durch die leicht (eher stark) berauschten Köpfe gehen ließen (und uns wären mühelos tausende Antworten mehr eingefallen, obwohl wir im Bett weitgehend harmlose Charaktere sind).
Unzufrieden, wie Sie es mit diesen Antworten vielleicht auch wären, grübelten wir weiter. Ohne das Thema sicher greifen zu können, schaltete sich bereits unser Journalisten-Alarm ein. Waren wir auf ein Thema gestoßen, über das es sich zu berichten lohnt? »Kein Sex«, sagte Bianca und leerte das letzte Drittel ihres Bierglases mit einem Zug. »Das Gegenteil von Sex ist definitiv kein Sex.« Ohne es zu wissen, hatten wir damit bereits den Titel gefunden.
Obwohl wir an einem guten Punkt angekommen waren, ruderten wir um diese schwer greifbare Themen-Insel in Gedanken noch mindestens zweimal herum: Ersatzbefriedigung in Form von Schokolade und Kartoffelchips kam uns in den Sinn. Das Klosterleben, die unbefleckte Empfängnis (Entschuldigung an alle religiös-empfindlichen Menschen!) und Unfälle, bei denen Geschlechtsteile ihrer Funktion beraubt werden – all das spülte durch unsere Köpfe. Aber ernsthafte Themen wollen wir in unserer Schreib-Freizeit eigentlich meiden. Wir wischten das alles vom Tisch und hatten danach einen Riesenspaß, uns nur noch alberne Sachen vorzustellen, die mit der Abwesenheit und dem Nicht-Vorhandensein von Sex zu tun hatten.
»Gibt‘s nicht«, sagte Bianca am nächsten Tag, als wir beide viel zu spät unsere ersten Tassen vom braunen Lebenselixier freier Journalisten in der Hand hielten. Aber »gibt‘s nicht« gibt es nicht bei Menschen wie uns, die täglich auf der Suche nach guten Geschichten sind, mit denen trotz allwissender Suchmaschinen noch ein wenig Geld verdient werden kann.
Und »gibt‘s nicht« sagen wir nur, wenn wir das Gegenteil beweisen wollen. In diesem Fall also eine doppelte Verneinung aus der Kombination von kein Sex, den es nicht gibt – nicht schlimm, wenn Ihr Kopf diesen Gedanken nicht logisch korrekt nachvollziehen kann. Wir haben uns auch mit diesen wirren Einfällen teilweise selbst abgehängt.
Die Lösung für so ein Dilemma sieht bei uns immer gleich aus: Stefan taucht ab ins Internet, während Bianca sich ans Telefon klemmt. Das Ergebnis der Recherchen wird als Stichpunkte (meist grobe Entwürfe für mögliche Überschriften der Kapitel) auf einem großen Blatt Papier notiert.
Damit können wir auch unsere Produktivität erklären: Ein berühmter Popmusiker hat in einem Interview erzählt, dass er Songwriter bewundert, die monatelang an einem einzigen Song arbeiten. Sie schreiben etwas, streichen es wieder weg, schreiben es neu, machen eine Pause und werfen später alles noch einmal über den Haufen und fangen von vorne an. Der interviewte Musiker erklärte anschließend, dass er einen Hit in weniger als einer Stunde schreiben könne.
Zwar sind wir keine Medien-Superstars, aber unsere Arbeitsweise ist mit der des Musikers vergleichbar: Nach kürzester Zeit haben wir – meistens – eine ausreichende Menge an machbaren Themen zusammen, die dann nur noch recherchiert, ausformuliert und in ein Buch verwandelt werden müssen – was zwar immer noch ein Berg Arbeit ist, aber die Liste auf dem großen Blatt Papier zeigt uns schnell, dass ein Buch zu einem Thema machbar ist.
Bei diesem Thema ist es genau so gelaufen, aber mit einem kleinen Unterschied: Wir waren selbst erstaunt, dass wir Nonnen, psychisch oder körperlich Kranke und Schwanz-Verletzte gar nicht erst mit auf die Agenda nehmen mussten. Es waren genug andere potenzielle Kapitel übrig, die geschrieben werden wollten. Kein-Sex gibt es tatsächlich in interessanten Facetten – auch wenn manche davon mit einem zwinkernden Auge gelesen werden müssen, weil wir natürlich nicht der wissenschaftlichen Definition von Sex gearbeitet haben.
Aber lesen Sie selber, wie viel Sexualität ohne Sex machbar ist! Kein Sex mit Sex? Klingt wunderlich, aber genauso wollten wir darüber berichten, denn dieses Buch – wie die vorigen auch – schreiben wir zum Spaß und als Ausgleich zum täglichen und meistens sehr viel ernsteren Geschäft der tagesaktuellen Medienberichterstattung. Und unmögliche Dinge sind unsere große Stärke und es macht verdammt viel Spaß, darüber zu schreiben!
> Bianca & Stefan, Enschede im September 2023
Einsatzfähig
Abends beim Fernsehen hält er ihr eine Kopfschmerztablette und ein Glas Wasser hin. »Was soll das?«, fragt sie, »ich habe keine Kopfschmerzen!« Und er antwortet: »Dann können wir ja heute miteinander schlafen.«
Unten ohne
»An meine Muschi lasse ich nur Wasser und Seife«, erklärt Karoline so klar und deutlich, wie das Blau in ihren Augen leuchtet, wenn sie leidenschaftlich von ihrer Vergangenheit erzählt. »Also früher, als ich im Laufhaus gearbeitet habe«, fügt sie hinzu, denn ihre Tage als Prostituierte sind mittlerweile gezählt.
»Genug gespart« habe sie in den anstrengenden zwanzig Jahren ihrer Laufbahn in einer ungewohnten, aber immer noch stark nachgefragten Branche. Und die Situation am übrigen Arbeitsmarkt hat ihr den Ausstieg aus der Szene nach vielen Jahren schließlich leicht gemacht. Heute, nach einer Umschulung zur Pflegerin, kann sie sich die anständigen Jobs aussuchen, genauso wie die Städte in Deutschland, in denen sie leben und arbeiten will.
Wir treffen die Mittvierzigerin in Mannheim in einem türkischen Café, das umzingelt ist von Geschäften für Hochzeitskleider, deren Schaufenster den Kitsch mit viel Glitzer und ausgefallenen Farben feiern. Aus dem Fenster schräg gegenüber schaut uns ein Puppen-Paar an, das in einem Mafia-Film mitspielen könnte: Die Braut trägt ein schwarzes, kurzes Kleid und dazu einen langen Schleier, der weit hinter dem Podest endet, auf das sie gestellt wurde. Er (also der Puppen-Mann) steckt in einem Anzug, der mit einem riesigen Paisley-Muster und Strass-Steinen übersät ist.
»Der sieht aus wie mein erster Zuhälter«, kommentiert Karoline das ungewöhnliche Outfit trocken, nachdem sie unsere Blicke nach draußen verfolgt hat und über das staunt, worüber auch wir staunen. Danach schwenken wir zurück und konzentrieren uns auf die unscheinbar gekleidete Frau, die seit ein paar Minuten vor uns sitzt.
Die ehemalige Prostituierte war und ist ein Nomade. Zuerst wanderte sie als Teenager von zu Hause aus. »Keine leichte Zeit für jemanden ohne Ausbildung, ohne Beruf und ohne Geld.«
Sie war im letzten Jahr der Hauptschule und hatte »gewisse Chancen« den Abschluss mit einer Note zu schaffen, mit der sie sich für eine Ausbildung hätte bewerben können, obwohl Lehrstellen damals und im Gegensatz zu heute heiß begehrt und hart umkämpft waren.
»Tanzlehrerin wäre ich gerne geworden«, erinnert sie sich an diese Zeit mit einem nachdenklichen Lächeln im Gesicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, hinter einem Schreibtisch zu versauern. »Ich war im Kopf immer ein bunter Vogel.« Deswegen hatte sie sich ein paar Wunschberufe auf einem kleinen Zettel notiert, den sie monatelang in ihrem Schlampermäppchen mit sich herumgetragen hatte. Gärtnerin war dort ebenfalls notiert – und Schornsteinfegerin. »Aber die Pubertät und der Ärger mit meinen Eltern haben mir einen dicken Strich durch die Rechnung meines Lebens gemacht.«
In der Erinnerung und über die Jahre hat sich das Bild von damals gedreht: »Es waren nicht die anderen, sondern ehrlich gesagt war ich es, die so viele Probleme gemacht hat.« Auch wenn sie in ihrer Jugend oft still und zurückhaltend war, konnte sie manchmal auch blitzartig auf Krawall stellen.
Auf Parties und in der Disco habe sie grundsätzlich zu viel getrunken, bis das Taschengeld ausgegeben war. Und wenn sie Geld aus der Handtasche ihrer Mutter gestohlen hatte, gab sie es meistens aus, bevor die Sonne untergegangen war. »Geld war wie eine Kirschtorte auf dem Tisch«, vergleicht die Frau sehr philosophisch zwei unterschiedliche Dinge miteinander. »Beides kann ich nicht lange unangetastet herumstehen oder -liegen sehen.«
Am Anfang eines Monats im Frühling in der letzten Klasse und eigentlich kurz vor Ende der Schule ergatterte sie »ohne nachzudenken« zweihundert Mark von den Eltern. »Das war praktisch unser Geld für einen ganzen Monat«, erzählt sie. »Um Mitternacht hatte ich die zerknitterten Scheine in Cocktails verwandelt und obwohl ich völlig betrunken war, wusste ich, dass ich nicht mehr zurück nach Hause konnte.«
Donnerwetter, Streit und auch Gewalt gab es dort jeden Tag. »Meine Mutter putzte in der Nacht und arbeitete tagsüber als Hilfskraft in einer großen Gärtnerei.« Sie schlief die wenigen Stunden, die sie zu Hause war, und die Kinder waren praktisch Tag und Nacht auf sich allein gestellt. »Mein Vater fuhr Laster und war praktisch nie zu Hause.«
Ihr Vater konnte an keiner der bunt leuchtenden Glücksspiel-Maschinen in den Autobahn-Rasthöfen vorbeigehen, ohne eine Menge Kleingeld hineinzuwerfen. »Das Einkommen meiner Mutter war das einzige Geld, das jeden Monat zuverlässig auf dem Konto landete.« Außer Karoline griff vor dem Ausgehen in die Tasche ihrer Mutter. »Eine richtige Handtasche hatte sie gar nicht«, erinnert sich die Frau. »Es war so ein gestrickter Einkaufsbeutel in dem sie Schüssel, Geldbörse und die Mahnungen mit sich herum schleppte, die wir nicht bezahlen konnten.«
Wo sie aufgewachsen ist, will sie uns nicht verraten. »Es war Freitag und mein Vater war ausnahmsweise mal zu Hause«, erinnert sie sich an die Nacht, als sie ihre Heimat für immer verlassen hatte. »Samstag Vormittag beim Einkaufen wäre spätestens aufgeflogen, was ich getan habe.«
Der Nachtbus fuhr sie fast hundert Kilometer weiter in die nächste Großstadt. »Ich hatte nicht mal Geld für das Ticket übrig, aber dem Fahrer war das egal, weil ich um die Zeit der einzige Passagier gewesen bin.« Mit ihrem hübschen Lächeln und den hellen, blauen Augen war sie mühelos an ihm vorbei in den Bus gestiegen und hatte es sich in der letzten Reihe so bequem gemacht, wie es auf harten Sitzen aus Formholz eben ging.
Von zu Hause geflohen, obdachlos, von Zuhältern aufgesammelt und zum Sex mit schmierigen Männern gezwungen – aber so ist es bei Karoline ganz und gar nicht gewesen. Der Weg zur Prostitution war länger und er war bei Weitem nicht so spektakulär.
»Eine Nacht hatte ich in einem Hauseingang verbracht«, erzählt sie. Aus dem Bahnhof, an dem der Bus die letzte Station hatte, wurde sie von Sicherheitsleuten hinaus befördert, bevor die Sonne aufgegangen war. »Schräg gegenüber lungerten Punks auf der Straße herum.« Sie teilten eine Flasche Korn mit ihr und dann war Karoline im Eingang einer Buchhandlung eingeschlafen und war nach kurzer Zeit wieder wach geworden vor Kälte und weil ihr wegen des harten Bodens die Glieder schmerzten.
»Die Sozialarbeitern hatte mich natürlich sofort im Visier«, erzählt die Frau weiter. Die sechzehnjährige hatte sich gerade den Schlaf aus den Augen gerieben und war kaum wach, da fasste ihr eine stämmige Frau Mitte dreißig ins Gesicht und roch an ihren Haaren. »Total strange.« Das Mädchen kroch erschreckt zurück und drückte sich gegen die verschlossene Ladentür. »Später hatte sie mir erklärt, dass sie am Geruch feststellen konnte, wie lange jemand schon auf der Straße lebte.« Nicht lange, musste sie gedacht haben und befahl Karoline, mit ihr zu kommen und zu helfen.
Verkatert, müde und hungrig trottete das Mädchen hinter der Sozialarbeiterin her, die mit ihrem Kleinwagen verschiedene Orte in der Stadt anfuhr. Währenddessen saßen die zwei schweigend im Wagen und wechselten kein Wort miteinander. »Sie wartete immer, bis der andere anfängt zu sprechen.« Druck mögen freie Vögel nicht, war das Motto der helfenden Frau.
Draußen trafen sie Obdachlose, Junkies und noch mehr Punks weit weg vom Bahnhofsviertel. »Judith kannte sie alle«, erinnert sich die ehemalige Prostituierte, die damals noch ganzen keinen Tag am Rand der Gesellschaft gelebt hatte.
Meistens unterhielt sie sich mit den Menschen, half beim Ausfüllen von Formularen und rang gelegentlich um die eine oder andere Flasche Schnaps. »Gras kippte sie aus den Beuteln, schüttete es in eine Pfütze und trat dann mit dem Fuß drauf, wenn sie es in die Finger bekam«, erzählt Katrin. »An dem Tag gab es drei oder vier Handgemenge zwischen ihr und den Leuten, die sie traf.«
Die letzte Fahrt ging zu Judith nach Hause. »Sie hatte bis dahin nicht einmal gefragt, wie ich heiße.« Sie zeigte ihr ein kleines Büro mit einem Klappbett in der Ecke. »Besser als auf der Straße«, sagte Judith zu der jungen Karoline, ließ sie mitten im Raum stehen und ging in die Küche, um Nudeln mit Soße aus der Dose zu kochen.
»Am nächsten Tag ging sie mit mir in einen Supermarkt und direkt zum Filialleiter.« Zwanzig Minuten später trug Karoline einen abgewetzten, ausgeleierten Pullover mit dem Logo der Kette auf der Brust und schob einen Transportwagen mit Dosengemüse, Tomatensauce und Zahnpastatuben durch die Regale, um leere Fächer aufzufüllen.
»Am Eingang der kleinen Etagenwohnung stand eine Blechbüchse mit einem Schlitz im Deckel«, erzählt sie. Was vom Supermarkt-Lohn übrig blieb, schob sie durch den Schlitz. »Ich tat es einfach«, beschreibt Karoline die nicht-ausgesprochene Aufforderung der Frau, die ihr ein Zimmer gab, einen Job und jeden Abend ein einfaches, warmes Essen. »Genauso selbstverständlich wie ich meine Mutter beklaut hatte, legte ich jede Woche Geld in diese Dose hinein.«
Die Sozialarbeiterin lebte für ihren Beruf. Karoline war nicht der einzige »Fall«, den Judith zu Hause betreute. »Die Couch im Wohnzimmer diente mindestens einmal in der Woche als Bett für Gäste, während ich das kleine Zimmer bewohnte.« Oft klingelte es spät in der Nacht und einer von Judiths »Arbeitskontakten« bat um einen ruhigen oder um einen sicheren Platz zum Schlafen.
»Carina war mindestens zwei- bis dreimal in der Woche bei uns«, erinnert Karoline sich an die Frau, die ihr Schicksal viel mehr verändern würde, als die Sozialarbeiterin es bereits tat. »Die beiden waren befreundet und leerten bei jedem Treffen mindestens zwei Flaschen Weißwein und redeten bis spät in die Nacht miteinander.« Irgendwann saß Karoline mit am Tisch, obwohl Judith ihr verboten hatte, Alkohol zu trinken.
Die Geschichten der jungen Russin faszinierten Karoline von Anfang an. »Sie besuchte Männer, die sie über eine Anzeige in einer Zeitung kontaktierten und sie arbeitete in einer Bar.« Wobei mit Bar ein Nachtclub gemeint ist, in dem die Frauen im Barbereich Jagd auf ihre Kunden machten. »Sie sprach völlig gleichgültig darüber, was die Männer mit ihr alles anstellten und ich hörte in der Zeit sehr viele Geschichten über Geschlechtsverkehr, die allesamt nicht besonders lustig waren.«
Karoline hatte selbst bereits Erfahrungen mit Jungen gemacht. »Alles, was ich bis dahin erlebt habe und vieles, was ich danach erlebt habe, war stumpfsinniger und einfallsloser Geschlechtsverkehr.« Ihr hatte Sex niemals Spaß gemacht – nicht als junge Frau und auch später nicht. Karoline schiebt es auf die Männer: »Die meisten wollen nur ihren Schwanz bis zum Höhepunkt irgendwo reinstecken, um dann möglichst schnell zu verschwinden.«
Das »Reinstecken« machte ihr am wenigsten Spaß. »Ich habe nie wirklich etwas dabei empfunden«, beschreibt Karoline ihre Unlust. Ein paar Jungen aus ihrer Klasse haben auf Parties mit ihr geschlafen, ein paar mal sogar im Schlafzimmer der Eltern. »Das waren spießige Zimmer mit durchgelegenen Betten und dunklen Möbeln aus Eichenholz.«
Ältere Freunde von ihr hatten bereits einen Führerschein inklusive Auto und der Akt fand dann auf dem Rücksitz statt. »Die hatten größere Penisse, weil die meisten zwanzig oder noch älter waren«, erinnert sie sich. Das habe ihr aber auch keinen Spaß gemacht. Und sie empfand höchstens Schmerzen beim Eindringen. »Einer hatte schon viel Erfahrung«, erklärt sie, »der hat mich völlig wund gevögelt – vorne und hinten.« Sie war aus dem Auto geflüchtet, als er ihr das ungewaschene Geschlecht in den Mund stecken wollte.
Aber es gab andere Praktiken, die ihr Spaß machten. »Wenn ich die Kerle beobachten kann und näher dran bin, gefällt es mir einfach besser«, sagt Karoline. Angeblich teilte sie schon beim zweiten Mal auf einer Klassenfete ihren ersten Oralverkehr aus. »Hat nicht lange gedauert«, sagt sie. Dabei war Karoline fasziniert von der euphorischen Reaktion der Jungs: »Sie waren viel schärfer drauf, mich in den Mund zu ficken.«
Die junge Frau machte mit, obwohl es sie emotional eigentlich kalt und trocken ließ. »Klar hatte ich meinen Spaß, weil jeder total ausgerastet ist, wenn ich es ihm mit dem Mund besorgt habe.« Obwohl sie damals auch keinen eigenen Höhepunkt kassierte. »Ein paar probieren es erfolglos mit Rubbeln«, erinnert sie sich, »aber keiner hatte sich wirklich Mühe gegeben, es richtig oder lange genug zu machen.« Aus reiner Freundschaft stöhnte sie ein wenig und täuschte Orgasmen vor, damit die jungen Männer rasch mit diesen hilflosen und unreifen Versuchen an ihr aufhörten. »Die Kerle hätten es leichter und die Frauen mehr Spaß, wenn der Kitzler in der Nacht leuchten würde.«
Als sie anfing, ihren Freunden das Ejakulat von der Haut zu lecken oder gleich beim Orgasmus zu schlucken, sprach sich das rasend schnell an der Schule und darüber hinaus herum. »Ich habe mir das aus Pornoheften meines Vaters abgeschaut.« Karoline war nicht zimperlich, nicht zurückhaltend und hatte keine Hemmungen, die derben Akte von den Fotos, die sich sich heimlich angeschaut hatte, genauso anzumachen, während die anderen Mädchen Petting für vernünftig hielten und bei allen anderen Praktiken angewidert die Nase rümpften.
»Sex habe ich zuerst mitgemacht, weil die Jungs es wollten und weil ich dadurch schnell beliebter war, als meine Freundinnen«, erzählt sie. Um den Reiz und ihre Beliebtheit weiter zu steigern, machte sie das, was sich die Klassenkameraden in unanständigen Heften anschauten und in pubertäres Schwärmen gerieten. Durch den Konsum der gleichen Darstellungen von Sexualität konnte sie den gierig-geilen Jungs tatsächlich in den Kopf blicken.
»Das ist genau das, was die Kerle anmacht«, sagt sie trocken. »Wer einen Mann richtig befriedigen will, sollte dringend Pornos schauen«, erklärt Karoline und schiebt mit ernster Miene einen weiteren, deftigen Satz hinterher: »Pornos zeigen das, was Männer wirklich im Kopf haben, wenn sie an Sex denken.«
Sie hatte schnell den Unterschied zwischen einfühlsamen und einvernehmlichen Geschlechtsverkehr und der reinen Befriedigung des männlichen Partners kennengelernt. »Und weil es mir einfach keinen Spaß machte, wenn ich gevögelt wurde, habe ich mich umso mehr auf die Männer konzentriert.«
Auch ihrem Chef im war es bald Supermarkt egal, ob sie Regale einräumte oder nicht. »Er gab mir für jeden Blowjob einen Zwanziger«, schildert Karoline das intime Arbeitsverhältnis (also Deutsche Mark, nicht Euro). »Danach konnte ich verschwinden und bekam trotzdem meinen Lohn.« Hand und Mund waren dem Mann schnell nicht mehr genug. »Er hielt mir einen Hunderter für Analverkehr vor die Nase«, sagt Karoline, »aber ich lehnte natürlich ab.« Damit war ihr Chef der erste in einer endlos langen Kette von Kunden, denen sie diesen Dienst versagen sollte.
Vielleicht aus Trotz, vielleicht, weil sie den Mann abstoßend fand, aber vielleicht auch, weil sie keine körperliche Lust und Befriedigung empfand, wenn sie genommen wurde. Bald sollte er so zudringlich werden, dass der Supermarkt kein Ort mehr war, wo sie regelmäßig erscheinen konnte. »Er war einer der wenigen Männer in meinem Leben, der derart beharrlich mehr von mir forderte.«
Auf dem Heimweg traf sie Carina am Abend vor dem Eingang des düsteren Mietshauses. »Statt nach oben zu gehen, folgte ich ihr in den Nachtclub«, erzählt Karoline. Nur mit ihren Blicken hatten die Frauen sich verständigt, als hätte die eine gewusst, was die andere wollte.
Karoline hielt etwas Abstand und schaffte es tatsächlich die rot-tapezierten Treppen bis nach unten in einen kleinen, muffigen Raum, wo Männer und barbusige Frauen bei billigem Sekt über bezahlten Geschlechtsverkehr verhandelten. »Es war genau so, wie ich es erwartet hatte«, erinnert sich Karoline.
Fasziniert und mit offen stehendem Mund betrachtete Karoline die Szene, die sich vor ihr ausbreitete. Sodom! »Es dauerte keine zehn Sekunden«, erzählt sie, »da hatte mich der Zuhälter am Kragen.« Alexej war zwei Meter groß und halb so breit. Er schleifte die junge Frau, die sich sträubte wie eine Katze, mühelos in sein Büro – ein kleines Kabuff mit zwei Fernsehern und einem gewaltigen Ledersessel, in dem man die Kunden in den Nebenzimmern schreien und stöhnen hören konnte.
»Willst du ein Zimmer?«, hatte er sie angeblafft. Alexej machte keine rhetorischen Umwege. »Ich wollte nicht klein beigeben«, erinnert sie die Frau, »deswegen habe ich kein Wort gesagt, aber entschieden mit dem Kopf genickt.« Die Augen des bulligen Mannes verwandelten sich in Schlitze. Durch seinen Beruf war der Zuhälter ein Menschenkenner. Durch die schmal gezogenen Lider betrachtete er das junge, rebellische Mädchen mit dem schiefen Haarschnitt (»Judith hat sie mir damals geschnitten, um Geld zu sparen!«) und einer Menge schlecht aufgebracht Make Up.
»Sonst sah ich gut aus.« Und sie ist heute – obwohl im Ruhestand und raus aus der Branche – immer noch attraktiv: Schlank, eine modische Frisur in den dunklen Haaren, Rouge und Lippenstift wie vom Visagisten. Dazu sitzt sie in Cardigan und Jeans vor uns. Fast kokett. Aber nur fast, denn wir glauben ihr, wenn sie sagt, dass sie heute nicht mehr auf der Jagd nach Männern und ihrem Geld sei.
Damals war das anders. Sie war sexuell erfahren für ihr Alter, aber sonst taumelte sie durch ihr Leben. »Meine Erfahrungen mit Jungs und Männern waren eine einzige Enttäuschung«, sagt sie, »und auch das Abenteuer der Flucht von meiner Familie war bis dahin völlig glatt und langweilig gelaufen.« Sie hatte sogar einen Job – bei dem sie gewisse Freiheiten hatte. »Das war mir alles nicht genug, sonst hätte ich mich nicht mit einem erfahrenen Luden angelegt, der mich problemlos in der Luft hätten zerreißen können.«
Alexej fragte sie weiter aus mit seinem starken, russischen Akzent, über den sie sich zu amüsieren schien. Als er erfuhr, wie Karoline in das Lokal gekommen war, änderte er vermutlich seine Pläne. »Ich hatte das Gefühl, dass er Judith nicht kannte und keinen Kontakt zu ihr hatte«, meint Karoline. »Aber heute bin ich sicher, dass ich mich damals geirrt habe.«
»Er fragte mich, ob ich jemanden in Frankfurt kenne«, erzählt sie. »Und ich will sehen, dass du genug Mumm hast, Mädchen.« Alexej versuchte, sie mit dem Kinn zu steuern, wie ein fliegendes Kinderspielzeug. Sie verstand seine Gesten, aber zog durch, was sie am besten konnte: Trotz auf allen Kanälen. »Wir haben uns nur angesehen und ich hatte einfach nicht geantwortet«, sagt Karoline, »aber ich konnte ihm ansehen, dass er zufrieden mit mir war.«
»Danach hat er mir ein paar Hunderter in die Hand gedrückt.« Das sei die erste Miete für ihr Zimmer, erklärte der Zuhälter ihr und ließ sie in dem Büro vor dem Fernseher sitzen, während er »für Ordnung in seinem Laden« sorgte. »Er sagte immer solche Sachen, weil er glaubte, dass wir dummen Mädchen keine Vorstellung davon hatten, was er damit meinte.« Oft mahnte er seine Frauen mit Worten, aber es gab auch Tage, an denen er ihnen kurz und knapp in den Bauch boxte. Gleiches tat er – wenn auch mit weniger Vergnügen – bei barschen Kunden.
Spät in der Nacht fuhren sie in seinem alten, silbernen Mercedes mit nach Frankfurt. Von der Autobahn konnte Karoline die Skyline bewundern. Es war wie eine Reise zum Mond für sie. Es regnete und die Neonlichter im Bahnhofsviertel verdoppelten ihre Strahlkraft in den Spiegelungen der Pfützen. »Es war Automesse und die Straßen waren überfüllt mit Männern, die sich in die Laufhäuser drängten, obwohl es schon fast hell wurde.«
Der Mann zeigte seiner neuen Hure ein Zimmer hoch oben im fünften Stock unter dem Dach und fast ganz am Ende eines schlecht beleuchteten Korridors. »Ist es das, was du willst?«, fragte er und seine Stimme klang unnatürlich hoch im Gegensatz zu seiner riesigen Erscheinung.
Karoline starrte in einen Raum hinein, in dem ein kleines, schiefes Schränkchen stand und daneben ein Bett mit Gitterrahmen, das vermutlich aus einem Krankenhaus stammte und lieblos in blau-metallic angestrichen war. »Dann war da noch ein Waschbecken an der Wand und die Lampe mit der roten Glühbirne«, erinnert Karoline sich. Sie hatte die Wahl und sie trat einen Schritt vor, dass sie mitten im Zimmer stand, während der Lude auf seiner Seite im Flur stehen blieb.
»Ich hole dich ab, wenn du mit der Schicht fertig bist«, sagte der Mann, trat dann doch noch einen Schritt vor, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und war verschwunden. Sie stand allein zwischen Bett und Schrank und wusste nicht, was sie tun sollte.
»Dreißig für Blasen«, blaffte eine Stimme von der Tür zu ihr herüber. Karoline fuhr herum. »Ich hatte keine Angst und war auch nicht schüchtern«, berichtet die Frau, die von diesem Tag an zwanzig Jahre lang den Beruf einer Prostituierten ausüben würde. »Ich war erschreckt, wie einfach und schnell das alles ging.«
»Laufhäuser sind ein hartes Pflaster«, meint Karoline. »Ist die Tür auf, können die Männer sehen, was sie für ihr Geld bekommen.« Und wenn die Tür geschlossen ist, geht es darum, den Kunden mit so genannten Services so viel Geld wie möglich aus der Tasche zu ziehen und dann rasch dafür zu sorgen, dass die Tür wieder offen steht für den nächsten Interessenten.
»Wenn ein Kunde geht, dann hast du praktisch keine Minute für dich allein«, beschreibt Karoline die Arbeit im Frankfurter Bordell. »Ich konnte mir die Hände waschen und den Mund spülen«, erinnert sie sich. »Und dann schauten schon die nächsten Kerle gierig durch die Tür.« In Clubs ist das anders. Dort bleiben das Gespräch und die Drinks an der Bar, um die gemeinsamen Interessen auszuloten.
Um fünf Uhr in der ersten Nacht schlichen wenige Männer an ihrer Tür vorbei. »Du bist hier«, fragte Alexej, der mit verschränkten Armen auf dem Korridor gegenüber von ihrem Zimmer an der Wand lehnte und neugierig in den Raum schaute.
Karoline saß in ihrer schäbigen Unterwäsche auf dem Bett. Sogar ihre schwarzen Socken hatte sie noch an. Eine davon hatte ein Loch. »Ich habe es in dieser ersten Nacht einem Dutzend Kerlen mit dem Mund und der Hand besorgt«, erinnert sie sich. »Und nur zwei hatten gefragt, ob sie mich ficken könnten.« Aber auch diese beiden Männer hatte Karoline mit ihren anderen Fähigkeiten überzeugen und zufriedenstellen können.
Es brannte in ihrem Hals. Die Lippen waren geschwollen. Die war vollgepumpt mit Adrenalin, unglaublich müde und gleichzeitig emotional überwältigt von den Erlebnissen der letzten Stunden. »Wäre ich in der Nacht zum Arzt gegangen, hätte der mich wahrscheinlich wegen Schock eingewiesen.«
Das Zimmer in der »Nutten-WG« war genauso luxuriös eingerichtet, wie das Arbeitszimmer mit dem Gästebett, in dem sie vorher geschlafen hatte. Ihr Zuhälter behielt ein Drittel ihrer Einnahmen von dieser ersten und genauso von allen folgenden Nächten. »Wenn du so weitermachst, bist du ganz schnell hier raus«, sagte Alexej ihr und verschwand das zweite Mal in dieser Nacht.
Am nächsten Morgen schmerzen ihre Muskeln am Hals und am Kiefer. Sie hatte geschwollene Lippen und Augen, Migräne und einen bitteren Geschmack im Mund. »Als ich in die Küche kam und dort die blassen Mädchen mit ihren verhärteten Gesichtern gesehen habe, wusste ich erst, was ich in der Nacht zuvor getan hatte.« Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie in einen Spiegel von sich selbst schaute. Aber der erste Eindruck täuschte: »Ich bin herzlich aufgenommen worden und sie haben sich sehr um mich gekümmert.«
Karoline wurde eine Tasse schwarzer Kaffee in die Hand gedrückt und sie erzählte, wie sie nach Frankfurt gekommen war. Die Frauen liehen ihr billige Reizwäsche, die sie sich selbst hätte kaufen können. »Es gab später viele schlechtere Nächte als diese erste«, erzählt die Frau uns. Auch die erfahreneren Prostituierten in der großen Küche staunten, wie vielen Kunden sie es in der ersten Nacht besorgt hatte. »Und sie glaubten mir nicht, dass mich keiner von denen gefickt hat.«
»Ich lasse mich nicht vögeln«, hatte Karoline aus einer Laune heraus laut ausgesprochen, »gar nicht!« Die anderen lachten sie aus. »Das hältst du keinen weiteren Tag durch«, hatten sie darauf erwidert. Und: »Keine Chance!« Die Männer wollen entscheiden, wohin oder wo rein sie ihren Schwanz stecken, wenn sie dafür bezahlen.
Aber die junge Frau war gerne störrisch und mochte daher auch Prinzipien (je abwegiger, desto besser). Und sie hatte schon genug Erfahrungen mit Männern gemacht. »Es war eine fixe Idee, aber irgendwie wollte ich wissen, ob ich das durchhalte.« Auch weil sie nicht die geringste Lust hatte, dass Männer ihren Schwanz in sie stecken würden. »Es hätte mir ehrlich gesagt nichts ausgemacht«, sagt Karoline, »aber es machte mir damals wie heute einfach keinen Spaß.«
In den nächsten Tagen besorgte Alexej ihr die erforderlichen Papiere und brachte sie zum Gesundheitsamt. »Der Hurenpass wurde viel später eingeführt«, berichtet Karoline. Mit dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 wurde auch eine Anmeldung für diesen Beruf erforderlich, die von den Frauen als Hurenausweis oder Hurenpass bezeichnet wird. »Aber der Staat wollte schon immer seinen Anteil von unserem Gewinn haben, deswegen auch der ganze Papierkram.«
Ihr Zuhälter war so korrekt mit allem wie der Direktor eines Ordnungsamts. »Außer bei unserem Anteil. Da gab es durchaus mal Abweichungen«, sagt Karoline und lacht wenig und leise. »Sonderkosten« nannte Alexej das. Er zeigte immer Mitleid, wenn er seinen Mädels in einem Monat etwas mehr Geld abnehmen musste als per Handschlag vereinbart.
Karoline war schnell im Geschäft: »Ich war jung, sexy in der neuen Reizwäsche, obwohl ich sowas vorher noch nie getragen habe und hatte keinerlei Respekt vor den Männern«, berichtet sie von damals. Die aggressive und etwas widerspenstige wie wilde Art von ihr hat den Freiern gefallen. »Zuerst habe ich immer gesagt, dass ich keinen Geschlechtsverkehr machen wollte«, sagt Karoline. Viele Männer sind dann einfach gegangen. »Aber als ich gesagt habe, dass ich auf Blasen stehe, haben sie mir die Tür eingerannt.«
Viele Prostituierte bieten nur den schnellen Sex mit Kondom. »Mit etwas Training des Vaginalmuskeln und genug Saft in den Oberschenkeln, kannst Du jeden Mann in fünf Minuten zum Höhepunkt vögeln.« Was Karoline lieferte, erforderte weit mehr Geschick: »Es dauert länger und du musst eine große Show bieten, um die Kerle zu erregen.«
Immerhin schaut der Kunde genau hin, mit welchem Ausdruck im Gesicht sie sein bestes Stück in den Mund nimmt. »Wenn du ihn reitest, dann schaut er überall hin, aber nicht in dein Gesicht.« Die anderen Frauen konnten während der Arbeit so auch mal die Augen verdrehen, während bei ihr voller Einsatz gefragt war.
Sie blieb konsequent und verweigerte die Penetration durch einen Kunden. »Niemand in der WG glaubte mir, dass es auch langfristig ohne funktionieren würde.« Später schickten die Mitbewohnerinnen ihr sogar Männer, die speziell einen Blowjob wollten. »Das klingt komisch, aber ich habe das oft wirklich gerne gemacht«, sagt Karoline. »Du kannst den Männern dabei so tief in ihre Seele schauen«, sagt sie und fügt hinzu: »Nicht immer ein schöner Anblick.«
Bald hatte sie einen gewissen Ruf in der Szene. »Da war ich längst raus aus der Dachstube«, erzählt die Ex-Prostituierte. Vom Kämmerchen unter dem Dach zog sie schnell an einen besser frequentierten Platz im Erdgeschoss neben dem Eingang. »Neben mir hatten sich zwei junge Mädchen eingemietet, die sehr viel Geld für ein ziemlich eindrucksvolles Programm verlangt hatten«, berichtet Karoline von der wildesten Zeit in ihrer Nutten-Karriere. »Die haben auf lesbisch gemacht und es einem Großteil der Männer mit der Hand besorgt.« Dabei muss sie laut lachen. »Sie haben ihre Kunden sogar dazu gebracht, sich selbst anzufassen, während es die beiden ein wenig vor ihren Augen trieben.« Leichtes Geschäft im Vergleich zu dem, was sie bei Karoline für weit weniger Geld bekommen konnten.
Karoline bot soliden Oralverkehr ohne Schleifen und Rüschen. »Ich habe mich oft unten ohne gezeigt«, sagt sie. Um potenziellen (geilen) Kunden eine klare Botschaft zu senden, hatte sie die Idee, sich einen breiten Streifen silbernes Klebeband durch die Beine zu ziehen. »Später habe ich mir die Haut darunter dick eingecremt.« Anfangs hatte sie das Band kaum wieder von der Haut bekommen. »Das ist das Zeug, mit dem undichte Rohre repariert werden und Nägel an die Wand geklebt werden können.« Schlechte Idee, es sich direkt auf die Haut zu kleben und das an einer so empfindlichen Stelle.
»Ich hätte mehr Geld verlangen können, als die anderen.« Oral- und Analverkehr stehen höher im Kurs als der übliche Akt. »Aber ich wollte mich damit ja eigentlich nicht gegenüber meinen Kolleginnen herausheben.«
Marketingexperten würden diese Situation ganz anders beurteilen: Statt bei Karoline von einem Fehler zu sprechen, weil sie keine Lust auf normalen Geschlechtsverkehr mit ihren Kunden hatte, würde ein Werbefachmann ihren spezielleren Service als Feature (Vorteil) verkaufen.
»Ich würde schätzen, dass maximal ein Drittel der Prostituierten Blowjobs anbieten«, schätzt Karoline. Wobei die Zahl derer, die es bis zum Höhepunkt durchhalten (wegen Kondomen als Reiz- und Orgasmus-Bremse), deutlich niedriger liegen dürfte. »Und schlucken tut niemand«, betont sie, »schließlich ist das viraler Selbstmord.«
Ein guter Punkt, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, weil Risiken und Probleme der Prostitution nicht Thema dieses Buches sein sollen. Sie hatte sich nicht darum gekümmert. Ekel ist ein Fremdwort für sie – definitiv. Also sprechen wir kurz über reines Glück: Karoline hat ihre Zeit gesund überstanden. »Nicht gefährlicher als Bus zu fahren«, beendet sie diesen Abschnitt. Wir bleiben trotzdem anderer Meinung, auch wenn wir im Vergleich zu der Frau keinerlei praktische Erfahrung mit diesem Beruf und seinen Risiken besitzen.
Fast zwanzig Jahre hat sie durchgehalten, ohne einen einzigen Kunden in sich eindringen zu lassen. Deswegen fragen wir die Frau nach den richtigen Rezepten, wenn mal keine Vagina am Spiel beteiligt sein soll. Und wir bekommen zwei Antworten: »In beiden Fällen die Vorhaut so weit wie möglich zurückziehen«, erklärt Karoline sachlich. »Wirklich empfindlich ist nur der Bereich von der Spitze der Eichel bis dort, wo die äußere Haut des Penis anfängt.« Um den Rest vom Zipfel brauche Frau sich nicht zu kümmern.
Mit der Hand können entweder schnelle Striche über diese durch das Zurückziehen freigelegte Haut erfolgen. Die meisten Männer können diese Behandlung nicht lange ertragen. »Oder die Eichel wird mit viel zähem Gleitgel kräftig zwischen den Fingern massiert wie ein Stück Knete.«
Wir lauschen einer Expertin mit der Erfahrung dutzender Ejakulationen pro Abend. Sich nur auf den Penis zu fokussieren, sei die falsche Strategie. »Es mögen nicht viele Männer, wenn man ihnen einen Finger oder zwei in den Anus schiebt.« Aber wenn sie es mögen, dann sollte sich die Partnerin auf jeden Fall bis zur Prostata vortasten. »Dann kommt meistens ein überraschter Aufschrei«, meint Karoline, weil Männer die Berührung dieser Drüse nicht unbedingt gewöhnt sind. Obwohl die Prostata tatsächlich und offiziell zu den Geschlechtsorganen gehört, wird sie von Freundinnen und Ehefrauen kaum beachtet.
Ist der Hintern und das dahinter keine Option, kann die zweite Hand sich mit den Hoden beschäftigen. »Ein kräftiger Griff wirkt Wunder«, meint die ehemalige Profi-Prostituierte. Mit den Fingern einen Ring über den »Nüssen« (wie sie es nennt) bilden und dann leicht (oder auch kräftiger) nach unten ziehen. In unserem Kopf schweifen wir zurück zu den Machenschaften, die uns Paare für unsere Bücher über BDSM (Bondage, Dominanz, Sadismus und Masochismus) offenbart hatten. »Auch Zusammendrücken erregt die meisten Männer.« Es muss ja nicht zu kräftig sein.
Diese Konzentration auf Schwanz und Hodensack führe mehr oder weniger schnell zum Orgasmus. »Ich hatte eine Zeit, da hatte ich so viel Routine, dass die meisten Kerle nach ein paar Minuten gekommen sind«, erzählt Karoline. Um Kunden nicht zu vergraulen und sie nicht als überempfindliche Sensibelchen dastehen zu lassen, musste sie ihr Tempo drosseln. »Irgendwann wird das zur Akkordarbeit und du willst nur, dass es schnell vorbei ist und der Kunde so stark wie möglich abspritzt.« Und wenn Karoline dann begeistert jubelte, klatschte oder sich das Ejakulat aus dem Gesicht wischen musste, hagelte es Trinkgeld.
Besonders zur Messe-Zeit herrschte in der Mainstadt reger Besucher-Betrieb. Tür auf, Kunde rein, rubbeln, abspritzen, Kunde raus und bei offener Tür auf den nächsten warten. »Du verlierst völlig den Blick dafür, dass der Mann etwas erotisches erleben will«, meint Karoline.
Mit ihren kräftigen Armen wurde sie »draußen« oft für eine Tennisspielerin gehalten. »Das lag auch daran, weil ich mir viel teure Kleidung und eine Menge Schmuck gekauft habe.« Wie das Geld hereinkam, so flatterte es auch wieder aus ihrer Geldbörse heraus. »Ich konnte wahrscheinlich nicht sparen, weil ich mein Geld einfach zu leicht verdient habe.« Kirschtorte haben wir bei ihren Worten im Kopf.
Kam ein Kunde zu schnell, versuchte sie gelegentlich einen zweiten Orgasmus. »Das ist ein richtig mühseliges Geschäft«, weiß die Frau. »Männer sind alles, aber in den wenigsten Fällen zu einem zweiten Orgasmus fähig.« Schon nach der ersten Ejakulation musste sie viele Herren völlig von ihrer Kraft beraubt aus dem stickigen Zimmer heraus zurück in den Flur schieben. »Es passierte gelegentlich, dass die Männer dort einschliefen.« Schließlich war der Besuch bei einer Prostituierten nicht nur eine Sache der Hormone, sondern oft war auch eine Menge Adrenalin im Spiel, das sich am Ende, wenn das Geld übergeben war, schlagartig abbaute und eine Vertiefung in der Größe eines schwarzen Lochs in den Chemiehaushalt des Mannes riß.
»Ein Kunde ist mir beim Sex gestorben«, berichtet Karoline. »Ich hatte mich gewundert, warum seine Erektion sich so plötzlich in Luft aufgelöst hatte.« Als sie ihre Beobachtung dem Notarzt erklärte, meinte der, dass der Patient (kurz vorher noch Kunde) den Herzinfarkt vermutlich schon mindestens zehn Minuten vorher erlitten habe.
Karoline schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und dreht den Kopf weg, um wenigstens ein wenig Anstand dem Toten gegenüber zu zeigen. Trotzdem sehen wir, wie sie das Lachen hinunter würgt. »Halb so schlimm«, sagt sie. Der Freier sei bereits Ende achtzig gewesen. »Vielleicht hätte er sein Ding besser in weiches Fleisch stecken sollen.« Aber er hatte sich auf die wichsende Karoline eingelassen, die ihren Kunden zumindest mit der Hand einen knallharten Orgasmus bescheren konnte. »Es wäre toll gewesen, wenn es mal einer bis zur Decke geschafft hätte.« Das Erzähl-Spektrum der Frau reicht in wenigen Sätzen von Leichen bis zu Weltrekorden. Wir sind schwer beeindruckt.
»Mit dem Mund läuft das anders«, erklärt sie weiter, als hätte sie kurz vorher überhaupt nicht von sterbenden Männern gesprochen. »Wenn man seine Halswirbel liebt, sollte man auch da mit der Hand möglichst viel vorarbeiten.« Ein Kunde durfte sich um den Streifen Klebeband zwischen ihren Beinen herumtasten. »Den brauchte ich gar nicht mehr hart anfassen«, berichtet die Frau. »Als ich mich seinem Penis mit dem Mund näherte, spritzte er mich schon an, so erregt war der.«
Eine »gewisse Erregung« sollte der Mann haben, bevor Lippen, Zunge und Rachen ins Spiel eingebracht werden. »Ich glaube, dass viele Frauen viel zu sanft dabei sind.« Die Leckerei entlang der gesamten Erektion, die in Pornos oft gezeigt wird, mag die Männer zwar erregen, würde aber für einen kräftigen Höhepunkt nicht genügen.
»Am Anfang habe ich viele Freier nur durch langes, zartes Lecken zum Höhepunkt gebracht.« Das hat nicht nur unwirtschaftlich lange gedauert. Die meisten seien frustriert gewesen, weil der Höhepunkt sich wie »ein Schuss ins Leere« angefühlt habe. »Später bin ich erst drauf gekommen, dass man auch mit dem Mund hart ficken kann«, erklärt uns die Frau und schaut so tief in unsere Augen, dass wir freiwillig und sofort mit dem Kopf schütteln, um zu zeigen, dass wir keine Ahnung von dem haben, was sie uns damit sagen will.
»Am einfachsten ist es, die Eichel in den Mund zu nehmen und sie mit der Zunge an den Gaumen zu drücken.« Dabei bewege man die Zunge gleichzeitig hin und her, dass die Spitze des männlichen Geschlechts durchaus heftig massiert wird. »Nicht zu lange machen, wenn man keine Übung darin hat«, meint Karoline, denn eine Überanstrengung bei dieser Kopf-Mund-Hals-Gymnastik sei ein Auslöser von bösartiger Migräne. »Ich habe Sonnenaufgänge erlebt, da wollte ich mir vor Schmerzen den Kopf abhacken und das Genick gleich mit.« Allerdings können wir nicht bestätigen, dass diese drastische Maßnahme gegen die Schmerzen hilft.
»Und wenn man das Ding tief reinschiebt, dann geht es trotzdem darum, so intensiv wie möglich zu massieren.« Karoline ist überzeugt, dass sie sogar mit der Wurzel ihrer Zunge weit hinten im Rachen die Penisse ihrer Kunden mit wellenartigen Bewegungen stimulieren konnte. Wir lassen uns auf keine Diskussion ein, weil wir keine Experten für die menschliche Anatomie und die Muskeln im Halsbereich sind.
»Das fand ich immer schrecklich«, erklärt sie. Für Kunden, die einfach nicht kommen wollten, funktionierte sie ihr Gesicht zum Vagina-Ersatz um und ließ sich in den Mund penetrieren. »Das Gestoße hält man nicht lange aus.« Wobei sich die Nebenwirkungen in einem Spektrum vom Würgen (»ich habe dabei sogar manchmal kotzen müssen«) bis zu ernsthaften Langfristschäden an der Halswirbelsäule bewegen.
»An der Stelle bin ich glücklicherweise robust«, meint Karoline. Andere Kolleginnen mussten sich mit Wärmepflastern, Schmerzmitteln, Physiotherapie und eine sogar mit einer Hals-OP helfen lassen, weil sie sich auf Oralverkehr mit ihren Kunden einließen. Bitte beachten: Wir reden nicht über ein- bis zweimal pro Woche, sondern ein- bis zweimal pro Stunde!
»Hobby-Fußballer verschlingen auch die Budgets der Krankenkassen«, kanzelt Karoline das Thema ab. Außerdem wechselte sie meistens auf Handbetrieb, wenn mit dem Mund das Ziel nicht schnell genug erreicht werden konnte. »Gesund ist wichtiger als zufriedene Kunden.«
Wir ordern mehr schwarzen, süßen Tee und einen weiteren Teller mit gemischten Baklava. Den ersten hat Karoline alleine geleert, worin sie bei ihrer guten Figur allerdings nicht viel Übung haben dürfte. »Erzählen macht mich immer hungrig«, errät sie auch hier unsere Gedanken. »Als Prostituierte entwickelt man ein sehr gutes Gespür für Menschen«, erklärt sie uns. »Das ist in diesem Geschäft lebensnotwendig.«
Die Lust verging ihr früh in dieser Lust-Branche. »Ich bin ganz und gar nicht feindlich gegenüber Männern eingestellt«, behauptet die Prostituierte, »aber ich hatte jeden Tag Verkehr mit einem Dutzend von ihnen und dann hat man im Privatleben nicht auch noch das Bedürfnis, mit einem Mann ins Bett zu steigen.« Karoline jedenfalls nicht.
Dazu kam ihre fest eingebaute Unrast: »Wenn ich in eine neue Stadt gezogen bin, hatte ich schon wieder den nächsten interessanten Ort im Kopf.« Hinzu kommt, dass sie (»weil seit meinem Einstieg in die Branche frei von jeder Familie«) ihr ganzes Geld in Urlaube steckt. »Ein Freund hat da einfach nicht gepasst und der hätte wahrscheinlich gar nicht mithalten können bei meinem Tempo.« Karoline verdiente gut und lebte einfach – oft in Zimmern zusammen mit Kolleginnen oder später in kleinen Wohnungen, die meistens nur aus einem Wohn-Schlafzimmer und einem Bad bestanden. »Rasenmähen und Putzen sind keine Sachen, mit denen ich mich gerne beschäftige.« Außerdem war sie so gut wie nie zu Hause, außer zum Schlafen, Duschen und schon war sie wieder auf Achse.
So blieb sie – bis auf einen »Haufen Freundinnen« – all die Jahre »allein und ziemlich zufrieden damit«. Unter der Matratze hatte sie nicht mal einen Vibrator. »Selbstbefriedigung praktiziere ich nicht so richtig«, sagt sie entschieden und wir zweifeln nicht an dieser Aussage. Bei der Arbeit waren wenige Kontakte als Inspiration geeignet. Allerdings gab es Nächte, in denen sie verschwitzt und erregt aufwachte. »Ich träume sehr intensiv, kann mich aber, sobald ich aufgewacht bin, kein bisschen an das Geträumte erinnern.«
Seltener als Männer haben aber fast vierzig Prozent aller Frauen feuchte Träume (dazu gibt es tatsächlich ausführliche Studien). »Ich glaube, ich habe sogar Orgasmen im Schlaf«, berichtet Karoline als eine von ihnen.
Einmal im Monat reißt sie die sexuelle Erregung aus dem Schlaf. Und um wieder zur Ruhe zu kommen, legt sie dann öfters Finger oder die Hand an sich selbst an. »Das ist ein wenig wie Sex mit einem Unsichtbaren«, sagt sie. »Aber vor den Spiegel stellen und mein Genital aktiv erkunden, würde ich niemals.«
»Auch die Vorstellung, ein Fremder würde mich dort anfassen, war mir lange zuwider«, erklärt sie. Nach zu vielen erfolglosen Befriedigungs- und Orgasmusversuchen ihrer frühen Freunde in der Schule hat sie es für längere Zeit aufgegeben. Und damit kein Kunde den Versuch wagte, sie auch nur anzufassen, drückte sie sich das Klebeband auf das Schambein, schob mit den Fingern ihre Schamlippen zusammen und verklebte ihre Vagina, damit sie unerreichbar für die Freier wurde.
»Das mit dem silbernen Klebeband habe ich nur eine gewisse Zeit gemacht, weil es ziemlich scharf ausgesehen hat«, berichtet Karoline. Mehrere Jahre trug sie enge Hotpants aus Latex oder einen Slip aus dickem Spaltleder im Domina-Look. »Ich war beim Shoppen immer auf der Suche nach Kleidung, die sexy ist und den Zugriff da unten so gut es ging versperrt.« Eine große Auswahl, die auf diese Kriterien zutraf, gibt es nach ihrer Aussage nicht.
»Einmal habe ich in einem SM-Sexshop einen Keuschheitsgürtel gesehen und ihn dann auch gekauft.« Es war eine aufwändige Version mit angebautem Dildo für dominante Penetrations-Spiele. »Der erste Kunde an dem Abend hat mich für eine Transe gehalten«, sagt sie, »und der zweite hat angewidert geschaut und mich gebeten, das Teil zumindest unter einem Rock zu verstecken oder gleich ganz auszuziehen.« Um dieses Outfit bei der Arbeit tragen zu können, hätte Karoline vom klassischen Sex-Gewerbe auf die dunkle Seite des Sadomasochismus wechseln müssen.
»SM hat mich auch eine recht lange Zeit interessiert, weil die Damen dort gar keinen sexuellen Kontakt zu ihren Kunden haben.« Sie ging sogar bei einer erfahrenen Dame kurz in die Lehre und brachte ein paar Sessions mit zahlenden, unterwürfigen Männern hinter sich. »Das Rollenspiel und die Gewalt gefallen mir nicht.« Karoline will bei der Arbeit die Männer beobachten, wie sie erregt sind und kommen – entweder in ihre Hand oder oft auch in ihr Gesicht. »Es macht mich schon geil, aber auf eine eher geistige Art und Weise«, behauptet sie von sich.
Als wir nach Ausnahmen ihrer strikten Hand-Mund-Regel fragen, reagiert Karoline entschieden: »Keiner, der mich bezahlt hat, durfte an meine Muschi ran.« Kein einziger ist an ihren Unterleib herangekommen. »Mir hat das nichts gegeben«, wiederholt die Frau, was sie uns vorher bereits gesagt hatte. »Ich fand kopulieren einfach Scheiße.« Sonst hätte der Freizeitsex vielleicht doch stattgefunden.
Deutliche Worte, aber sie sollte ihre Haltung dazu ändern. »Da war ich zum zweiten Mal in Hamburg«, erinnert sie sich. Uns zählt sie nur ein paar Stationen ihres Lebens auf: Nach Frankfurt ging sie nach Barcelona, von dort zurück nach Bonn, dann London, New York, ein paar andere Städte in den USA (»dicken, doofen Patrioten das Geld aus der Tasche ziehen«) und dann im Sprint durch ein paar Städte in Deutschland.
»In Hamburg stehst du im Winter, im Wind und im Regen auf der Straße«, sagt sie. »In Berlin traktieren dich den ganzen Tag die Beamten.« Sie wollte wieder ein Zimmer in einem Laufhaus. »Vielleicht nicht unten direkt am Eingang«, sagt sie. »Ich war da ja auch nicht mehr ganz jung, aber immer noch gut in Schuss.« Das Bordell mit vielen kleinen vermieteten Zimmern, durch das die Kunden über die Korridore streifen in München, das hatte nach zwei Wochen wieder dicht gemacht. »Die Bayern kennen sowas nicht.« Außerdem lag das Gebäude nicht wie in Frankfurt mitten in der Stadt, sondern an einer Schnellstraße hinter der Leitplanke.
Fast wäre die Frau noch einmal nach Frankfurt gezogen, aber die Stadt hatte ihr nie richtig gefallen. »Also wieder in Lackstiefeln auf der Straße stehen und den Kopf durch Autofenster schieben.« Das Rotlichtviertel in Hamburg war da schon längst in der Hand von Touristen. »Musicals gab es seit Mitte der achtziger Jahre in dem Viertel«, erklärt Karoline uns und meint die singenden und tanzenden Katzen, die sich auf der Reeperbahn breit machten. Das Phantom zündete wenig später ganz in der Nähe und loderte ganze elf Jahre lang.
»Ich habe anfangs an einem Abend zwischen fünfzig und hundert Mark mit Touristen verdient, die nur ein Foto mit einer ordentlichen Nutte machen wollten.« Fotos gab es für einen kleinen Schein oder einen Heiermann – der Begriff für ein Fünf-Mark-Stück leitet sich vermutlich vom hebräischen Buchstaben »he« ab, der auf Position fünf des jiddischen Alphabets steht und einfallslos »fünf« bedeutet.
An einem Wochenende hatte Karoline intensiven Foto-Kontakt zu einer Männergruppe, die einen Ausflug in die Hauptstadt des Nordens machte. »Die kamen mehrmals am Tag vorbei«, erinnert sie sich, »aber keiner von denen wollte ausscheren und mit mir auf das Zimmer gehen.« Als genug Fotos gemacht waren, haben sich die Männer mit Karoline und ihren Kolleginnen nur noch nett unterhalten, bevor sie sich zur nächsten Sehenswürdigkeit aufmachten.
Einer stach aus der Gruppe heraus: »Er war klein, stämmig und hatte fast schwarze Augen«, erzählt die Prostituierte. »Und er war unglaublich zurückhaltend und unglaublich höflich.« Um vier Uhr schmerzen ihre Füße von den billigen, hohen Stiefeln und der Frost sammelte sich auf der blank rasierten Haut unter dem Minirock. »Ich war abgehärteter als ein Soldat von der Bundeswehr.« Aber irgendwann wurde es einfach nur zu kalt.
Als sie auf dem spitzen Absatz drehte, um sich auf den Weg nach Hause ins eigene Bett zu machen, stand der Mann plötzlich alleine vor ihr. »Er hat mir sofort gefallen«, sagt Karoline, die damals auch gerne noch ein letztes Geschäft mitgenommen hätte.
Deal! Aber: »Er hatte nicht mal den Mantel ausgezogen, als er sich rücklings auf das Bett gelegt hatte«, erzählt sie. »So aufgeregt ist er gewesen.« Oder müde von den anderen, zahlreichen Sehenswürdigkeiten in der Hansestadt.
Karoline ließ sich Zeit. Vor der Tür warteten keine weiteren Kunden und der Himmel färbte sich hinter den zerschlissenen Metalljalousien bereits grau. »So lange hatte ich seit Jahren nicht mehr gebraucht, bis ein Mann keine Hose mehr anhatte.« Trotz Gerüchten, die durch amerikanische Kitschfilme entstanden sind, liebte sie es, während der Arbeit auf den Mund zu küssen. »Es gab nicht viele Kunden, die mitmachten, weil die meisten gleich zur Sache kommen wollten.«
Dieser Mann war anders. »Wir haben uns lange und zärtlich geküsst«, erzählt Karoline. »Und ich hatte es mir total versaut, weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dem Typen nicht vorher das Geld abgenommen zu haben.« Trotz dieser Ablenkung ging es ihr unter die Haut, was zwischen den beiden passierte. »Er roch gut und er hatte tolle Hände, mit denen er mich fantastisch gestreichelt hat.« Diese Nummer lief definitiv anders als alles, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte.
»Klar hatte ich Beziehungen«, schiebt Karoline ein Kapitel über ihr Privatleben in dem Moment dazwischen, als wir uns neugierig mit weit geöffneten Augen zu ihr herüber beugten (Stefan drückte einen Baklava mit dem Ellenbogen platt, der vom Teller auf den Tisch gerutscht war). »Aber durch die Arbeit im Bordell war ich schon ziemlich auf Frauen fixiert.«
Männer waren Ware in ihren Augen. Sie sah zu viele Lustmolche mit schlechten Manieren, die sich nicht anständig benehmen mussten, weil sie für Sex zahlten, den sie selbst für Liebe und Zuneigung hielten.
---ENDE DER LESEPROBE---