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Die Polizei zieht Privatermittlerin Holly Gibney zurate. Ein anonymes Schreiben hat eine Mordserie angekündigt. Das erste Opfer ist eine unbescholtene Frau, in der Hand hält sie einen Zettel. Der Name darauf verweist auf eine Geschworene, die an der Verurteilung eines Unschuldigen beteiligt war, der im Gefängnis erstochen wurde. Der verrückte Täter tötet als „Sühneakt“ wahllos Ersatzopfer anstelle der Geschworenen? „Die Schuldigen am Tod des Unschuldigen sollen leiden“, hieß es. Das Morden geht weiter. Während Holly fiebrig das Puzzle zusammensetzt, hat sie auch alle Hände voll damit zu tun, Anschläge auf eine Feministin abzuwehren, der sie als Personenschützerin dient. Wie zielgerichtet strebt alles auf eine einzige große Katastrophe zu.
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Seitenzahl: 786
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Die Polizei zieht Privatermittlerin Holly Gibney zurate. Ein anonymes Schreiben hat eine Mordserie angekündigt. Das erste Opfer ist eine unbescholtene Frau, in der Hand hält sie einen Zettel. Der Name darauf verweist auf eine Geschworene, die an der Verurteilung eines Unschuldigen beteiligt war, der im Gefängnis erstochen wurde. Der verrückte Täter tötet als »Sühneakt« wahllos Ersatzopfer anstelle der Geschworenen? »Die Schuldigen am Tod des Unschuldigen sollen leiden«, hieß es. Das Morden geht weiter. Während Holly fiebrig das Puzzle zusammensetzt, hat sie auch alle Hände voll damit zu tun, Anschläge auf eine Feministin abzuwehren, der sie als Personenschützerin dient. Wie zielgerichtet strebt alles auf eine einzige große Katastrophe zu.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.
Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-Bestseller Ihr wollt es dunkler.
STEPHENKING
ROMAN
Aus dem Amerikanischenvon Bernhard Kleinschmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
NEVERFLINCH
bei Scribner, New York.
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Copyright © 2025 by Stephen King
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleichPflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Lothar Strüh
Umschlaggestaltung:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung von Motiven von © shutterstock
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-33406-2V001
Für Robin Furth,mit herzlichem Dank für die ganze harte Arbeit
Es ist März, und das Wetter ist miserabel.
Wie an jedem Werktag trifft sich der Straight Circle von vier bis fünf Uhr nachmittags im Untergeschoss der Methodistenkirche in der Buell Street. Eigentlich ist es ein Meeting der Narcotics Anonymous, aber es kommen auch viele Alkoholiker; normalerweise ist der Raum gerammelt voll. Seit Ende letzter Woche ist es dem Kalender nach Frühling, aber in Buckeye City – gelegentlich als Zweiter Schandfleck am See bezeichnet; der erste ist Cleveland – kommt der echte Frühling spät. Als das Meeting endet, hängt ein feines Nieseln in der Luft. Bei Anbruch der Dunkelheit wird es sich verdichten und in Schneeregen übergehen.
Zwei bis drei Dutzend Teilnehmer versammeln sich vor dem Eingang am Aschenbecher und stecken sich eine an, weil Nikotin eine von zwei Süchten ist, die ihnen geblieben sind, und nach einer Stunde im Untergeschoss brauchen sie eine Kippe. Andere, die Mehrheit, wenden sich nach rechts und steuern The Flame an, das Café eine Straße weiter. Kaffee ist die andere Sucht, der sie sich noch hingeben können.
Einer der Teilnehmer wird von Reverend Mike aufgehalten, der dieses und viele andere Meetings regelmäßig besucht; der Rev ist genesender Opioidabhängiger. Bei den Treffen (er nimmt täglich an zweien oder sogar dreien teil, auch an den Wochenenden) stellt er sich mit den Worten vor: »Ich liebe Gott, aber sonst bin ich nur ein stinknormaler Süchtiger.« Damit erntet er immer vielköpfiges Nicken und zustimmendes Gemurmel, wobei manche langjährige Teilnehmer ihn ein bisschen ermüdend finden. Sie nennen ihn Blaubuch-Mike, weil er die Angewohnheit hat, lange Passagen aus dem AA-Handbuch zu zitieren, und zwar wörtlich.
Der Rev drückt seinem Gegenüber fest die Hand. »Hier in der Gegend seh ich dich nur selten, Trig. Du wohnst offenbar auf dem Land.«
Dem ist keineswegs so, aber das sagt Trig nicht. Er hat seine Gründe, Meetings außerhalb der Stadt zu besuchen, wo man ihn wahrscheinlich nicht erkennen wird, nur war heute ein Notfall – zu einem Meeting gehen oder etwas trinken, wobei es nach dem ersten Glas diese Wahlmöglichkeit nicht mehr gegeben hätte. Das weiß er aus Erfahrung.
Mike legt ihm die Hand auf die Schulter. »Als du dich vorhin gemeldet hast, Trig, hast du dich ziemlich mitgenommen angehört.«
Trig ist sein Spitzname aus der Kindheit, mit dem er sich am Anfang von Treffen vorstellt. Selbst wenn er außerhalb der Stadt an einem AA- oder NA-Meeting teilnimmt, sagt er nur selten mehr als das. Im Allgemeinen beschränkt er sich auf den Satz »Ich will heute bloß zuhören«, aber an diesem Nachmittag hat er die Hand gehoben.
»Ich heiße Trig, und ich bin Alkoholiker.«
»Hallo, Trig«, haben die anderen geantwortet. Sie saßen zwar im Untergeschoss, nicht in der eigentlichen Kirche, trotzdem herrschte eine Atmosphäre wie bei einem Erweckungsgottesdienst. Im Grunde ist der Straight Circle ja auch die Kirche derer, die auf die Schnauze gefallen sind.
»Ich will bloß sagen, dass ich heute etwas aufgewühlt bin. Mehr will ich nicht verraten, aber das musste ich mit euch teilen. Tja, das wär’s.«
Die anderen murmelten Danke, Trig und Halt die Ohren steif und Komm bald wieder.
Jetzt erzählt Trig dem Rev, er sei so durcheinander, weil er erfahren habe, dass ein Bekannter gestorben sei. Als sich der Rev nach Einzelheiten erkundigt – richtig danach bohrt –, erklärt Trig lediglich, die Person, um die er trauere, sei im Knast gestorben.
»Ich werde für ihn beten«, sagt der Rev.
»Danke, Mike.«
Trig macht sich auf den Weg, geht jedoch nicht zum Café; drei Straßen weiter steigt er die Stufen zur öffentlichen Bibliothek hinauf. Er muss sich eine Weile hinsetzen und über den Mann nachdenken, der am Samstag gestorben ist. Der am Samstag ermordet wurde, erstochen in der Gefängnisdusche.
Im Zeitschriftensaal findet er einen freien Platz und greift sich ein Exemplar der Lokalzeitung, um etwas in der Hand zu halten. Auf der Seite vier findet er einen Bericht über einen verschwundenen Hund, der von Jerome Robinson, Mitarbeiter einer Detektei namens Finders Keepers, aufgespürt wurde. Auf dem begleitenden Foto ist ein lächelnder, gut aussehender junger Schwarzer zu sehen, der den Arm um einen großen Hund legt, vielleicht einen Labrador Retriever. Die Überschrift besteht aus einem einzigen Wort: WIEDERGEFUNDEN!
Trig starrt nachdenklich vor sich hin.
Vor drei Jahren hat in dem Blatt da sein richtiger Name gestanden, aber niemand hat jetzt eine Verbindung zwischen dem Mann von damals und dem gezogen, der außerhalb der Stadt AA-Treffen besucht. Weshalb auch, selbst wenn die Zeitung damals ein Foto von ihm gebracht hat? Der Mann darauf trug einen leicht ergrauenden Bart und Kontaktlinsen, die jetzige Version ist glatt rasiert, trägt eine Brille und sieht jünger aus (dazu kommt es, wenn man mit dem Trinken aufhört). Die Vorstellung, jemand Neues zu sein, gefällt ihm, lastet jedoch auch auf ihm. Das ist das Paradox, mit dem er lebt. Das und die Gedanken an seinen Vater, die ihm in letzter Zeit immer häufiger in den Kopf kommen.
Lass es, denkt er. Vergiss es.
Heute ist der 24. März. Das Vergessen wird nur vierzehn Tage anhalten.
Am 7. April sitzt Trig auf demselben Stuhl im Zeitschriftensaal und starrt auf den Aufmacher der gestrigen Sonntagsausgabe. Die Schlagzeile teilt nicht einfach etwas mit, sie schreit es hinaus. BUCKEYE-BRANDON: WARERMORDETERGEFÄNGNISINSASSEUNSCHULDIG? Trig hat den Artikel dreimal gelesen und sich ebenso oft den Podcast von Buckeye-Brandon angehört. Der selbst ernannte »Outlaw der Ätherwellen« hat die Story als Erster gebracht, und laut ihm kann von einem Fragezeichen keine Rede sein. Ob die Sache stimmt? Angesichts der Quelle wird das wohl so sein, denkt Trig.
Was du da vorhast, ist völlig irre, sagt er sich. Was auch zutrifft.
Wenn du das tust, gibt es kein Zurück mehr, sagt er sich. Was ebenfalls zutrifft.
Sobald du angefangen hast, musst du weitermachen, sagt er sich, und das trifft erst recht zu. Es ist das Mantra seines Vaters: Man zieht alles bis zum bitteren Ende durch, da darf’s kein Zurückschrecken geben.
Aber … was käme da auf ihn zu? Was bedeutete es für ihn, so etwas zu tun?
Er muss noch eine Weile nachdenken. Nicht nur um sich Klarheit darüber zu verschaffen, was er im Sinn hat, sondern auch um einen zeitlichen Abstand zwischen dem zu schaffen, was er durch Buckeye-Brandon (und den Zeitungsartikel) erfahren hat, und den Taten – den Gräueln –, die er eventuell begehen wird. Damit niemand eine Verbindung zu ihm zieht.
Unwillkürlich fällt ihm die Überschrift des Berichts über den jungen Mann ein, der den gestohlenen Hund aufgespürt hat. Die war die Einfachheit selbst: WIEDERGEFUNDEN! Trig gehen drei Dinge im Kopf herum – was er verloren hat, was er getan hat und dass er Wiedergutmachung leisten muss.
Inzwischen ist es April. Im Zweiten Schandfleck am See schmelzen endlich die letzten Schneereste.
Höflicherweise klopft Izzy Jaynes kurz mit dem Fingerknöchel an die Tür ihres Vorgesetzten, bevor sie, ohne zu warten, eintritt. Lewis Warwick fläzt zurückgelehnt in seinem Sessel, einen Fuß auf der Schreibtischecke und die Hände locker über dem Bauch gefaltet. Er sieht aus, als würde er meditieren oder mit offenen Augen träumen. Vielleicht tut er das ja tatsächlich, denkt Izzy. Als er sie sieht, richtet er sich auf und stellt den Fuß auf den Boden, wo er hingehört.
»Isabelle Jaynes, meine beste Mitarbeiterin! Willkommen in meiner Höhle.«
»Zu Ihren Diensten.«
Sie beneidet ihn nicht um sein Amt, weil sie weiß, wie viel bürokratischer Mist damit verbunden ist, begleitet von einer so kleinen Gehaltserhöhung, dass man sie fast als nominell bezeichnen könnte. Daher gibt sie sich gern mit ihrem Arbeitsplatz im Erdgeschoss zufrieden, wo sie mit sieben weiteren Detectives sitzt, darunter Tom Atta, mit dem sie zurzeit ein Team bildet. Begierde weckt in ihr lediglich Warwicks Schreibtischsessel, der mit seiner hohen, der Wirbelsäule schmeichelnden Rückenlehne und der Kippfunktion bestens zur Meditation geeignet ist.
»Was kann ich für Sie tun, Lewis?«
Warwick nimmt einen braunen Umschlag vom Tisch und reicht ihn ihr. »Sie können mir dazu Ihre Meinung sagen. Offen, und ohne sich zurückzuhalten. Den Umschlag können Sie gern anfassen, den haben schon der Postbote, Evelyn bei euch unten und wer weiß wie viele andere in den Pfoten gehabt, aber den Inhalt sollte man eventuell auf Fingerabdrücke untersuchen. Je nachdem, was Sie dazu sagen.«
Adressiert ist der Umschlag in Blockschrift an LIEUTENANTLOUISWARWICK, COURTPLAZA 19. Unter der Angabe von Stadt, Staat und Postleitzahl steht in noch größeren Buchstaben: VERTRAULICH!
»Was ich dazu sage? Der Chef sind doch Sie, Chef.«
»Ich will mich auch gar nicht drücken, natürlich ist es meine Entscheidung, aber ich schätze eben Ihr Urteil.«
Der Umschlag ist aufgerissen worden. Ein Absender ist nicht angegeben. Vorsichtig faltet Izzy das einzelne Blatt Papier auseinander und hält es an den Rändern hoch. Der Text darauf ist gedruckt worden, höchstwahrscheinlich mit einem normalen Computerdrucker.
An: Lieutenant Louis Warwick
Von: Bill Wilson
Cc: Chief Alice Patmore
Meiner Meinung nach sollte die Blackstone-Formel abgeändert werden. Ich glaube, UNSCHULDIGE sollten für den ungerechtfertigten TOD eines Unschuldigen büßen. Sollten diejenigen, die diesen Tod verursacht haben, selbst getötet werden? Ich glaube nicht, denn dann wären sie nicht mehr am Leben und könnten nicht mehr darunter leiden, was sie getan haben. Das gilt selbst dann, wenn sie mit bestem Willen gehandelt haben. Sie müssen dringend über das nachdenken, was sie getan haben. Sie müssen den Tag, an dem das geschah, verfluchen. Leuchtet Ihnen das ein? Mir durchaus, und das genügt.
Ich werde 13 Unschuldige und 1 Schuldigen töten. Damit werden alle leiden, die für den Tod des Unschuldigen verantwortlich waren.
Dies ist ein Akt der SÜHNE.
Bill Wilson
»Puh«, macht Izzy. Behutsam faltet sie das Blatt zusammen und steckt es in den Umschlag zurück. »Da ist offenbar jemand völlig durchgeknallt.«
»In der Tat. Ich habe das mit der Blackstone-Formel gegoogelt. Die besagt …«
»Ich weiß, was die besagt.«
Warwick legt den Fuß wieder auf den Schreibtisch, verschränkt die Hände diesmal jedoch hinter dem Nacken. »Nämlich?«
»Es ist besser, dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird.«
Warwick nickt. »Und jetzt dazu, dass diese Formel geändert werden soll. Von welchem einen Unschuldigen könnte unser durchgeknallter Briefschreiber wohl sprechen?«
»Aufs Geratewohl würde ich sagen: Alan Duffrey. Der letzten Monat im Big Stone erstochen wurde. Ist auf der Krankenstation gestorben. Dann hat Buckeye-Brandon, dieser Podcaster, seine Thesen hinaustrompetet, worauf auch die Zeitung darüber berichtet hat. Es ging um den Kerl, der sich gemeldet und erklärt hat, er hätte Duffrey die Sache angehängt.«
»Cary Tolliver, Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Der wollte angeblich sein Gewissen entlasten. Hat gesagt, er hätte nie beabsichtigt, dass Duffrey zu Tode kommt.«
»Also stammt der Brief da nicht von Tolliver.«
»Wahrscheinlich nicht. Der liegt im Kiner Memorial und wird bald das Zeitliche segnen.«
»Dass Tolliver sein Gewissen entlasten wollte, klingt irgendwie so, als würde man den Brunnen zudecken, nachdem das Kind reingefallen ist. Finden Sie nicht auch?«
»Ja und nein«, sagt Warwick. »Tolliver behauptet, er hätte die Sache bereits im Februar gebeichtet, ein paar Tage nachdem er seine Diagnose bekommen hat. Daraufhin wär allerdings nichts geschehen. Nachdem Duffrey getötet wurde, hat sich Tolliver dann an Buckeye-Brandon gewandt, den selbst ernannten Outlaw der Ätherwellen. Wobei Staatsanwalt Allen meint, das wäre alles nur heiße Luft, um Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Und was meinen Sie?«
»Ich meine, was Tolliver behauptet, leuchtet mir einigermaßen ein. Er sagt, er hätte nur gewollt, dass Duffrey ein paar Jahre in den Knast kommt. Die eigentliche Strafe für den wäre gewesen, ins Register aufgenommen zu werden.«
Izzy begreift. Hätte Duffrey im Register für Sexualstraftäter gestanden, wäre es ihm untersagt gewesen, sich in der Nähe von Kinderschutzzonen – von Schulen, Spielplätzen, öffentlichen Parks – eine Wohnung zu mieten. Er hätte mit Minderjährigen (mit Ausnahme der eigenen, in seinem Fall nicht vorhandenen Kinder) keine Textnachrichten tauschen dürfen. Hätte keine pornografischen Zeitschriften besitzen und im Internet keine Pornoseiten aufsuchen dürfen. Hätte seinen Bewährungshelfer über jede Anschriftenänderung informieren müssen. Im nationalen Register für Sexualstraftäter zu stehen wäre eine Strafe für das ganze Leben gewesen.
Wenn er überlebt hätte.
Warwick beugt sich vor. »Lassen wir mal die Blackstone-Formel beiseite, die aus meiner Sicht sowieso nicht viel Sinn ergibt. Aber müssen wir uns Sorgen wegen diesem Wilson machen? Ist das eine echte Drohung oder nur leeres Geschwätz? Was sagen Sie?«
»Darf ich erst mal darüber nachdenken?«
»Natürlich. Später. Aber was sagt Ihnen jetzt in diesem Moment Ihr Bauchgefühl? Selbstverständlich bleibt das unter uns.«
Izzy überlegt. Sie könnte Warwick fragen, ob sich Alice Patmore, die Polizeichefin, schon geäußert hat, aber so tickt sie nicht.
»Er ist zwar durchgeknallt, aber es ist nicht so, dass er was aus der Bibel oder aus den Protokollen der Weisen von Zion zitiert. Das heißt, er leidet nicht am Aluhutsyndrom. Es könnte sich also um einen einfachen Spinner handeln. Falls nicht, sollten wir uns tatsächlich Sorgen machen. Wahrscheinlich steht er Duffrey nahe. Ich würde ja sagen, dass es seine Frau oder eins von seinen Kindern ist, aber so was hatte Duffrey nicht.«
»Ja, ein echter Einzelgänger«, sagt Warwick. »Vor Gericht hat Allen da viel Wind drum gemacht.«
Über Doug Allen, einen der stellvertretenden Bezirksstaatsanwälte von Buckeye County, weiß Izzy Bescheid. Ihr Kollege Tom nennt ihn Raupe Nimmersatt nach dem gleichnamigen Bilderbuch, das seine Kinder so lieben. Anders gesagt, der Mann ist ziemlich ehrgeizig. Was darauf hinweist, dass Tolliver die Wahrheit gesagt haben könnte. Ehrgeizige Staatsanwälte sehen es nicht gern, wenn ein Urteil gekippt wird.
»Verheiratet war Duffrey nicht, aber wie steht’s mit einer Partnerin?«
»Negativ, und falls er schwul war, hat er das verheimlicht, und zwar gründlich. Keinerlei Gerüchte in die Richtung. Er war leitender Kreditberater bei der First Lake City Bank. Allerdings nehmen wir auch nur an, dass in dem Brief da von Duffrey die Rede ist, und weil der Name nicht genannt wird …«
»Könnte es auch jemand andres sein.«
»Theoretisch ja, aber das ist unwahrscheinlich. Jedenfalls will ich, dass Sie und Atta mit Cary Tolliver sprechen, falls er sich noch im Land der Lebenden befinden sollte. Sprechen Sie auch mit absolut allen Bekannten von Duffrey, bei der Bank und anderswo. Wenden Sie sich dazu an den Burschen, der Duffrey verteidigt hat, und besorgen Sie sich seine Liste mit Leuten, die Duffrey kannten. Wenn er gute Arbeit geleistet hat, weiß er über jeden Einzelnen Bescheid.«
Izzy grinst. »Offenbar wollten Sie von mir eine zweite Meinung, die dem entspricht, was Sie bereits beschlossen haben.«
»Stellen Sie Ihr Licht nicht so unter den Scheffel. Ich wollte die Meinung von Isabelle Jaynes hören, meinem weiblichen Sherlock Holmes.«
»Wenn Sie jemand wie Sherlock Holmes brauchen, sollten Sie lieber Holly Gibney anrufen. Ich gebe Ihnen gern ihre Nummer.«
Lewis stellt den Fuß wieder auf den Boden. »So tief gesunken, dass wir unsere Ermittlungen auslagern, sind wir noch nicht. Sagen Sie einfach, was Sie denken.«
Izzy tippt auf den Umschlag. »Ich glaube, dass der Kerl es ernst meint. ›Unschuldige sollten für den ungerechtfertigten Tod eines Unschuldigen büßen‹? Für jemand, der normal ist, ergibt das wahrscheinlich keinen Sinn, aber für einen Irren? Wahrscheinlich schon.«
Warwick seufzt. »Die wirklich Gefährlichen sind die, die gleichzeitig wahnsinnig und doch wieder nicht sind. Die bereiten mir echt Albträume. Timothy McVeigh, der mit seiner Bombe in Oklahoma City mehr als hundertfünfzig Menschen ermordet hat, hat völlig rational gehandelt. Die kleinen Kinder, die damals in der Tagesstätte umgekommen sind, hat er als Kollateralschaden bezeichnet. Und wer könnte unschuldiger sein als eine Schar Kinder?«
»Sie glauben also auch, dass die Drohung echt ist.«
»Irgendwie schon. Deshalb sollen Sie und Atta sich ja eine Weile damit beschäftigen. Suchen Sie nach jemand, der wegen Duffreys Tod derart aufgebracht ist, dass …«
»Oder derart untröstlich.«
»Klar, das auch. Jedenfalls jemand, der in doppelter Hinsicht wahnsinnig genug ist, sich eine solche Drohung einfallen zu lassen.«
»Warum geht es da eigentlich um dreizehn Unschuldige und einen Schuldigen? Macht das insgesamt vierzehn, oder gehört der Schuldige zu den dreizehn?«
Warwick wiegt den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er die Zahl aus dem Hut gezogen.«
»An dem Brief ist noch was merkwürdig. Sie wissen doch, wer Bill Wilson ist, oder?«
»Da klingelt es irgendwie bei mir, was aber kein Wunder ist. Der Name ist zwar nicht so häufig wie Joe Smith oder Dick Jones, aber an den von Zbigniew Brzeziński kommt er nicht ran.«
»Der Bill Wilson, an den ich denke, war einer von den Gründern der Anonymen Alkoholiker. Vielleicht geht der Briefschreiber zu deren Treffen und will uns einen Tipp geben.«
»Weil er geschnappt werden will?«
Izzy zuckt die Achseln, um anzudeuten, dass sie da keine Meinung hat.
»Ich schicke den Brief mal an die Forensik, obwohl das nicht viel bringen wird. Die werden sagen: Keine Fingerabdrücke, Computerausdruck, stinknormales Druckerpapier.«
»Schicken Sie mir noch ein Foto davon.«
»Mach ich.«
Izzy steht auf.
»Ach, übrigens, haben Sie sich schon für das Spiel eingetragen?«, fragt Warwick.
»Was für ein Spiel?«
»Stellen Sie sich nicht dumm. Das Benefizspiel gegen die Feuerwehr nächsten Monat. Unser Team wird von mir persönlich trainiert.«
»Puh, dazu bin ich noch gar nicht gekommen, Chef.« Wobei es auch bleiben wird.
»Die letzten drei Spiele hat alle die Feuerwehr gewonnen. Nach dem, was letztes Jahr passiert ist, wird’s diesmal ein besonders harter Kampf. Ich meine den Beinbruch von Crutchfield.«
»Wer ist das denn?«
»Emil Crutchfield. Motorradcop, tut hauptsächlich im Osten Dienst.«
»Aha«, sagt Izzy und denkt: Jungs und ihre Spielchen.
»Haben Sie nicht früher mal Softball gespielt? Damals auf dem College?«
Sie lacht. »Stimmt. Damals, als noch die Dinosaurier durch die Gegend getrabt sind.«
»Sie sollten mitmachen. Überlegen Sie sich’s wenigstens.«
»Mach ich«, sagt Izzy.
Was sie nicht tun wird.
Holly Gibney hält das Gesicht in die Sonne. »T. S. Eliot hat gemeint, der April sei der grausamste Monat, aber der dieses Jahr kommt mir nicht besonders grausam vor.«
»Lyrik«, sagt Izzy abschätzig. »Was willst du essen?«
»Die Fisch-Tacos, glaube ich.«
»Du nimmst immer Fisch-Tacos.«
»Nicht immer, aber meistens. Ich bin eben ein Gewohnheitstier.«
»Ach, echt?«
Bald wird eine der beiden aufstehen und sich ans Ende der Schlange vor dem Imbiss Frankie’s Fabulous Fish stellen, aber vorläufig sitzen sie gemütlich an ihrem Picknicktisch und genießen die warme Sonne.
Früher standen sich Izzy und Holly nicht besonders nahe, aber das hat sich geändert, nachdem sie es mit Rodney und Emily Harris zu tun hatten, einem betagten Professorenpaar. Die beiden waren zugleich wahnsinnig und extrem gefährlich gewesen. Man könnte sagen, dass es für Holly am schlimmsten war, weil sie sich direkt mit ihnen auseinandersetzen musste, aber es lag dann an Detective Isabelle Jaynes, die Hinterbliebenen der Opfer zu informieren. Dabei musste sie berichten, was die Harrisens im Einzelnen getan hatten, und das war absolut kein Zuckerschlecken. Daher haben beide Frauen Narben davongetragen, und nachdem das Medieninteresse (national wie lokal) nachgelassen hatte, hatte sich Izzy bei Holly gemeldet und vorgeschlagen, einmal gemeinsam zum Lunch zu gehen. Holly war einverstanden gewesen.
Das gemeinsame Mittagessen wurde zu einer mehr oder weniger regelmäßigen Veranstaltung, wodurch sie sich langsam näherkamen. Zuerst haben sie hauptsächlich über das Professorenpaar gesprochen, mit der Zeit jedoch immer weniger. Izzy hat von ihrem Job erzählt, Holly von ihrem. Weil Izzy bei der Polizei war, während Holly als Privatermittlerin arbeitete, hatten sie ähnliche Interessen, auch wenn sie nur selten mit demselben Fall beschäftigt waren.
Abgesehen davon, hat sich Holly noch nicht ganz von der Idee verabschiedet, Izzy auf die dunkle Seite zu locken, vor allem seit ihr Geschäftspartner Pete Huntley im Ruhestand ist. Inzwischen führt sie Finders Keepers ganz allein (mit gelegentlicher Unterstützung durch Jerome und Barbara Robinson). Wobei sie Izzy unzweideutig klargemacht hat, dass sich ihre Agentur nicht mit Scheidungsangelegenheiten beschäftigt. »Da muss man durch Schlüssellöcher gucken, in den Social Media rumstöbern, die Nase in Textnachrichten stecken und mit dem Teleobjektiv hantieren. Bäh!«
Wann immer Holly die Möglichkeit eines beruflichen Wechsels ins Gespräch bringt, erwidert Izzy, sie werde es im Kopf behalten. Was Hollys Meinung nach bedeutet, dass Iz ihre dreißig Jahre bei der städtischen Kripo absitzen und sich dann nach Arizona oder Florida zurückziehen wird, in eine Wohnanlage mit Golfplatz. Wahrscheinlich allein. Nachdem sie bei der Heiratslotterie zweimal eine Niete gezogen habe, sei sie nicht scharf auf eine weitere Beziehung und erst recht nicht auf eine Ehe, hat Izzy gesagt. Wie, hat sie einmal beim Mittagessen rhetorisch gefragt, hätte sie wohl heimkommen und ihrem Mann von den menschlichen Überresten erzählen können, die man in der Kühltruhe von Rodney und Emily Harris gefunden hat.
»Bitte«, hat Holly damals erwidert. »Nicht beim Essen.«
Heute haben sich die beiden im Dingley Park getroffen. Wie im Deerfield Park auf der anderen Seite der Stadt kann es hier nach Einbruch der Dunkelheit ziemlich gefährlich werden (Izzy spricht von einem verdammten Drogensupermarkt), doch am helllichten Tag ist die Umgebung ausgesprochen angenehm, vor allem bei solchem Wetter. Da es warm ist, können sie an einem von den Picknicktischen essen, nicht weit von den Tannen, die rund um die alte Eissporthalle stehen.
Holly ist bis zum Gehtnichtmehr geimpft. In den USA kommt immer noch alle vier Minuten jemand mit Covid zu Tode, da will sie absolut nichts riskieren. Pete Huntley leidet noch jetzt an den Nachwirkungen seines Kampfs mit dem Virus, und Hollys Mutter ist daran gestorben. Daher verhält sie sich weiterhin vorsichtig, setzt in Innenräumen eine Maske auf und hat ein Fläschchen Desinfektionsmittel in der Handtasche. Aber selbst ohne Corona isst sie gern an der frischen Luft, wenn das Wetter so schön ist wie heute, und sie freut sich auf ihre Fisch-Tacos. Zwei, mit einer Extraportion Remoulade.
»Wie geht es eigentlich Jerome?«, fragt Izzy. »Ich hab gesehen, dass sein Buch über seinen kriminellen Urgroßvater auf der Bestsellerliste war.«
»Nur für zwei, drei Wochen«, sagt Holly. »Dafür kann man jetzt zur Verkaufsförderung einen Sticker mit New York Times Bestseller auf die Taschenbuchausgabe kleben.« Sie liebt Jerome beinahe ebenso sehr wie seine Schwester Barbara. »Weil die Lesereise rum ist, hat er angeboten, mir bei der Arbeit zu helfen. Sozusagen zu Recherchezwecken, wie er meint, weil es in seinem nächsten Buch um einen Privatdetektiv geht.« Sie verzieht das Gesicht, um zu demonstrieren, wie sehr sie den Ausdruck verabscheut.
»Und Barbara?«
»Die geht jetzt aufs Bell College hier in der Stadt. Hauptfach englische Literatur natürlich.« Das sagt Holly mit – wie sie findet – berechtigtem Stolz. Beide Robinson-Geschwister haben ein Buch veröffentlicht. Barbaras Gedichtband, für den sie den Penleypreis erhalten hat – was keine schlechte Leistung ist –, ist vorletztes Jahr erschienen.
»Bei deinen Kids läuft’s also ziemlich gut.«
Gegen diese Bezeichnung wehrt sich Holly nicht. Zwar sind Mr. und Mrs. Robinson noch am Leben und bei bester Gesundheit, aber trotzdem sind Barbara und Jerome irgendwie auch Hollys Kids. Zu dritt sind sie mehrfach in den Krieg gezogen. Brady Hartsfield … Morris Bellamy … Chet Ondowsky … das Ehepaar Harris. Das waren Kriege, ohne Zweifel.
Sie erkundigt sich, was es bei der Polizei Neues gebe.
Izzy wirft ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Darf ich dir was auf meinem Handy zeigen?«, fragt sie dann.
»Ist es ein Porno?« Izzy gehört zu den wenigen Leuten, mit denen Holly gern scherzt.
»Gewissermaßen schon.«
»Jetzt bin ich richtig neugierig geworden.«
Izzy zieht ihr Handy aus der Tasche. »Den Brief hier hat Lewis Warwick erhalten. Chief Patmore ebenfalls. Da, sieh.« Sie reicht das Gerät hinüber.
»Bill Wilson«, sagt Holly nach der Lektüre. »Hm. Weißt du, wer das ist?«
»Einer von den Gründern der Anonymen Alkoholiker. Lew hat mich in sein Büro bestellt und nach meiner Meinung gefragt. Worauf ich gesagt hab, ich würde da zur Vorsicht raten. Was denkst du, Holly?«
»Die Blackstone-Formel. Die besagt …«
»Dass es besser ist, wenn zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird. Blackstone war Jurist, was ich weiß, weil ich auf dem College ein paar Juraseminare belegt habe. Meinst du, der Kerl da könnte Anwalt sein?«
»Das ist deduktiv nicht besonders schlüssig«, sagt Holly eher freundlich. »Obwohl ich mein Leben lang kein Juraseminar besucht hab, kenne ich den Spruch. Ich würde ihn in die Kategorie Halbwissen einordnen.«
»Du bist zwar ein wahres Wissensmonster, aber da hast du nicht unrecht«, sagt Izzy. »Lew Warwick dachte zuerst, das wär aus der Bibel.«
Holly studiert den Brief noch einmal. »Wer das geschrieben hat, könnte durchaus religiös sein«, sagt sie dann. »Bei den Anonymen Alkoholikern ist bekanntlich viel von Gott die Rede – ›Lass los und lass Gott machen‹ ist einer von den Sprüchen, die da kursieren. Dazu das Pseudonym und die Bemerkung über Sühne … Das ist eine sehr katholische Vorstellung.«
»Womit bei uns hier immer noch ungefähr eine halbe Million Leute infrage kämen«, sagt Izzy. »Du bist echt ’ne große Hilfe, Gibney!«
»Einfach wild drauflosgeraten: Könnte diese Person eventuell zornig wegen der Sache mit Alan Duffrey sein?«
Izzy legt anerkennend die Handflächen aneinander.
»Wobei er den nicht explizit erwähnt.«
»Schon klar, schon klar, unser Mr. Wilson nennt keinen Namen, aber das kommt mir am wahrscheinlichsten vor. Da wird ein im Bau sitzender Kinderschänder ermordet, und dann stellt sich heraus, dass der doch kein Kinderschänder war. Zeitlich passt es auf jeden Fall. Dafür lade ich dich zu deinen Tacos ein.«
»Du bist heute sowieso dran«, sagt Holly. »Erzähl mir doch noch mal, wie das mit Duffrey war. Einverstanden?«
»Klar. Falls du mir versprichst, dass du mir den Fall nicht klaust und alleine rausfindest, wer Bill Wilson ist.«
»Versprochen.« Das meint Holly durchaus so, aber sie ist bereits Feuer und Flamme. Für Fälle wie diesen – die sie immer wieder auf allerhand merkwürdige Wege führen – wurde sie geboren. Das Problem an ihrer alltäglichen Tätigkeit besteht nun einmal darin, dass sie hauptsächlich Formulare ausfüllen und sich mit Kautionsagenten auseinandersetzen muss, anstatt Kriminalfälle lösen zu dürfen.
»Kurz gesagt, Alan Duffrey war zuletzt der leitende Kreditberater bei der First Lake City Bank, dort allerdings bis 2022 lediglich ein ganz gewöhnlicher Angestellter in einem Großraumbüro. Ist eine ziemlich große Bank.«
»Stimmt«, sagt Holly. »Bin selbst dort.«
»Zu den großen Kunden gehören auch meine Behörde und allerhand örtliche Firmen, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Jedenfalls ist der Chef der Kreditabteilung in den Ruhestand gegangen, und um seine Nachfolge, die mit einer anständigen Gehaltserhöhung verbunden ist, haben sich zwei Leute beworben. Der eine war Alan Duffrey, der andere heißt Cary Tolliver. Duffrey hat den Posten bekommen, weshalb Tolliver dafür gesorgt hat, dass der wegen Besitz von Kinderpornos ins Gefängnis wandert.«
»Finde ich ein bisschen überreagiert«, sagt Holly und blickt erstaunt drein, weil Izzy in Lachen ausbricht. »Was ist? Was hab ich denn gesagt?«
»Bloß … Ach, du bist herrlich, Holly. Ich würde zwar nicht sagen, dass es das ist, was ich so an dir mag, aber mit der Zeit mag ich es vielleicht doch.«
Holly runzelt weiterhin die Stirn.
Grinsend beugt sich Izzy vor. »Was logisches Denken angeht, bist du unschlagbar, aber ich glaube, manchmal ist dir nicht ganz klar, worin kriminelle Motivation eigentlich besteht. Vor allem wenn es sich um Kriminelle handelt, die durch Wut, Verbitterung, Paranoia, Unsicherheit, Neid und so weiter praktisch den Verstand verlieren. Für das, was Cary Tolliver getan hat, hatte er natürlich ein finanzielles Motiv, aber bestimmt haben auch noch andere Dinge eine Rolle gespielt.«
»Er hat sich gemeldet, nachdem Duffrey ermordet wurde, oder?«, sagt Holly. »Und sich an diesen Podcaster gewandt, der immer im Trüben fischt.«
»Tja, er behauptet sogar, er hätte sich schon vor Duffreys Tod gemeldet, im Februar, nachdem bei ihm Krebs im Endstadium diagnostiziert worden ist. Und ein Geständnis an die Staatsanwaltschaft geschickt, worauf die angeblich nichts unternommen hat. Weshalb er schließlich Kontakt zu Buckeye-Brandon aufgenommen hätte.«
»Das könnte das Motiv der Sühne sein.«
»Tolliver hat den Brief da bestimmt nicht geschrieben.« Izzy deutet auf das Handydisplay. »Der liegt im Sterben und hat’s bald geschafft. Trotzdem fahre ich mit Tom heute Nachmittag mal hin, um mit ihm zu sprechen. Das heißt, ich sollte jetzt endlich unser Essen holen.«
»Für mich mit extra Remoulade, ja?«, sagt Holly, als Izzy aufsteht.
»Holly, du änderst dich nie!«
Holly, die kleine Frau mit dem ergrauenden Haar, blickt leise lächelnd zu Izzy auf. »Das ist meine größte Stärke.«
Am Nachmittag sitzt Holly in ihrem Büro und füllt Versicherungsformulare aus. Sie weiß, wie sinnlos es ist, die großen Versicherungskonzerne zu hassen, aber die stehen eindeutig auf ihrer Kackliste, und die einschlägigen Werbespots im Fernsehen sind ihr regelrecht zuwider. Es ist allerdings schwer, Flo zu hassen, die Frau in den Progressive-Insurance-Werbespots, und das nicht zuletzt deshalb, weil Jerome Robinson einmal gesagt hat: »Die sieht ein bisschen aus wie du, Holly!« Dafür ist es umso leichter, Doug und seinen albernen Emu Limu zu hassen, von dem sich selbst verstümmelnden Chaoten von der Allstate ganz zu schweigen. Ebenso verabscheut hat sie die Aflac-Ente, die man zum Glück außer Dienst gestellt hat, und den Geico-Neandertaler (wobei es nicht unmöglich ist, dass sowohl Vogel als auch Höhlenmensch ein Comeback machen werden). Als Ermittlerin, die mit Schadensachbearbeitern von vielen Gesellschaften zu tun hatte, kennt sie deren großes Geheimnis: Sobald jemand einen Schaden geltend macht – vor allem einen großen –, ist es mit dem Spaß vorbei.
Die Formulare heute Nachmittag stammen von der Global Insurance, die im Fernsehen von Buster dem sprechenden Esel und seinem nervigen Iah-Gelache vertreten werden. Der grinst sie von jedem Briefkopf mit seinen großen (und irgendwie impertinent gebleckten) Zähnen an. Sosehr Holly die Formulare verabscheut, freut sie sich auch, dass der sprechende Esel in diesem Fall bald gezwungen sein wird, den Wert des bei einem Einbruch verschwundenen Schmucks zu ersetzen. Das bedeutet sechzig- bis siebzigtausend Dollar, abzüglich der Selbstbeteiligung. Zwar nur, wenn es Holly nicht gelingt, die Schmuckstücke aufzuspüren, aber dann definitiv. »Da bin ich stur wie ein Esel!«, erklärt Holly ihrem sonst leeren Büro und muss jetzt selbst lachen.
Ihr Handy läutet, nicht das Geschäftstelefon, sondern ihr privates. Auf dem Display sieht sie das Gesicht von Barbara Robinson.
»Hallo, Barbara, wie geht’s, wie steht’s?«
»Super! Richtig super!« Entsprechend hört sie sich auch an. Sie scheint ganz aus dem Häuschen zu sein. »Ich hab eine supergeile Nachricht!«
»Steht dein Buch plötzlich auf der Bestsellerliste?« Das wäre wirklich eine Sensation. Das Buch ihres Bruders hatte kurzfristig Platz elf auf der Liste der New York Times erreicht, die Top Ten also knapp verpasst, aber immerhin.
Barbara lacht. »Gedichtbände werden keine Bestseller, außer sie sind von Amanda Gorman. Ich muss mich da mit vier Sternen auf Goodreads zufriedengeben.« Sie hält kurz inne. »Beinahe vier.«
Holly findet, das Buch ihrer Freundin hätte fünf Sterne verdient. Jedenfalls hat sie es mit fünf Sternen bewertet. Zweimal sogar. »Also, was willst du mir erzählen, Barb?«
»Heute Morgen war ich die neunzehnte Anruferin bei K-POP und hab zwei Tickets für das Konzert von Sista Bessie abgestaubt! Das war vorher noch gar nicht angekündigt!«
»Bin mir nicht ganz sicher, ob ich weiß, wer das ist«, sagt Holly … wobei sie es eigentlich weiß. Wahrscheinlich würde es ihr einfallen, wenn ihr Kopf nicht gerade mit Fragebogenfragen vollgestopft wäre, die alle so raffiniert formuliert sind, dass sie der Versicherung einen Vorteil verschaffen. »Vergiss nicht, dass ich nicht mehr die Jüngste bin. Was ich über Popmusik weiß und daran mag, endet mehr oder weniger mit Hall and Oates. Ich hab mal auf den Blonden von den beiden gestanden.«
Außerdem hat sie keinerlei Interesse an Hip-Hop oder so. Vielleicht wäre das anders, wenn ihre Ohren jünger und schärfer wären (ihr entgehen viele Anspielungen bei den Rap-Bars) und wenn sie mehr Verständnis für die Street-Balladen der Künstler hätte, deren Musik sich Barbara und Jerome reinziehen. Das sind Leute mit exotischen Namen wie Pos’ Top, Lil Durk und – Hollys Favorit, obwohl sie keine Ahnung hat, worüber er rappt – YoungBoy Never Broke Again.
»Die solltest du aber kennen, Holly. Die ist nämlich aus deiner Zeit.«
Autsch, denkt Holly. »Eine Soulsängerin?«
»Genau! Soul und Gospel.«
»Ach ja, jetzt weiß ich Bescheid«, sagt Holly. »Hat die nicht einen Song von Al Green gecovert? ›Let’s Stay Together‹?«
»Genau! Das war ein Riesenhit. Ist einer von meinen Titeln beim Karaoke! Und auf der Highschool hab ich ihn mal beim Frühlingsball live gesungen.«
»Als ich jung war, hab ich immer Q102 gehört, den Hitsender aus Cincinnati«, sagt Holly. »Die haben viel Rockmusik aus Ohio gebracht, zum Beispiel Devo, Chrissie Hynde und Michael Stanley, aber die Musiker waren alle weiß. Schwarze Musik hat man nicht oft gespielt, aber die Version … an die erinnere ich mich.«
»Und jetzt startet Sista Bessie hier bei uns ihre Comeback-Tour! Im Mingo Auditorium! Zwei Konzerte, beide ausverkauft, aber ich hab zwei Tickets … und außerdem Backstagepässe. Du musst mitkommen, Holly, bitte sag nicht nein.« Barbaras Ton wird bettelnd. »Sie singt auch Gospel, und das magst du doch.«
Das stimmt. Holly ist ein großer Fan der Blind Boys of Alabama und der Staple Singers, vor allem von Mavis Staples, und während sie sich kaum an Sista Bessie und die Musik aus dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erinnert, liebt sie den alten, ehrlichen Soul aus den Sixties, Sänger wie Sam Cooke und Jackie Wilson. Wilson Pickett ebenfalls. Einmal wollte sie auf ein Konzert von ihm gehen, aber ihre Mutter hatte es verboten. Und wo ihr jetzt Mavis Staples in den Sinn gekommen ist …
»In den Achtzigern hat sie sich Little Sister Bessie genannt«, sagt Holly. »Ich hab sie damals oft auf WGRI gehört, ’ner winzigen Radiostation, die nur tagsüber gesendet hat. Die haben lauter Gospel gespielt.« Den Sender einschalten konnte Holly allerdings nur, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war, denn viele der Bands – wie BeBe & CeCe Winans, waren Schwarze. »Ich weiß noch, wie Little Sister Bessie ›Sit Down, Servant‹ gesungen hat.«
»Das muss gewesen sein, bevor sie total berühmt wurde. Auf dem einzigen Album, das sie seit ihrem Rücktritt gemacht hat, waren bloß Gospelsongs. Lord, Take My Hand heißt es. Meine Mutter hört sich das ständig an, aber ich mag die anderen Sachen von ihr. Sag, dass du mitkommst, Holly. Bitte! Es ist das Eröffnungskonzert von ihr, und es wird bestimmt supergeil.«
Das Mingo Auditorium, der große Saal vom MAC, kurz für Midwest Culture and Arts Complex, ist für Holly mit schlimmen Erinnerungen verbunden, die mit einem Ungeheuer namens Brady Hartsfield zu tun haben. Barbara war damals auch dabei, wenn auch nicht daran beteiligt, Hartsfield ins Koma zu prügeln. Das hat Holly ganz allein geschafft. Aber schlechte Erinnerungen hin oder her, sie kann Barbara einfach nichts ausschlagen. Jerome natürlich auch nicht. Selbst wenn Barb gesagt hätte, sie habe zwei Tickets für YoungBoy NBA, hätte Holly zugesagt. (Wahrscheinlich.)
»Wann ist es denn?«
»Nächsten Monat. Am 31. Mai. Da hast du genug Zeit, deine Termine umzulegen.«
»Es fängt doch nicht etwa spät an, oder?« Holly mag es gar nicht, spätabends noch unterwegs zu sein.
»Nein, überhaupt nicht!« Barbara klingt immer noch ganz begeistert, was Hollys Laune erheblich aufhellt. »Es geht um sieben los und ist bestimmt um neun vorbei, allerspätestens um halb zehn. Die Sista will wahrscheinlich nicht zu lange aufbleiben, schließlich ist sie schon ziemlich alt. Muss jetzt bald fünfundsechzig sein.«
Holly, die fünfundsechzig mittlerweile nicht mehr für besonders alt hält, beißt sich auf die Zunge.
»Also, kommst du mit?«
»Würdest du dir ›Sit Down, Servant‹ beibringen und mir vorsingen?«
»Klar. Klar, auf jeden Fall! Übrigens hat sie ’ne krasse Soulband.« Barbaras Stimme sinkt fast zu einem Flüstern herab. »Ein paar von denen sind Sessionmusiker von Muscle Shoals!«
Holly hat keine Ahnung, was daran so großartig sein soll, aber das macht nichts. Sie will Barbara nur noch etwas auf die Folter spannen. »Würdest du mir auch ›Let’s Stay Together‹ vorsingen?«
»Ja! Wenn du mitkommst, sing ich alles, was du willst!«
»Abgemacht, dann komm ich mit.«
»Cool! Ich hol dich ab. Hab übrigens ein neues Auto, das hab ich mir mit dem Geld vom Penleypreis gekauft. Einen Prius, genau wie du!«
Die beiden unterhalten sich noch eine Weile. Barbara berichtet, dass sie Jerome seit seiner Rückkehr von der Lesereise kaum gesehen habe. Er würde entweder Recherchen für sein neues Buch anstellen oder im Büro von Finders Keepers abhängen.
»Tja, ich hab ihn die letzten Tage auch kaum gesehen«, sagt Holly. »Und falls doch, hat er irgendwie bedrückt gewirkt.«
Bevor sich Barbara verabschiedet, sagt sie (mit unverhohlener Befriedigung): »Der wird bald noch bedrückter sein, wenn er rausfindet, dass wir zu Sista Bessie gehen. Danke, Holly! Du bist super! Das wird bestimmt toll!«
»Hoffentlich«, sagt Holly. »Aber vergiss bitte nicht, dass du versprochen hast, mir was vorzusingen. Du hast eine so wunder…«
Barbara hat schon aufgelegt.
Izzy James und Tom Atta fahren mit dem Aufzug in die dritte Etage des Kiner Memorial. Als sie aussteigen, weisen Pfeile an der Wand entweder zur Kardiologie (rechts) oder zur Onkologie (links). Die beiden wenden sich nach links. Am Stationszimmer lassen sie ihre Dienstmarken aufblitzen und erkundigen sich nach dem Zimmer von Cary Tolliver. Izzy nimmt mit Interesse wahr, dass das Gesicht der diensthabenden Schwester kurz Abscheu ausdrückt – die Mundwinkel ziehen sich nach unten, schnellen dann aber gleich wieder in eine neutrale Position.
»Der liegt in Nummer vier, eins, neun, aber Sie finden ihn wahrscheinlich im Wintergarten, wo er die Sonne genießt und einen von seinen Krimis liest.«
Tom nimmt kein Blatt vor den Mund. »Ich hab gehört, dass man mit Bauchspeicheldrüsenkrebs besonders schlechte Aussichten hat. Was meinen Sie, wie viele Tage ihm noch bleiben?«
Die Schwester, eine Veteranin, die noch von Kopf bis Fuß in eine weiße Viskoseuniform gehüllt ist, beugt sich vor. »Sein Arzt sagt, es sind nur noch Wochen«, sagt sie leise. »Ich würde sagen zwei, vielleicht auch weniger. Normalerweise hätte man ihn nach Hause gebracht, wenn er nicht einen Versicherungsschutz hätte, von dem ich nur träumen kann. Irgendwann wird er ins Koma fallen, und dann guten Morgen, guten Nachmittag, gute Nacht.«
Izzy denkt daran, was Holly von Versicherungsgesellschaften hält. »Es wundert mich, dass die Versicherung keine Möglichkeit gefunden hat, sich aus der Sache rauszuwinden. Schließlich hat Tolliver fälschlich einen Mann beschuldigt, der später im Gefängnis ermordet wurde. Wissen Sie das eigentlich?«
»Natürlich weiß ich das«, sagt die Schwester. »Nicht zuletzt deshalb, weil er ständig tönt, wie leid ihm das alles tut. Er hat sogar einen Pfarrer kommen lassen. Aber meiner Meinung nach sind das nichts als Krokodilstränen!«
»Tja, die Staatsanwaltschaft hat es abgelehnt, ihn zu belangen, weil sie meint, er würde Unsinn reden«, sagt Tom. »Deshalb bleibt er unbehelligt, und seine Versicherung muss zahlen.«
Die Schwester verdreht die Augen. »Unsinn redet er auf jeden Fall. Also, versuchen Sie es erst mal im Wintergarten.«
Während sie den Flur entlanggehen, denkt Izzy: Wenn es ein Jenseits geben sollte, wird Cary Tolliver da schon von seinem früheren Kollegen Alan Duffrey erwartet. »Und der wird ein Hühnchen mit ihm zu rupfen haben.«
Tom sieht sie an. »Hä?«
»Ach, nichts.«
Holly zieht das letzte Versicherungsformular heran, seufzt, greift nach ihrem Kugelschreiber – solche Blätter müssen von Hand ausgefüllt werden, wenn sie die Chance haben will, die gestohlenen Schmuckstücke aufzuspüren, weiß Gott weshalb – und legt ihn wieder weg. Sie greift nach ihrem Telefon und betrachtet den Brief von Bill Wilson, wer immer das in Wirklichkeit sein mag. Der Fall geht sie nichts an, und sie würde Isabelle niemals in ihre Ermittlungen pfuschen, aber sie spürt trotzdem, wie es in ihr kribbelt. Ihre Arbeit ist oft langweilig, viel zu viel Papierkram, und momentan sind die guten, spannenden Fälle dünn gesät. Deshalb ist sie interessiert. Aber da ist noch etwas anderes, was wichtiger ist. Dieses Kribbeln, das sie spürt … das liebt sie geradezu. Danach ist sie regelrecht verrückt.
»Eigentlich hab ich nichts damit zu tun. Schuster, bleib bei deinen Leisten.«
Den Spruch hat sie von ihrem Vater. Ihre verstorbene Mutter Charlotte hatte zahllose markige Redensarten parat, ihr Vater nur wenige … doch die weiß Holly noch alle. Aber was sind die Leisten eines Schusters überhaupt? Sie hat keine Ahnung, unterdrückt jedoch den Drang, danach zu googeln. Was ihre Leisten sind, weiß sie hingegen genau – das letzte Formular ausfüllen, um dann in Leihhäusern und bei Hehlern nach einem Haufen Klunkern zu suchen, die einer reichen Witwe aus Sugar Heights entwendet wurden. Wenn sie das Zeug findet, wird sie von Buster dem sprechenden Esel eine Belohnung erhalten. Die ihm wahrscheinlich hinten rauskommen wird wie dem Goldesel, denkt sie. Wenn auch nur widerwillig.
Sie seufzt erneut, greift nach dem Kuli, legt ihn aber gleich wieder weg und schreibt stattdessen eine E-Mail.
Iz – du weißt das bestimmt längst, es ist ziemlich offensichtlich, aber der Mann, nach dem ihr sucht, ist intelligent. Er spricht von der Blackstone-Formel, die nicht zum Wortschatz von ungebildeten Leuten gehört. Ich glaube, Unschuldige sollten für den ungerechtfertigten Tod eines Unschuldigen büßen, das hört sich zwar verrückt an, aber man muss zugeben, dass er gut formuliert. Ausbalanciert. Auch die Zeichensetzung stimmt. Das sieht man an den Doppelpunkten am Briefkopf und daran, dass er seine Botschaft per cc an Chief Patmore richtet. Wenn ich früher Geschäftsbriefe verschickt habe, stand das für »Durchschlag an«, aber jetzt bedeutet es »auch an XY gesandt« und ist im geschäftlichen Kontext üblich. Aus meiner Sicht weist das darauf hin, dass dein Bill Wilson einen Bürojob haben könnte.
Jetzt zu dem Namen Bill Wilson. Ich glaube nicht, dass er den rein zufällig gewählt hat. (Vorausgesetzt, dass der Autor tatsächlich männlich ist.) Es ist nicht unmöglich, dass er den ermordeten Alan Duffrey bei einem AA- oder NA-Treffen kennengelernt hat. (Wieder vorausgesetzt, dass sich der Absender überhaupt auf Duffrey bezieht.) Vielleicht kannst du mit jemand Kontakt aufnehmen, der zu solchen Meetings geht. Falls nicht, kenne ich so jemand, der ziemlich offen darüber spricht. Es handelt sich um einen Barkeeper (ausgerechnet), der schon sechs Jahre clean und trocken ist. Der, oder wen immer du auftreibst, erinnert sich vielleicht an einen Mann, der gut gekleidet ist und sich gut ausdrücken kann. Und bei einem Meeting eventuell sogar den Namen Duffrey erwähnt oder von jemand gesprochen hat, der im Gefängnis erstochen wurde. Da es bei AA- und NA-Treffen anonym zugeht, ist es zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass du den Mann auf die Weise identifizieren kannst, aber wer weiß. So klein die Chance ist, es wäre ein Ermittlungsansatz.
Holly
Sie schiebt den Cursor auf E-Mail senden, fügt dann jedoch noch ein paar Zeilen hinzu.
PS: Ist dir aufgefallen, dass er den Vornamen von Lewis Warwick falsch geschrieben hat? Wenn du jemand erwischst, den du für den Absender hältst, dann sag ihm bei der Schriftprobe auf keinen Fall, er soll Warwicks Namen hinschreiben. Wie schon gesagt, ist der Mann alles andere als dumm. Sag ihm daher, er soll so was schreiben wie: »Diesen Kerl namens Lewis Black habe ich nie gemocht.« Dann siehst du, ob er Louis statt Lewis schreibt. Das ist dir wahrscheinlich ohnehin völlig klar, aber ich sitze hier rum und habe nichts anderes zu tun.
H
Sie liest alles noch einmal durch, dann fügt sie ein PPS hinzu: Lewis Black ist ein Komiker. Als sie darüber nachdenkt, kommt sie zu dem Schluss, Izzy könnte meinen, dass Holly sie für dämlich oder ungebildet hält. Sie löscht den Satz, denkt dann jedoch: Vielleicht weiß sie wirklich nicht, wer Lewis Black ist, und setzt ihn wieder ein. Mit solchen Fragen quält sie sich häufig herum.
Bill Hodges, der Gründer von Finders Keepers, hat Holly einmal gesagt, sie hätte zu viel Empathie für andere Leute. Als Holly erwiderte: Du sagst das, als ob es was Schlechtes wäre, hat Bill gesagt: In unserer Branche kann es das durchaus sein.
Sie schickt die Mail endlich ab und sagt sich, jetzt sollte sie langsam ihr Popöchen hochkriegen (den Ausdruck hat sie von ihrer Mutter) und sich auf die Suche nach den verschwundenen Schmuckstücken machen. Trotzdem bleibt sie noch eine Weile sitzen, weil etwas, was Izzy gesagt hat, ihr Unbehagen bereitet.
»Nein, das hat nicht Izzy gesagt. Sondern Barbara.«
Mit Computerarbeit kennt sich Holly aus – deshalb versteht sie sich so gut mit Jerome –, aber was Termine angeht, ist sie altmodisch und trägt in der Handtasche immer einen Terminkalender bei sich. Den zieht sie jetzt heraus und blättert darin, bis sie am 31. Mai angekommen ist. Für den Tag hat sie notiert: Kate McKay,MA20 Uhr. Eventuell. Wobei MA für Mingo Auditorium steht.
Seit Corona nachgelassen hat, geht Holly relativ oft wieder ins Kino (wobei sie immer eine Maske trägt, wenn der Saal auch nur halb voll ist), aber Vorträge und Konzerte besucht sie nur selten. Zum Vortrag von Kate McKay wollte sie trotzdem gehen, allerdings nur wenn sie nicht zu lange Schlange stehen müsste beziehungsweise überhaupt in den Saal käme. Sie ist zwar nicht mit allem einverstanden, was McKay vertritt, aber wenn die über den sexuellen Missbrauch an Frauen spricht, ist Holly Gibney absolut ihrer Meinung. Holly wurde selbst als junge Frau sexuell missbraucht, und sie kennt nur wenige Frauen – darunter Izzy Jaynes –, denen das nicht auf die eine oder andere Weise widerfahren ist. Abgesehen davon, besitzt Kate McKay das, was sich Holly unter Mumm vorstellt. Da sie selbst nicht besonders mutig ist, findet sie das gut. Was die Auseinandersetzung mit dem Ehepaar Harris angeht, hat sie zwar ziemlichen Mumm bewiesen, doch dabei ging es ums Überleben. Außerdem hatte sie Glück.
Nun beschließt sie, sich später mit der geheimnisvollen Doppelbelegung des Saals zu beschäftigen. Weil sie immer noch dazu neigt, sich für alles, was schiefläuft, selbst die Schuld zu geben, vermutet sie, dass sie das falsche Datum notiert hat. Aber so oder so scheint es ihr Schicksal zu sein, sich am Abend vom 31. Mai, einem Samstag, im Mingo Auditorium zu befinden, und sosehr sie den Mumm von Kate McKay bewundert, ist sie doch lieber mit Barbara zusammen.
»Die Schmuckstücke«, murmelt sie vor sich hin, als sie aufsteht. »Ich muss die Schmuckstücke aufspüren.« Die Formulare der Global Insurance können erst mal warten.
Izzy hat eine gewisse Vorstellung davon, wie der leitende Kreditberater der First Lake City Bank aussehen sollte, vielleicht aus einem Prospekt, den sie mit der Post bekommen hat, oder aus einer Fernsehsendung. Ein bisschen rundlich, aber gepflegt, hübscher Anzug, Eau de Cologne (nicht zu viel), gewinnendes Lächeln, gern bereit zu fragen: Wie viel brauchen Sie denn?
Auf Cary Tolliver trifft nichts davon zu.
Als Izzy und Tom ihn finden, döst er im Aufenthaltsraum der dritten Etage vor sich hin. Auf seiner Brust liegt aufgeschlagen ein Kriminalroman mit dem Titel Toxische Beute. Anstatt einen schicken Dreiteiler trägt er einen ausgeblichenen Krankenhausbademantel über einem zerknitterten Pyjama mit Hello-Kitty-Gesichtern darauf. Auf den hohlen Wangen wächst ein struppiger, grau melierter Bart. Die Haare sind halb lang und teilweise ausgefallen; die kahlen Stellen sind mit gelblichen Ekzemen überzogen. Wo die Gesichtshaut nicht von dem schütteren Bart bedeckt ist, ist sie so bleich, dass sie beinahe grün aussieht. Sein Körper ist ausgemergelt, bis auf den stark gewölbten Bauch. Wie ein Pilz, der bald seine Sporen freisetzen wird, denkt Izzy. Rechts neben ihm steht ein Rollstuhl, links ein Infusionsständer. Als sie sich ihm nähern, wird Izzy klar, dass Tolliver nicht besonders gut riecht. Das heißt, eigentlich ist das untertrieben. Eigentlich stinkt er.
Ohne sich abzusprechen, trennen sich die beiden. Tom stellt sich neben den Rollstuhl, Izzy neben den Infusionsständer, aus dessen Beutel eine klare Flüssigkeit in Tollivers Handrücken fließt.
»Wachen Sie auf, Cary«, sagt Tom energisch. »Aufwachen, Dornröschen!«
Tolliver öffnet die Augen, die rot und wässrig sind. Sein Blick wandert von Tom Atta zu Izzy und wieder zurück.
»Die Polizei«, sagt er. »Ich hab dem Staatsanwalt doch alles erzählt, was ich weiß. Hab ihm sogar ’nen Brief geschrieben, aber der Trottel hat nichts unternommen. Es tut mir leid, dass Duffrey ermordet wurde. Darauf hatte ich’s bestimmt nicht abgesehen. Sonst hab ich nichts zu sagen.«
»Na ja, vielleicht doch noch ein klein bisschen was«, sagt Tom. »Zeig ihm den Brief, Iz.«
Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und will es Tolliver reichen.
Der schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht festhalten. Zu schwach. Warum kann man mich nicht in Frieden sterben lassen?«
»Wenn Sie das Buch da halten können, dann auch mein Handy«, sagt Izzy. »Los, lesen Sie!«
Tolliver nimmt das Gerät entgegen und hält es sich direkt vor die Nase. Sobald er den Brief von Bill Wilson gelesen hat, gibt er es zurück. »Und weiter? Meinen Sie, der Kerl da denkt, ich bin der Schuldige? Bitte sehr. Obwohl ich versucht hab, es wiedergutzumachen, bitte sehr. Soll er doch kommen und mich umbringen. Da täte er mir ’nen Gefallen mit.«
Bisher ist Izzy noch nicht auf die Idee gekommen, dass der Absender Tolliver für den erwähnten Schuldigen halten würde … wobei sich Holly das bestimmt bereits gedacht hat. »Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagt sie. »Bill Wilson ist höchstwahrscheinlich ein Deckname. Können Sie uns sagen, wer das geschrieben haben könnte? Wer hat Alan Duffrey so nahegestanden, dass er eine solche Drohung ausstoßen würde?«
»Kann sein, dass der Brief nicht ernst gemeint ist«, fügt Tom hinzu. »Aber falls doch, retten Sie möglicherweise ein paar Menschenleben.«
»Also, ich steh jedenfalls nicht auf Kinderpornos«, sagt Tolliver, und Izzy wird klar, dass er mit Schmerzmitteln vollgepumpt ist. »Das hab ich den anderen Cops schon gesagt. Und dem Staatsanwalt, diesem Trottel. Allen heißt der. Das Zeug, das man auf meinem Computer gefunden hat, hab ich bloß gespeichert, damit man mir glaubt. Hab’s anfangs gelöscht, aber wiederhergestellt, als ich krank wurde. Sind Kopien von dem Zeug, das ich Duffrey geschickt hab.« Als er das sagt, hebt er die Oberlippe wie ein knurrender Hund, und Izzy sieht, dass ihm mehrere Zähne fehlen. Die verbliebenen werden allmählich schwarz. Außerdem stinkt er tatsächlich: Eau de Pisse, Eau de Merde und Eau de Mort. Sie kann es kaum erwarten, hier rauszukommen und frische Luft zu atmen.
»Der hatte bekanntlich nicht nur diesen Mist auf seinem Computer, sondern besaß auch einschlägige Zeitschriften«, sagt Tom. »Ich hab mit Doug Allen gesprochen und auf der Herfahrt die Akte studiert. Eins von den Heften heißt Uncle Bill’s Pride and Joy. Absolut ekelhaft.«
»Wenn das Zeug wirklich von Ihnen stammt …«, sagt Izzy.
»Das tut es, und Allen, dieser Trottel, weiß das auch. Schließlich hab ich ihm im Februar, gleich nachdem ich die Diagnose bekommen hab, einen Brief geschickt. Hab ihm alles erklärt und dabei Sachen verraten, die nicht in der Zeitung standen. Aber er hat nichts unternommen. Duffrey sollte in Freiheit sein. Und der Schuldige, das ist dieser Staatsanwalt.«
»Also, wenn das Zeug wirklich von Ihnen stammt, dann ist es uns egal, wie Sie es Duffrey untergeschoben haben«, sagt Izzy. »Wir wollen nur wissen, wer den Brief da geschrieben haben könnte.«
Anstatt sie anzusehen, richtet Tolliver den Blick unverwandt auf Tom. Was Izzy nicht sonderlich erstaunt: Wenn sie gemeinsam mit einem männlichen Kollegen ermittelt, ignorieren männliche Gesprächspartner sie in der Regel. Oft auch weibliche.
»Die Pornohefte hab ich im Darkweb gekauft«, sagt Tolliver. »Dann hab ich mich in sein Haus geschlichen – die Tür zum Keller war nicht abgeschlossen – und hab das Zeug hinter seinem Heizkessel versteckt.«
»Verraten Sie uns endlich, wer Duffrey nahestand«, sagt Izzy. »Wer so zornig sein könnte, dass er …«
Tolliver beachtet sie weiterhin nicht. Was er sagt, ist an Tom Atta gerichtet, und dabei kommt er immer mehr in Fahrt. »Wollen Sie wissen, wie ich die Fotos auf seinen Computer gekriegt hab? Das hab ich dem Staatsanwalt alles erklärt, aber der Trottel hat es einfach ignoriert. Nachdem ich meinen Frieden damit gemacht hatte, dass ich sterben muss – mehr oder weniger, so wie jedermann –, hab ich mich daher an Buckeye-Brandon gewandt. Der hat mir zugehört. Also, ich hab Duffrey ’ne Nachricht geschickt, die angeblich von USPS stammen sollte. Über ein fehlgeleitetes Paket. Eigentlich weiß jeder, dass so was Phishing ist, selbst alte Omas wissen das, aber dieser Hohlkopf – angeblich clever genug, Chef der Kreditabteilung zu werden, aber in Wahrheit dumm wie Bohnenstroh –, dieser Hohlkopf hat doch tatsächlich auf den Link geklickt. Da hatte ich ihn in der Tasche. Ich hab ihm eine Zipdatei geschickt, die wiederum in einer anderen versteckt war. Aber den Tod hab ich ihm nicht gewünscht. Deshalb hab ich mich gemeldet.«
»Nicht, weil man Ihnen gesagt hat, dass Sie bald sterben müssen?«, fragt Izzy unwillkürlich, obwohl sie nicht deshalb hergekommen sind.
»Na ja … klar. Das hatte auch was damit zu tun.« Tolliver gönnt ihr einen kurzen Blick, dann wendet er sich wieder an Tom. »Ein Teil von der Schuld liegt doch bei dem Kerl, der ihn erstochen hat, oder etwa nicht? Ich wollte nur, dass er im Register steht, wenn er aus dem Gefängnis kommt. Den Posten hätte nämlich ich bekommen sollen. Den hätte ich verdient gehabt, und er hat ihn mir geklaut.« Unglaublicherweise bricht Tolliver in Tränen aus.
»Leute aus Duffreys Umfeld«, sagt Izzy. Sie überlegt, ob sie Tolliver auf die dürre Schulter tippen sollte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, kann sich jedoch nicht dazu überwinden. Bei seinem Gestank dreht sich ihr schier der Magen um. »Helfen Sie uns, wer da infrage kommt, dann lassen wir Sie in Frieden.«
»Reden Sie mit Pete Young von der Kreditabteilung. Mit Claire Rademacher, der Oberkassiererin. Mit den beiden war er oft zusammen. Oder mit Kendall Dingley, das ist der Filialleiter.« Wieder hebt er die Oberlippe wie ein verärgerter Hund. »Kendall hat keinerlei Grips im Kopf, der hat den Posten nur gekriegt, weil sein Großvater die Bank gegründet hat und weil sein Onkel Feuerwehrchef ist. Nach dem alten Hiram Dingley ist bekanntlich sogar ein Park benannt. Eigentlich hätte ich Kendall auch ein paar Kinderpornos schicken sollen, dann hätten alle gedacht, er und Duffrey stecken unter einer Decke, aber das hab ich nicht getan, weil ich ein gutes Herz hab. Mir ist schon klar, dass Sie mir das nicht abnehmen, aber im Grunde hab ich ein gutes Herz. Jedenfalls hat sich Duffrey immer alle Mühe gegeben, Kendall in den Arsch zu kriechen. Bloß deshalb haben sie ihm den Posten gegeben, der mir zugestanden hätte.«
Izzy notiert sich die Namen. »Sonst noch jemand?«
»Vielleicht war er da, wo er wohnte, mit wem befreundet, aber da hab ich keine Ah…« Tolliver verzieht das Gesicht und hebt seinen schwangeren Bauch an. Dann lässt er einen donnernden Furz fahren, und als der Gestank Izzy erreicht, denkt sie, der wäre stark genug, die Lunge zu verätzen. »Scheiße, tut das weh. Ich muss in mein Zimmer. Inzwischen hat man die Schmerzpumpe bestimmt wieder zurückgesetzt. Schieben Sie mir meinen Rollstuhl her, ja?«
Tom beugt sich vor, mitten hinein in den Gestank. »Für Sie mache ich nicht mal den kleinen Finger krumm, Cary. Falls Sie die Wahrheit sagen, haben Sie einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht, wo jemand ihm was Spitzes in den Leib gerammt hat. Und dann hat es einen ganzen Tag gedauert, bis er starb. Sie meinen, dass Sie Schmerzen haben, ja? Der Mann hatte bestimmt welche, und zwar unverdient. Am liebsten würde ich Ihnen eins in den aufgeblähten Bauch geben, wenn das nicht den nächsten Furz zur Folge hätte.«
»Meine Frau hat mich verlassen«, sagt Tolliver, der immer noch weint. »Die Kinder hat sie mitgenommen. Dabei hab ich es nicht nur für mich getan, sondern auch für sie, schließlich hat sie ständig genörgelt, wir könnten uns dies und das nicht leisten. Und wer kümmert sich jetzt um meine Beerdigung? Na? Wer wird das tun? Mein Bruder? Meine Schwester? Die antworten nicht mal auf E-Mails. Meine Mutter hat gesagt …«
»Interessiert mich nicht, was die gesagt hat.«
»Sie hat gesagt: ›Wie man sich bettet, so liegt man.‹ Ist doch beschissen, oder etwa nicht?« Er hebt das Becken und lässt den nächsten Trompetenstoß los.
»Machen wir, dass wir wegkommen«, sagt Izzy. »Wir haben alles erfahren, was er weiß.«
»Ich hab alles zugegeben«, ruft Tolliver den beiden hinterher. »Zwei Mal sogar. Erst gegenüber diesem Trottel, der sich Staatsanwalt nennt, und dann gegenüber Buckeye-Brandon. Das hätte ich nicht tun müssen. Und was ist jetzt aus mir geworden? Ach!«
Als Izzy und Tom zum Stationszimmer kommen, ist die Schwester in der weißen Viskoseuniform damit beschäftigt, Formulare auszufüllen.
»Er will in sein Zimmer«, sagt Holly. »Seine Schmerzpumpe wär jetzt wieder zurückgesetzt, hat er gesagt.«
»Der kann warten«, sagt die Schwester, ohne aufzublicken.
Es ist Mai, und das Wetter ist herrlich.
Nicht weit vom Stadtzentrum liegt der von Bäumen beschattete Vorort namens Upriver. An seinem Nordrand befindet sich eine kleine Grünanlage, wo ein paar Leute gerade Meditationshaltungen üben, bei denen es sich eventuell um Asanas handelt (oder auch nicht). Wie man das nennt, ist Trig egal. Hauptsache, die Gruppe hat den Blick auf den Horizont gerichtet, nicht auf ihn. Das ist gut. Er hat sich irgendwo an einem Drive-in-Schalter einen Hamburger besorgt, den aber nach ein paar Bissen auf den Beifahrersitz geworfen. Zum Essen ist er zu nervös. Der Brief, den er an die Polizei geschickt hat, war eine Warnung. Jetzt wird es ernst.
Noch bleibt die Frage bestehen, ob er wirklich in der Lage sein wird, es auch zu tun. Was kein Wunder ist. Zwar glaubt er, es tun zu können, aber sicher wissen wird er es erst, wenn es vollbracht ist. Als Junge hat er mit dem Luftgewehr Eichhörnchen und Vögel abgeknallt, und das war okay. Gut sogar. Als sein Vater ihn das einzige Mal auf die Hirschjagd mitgenommen hat, durfte Trig keine eigene Waffe mitnehmen. So, wie ich dich kenne, hat sein Vater gesagt, trittst du bloß in ein Loch und schießt dir den Fuß weg. Wenn sie einen Hirsch zu Gesicht bekämen, hat Daddy gesagt, würde er Trig schießen lassen, aber sie haben keinen gesehen, und Trig ist sich ziemlich sicher, dass sein Vater ihm das Gewehr ohnehin nicht überlassen hätte. Der hätte den Schuss für sich reserviert.
Und jetzt soll Trig seine Unschuld verlieren, indem er einen Menschen tötet? Sobald er die Grenze überschritten hat, kann er nie wieder zurück, daran besteht kein Zweifel.
Die an der kleinen Grünanlage vorbeiführende Straße hat einen amüsanten Namen: Anyhow Lane. Es ist eine Sackgasse. Trig war bereits dreimal hier und weiß, dass sich am Ende ein Zugang zum Buckeye-Trail befindet, dem dreißig Kilometer langen Wanderweg. Früher verlief dort eine Eisenbahnstrecke, doch vor dreißig Jahren hat man die Schienen entfernt und durch einen breiten, von der County finanzierten Asphaltweg ersetzt, der sich zwischen Bäumen und Sträuchern hindurchschlängelt, bis er schließlich neben dem Turnpike herauskommt und am eigentlichen Stadtrand endet.
Am Ende der Anyhow Lane gibt es einen kleinen, unbefestigten Parkplatz, wo ein Schild verkündet: PARKENNACH19 UHRVERBOTEN