Keine Tränen für Allah - Kholoud Bariedah - E-Book
SONDERANGEBOT

Keine Tränen für Allah E-Book

Kholoud Bariedah

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein hoch aktuelles Frauen-Schicksal, von der Autorin aufgezeichnet: Wegen einer Nichtigkeit wird die junge Saudi-Araberin Kholoud Bariedah zu vier Jahren Gefängnis und 2000 Stockhieben verurteilt. Zur Strafverkürzung lernt sie den ganzen Koran auswendig – und wendet sich nach ihrer Freilassung öffentlich vom Glauben ab, um sich für die Rechte der Frau in der islamischen Welt einzusetzen. In ihrem eigenhändig geschriebenen Buch "Keine Tränen für Allah" schildert sie ihre schier unglaubliche und ergreifende Geschichte: Kholoud Bariedah ist 20 Jahre alt, als sie 2006 mit einer Gruppe enger Freunde in einer Privatwohnung in ihrer Heimatstadt Dschidda feiert. Doch die Party wird von der saudischen Religionspolizei gestürmt - wenn junge Männer und Frauen gemeinsam feiern, ist dies nach saudischem Recht ein strafbares Vergehen. Kholoud wird zu vier Jahren Gefängnis und 2000 Stockhieben verurteilt. Sie kommt in eine Besserungsanstalt für Frauen nach Mekka. Dort lernt sie viel über Frauen-Schicksale in ihrem Heimatland, wo junge Mädchen zuweilen nach verbüßter Haft und durchlittener Prügelstrafe das Gefängnis nicht verlassen können, weil sie dafür von einem männlichen Familienmitglied abgeholt werden müssten, die Väter sich jedoch von ihnen abgewandt haben. Kholoud Bariedahs Vater hält zwar zu ihr, kann aber nicht verhindern, dass sie erst in Einzelhaft ausharren und dann die angeordnete Prügelstrafe über sich ergehen lassen muss. In der Besserungsanstalt gibt es allerdings eine Regel: Wer den Koran auswendig lernt, kann früher aus der Haft entlassen werden. Das ist nie zuvor einer der Insassinnen gelungen. Kholoud nimmt die Herausforderung an - und darf nach eineinhalb Jahren und "nur" 600 Stockschlägen die Haftanstalt verlassen. Doch der Aufenthalt hat sie gezeichnet. Kann es wirklich Allah sein, der sie so grausam straft? Ist das im Sinne des Islam? Warum haben Frauen in ihrer Heimat keine Möglichkeit, sich gegen Unrecht zu wehren? Der Zweifel an ihrem Glauben wächst - in dessen Namen die Frauen in ihrem Land Saudi-Arabien wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Schließlich bekennt sich Kholoud Bariedah 2014 während eines Istanbul-Aufenthalts auf Facebook öffentlich zum Atheismus und ist damit die erste saudische Frau überhaupt, die diesen Schritt wagt. Nie mehr wird sie in ihr Heimatland zurückkehren können. Heute hat sie in Berlin eine neue Heimat gefunden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 412

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kholoud Bariedah

Keine Tränen für Allah

Wie ich von Tugendwächtern verurteilt wurde und dem Frauengefängnis von Mekka entkam

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein hoch aktuelles Frauen-Schicksal, von der Autorin aufgezeichnet: Wegen einer Nichtigkeit wird die junge Saudi-Araberin Kholoud Bariedah zu vier Jahren Gefängnis und 2000 Stockhieben verurteilt. Zur Strafverkürzung lernt sie den ganzen Koran auswendig – und wendet sich nach ihrer Freilassung öffentlich vom Glauben ab, um sich für die Rechte der Frau in der islamischen Welt einzusetzen.

Inhaltsübersicht

WidmungMein immer wiederkehrender AlbtraumWie es wirklich passiert istDie Polizei untersucht den VorfallIn der Hölle der JustizEinzelhaftHunger nach LebenEine neue Form der EinzelhaftIn einer anderen WeltHeilige GesetzeHochzeit in der AnstaltAnstaltsalltagDas Koran-VersprechenKüchendienstGottes PrüfungenPutzdienstNur die Starken überlebenDie Mädchen der AnstaltTun die Stockschläge weh?Ein erster Teil ist geschafftLesbische LiebeDie Nähe zu GottWie soll es nur weitergehen?Meine Freundin – eine Mörderin?Mama, bitte komm nicht nach Mekka!Der Zorn der DirektorinMutterliebeRamadanAls hätte ich Gott geschaut!Die Tochter des ErmittlersWeil Gott mich siehtEnde des Ramadan: Droht mir Strafverschärfung?Das OpferfestDie ersten HiebeWenn man nicht weiß, was schlimmer istDer Himmel über der AnstaltEin Geräusch von FreiheitDer MenschenrechtsausschussNicht ohne meinen VormundZeit der ersten AbschiedeHinrichtung ohne GnadeDie KoranbrautDer FlaschenhalsDas VersprechenWeihnachtsmärkteNachwortDanksagung
[home]

Für

meine Mutter,

die in mir von Kindheit an die Liebe zur Literatur

geweckt hat und die bald darunter leiden musste.

 

Für

meinen Vater, meine schöne Schwester und alle meine lieben Menschen,

die unter meiner Abwesenheit leiden und auch,

weil ich diese Worte veröffentliche.

 

Für

meine wunderschöne Heimatstadt Dschidda,

an deren Stränden ich einen Teil meines Herzens gelassen habe.

 

Für

alle, die mich bzw. Saudi-Arabien hassen,

denn sie sind es, die in mir den starken Wunsch geweckt haben,

die Unvollkommenheiten zu beheben, für die sie uns tadeln.

[home]

Prolog

Mein immer wiederkehrender Albtraum

Sie stand in der Tür zu meinem Zimmer und starrte mich bedauernd an. Ich setzte mich erstaunt im Bett auf und versuchte, mich zu vergewissern: Sie war es, sie sah aus wie damals, als ich ihr zum letzten Mal gegenübergestanden hatte. Sie trug ihr gemustertes Gebetsgewand und ihre Brille mit dem silbern glänzenden Rand. Nur ihre Augen wirkten sonderbar auf mich. Aber ich zweifelte nicht: Es war Ahlam.

»Bist du tot?«, wollte ich sie fragen, aber ich bekam den Mund nicht auf. Ich wollte aufstehen, doch ich war wie gelähmt.

Dann verschwand sie plötzlich und ließ mich in einer beängstigenden Dunkelheit zurück, und um mich herum hörte ich Stimmen. Sie waren mir vertraut, aber ich konnte sie nicht zuordnen.

 

Mein Kopf prallt heftig gegen etwas Hartes, ich taste nach, es ist die Lampe. Ich verharre bewegungslos, bis ich begreife, was geschehen ist. Ich habe wieder einmal schlecht geträumt. Ich schlage die Decke zur Seite, springe aus dem Bett und gehe zum Spiegel, um nachzusehen, ob ich mir die Stirn aufgeschlagen habe. Mein Herz klopft wild nach diesem unsanften Erwachen. Die Stelle, wo ich mich an der Lampe gestoßen habe, tut mir noch immer weh, aber meine verschlafenen Augen können nichts scharfstellen. Ich trete noch näher an den Spiegel und da sehe ich ihn, einen roten Fleck mitten auf der Stirn.

Verärgert frage ich mich, wie ich mir den Kopf an der Lampe hatte stoßen können. »Ich hätte sie weiter zur Seite stellen müssen«, denke ich, reibe mir die Stirn und hoffe, dass ich keine Beule davontrage, die man tagelang sehen wird. »Ich habe so viel zu erledigen. Was soll ich den Leuten sagen, wovon ich diese Beule habe?«

Ich lege mich zurück ins Bett und schaue auf den Wecker. Es ist drei Uhr morgens.

Wie lange soll das noch so weitergehen? Seit Wochen habe ich nicht mehr ausgeschlafen. Jede Nacht wache ich ein- oder zweimal auf, sei es aus einem Albtraum oder wegen eines Gedankens, der mir nicht aus dem Kopf geht. Ein Gedanke, der Gestalt annimmt und mir ins Ohr flüstert und mich aufweckt. Wie kann man beim Schlafen eigentlich denken? Keine Ahnung, ich tue es jedenfalls, wie bei einem Selbstgespräch. Dann wache ich auf, und es kommt mir vor, als hätte ich gar nicht geschlafen, sondern mich mit jemandem unterhalten, und die Stimme meines Gegenübers hätte mich aufgeweckt. Aber dass ich mich nun auch noch im Schlaf verletze …

Seit mir diese verrückte Idee durch den Kopf geht, ist in meinem Leben nichts mehr wie zuvor. Ich habe mich noch nicht entschieden, aber allein der Gedanke daran, aufzuschreiben, was ich erlebt habe, wühlt mich auf. Wie soll ich überhaupt schreiben, wenn ich mich nur an Gefühle erinnere, die mich bis heute als Albträume heimsuchen? Ich entsinne mich nicht einmal mehr der meisten Namen meiner Mitgefangenen von damals. Der Arzt hatte wohl recht, als er mich davor warnte, die Schlaftabletten abzusetzen. Diese Idee, alles aufzuschreiben, gehört wahrscheinlich zu den Symptomen meiner Krankheit. Ich brauche dringend eine Therapie.

Ich war schon bei vielen Ärzten, aber sie verschreiben mir alle dasselbe Medikament. Seit fünf Jahren versuche ich, ihnen zu erklären, dass ich gar nicht krank bin. »Sie sind geistig gesund«, versichern die Ärzte mir, »aber was Sie durchgemacht haben, würde bei jedem Menschen eine Krise hervorrufen. Sie haben es noch recht gut verkraftet, aber nehmen Sie doch bitte diese Pillen, damit Sie die bösen Erinnerungen loswerden.« Dann greifen sie zum Rezeptblock und verschreiben mir immer wieder dasselbe Mittel und ermahnen mich, es auch regelmäßig einzunehmen. Bei meinem ersten Arztbesuch hatte ich das nicht erwartet. Ich hatte nicht vorgehabt, jahrelang Tabletten nehmen zu müssen. Aber immer wenn sie mich fragen, worunter ich leide, erzähle ich ihnen die gleiche langweilige Geschichte, und sie verschreiben mir das Medikament. Wie soll ich mich dagegen wehren? Es ist wohl mein Schicksal, lebenslänglich Pillen zu schlucken.

Zum Glück habe ich von dem Zusammenstoß mit der Lampe keine Wunde im Gesicht oder am Auge davongetragen.

Ich strecke meine Hand nach der Flasche mit dem Rotwein aus, gieße mir ein wenig in ein Glas und zünde eine Zigarette an. Ich lehne den Kopf an den Bettrand und betrachte, wie der Rauch meiner Zigarette durchs Zimmer wabert, ohne abzuziehen; die Fenster habe ich fest verschlossen. »Wie ich verrauchte Räume hasse«, geht es mir durch den Kopf, und gleich darauf bin ich wieder bei dem Thema, vor dem ich vergeblich zu fliehen versuche: Wenn ich nicht versuche, mir selbst zu helfen, lande ich noch im Irrenhaus.

Kein Mensch kann ohne Schlaf leben, aber ich schlafe fast nie. Vielleicht gelingt es mir mal für zwei oder drei Stunden, aber dann wecken mich ein Traum oder meine laut gedachten Gedanken. Aber in dieser Nacht war es kein Albtraum, und kein Selbstgespräch hat mich geweckt. Stattdessen ist mir Ahlam erschienen. Sie sah genauso aus, wie ich sie zuletzt gesehen habe. Wie gerne würde ich sie noch einmal treffen oder sie besuchen. – Ausgeschlossen. Nicht einmal der Straße, in der jener Unglücksort liegt, habe ich mich danach je wieder nähern können.

Monatelang hatte ich darüber nachgedacht, ihr einen Besuch abzustatten, bis ich in der Zeitung ein Bild von ihr sah. Eigentlich erkannte ich sie erst, als ich die Überschrift dazu las, denn zu sehen war nur ihr auf dem Boden liegender Körper, bedeckt von einem schwarzen Gewand. Es war, als wollten sie ihre Hinrichtung mit diesem nutzlosen Foto dokumentieren. Ich kann mich an den Tag, an dem ich diese Meldung bemerkte, kaum erinnern. Ich weiß nicht mehr, was ich gefühlt oder was ich danach gemacht habe. Ich weiß nur noch, wie ich im Auto meines Freundes saß, wir ziellos durch Dschidda fuhren und ich die Nachricht las. Alles andere habe ich dank der Tabletten, die mich in einem Zustand falscher Euphorie hielten, vergessen. Ich konnte die Pillen zwar nicht ausstehen, aber sie halfen mir immerhin, die schreckliche Nachricht auszuhalten und viele andere qualvolle Erinnerungen zu verdrängen. Allein aus Willenskraft und Standhaftigkeit hätte ich es nicht geschafft. Aber die Erinnerungen verschwanden nicht, sondern versteckten sich nur in meinem Unterbewusstsein, und jetzt, seit ich die Pillen abgesetzt habe, erstehen sie in Gestalt von nächtlichen Schreckensträumen von Neuem.

Vorwurfsvoll hatte sie mich angesehen, so als wüsste sie alles über mich und sei entsetzt darüber. Seltsam. Kannte sie die Wahrheit noch immer nicht? Wie konnte es sein, dass sie, die Tote, noch immer nicht begriffen hatte, was zu begreifen uns Lebenden so schwerfällt? In meinem Traum konnte ich, warum auch immer, ihre Blicke deuten. Sie schienen mich zu fragen, woher ich den Mut genommen hatte, mich vom Islam loszusagen. Alles wäre in Ordnung, wenn ich ihre Erscheinung wirklich für einen Traum halten könnte, aber dazu war sie zu real gewesen. Ich konnte Ahlam spüren und wäre auf sie zugegangen, wenn ich nicht so gelähmt und stumm gewesen wäre. So seltsam das alles war, es hatte mich nicht erschreckt, sie zu sehen, und am liebsten hätte ich sie umarmt. Erst als sie verschwand und die Stimmen mich bedrängten, schlich sich Furcht in mein Herz.

Ich weiß jetzt auch wieder, wessen Stimmen das waren. Ich kann sie noch immer hören.

Ich seufze laut und stütze den Kopf in die Hände. »Mein Gott, ich war doch kurz davor zu vergessen. Warum höre ich jetzt diese Stimmen wieder?« Die Stimmen lärmen noch stundenlang weiter und treiben mich fast in den Wahnsinn. Ich halte mir die Ohren zu, aber ich höre sie noch immer. Sie schreien und klingen unerträglich trostlos. Ich schreie innerlich dagegen an, um meine Gedanken zu vertreiben: »Verschwindet aus meinem Kopf! Ich will mich an keine von euch erinnern! Mein Gott, was soll ich nur machen? Ich brauche Ruhe.« Am liebsten würde ich mir den Teil mit diesen Erinnerungen aus dem Gehirn operieren lassen.

Ich hatte nur so getan, als hätte ich sie vergessen, jene Frauen, deren Lärm mich nie hatte schlafen lassen. Wie sie endlos an die Türen schlugen und Tag und Nacht schrien und heulten. Selbst wenn sie aus unerfindlichen Gründen lachten, klang es, als würden sie Tierstimmen nachmachen. Mit fast allen Langzeitgefangenen in der Anstalt ging das so. Sie wussten genau, dass die Wärterinnen ihnen nicht die Tür öffnen würden, egal wie sie dagegenhämmerten, aber sie unterbrachen ihren Lärm nur für wenige Stunden am Tag. Auch ich war dort in Einzelhaft, und auch ich schlug Tag und Nacht gegen die Tür, bis ich begriff, dass diese niederträchtigen Wärterinnen gar nicht daran dachten, aufzumachen, und dass sie sich überhaupt nicht für mich interessierten. Und so schlug ich dennoch weiter gegen die Tür, machte eine Pause und versank in Todesweinen. Eines Tages, dachte ich, würde mich meine Seele vor lauter Weinen verlassen, ja ich hoffte es von ganzem Herzen. Aber das Einzige, was geschah, war, dass ich abrupt einschlief.

Dann erwachte ich wieder aus bleiernem Schlaf und hörte das endlose Gegen-die-Tür-Schlagen der anderen. Bis plötzlich alles verstummte. Ich weiß nicht mehr, ob wirklich Ruhe herrschte oder ob ich kapitulierte. Jedenfalls hörte ich nach ein paar Tagen, die mir wie Jahre vorkamen, nichts mehr.

Jede Nacht hatte ich in meiner Einzelzelle Angstvorstellungen, und die Panik brachte mich schier um. Es war nicht die Angst vor Dschinnen oder Geistern, sondern die Angst davor, nie mehr dort herauszukommen – und die Angst vor mir selbst. Gedanken, in die ich mich hineinsteigerte, und der Leidensdruck nahmen mir jede Ruhe. Pausenlos dachte ich daran, wie ich mein Martyrium beenden könnte, und nur der Tod, glaubte ich, könnte dieses Mittel sein. Ich dachte ernsthaft an Selbstmord, aber wie sollte man das in der Einzelzelle anstellen? Ich hatte nur ein Bett und Wände, die ich immer wieder anfasste, während ich daran dachte, mit dem Schädel so stark dagegenzuschlagen, dass er brach. Ein Tod, wie ich ihn nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen würde. Wie naiv, zu glauben, man könne sich selbst den Kopf an einer Wand einschlagen.

Dann kam die Prügelstrafe. Mit einem Rohrstock wurde mir auf den Rücken geschlagen, der Schmerz zerriss mich, und das Herz brach mir vor Demütigung. Aber das Schlimmste blieb die Einzelhaft, in der man jede Stunde fürchtet, man werde für immer dort eingesperrt bleiben. Sie werfen einen in die Zelle und niemand kommt, der nach einem fragt. Man glaubt, sie wollen einen töten, ohne dass Blut fließt, und lassen einen deshalb langsam sterben. Und man wünscht sich, der Tod möge möglichst schnell kommen und einen vom schwachen Leib und Herz befreien. Und von diesem Hirn mit seinen schrecklichen Gedanken. Ich könnte schwören, dass jedes Mädchen, das in der Anstalt in Einzelhaft war, lieber gestorben wäre, als so weiterzuleben.

All die vergangenen Jahre über habe ich darauf hingearbeitet, diese Momente und Gefühle zu verdrängen, und meine einzige Furcht war die, die Anstalt irgendwann einmal wiederzusehen.

Die Insassinnen hatten es mir vorhergesagt: Sobald ich endlich in Freiheit sei, würde ich unter der Angst leiden, wieder zurückzumüssen. Ich würde es vermeiden, mich schlafen zu legen, um nicht davon zu träumen, ich sei wieder dort. Und je mehr Angst ich hätte, desto wahrscheinlicher wäre es, dass sich die Tore eines Tages wieder hinter mir schlössen.

Ich glaubte ihnen nicht, aber sie versicherten mir lachend, dass dieses Gefängnis verflucht sei. Wer einmal hier gewesen ist, der kommt eines Tages wieder. »Sieh dich um«, sagten sie, »wir sind alle nicht zum ersten Mal hier. Die meisten Mädchen hier kennen die Anstalt besser als ihre eigene Wohnung. Ihr Neuankömmlinge werdet es schon sehen. Der Fluch beginnt mit deiner Ankunft, und er verfolgt dich, bis du dreißig bist. Erst dann wirst du wieder ruhig schlafen können, weil du weißt, dass du nie wieder hierher zurückkommen wirst.« Dies war eine Anstalt nur für junge Frauen. »Aber bis dahin kannst du dir schwören, wie du willst, dass du nie wieder ein Gesetz brechen und fortan wie eine Heilige leben wirst. Du kannst dir auch vornehmen, als Korangelehrte zu missionieren. Aber wenn du erst draußen bist, wird der Sog unwiderstehlich sein, zu tun, wofür man dich schon einmal eingesperrt hat. Du bist wie hypnotisiert und wirst erst wieder zu Bewusstsein kommen, wenn du wieder in deiner Einzelzelle hockst.«

Jahrelang nehme ich nun schon Medikamente in verschiedenen Formen und Farben, damit ich die Namen meiner Mitgefangenen und die Gesichter der Wärterinnen vergesse, ja damit ich mich nicht mehr erinnern kann, dass ich einmal dort gewesen bin.

[home]

1.

Wie es wirklich passiert ist

Alles begann im Februar 2006. Ahmad ließ das Glas fallen, das er in der Hand gehalten hatte, als er sah, wie die Tür zu seiner Wohnung aufgebrochen wurde. Wir waren seine Gäste. Plötzlich aber drangen Männer mit Bärten ein, mit Langhemden und den dunklen Flecken auf der Stirn, die vom stundenlangen Beten kommen. Randa und Nura schrien und suchten vergeblich nach einem Fluchtweg. Yussuf war nicht in der Lage, die Fernbedienung in die Hand zu nehmen, um die Musik leiser zu drehen. Aufgrund der gedämmten Wände hatte man sie draußen nicht gehört, aber nun stand die Tür weit offen. Ich blickte mich überrumpelt um und bemerkte, dass sie mit Ahmad und Talal stritten. Die beiden wollten die Eindringlinge daran hindern, uns Mädchen mitzunehmen. Aber es kamen bereits weitere Männer die Treppe hochgestürmt und begannen, auf alle einzuprügeln. Randa und Nura gaben auf. Die Angst lähmte mir fast die Beine. Alles, was ich wusste, war, dass diese Männer uns Übles wollten.

Ich war zu keiner Bewegung fähig, während sie sich auf meine Freunde stürzten, die sich wehrten, so gut sie konnten, aber mich schienen sie vergessen zu haben, vielleicht weil ich so regungslos dasaß. Hunderte Gedanken stürmten auf mich ein, aber ich fürchtete mich in erster Linie davor, dass mich einer der Angreifer vergewaltigen könnte. Ahmad lief bereits Blut über das Gesicht. Sie schlugen ihn, als sei er der schlimmste Saboteur in ganz Saudi-Arabien oder ein lange gesuchter Spion. Plötzlich sprang ich auf und rannte zur Tür, aber einer der Männer hielt mich fest. In das Schwarz seines dichten Bartes mischten sich weiße Haare, der Gesichtsausdruck war düster, und in seinen Augen standen Wut und Hass.

Ich schrie und versuchte mich loszureißen, doch er schlug mich. Da trat ich ihm mit aller Kraft zwischen die Beine, und es wirkte: Er ließ mich los. Ich ließ ihn schmerzgekrümmt zurück und rannte in Richtung Treppe. Mein schwarzer Überwurf und meine Handtasche blieben liegen. In der Tasche waren mein Ausweis und mein Handy. Ohne Plan – und ohne darüber nachzudenken, wie ich nur mit Jeans und Trägerhemd bekleidet auf die Straße gehen konnte – lief ich los. Ich wollte weg, ich wollte zur Polizei. Aus dem dritten Stock raste ich wie eine Wahnsinnige die Treppe hinunter. Sie durften mich nicht erwischen. Ich fiel hin und knallte mit dem Gesicht auf den Boden, doch ich konnte mich wieder hochrappeln. Ich rannte weiter, als wäre der Tod persönlich hinter mir her. Endlich war ich auf der Straße. Wer weiß, was sie mir angetan hätten, wenn sie es geschafft hätten, mich festzuhalten. Schließlich hatten sie sich während ihres Überfalls vorgestellt: »Wir sind vom Amt zur Förderung der Tugend und zur Verhütung des Lasters.«

Jeder saudische Bürger, der es mit diesen Tugendwächtern zu tun bekommt, sollte eigentlich wissen, dass es dumm ist, vor ihnen ausgerechnet zur Polizei zu fliehen, aber genau das war mein Plan. Ich bahnte mir einen Weg durch die Umstehenden, die vor dem Gebäude sehen wollten, welchen Fang die Religionspolizei hier wohl gemacht hatte und in ihren Lastwagen verfrachten würde. Die meisten Leute hassten sie. Als mich ein Spitzel festzuhalten versuchte, hinderten ihn ein paar junge Männer daran. Ein anderer zog sich das Hemd aus und warf es mir über, damit ich nicht so leicht bekleidet durch die Straßen laufen musste. Die Leute bildeten eine Gasse, und schließlich konnte ich entkommen. In einiger Entfernung stand ein Polizeiauto, ich rannte hin, öffnete die Tür und warf mich auf den Rücksitz.

Die beiden Polizisten starrten mich an, während ich um Atem rang und am ganzen Körper zitterte. Mir blieb fast das Herz stehen vor Panik.

»Ich will zu meinem Vater. Rufen Sie meinen Vater an«, stammelte ich immer wieder.

Einer der Beamten fragte mich nach der Nummer, und ich diktierte sie ihm langsam und mit zittriger Stimme.

Irgendwann fand ich mich in einem Krankenwagen wieder und wurde ins König-Fahd-Krankenhaus gebracht.

 

Der Notarztwagen sauste mit mir durch die Stadt. Irgendwann erkannte ich plötzlich die Positionslichter über dem Krankenhaus. Es war wie ein böser Traum, aus dem ich hoffentlich gleich erwachen würde.

Da stand mein Vater, umgeben von Männern, die scheinbar ganz vertraut mit ihm sprachen. So laut ich konnte, rief ich: »Papa!« Er wandte sich sofort zu mir um, aber zwei Krankenschwestern schoben mich an ihm vorbei zum Stationsarzt. Er sah den Schock auf meinem Gesicht und wies das Personal an, mich zu untersuchen und mir eine Infusion zu verabreichen. Der Arzt war ein Saudi mittleren Alters. An sein Gesicht kann ich mich kaum erinnern, aber ich weiß noch, welchen Groll er gegen die Männer vom Amt zur Förderung der Tugend und zur Verhütung des Lasters hegte, die mit ins Krankenhaus gekommen waren und nun herumstanden und darauf warteten, dass sie mich wieder mitnehmen konnten. Es war offensichtlich, dass er mich bedauerte, und er flüsterte vor sich hin: »Möge ihnen Unheil widerfahren!«

Mein Vater behielt die Nerven und schimpfte nicht mit mir. Er sah mich nur fragend an, so als sei er sich nicht ganz sicher, dass ich es tatsächlich war. Er hatte wohl Zweifel gehabt, ob wirklich von seiner Tochter die Rede gewesen war. Er sah aus, als befände er sich in einem bösen Traum, aus dem er hoffte, gleich endlich aufzuwachen.

Er beugte sich über mich und fragte: »Was war denn los? Wovon reden diese Leute?«

Ich umarmte ihn weinend. In diesem Moment wandte sich der Chef der lokalen Vertretung der Tugendbehörde an meinen Vater, eine fette Person mit relativ kurzem weißen Gewand, der sich ein Männerkopftuch übergeworfen hatte und einen spärlichen Kinnbart hatte. Aber zu meinem Papa sprach er ganz freundlich. Er bot an, uns in seinem Auto mitzunehmen. Ansonsten müsste ich mit dem offiziellen Amtsfahrzeug transportiert werden, denn bei meinem Vater dürfe ich leider nicht mitfahren. Er wollte wohl meinem Vater das Gefühl geben, er habe es mit einem netten und frommen Herren zu tun.

Es wurde die längste Nacht meines Lebens. Erst am Nachmittag des folgenden Tages sollte ich das nächste Mal schlafen können. Der Chef der lokalen Tugendbehörde saß persönlich am Steuer des Autos. Sein Beifahrer war ein dürrer junger Mann mit dicken Brillengläsern, der aussah wie alle seiner Kollegen: Er hatte ein kurzes, weißes Gewand übergeworfen, dazu das Kopftuch und ein langer Bart.

Der Fahrer und sein Begleiter redeten die ganze Fahrt über auf meinen neben mir sitzenden Vater ein. Man müsse sich um die jungen Männer und Frauen in unserem Land gut kümmern, gerade heutzutage. Es sei nun einmal wichtig, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, und in unserem Alter komme es schon mal vor, dass jemand einen Fehler mache. Aber genau deshalb müssten sie, die Hüter der Ordnung, uns den Weg zur Wahrheit weisen. »Es sind unser aller Söhne und Töchter, und Gott weiß, wie viel uns an ihnen liegt«, wiederholten sie dauernd.

Mein Vater zog es vor zu schweigen. Mal hörte er ihnen zu, mal schaute er mich an. Bestimmt wollte er mir tausend Fragen stellen, aber das ging in ihrem Beisein nicht. Schließlich schaute er nur noch aus dem Fenster.

Wir kamen bei der Wache der Tugendpolizei an. Ich hielt mich an der Hand meines Papas fest, als wir hineingingen, und hatte doch so viel Angst, dass mein Herz beinahe zersprang. Ich weiß nicht mehr, was sie zu meinem Vater sagten, aber dass sie mich überhaupt dorthin gebracht hatten, verhieß nichts Gutes.

Sie führten mich in ein Zimmer rechts vom Flur, in dem es seltsam aussah: Dutzende verpackter Geschenke stapelten sich neben Blumen und Puppen, und auf rotem Umschlagpapier standen Valentinsgrüße. Diese Pakete waren vermutlich die Beute ihrer Raubzüge aus den Tagen zuvor, als sie ausgeströmt waren, um jene verlorenen Seelen aufzustöbern, die es wagten, das unislamische »Fest der Liebe« zu feiern. Immer im Februar hörten wir in Saudi-Arabien von Pechvögeln, die man in Restaurants, in Cafés oder an den Stränden von Dschidda auf frischer Tat und mit hübsch verpackten Geschenken erwischte, die sie ihren Angebeteten überreichen wollten. Wer sich wie ich und meine Freunde am Wochenende heimlich einen schönen Abend machen wollte, den konnte es natürlich jederzeit treffen.

Ich erkannte die Stimmen, die aus den Räumen gegenüber zu uns schallten. Sie hatten meine Freunde also auch schon hergebracht. Ahmad beschimpfte seine Häscher unflätig, und Yussuf und Talal schrien. Ob aus Angst oder vor Schmerzen, konnte ich nicht erkennen, aber ich musste weinen und bat meinen Vater um Hilfe für sie, wohl wissend, dass er nichts tun konnte und dass er allmählich die Geduld mit mir verlor.

»Bitte, Papa, tu etwas! Die schlagen sie ja tot!«, flehte ich.

Er blickte mich streng an, als würde er mich nicht kennen. Ich wusste, wie wütend er auf mich sein musste, dass ich es so weit hatte kommen lassen. Seine Tochter feiert mit Freundinnen und fremden Männern in einer Privatwohnung, das Tugendamt stürmt die Versammlung, es gibt einen Skandal, und nun saßen wir alle fest. Ein solches Unglück hatte er sich nicht einmal in seinen Albträumen vorstellen können. Dass meine Freunde nun herumschrien und ich ihn auch noch aufforderte, ihnen zu helfen, musste seinen Ärger vergrößern.

Er öffnete die Tür des Raumes, in dem wir uns befanden, und sagte zu einem der Wächter auf dem Flur: »Was treiben Sie denn mit den jungen Leuten? Das sind doch gottesfürchtige Menschen. Die sterben noch an Ihren Schlägen. Wenn sie etwas falsch gemacht haben, dann werden sie ihre Strafe bekommen, aber Sie dürfen sich nicht in dieser Weise an ihnen vergehen.«

Der Wächter antwortete lächelnd, als liege ein Missverständnis vor: »Bei Gott, mein Herr, wir fassen sie nicht einmal an. Die schreien schon die ganze Zeit so herum und beschimpfen uns, ohne dass wir ihnen etwas getan hätten. Nehmen Sie wieder Platz, und machen Sie sich keine Gedanken. So Gott will, wird alles gut.«

»Die lügen, Papa«, erwiderte ich aufgeregt, »die haben sie so geschlagen, dass ihnen das Blut übers Gesicht lief!«

Mein Vater unterbrach mich streng: »Sei still, Kholoud! Ich will nichts mehr hören. Schweig, bis wir hier raus sind!« Eine Weile sagte er nichts, dann hielt er mir vor: »Siehst du, wo wir hier sind? In wessen Händen du dich durch eigenes Verschulden befindest? Du bist im Tugendamt, Kholoud, im Tugendamt! Sei still, bis wir hier wieder raus sind. Gott schütze uns.« Und dann wiederholte er alle paar Minuten mit angespannter Miene: »Gebe Gott, dass das hier nicht ausartet.«

Wir waren also tatsächlich in den Räumen des lokalen Amtes zur Förderung der Tugend und zur Verhütung des Lasters. Wie oft hatten wir gebetet, deren Schergen nie in die Hände zu fallen, solange wir uns unter Saudi-Arabiens Himmel befanden. Diese Behörde war eigens zur Einhaltung der göttlichen Gesetze ins Leben gerufen worden und sollte dafür sorgen, dass es niemand wagte, sie zu übertreten. Eigentlich sollte sie nur ein kleines Anhängsel des Innenministeriums sein, aber ihr Budget war größer als der gesamte Staatshaushalt vieler Nachbarländer. Das Amt kontrollierte das öffentliche Leben und öffentliche Einrichtungen in Saudi-Arabien, und niemand kam dagegen an. Seine Beamten schwärmten durch die Straßen und jagten Sünder, um sie zum Gehorsam zu zwingen. Was Gesetzesbruch ist, bestimmen sie allerdings selbst: Sie entscheiden, ob ihnen das Hemd nicht gefällt, das man trägt, oder ob sie es als Schamlosigkeit oder Unzucht werten, wenn man sich einen schönen Abend macht. Betrachtete man, wie sie auftraten, fragte man sich unwillkürlich, ob sie das Gesetz anwendeten oder ob sie es selbst machten. Sie versteckten sich hinter einer Verfassung, die der Staat eigens für sie geschrieben hatte, und so waren sie zu einer Macht, einem Staat im Staat geworden. Die Beamten waren immun gegen Kritik und Beschwerden, solange ihre Angehörigen vorschriftsmäßig einen langen Bart trugen und den Namen Gottes und des Propheten im Mund führten. Egal, wer man war: Die Leute von der Tugendbehörde waren am Ende immer die Gewinner, wenn man es mit ihnen zu tun bekam.

Kurze Zeit später stürmte in unser Zimmer genau jener Beamte, dem ich hatte entkommen können, weil ich ihn getreten hatte, bevor ich aus der Wohnung meiner Freunde gerannt war. Zwei Männer begleiteten ihn, und einer von ihnen hielt ihn am Arm, so als wolle er ihn beruhigen.

Der Tugendwächter schrie mich an: »Bei Gott, ich schwöre dir, du wirst es im Gefängnis noch bereuen, was du dir mir gegenüber erlaubt hast!«

Das war nun wiederum meinem Vater zu viel, und er sagte empört: »Sprechen Sie nicht so mit ihr! Ich bin ihr Vater. Wer sind Sie, dass Sie meiner Tochter drohen?«

»Ihre Tochter hat mich angegriffen«, erwiderte er und schwor wieder: »Bei Gott dem Allmächtigen, sollte ich auch nur den geringsten Schaden von deinem Tritt davontragen, dann werde ich dafür sorgen, dass ihr den Rest eures Lebens vor Gericht verbringt!« Mit energischen Schritten verließ er das Zimmer.

Mein Vater sackte sitzend zusammen, umfasste seine Knie mit beiden Händen und murmelte: »Gott, steh uns bei. Gott, steh uns bei.«

Drei Stunden blieben wir weiter im Amtsgebäude sitzen, ohne dass man uns einen Grund dafür nannte. Aber alle außer dem, der mir mit Strafe gedroht hatte, waren sehr freundlich zu meinem Papa. Irgendwann schöpfte er daher Hoffnung, dass alles gut ausgehen werde und wir bestimmt bald nach Hause würden gehen dürften. Doch so sollte es leider nicht kommen.

Kurz vor der Morgendämmerung kam der Chef der Wache mit einem seiner Männer und einer grünen Akte in der Hand ins Zimmer. Wir sollten ihn doch bitte schön mit zur Polizei begleiten und dort den Vorgang zu Ende bringen. Als mein Vater fragte, was für einen Vorgang, beschied ihm der Chef nur: »So Gott will, wird alles gut.«

[home]

2.

Die Polizei untersucht den Vorfall

Als wir bei der Polizeiwache ankamen, schallte von überall her der Ruf zum Morgengebet. Ich war erleichtert, dass es jetzt zur Polizei ging, so als hätte die Tugendbehörde nichts mit dem Staat und dem Innenministerium zu tun. Aber für mich waren diese Beamten einfach eine Bande von Söldnern, die ihre Macht daraus schöpften, dass sie anderen schadeten und die uns unserer Rechte und unserer Würde beraubten und sich dafür hinter den Worten Gottes oder des Propheten versteckten.

Ein Polizist vernahm mich kurz und fertigte ein Protokoll darüber an, das er, wie er sagte, im Laufe des Vormittags an das Strafgericht weiterleiten würde. Mein Vater saß die ganze Zeit über auf einem Stuhl neben mir, und mir schien, der Beamte habe Scheu, mich in seiner Anwesenheit zu befragen. Er hätte meinen Vater natürlich hinausschicken können, um mich allein zu verhören, aber das traute er sich wohl nicht. Die meisten Polizisten, die ich auf dieser Wache sah, wirkten anständig auf mich, und tatsächlich tritt die reguläre Polizei in Dschidda überwiegend fair auf und achtet die Regeln des Anstands. Und so kam es, dass der Beamte mich verlegen anschaute, während er sich erkundigte, was genau sich denn zugetragen habe. Ich beantwortete jede Frage und gab zu Protokoll, dass ich keinen Alkohol getrunken hatte und bereit sei, mich entsprechend untersuchen zu lassen.

Dann fragte der Polizist mich: »Was genau befand sich in Ihrer Handtasche?« Um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, riet er mir, ich solle besser nicht abstreiten, dass es sich um meine Tasche handele, denn man habe meinen Ausweis und andere personenbezogene Karten darin gefunden. »Also sagen Sie mir bitte, was Sie in Ihrer Tasche hatten.«

»Meine Geldbörse, mein Handy, Kosmetikutensilien und eine Schachtel Zigaretten«, sagte ich selbstsicher.

»War das alles, was Sie darin hatten?«, bohrte er nach.

»Ja.«

»Sind Sie sicher, dass jeder sonstige Gegenstand darin nicht von Ihnen stammt?«

Langsam verstand ich, worauf es hinauslief, und sagte wieder in überzeugtem Tonfall: »Wenn Sie etwas anderes gefunden haben sollten, was ich hier nicht erwähnt habe, dann schreiben Sie bitte ins Protokoll, dass ich damit nichts zu tun habe.« Meine Sorge wuchs. »Hat man mir etwas untergeschoben?«, fragte ich.

Er antwortete nicht und hielt mir stattdessen das Protokoll zum Unterschreiben hin.

Das tat ich, und dann bat ich ihn noch einmal: »Bitte sagen Sie mir, was Sie in meiner Tasche gefunden haben.«

Er sah zu meinem Vater und fingerte durch die Papiere, um mich nicht ansehen zu müssen. Dann sagte er: »Ist nicht so wichtig. Sie können alles einsehen, sobald die Akte bei der Staatsanwaltschaft ist.«

Ich war furchtbar müde und wollte nur noch schlafen und wünschte mir, ich könnte aufwachen und die Unglücksnacht wäre längst Vergangenheit. Doch diese Nacht sollte für uns noch Wochen und Monate unaufhörlich weitergehen.

Mein Vater machte sich sichtlich Sorgen. Er spielte die ganze Zeit mit seinem Mobiltelefon herum, ging seine Kontakte durch und starrte von Zeit zu Zeit auf eine Nummer. Aber jedes Mal entschied er sich dagegen, sie anzurufen. Der Vorfall war einfach zu heikel, und es ging um den guten Ruf seiner Tochter. Er dachte nach, dann aber stand er plötzlich auf, als sei er zu einem Entschluss gekommen. Er entfernte sich ein Stück von mir, telefonierte und kam wieder zurück. Ich wünschte mir, ihn ganz fest umarmen zu können, um ihm zu zeigen, wie leid es mir tat, was ich ihm angetan hatte. Stattdessen beobachtete ich, wie die Sonnenstrahlen, die durch das vergitterte Fenster des Polizeireviers hereinschienen, an Kraft gewannen. Es brach mir das Herz, dass ich meinen Vater in diese Situation gebracht hatte. Und ich war schrecklich wütend und wünschte mir, ich könnte Rache an der ganzen Bande nehmen, die uns überfallen hatte.

Dann entdeckte ich meine Freundinnen Randa und Nura auf dem Flur. Sie waren wohl die ganze Zeit über in einem Zimmer der Station festgehalten worden, aber der diensthabende Beamte hatte sie nun vielleicht aus Mitgefühl auf den Gang hinausgelassen. Beide weinten, und Randa hielt sich dabei die Hände vors Gesicht. Nur ab und zu wagte sie einen Blick. Yussuf, Ahmad und Talal begegnete ich um acht Uhr morgens wieder. Sie saßen in Handschellen nebeneinander, und man sah ihren Gesichtern an, dass sie misshandelt worden waren. Beim Anblick meines Vaters sahen sie beschämt zu Boden, als wollten sie sich bei ihm entschuldigen. Ahmad blickte auch zu mir, und in seinen Augen lag Bedauern darüber, dass er mir nicht helfen konnte, ja dass wir alle nichts mehr gegen unser Schicksal ausrichten konnten.

Aber ich gab ihnen keine Schuld. Ich konnte es nicht so sehen, dass sie mir oder meinen Freundinnen Schaden zugefügt hätten. Ich mochte sie alle und glaubte nicht, dass wir uns für irgendetwas zu entschuldigen hatten. Es sei denn bei meinem Vater. Nie hätte ich geglaubt, dass ich ihn einmal in eine solche Verlegenheit bringen und ihm eine solche Schande machen würde. Wir hatten nichts als unser Recht ausgeübt – nur leider in einem Land, in dem es keine Rechte gibt. Alles, was wir getan hatten, war, dass wir uns ein bisschen Freude gegönnt und zu Musik getanzt hatten, die nach Auffassung der Tugendbehörde schamlos war und aus dem gottlosen Westen stammte.

 

Sie nahmen mich im Polizeiauto mit. Mein Vater versuchte noch, mit einem der Beamten zu verhandeln, damit er mich in seinem eigenen Auto zum Gericht bringen durfte; er müsse es nur eben vom Krankenhaus abholen, wo er es abgestellt hatte. Aber der Polizist gab ihm zu verstehen, dass ihn das in Schwierigkeiten bringen würde, zumal es ja nicht nur um mich, sondern auch um andere Beschuldigte (er meinte meine Freunde) ging, die auch mit Polizeifahrzeugen zum Gericht gebracht werden müssten. Es war offensichtlich, dass er Mitleid mit uns hatte.

Er flüsterte meinem Vater sogar zu: »Möge ihnen Unheil widerfahren, jeden Tag fangen sie irgendwo junge Frauen und Männer, bringen sie hierher, und dann geben sie keine Ruhe, bis die jungen Leute eingebuchtet und verurteilt sind. Mal ehrlich«, fuhr er fort, »was haben die verbrochen, dass man sie so behandelt und verprügelt?« Dabei deutete er auf meine Freunde.

Mein Vater nickte zustimmend und besorgt zugleich und fragte den Beamten: »Glauben Sie, dass das ein großes Verfahren wird?«

»Das weiß ich nicht«, sagte der freundliche Polizist. »Normalerweise lassen die von der Tugendbehörde sich solche Fälle nicht aus der Hand nehmen. Aber ich bin mir sicher, dass Ihre Tochter heute noch gegen Kaution freikommt. Und dann können Sie sehen, ob Sie jemanden bei Gericht kennen und die Sache auf diese Weise beilegen können.«

Im Streifenwagen saß mein Vater wieder neben mir. Ein anderes Polizeiauto fuhr mit Randa, Nura und einer Wächterin voraus, die sie eigens dafür herbestellt hatten. Im dritten Wagen saßen Yussuf, Ahmad und Talal. Wir fuhren zum Strafgericht im Safa-Viertel. Wie gern ich bisher in diesem Viertel gewesen war! Ich hatte nicht einmal geahnt, dass es dort auch ein Gericht gab.

Nachdem wir ausgestiegen und ins Gerichtsgebäude gegangen waren, sollte ich keinen meiner Freunde jemals wiedersehen. Sie waren von nun an wie vom Erdboden verschwunden. Ich musste zwei Stunden warten, und mein Vater nutzte die Zeit und holte sein Auto. Er brachte ein paar Sandwiches und Saftpakete mit. Bei allem Groll bestand er darauf, dass ich ein wenig aß, obwohl ich keinerlei Appetit hatte.

 

Gegen elf Uhr teilte uns unser Begleitpolizist mit, dass meine Vernehmung anstehe. Er führte uns durch einen Flur und klopfte beim Ermittlungsrichter an. Uns empfing ein Mann von Mitte dreißig mit heller Haut und mürrischem Gesicht. Er hob kurz den Blick von einem Stapel Papiere, an dem er arbeitete, und musterte uns prüfend. Dann schaute er wieder in seine Akten und sagte zu meinem Vater: »Warten Sie bitte draußen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Mein Vater wandte ein: »Ich soll draußen warten? Das ist meine Tochter, und ich habe das Recht, sie überallhin zu begleiten.«

Der mürrische Richter setzte ein künstliches Lächeln auf und sagte: »Ich weiß, dass das Ihre Tochter ist. Aber machen Sie sich keine Sorgen, sie ist hier in Sicherheit. Von Gesetzes wegen dürfen Sie bei der Befragung leider nicht anwesend sein. Wenn Sie Einblick in die Vorwürfe nehmen wollen, die gegen Ihre Tochter vorliegen, dann wird der Protokollführer Ihnen das nach der Vernehmung ermöglichen.«

»Es gibt keine Macht und keine Stärke außer bei Gott«, murmelte mein Vater und drehte sich noch einmal zu mir um. »Keine Angst«, sagte er, »ich bin ganz in der Nähe.«

Als er draußen war, schaute mich der Ermittlungsrichter irgendwie seltsam an und sagte: »Hinsetzen!«

Die Befragung begann mit Angaben zu meiner Person. Mein Name, mein Alter, wo ich wohnte, meine Telefonnummer. Als er den Namen der Straße und des Viertels hörte, nickte er, als habe sich bestätigt, dass ich aus gutem Hause war. Dann nahm der Richter einen in eine Plastikfolie gehüllten Ausweis aus meiner Akte, zeigte ihn mir und fragte: »Gehört der dir?«

Ich bejahte.

»Gut«, sagte er, stützte die Arme auf den Tisch und faltete die Hände. Er schaute mich an, so als habe er jetzt endlich Zeit für mich. »Dir wird einiges vorgeworfen«, eröffnete er mir. »Illegitimes Zusammensein mit nicht verwandten Männern auf einer Party, lasterhaftes Verhalten, Fluchtversuch und schließlich noch Angriff auf einen Sicherheitsbeamten.«

Ich riss ungläubig die Augen auf und sagte: »Das ist nicht wahr!«

»Soll das heißen, dass das alles ausgedacht ist?«, spottete er und musterte mich wieder eindringlich.

»Ich kannte diese Leute nicht«, verteidigte ich mich. »Die habe ich gestern zum ersten Mal gesehen. Ich weiß nicht einmal, wie viele das waren. Sie sind plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht. Auch den Chef der lokalen Tugendbehörde, der zu meinem Vater sagte, er sei dabei gewesen, habe ich erstmals im Krankenhaus gesehen.«

»Wunderbar«, sagte der vernehmende Beamte. »Du sagst also, sie hätten dich vor dem gestrigen Tag nicht gekannt. Wozu sollten sie dich dann falsch beschuldigen?«

»Mein einziges Vergehen war, dass ich mit Freunden gefeiert habe«, entgegnete ich.

»Sehr gut. Wer sind deine Freunde?«

»Das wissen Sie doch, sie sind alle in Haft. Wozu soll ich ihre Namen wiederholen?«

Er haute auf den Tisch und schnaubte: »Gott möge mir verzeihen! Mädchen, mach es dir nicht noch schwerer! Wenigstens deinem Vater da draußen zuliebe. Bockigkeit wird dich nur ins Gefängnis bringen!« Er atmete durch und wiederholte seine Frage: »Wer sind deine Freunde, die mit auf der Party waren?«

Ich gab auf. »Nura, Randa, Ahmad, Talal und Yussuf als DJ.«

»Wunderbar. Seit wann hast du mit denen zu tun?«

»Nura, Randa, Talal und Ahmad kenne ich seit über einem Jahr. Yussuf habe ich gestern erst zum zweiten Mal getroffen.«

»In der Wohnung, die die Behörde gestürmt hat, waren zwei Flaschen importierten Alkohols. Aus dem Protokoll geht hervor, dass ihr betrunken wart. Seit wann trinkst du Alkohol?«

»Ich trinke überhaupt nicht, das habe ich bei der Polizei schon zu Protokoll gegeben. Sie können mich in jeder Weise darauf untersuchen lassen.«

Er tadelte mich mit Blicken, dann hantierte er mit der Akte und fragte mich weiter: »Dann mal los, erzähl mir, wie diese Feier organisiert worden ist und wer dich dazu eingeladen hat. Wann hat sie angefangen?«

»Wie Sie wissen, waren wir in der Wohnung von Talal, Nuras Verlobtem. Wir betrachten uns alle als eine Gruppe von Freunden. Wenn es zwischen uns kein Vertrauen gäbe und ich nicht wüsste, dass das anständige Leute sind, wäre ich nirgendwo hingegangen, wo auch junge Männer zugegen sind.«

»Ah ja, sehr anständige Leute«, spottete er. »Deswegen gab es bei euch ja auch Alkohol.«

Am Ende meiner Kräfte sagte ich: »Sie wissen doch, dass solche Zusammenkünfte am Wochenende überall in Dschidda stattfinden.«

Er unterbrach mich schroff: »Sprich hier mal nur über dich! Und übrigens will ich das mal richtigstellen, es stimmt zwar, dass es solche Partys jede Woche gibt, und die Tugendbehörde überweist uns regelmäßig Dutzende solcher Fälle, aber das heißt noch lange nicht, dass sie legal sind. Und das weißt du ganz genau. Und jetzt beantworte bitte klar die Frage, wer dich dorthin eingeladen hat und wann du hingegangen bist.«

»Ich kam mit Ahmad gegen einundzwanzig Uhr dort an.«

Ich ließ den Kopf hängen und wünschte mir, ich könnte die Augen schließen und wieder aufmachen und wäre wieder zu Hause und nichts wäre geschehen.

»In welcher Beziehung stehst du zu Ahmad?«, kam die nächste Frage.

Man merkte mir meine Verunsicherung an. Ich schaute den Ermittlungsrichter kurz an und sagte dann: »Wir sind befreundet.«

Lächelnd sagte er: »Besser, du lügst mich nicht an. Dein Handy, das in der Handtasche war, wurde nämlich eingezogen, und das jenes Helden, der sich mit der Behörde angelegt hat, natürlich auch, und du weißt sehr gut, was ihr euch gegenseitig für Nachrichten geschickt habt. Also leugne nichts, und denk daran, dass ich dir helfen will.«

Ich stützte den rechten Ellenbogen auf den Schreibtisch und kratzte mich an der Stirn. Unendlich müde war ich inzwischen. Ich sagte, ohne den Richter anzusehen: »Wir haben eine Liebesbeziehung. Er wollte noch bis zum Ende des Unijahres abwarten, seine Prüfungen ablegen und sich dann mit mir verloben.«

»Glaubst du etwa, jemand, der dich auf solche Partys schleppt, wird dir ein guter Ehemann sein? Wenn er dich lieben würde, würde er dich nicht so billig machen.«

Ich seufzte, ließ wieder den Kopf hängen und sagte nichts.

»Nun ja, darum geht es jetzt nicht«, beendete er das Thema. »Was sagst du zu der Anschuldigung eines der Tugendbeamten, du hättest versucht zu fliehen und ihn angegriffen, als er dich daran hindern wollte?«

»Ich hatte Angst«, sprudelte es aus mir heraus. »Es hat mich total erschreckt, als sie da in die Wohnung eingedrungen sind und auf meine Freunde eingeprügelt haben. Am Anfang war ich wie gelähmt, dann bin ich aufgesprungen und panisch rausgerannt.«

»Wusstest du nicht, dass das Staatsbeamte im Dienst waren, die dieses Land vor Verrohung und Sittenverfall schützen?«

»Das sind Vergewaltiger! Sie schänden sogar Kinder, von jungen Frauen ganz zu schweigen!«

Er starrte mich verblüfft an. Eine so mutige Antwort hatte er nicht erwartet. Ich bekam kaum Luft und bemühte mich, nicht zu weinen. Aber ich fuhr fort: »Ich hatte Angst, sie würden mich vergewaltigen, bevor sie uns ausliefern. Aus dem Internet wissen wir von all den Skandalen. Sie haben schon mehrfach junge Männer vergewaltigt. Wenn die Polizei die Wohnung gestürmt hätte, wäre ich nicht so panisch gewesen.« Ich holte Luft, versuchte, mich zu beruhigen.

Der Richter machte ein wütendes Gesicht. Es passte ihm gar nicht, was ich gesagt hatte. Er beugte sich zu mir herüber und sagte warnend oder drohend: »Was du da sagst, wird dir nicht helfen. Im Gegenteil. Du redest dich um Kopf und Kragen. Ich hatte genug Mitleid mit dir. Ich habe sogar deinen Vater rausgeschickt, damit er nicht hört, was für wenig schmeichelhafte Dinge seiner Tochter vorgeworfen werden. Aber offenbar willst du lieber stur bleiben, als zu bereuen, was du getan hast. Dass du so dreist bist, gilt übrigens als klares Eingeständnis der Tatsache, dass du einen der Beamten angegriffen hast.« Sein Gesicht war rot vor Zorn. Er wischte sich mit beiden Händen über Wangen und Augen, um sich zu beruhigen. Dann lehnte er sich in dem Sessel zurück, faltete die Hände auf dem Tisch und ließ die beiden Daumen umeinander kreisen. Er deutete auf mich: »Schau dich doch nur mal an. Du bist ein hübsches, kluges Mädchen aus guter Familie mit einem Vater, von dem andere nur träumen. Was bringt eine wie dich dazu, gegen die Sitten der Gesellschaft zu verstoßen und deinen Ruf und den deines Vaters zu ruinieren? Glaubst du wirklich, dass dieser Kerl dich liebt? Wenn er das täte, würde er dich nicht auf solch verruchte Partys mitnehmen.«

Er seufzte und schüttelte missbilligend den Kopf. Dann nahm er das Heft, in dem er die meisten meiner Aussagen festgehalten hatte, und legte es mir vor. Nur sein eben gehaltener Vortrag über Ehre und Anstand fehlte. Er ließ mich jede meiner Antworten unterschreiben. Er telefonierte kurz, um den Polizisten wieder hereinzubitten, und dann gab er mir noch einen Rat mit auf den Weg: »Lass dir eine Lehre sein, was dir passiert ist, und bete zu Gott, dass das alles ein gutes Ende nimmt.«

Mein Vater erwartete mich vor der Tür. Er sah mich an und fragte mich, was dadrin passiert sei. Ich setzte mich wortlos neben ihn. Dann bat er den Polizisten, er möge fragen, ob er den Ermittlungsrichter sprechen dürfe. Der Beamte ging hinein, kam wieder heraus und teilte meinem Vater mit, dass der Richter ihn erwarte. Das Gespräch dauerte eine Viertelstunde. Dann kam mein Vater mit meinem Ausweis in der Hand heraus und sagte: »Lass uns gehen.«

»Wir gehen nach Hause?«, fragte ich verblüfft.

»Ja«, sagte er, ohne mich anzusehen.

[home]

3.

In der Hölle der Justiz

Ein paar Wochen lang geschah nichts. Nur in mir war diese Unruhe. Ich war fast erleichtert, als es weiterging und ein Gerichtsbote meinen Vater bei der Arbeit aufsuchte und ihm eine Vorladung übergab. Wir sollten zum ersten Verhandlungstag erscheinen.

Unser Anwalt hatte uns zuvor mitgeteilt, dass ich seiner Einschätzung nach wahrscheinlich gar nicht vorgeladen würde und der Fall mit der Freilassung auf Kaution beim Staatsanwalt sein Bewenden hätte. Er meinte, auf Verfahren wegen unerlaubter Mischung der Geschlechter und privater Partys läge kein großes Augenmerk. Das sei bei Kriminalfällen wie Diebstahl, Mord und Drogenhandel ganz anders. Unser Fall sei nicht so bedeutend, und man habe mir nur Angst machen wollen, damit ich mich auf so etwas nicht noch einmal einlasse. Auch mehrere andere Leute, die im saudischen Innenministerium arbeiteten, hatten meinem Vater versichert, das Strafgericht interessiere sich nicht allzu sehr für solche Fälle. Was weniger optimistisch stimme, sei allerdings, dass die Tugendbehörde an dem Fall beteiligt sei und dass einer der Beamten die Sache wegen meiner Reaktion auf die Erstürmung der Wohnung auf dem Schirm habe. Auf dem Amt habe man es zudem übel vermerkt, dass wir nicht zumindest versucht hätten, mit ihnen zu verhandeln und so eine gütliche Beilegung anzustreben, sei es über Beziehungen oder durch Bestechung. Das sei so üblich. Wir beteten, dass die Sache nicht zu hoch gehängt würde. Und nachdem ich nun schon ein paar Wochen lang auf Kaution unbehelligt geblieben war, nahmen wir an, die Sache sei erledigt.

Ich litt allerdings darunter, dass Ahmad und Talal weiter in Haft waren und ebenso Nura und Randa, weil die beiden keine saudischen Staatsbürgerinnen waren, obwohl sie in Dschidda geboren waren.

Mein Vater hatte sich bei einem Beamten der Provinzverwaltung nach dem Stand der Verfahren gegen mich und die anderen erkundigt. Dabei war ihm gesagt worden, dass die Sache bei Talal etwas komplizierter sei, weil wir uns in seiner Wohnung getroffen hatten und er gestanden hatte, den Alkohol gekauft zu haben. Außerdem hatte er sich geweigert, mit den Ermittlern zu kooperieren und Angaben zum Lieferanten der Getränke zu machen. Und Ahmad wurde deswegen nicht wie ich auf Kaution freigelassen, weil er angeblich auf die Tugendbeamten losgegangen war und sie geschlagen hatte. In Wirklichkeit hatten die Religionswächter Ahmad, Yussuf und Talal verprügelt, das war zumindest für uns, die wir ihre Verletzungen im Gesicht gesehen hatten, ganz eindeutig. Auch Yussuf hatte keinen saudischen Pass, und er und Randa waren zudem nicht zum ersten Mal in einen solchen Fall verwickelt, wovon ich allerdings nichts gewusst hatte.

Yussuf wurde auch deshalb wie ein Krimineller behandelt, weil er als DJ auf solchen Partys seinen Lebensunterhalt bestritt. Nach saudischem Gesetz ist es ein großer Unterschied, ob man nur zum eigenen Vergnügen gegen das Recht verstößt, indem man beispielsweise an einer Party teilnimmt, oder ob man Alkohol oder gar Drogen zu sich nimmt – oder ob man davon lebt, Feiern organisiert oder Rauschmittel verkauft. Deshalb war nur ich gegen Kaution freigelassen worden, und auch das nur aufgrund der guten Beziehungen meines Vaters.

Aber als dann die Vorladung eintraf, ahnten wir, dass die Sache böse enden könnte. Gegen mich war tatsächlich ein Verfahren eröffnet worden. Mir drohten Haft und im schlimmsten Fall die Auspeitschung. Nur noch Gottes Gnade konnte mich vor der Strafe des Richters retten.

Ich sah, wie die Miene meines Vaters sich bei jedem Anruf veränderte, von Sorge und Anspannung bis hin zu Angst und Verzweiflung. Er telefonierte mit allen möglichen Leuten, um an Informationen zu kommen, aber die meisten Angerufenen zogen es vor, nichts zu sagen. Oder sie zögerten mit einer Antwort, sobald sie hörten, dass ich bereits vorgeladen war. Am Ende sagten sie alle: »Versucht, jemanden zu finden, der den zuständigen Richter kennt. Oder deine Tochter versöhnt sich mit den Männern vom Tugendamt, die einen Groll gegen sie hegen.«

Trotz seiner guten Kontakte schaffte es mein Vater jedoch weder, an den Richter heranzukommen, noch an die Tugendwächter. Scheinbar ging es hier um persönliche Rache, obwohl ich den Männern in jener Nacht zum ersten Mal begegnet war.