Knigge für die nächste Generation - Sybil Gräfin Schönfeldt - E-Book

Knigge für die nächste Generation E-Book

Sybil Gräfin Schönfeldt

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jeder weiß, was schlechtes Benehmen ist. Aber wie sieht das gute Benehmen aus? Gibt es überhaupt noch Benimmregeln für Kinder und Jugendliche? Und warum sollten sie diese befolgen? Sybil Gräfin Schönfeldt erklärt nicht nur, welchen Sinn und Zweck Begrüßungsrituale, Tischmanieren und Bitte und Danke haben, sie zeigt auch, welche Regeln als Inlineskater oder Handybesitzer zu beachten sind und wie man mit Mobbing in der Schule umgeht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 211

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Sybil Gräfin Schönfeldt

Knigge für die nächste Generation

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Jeder weiß, was schlechtes Benehmen ist. Aber wie sieht das gute Benehmen aus? Gibt es überhaupt noch Benimmregeln für Kinder und Jugendliche? Und warum sollten sie diese befolgen?

Sybil Gräfin Schönfeldt erklärt nicht nur, welchen Sinn und Zweck Begrüßungsrituale, Tischmanieren und Bitte und Danke haben, sie zeigt auch, welche Regeln als Inlineskater oder Handybesitzer zu beachten sind und wie man mit Mobbing in der Schule umgeht.

Über Sybil Gräfin Schönfeldt

Sybil Schlepegrell, geborene Gräfin Schönfeldt, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Göttingen und Hamburg und wurde in Wien promoviert. Zuerst arbeitete sie als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften, dann als freie Journalistin, zum Beispiel für DIE ZEIT und das ZEITmagazin. Sie ist die Autorin zahlreicher Bücher für Kinder und Erwachsene, unter anderem des erfolgreichen «1x1 des guten Tons». Daneben hat sie viele Anthologien herausgegeben, wichtige Jugendbücher aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und wurde mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Die gebürtige Österreicherin lebt in Hamburg, wo sie die Kinderbuchwoche und das Jugendforum mit begründete. Von 1982 bis 1985 war sie die erste Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur. Für ihren autobiographischen Roman «Sonderappell» erhielt sie den Europäischen Jugendbuchpreis.

Inhaltsübersicht

VorwortKein alter Hut: Vom Sinn der KonventionWas sind Umgangsformen und warum brauchen wir sie?Die erste Lektion: Ein KinderspielÜber Takt und TaktlosigkeitWarum man seinen inneren Schweinehund überwinden sollteBegrüßungsritualeWie stellt man sich den anderen vor?Wann gibt man sich die Hand?Wie lautet die korrekte Anrede?«Mahlzeit», «Hallo» und «Guten Tag»Zu Hause in der Bussi-Welt: über Hand- und WangenküsseKörperkontrolleDie anderen als Spiegel deiner selbstKörperhygiene oder Wohin mit dem Körpermüll?Das KleidungsdilemmaWie findet man den eigenen Stil?Die vielen Gesichter der HöflichkeitEgoismus ist out, Hilfsbereitschaft ist inKränke niemanden!Die Anstandsregeln des AlltagsEntschuldigungBitte und Danke!Höflichkeit als FalleNoch ein PS zu Etikette und KniggeWie man Komplimente macht und Kritik anbringtHaltung bewahren!Die Ordnung.Die Pünktlichkeit.Bitte zu Tisch!Die Essmanieren: eine Art VisitenkarteVom Frühstück und wie man es nicht essen sollteWie findet man sich an einer festlich gedeckten Tafel zurecht?Benehmen bei TischKaffee, Kuchen und KonversationDas AbendbrotNoch einmal zusammengefasst:Was man so zu hören bekommt …Von gutem und von schlechtem DeutschMuss man fluchen? Darf man fluchen?Über Krach, Geschrei und Lärmvermeidung«Du» oder «Sie»?Ein paar ewig nervende Ermahnungen und ihr SinnKontaktpflegeVom Briefeschreiben und -beantwortenWorauf beim Telefonieren zu achten istDer Umgang mit dem MobiltelefonSchmusen in der ÖffentlichkeitDie Kunst des SchenkensVom Borgen und VerleihenUnterwegsEin paar Verkehrsregeln für Inlineskater und RadfahrerWorauf auch Fußgänger achten solltenZum Verhalten in öffentlichen VerkehrsmittelnZu Besuch als ÜbernachtungsgastFerien in der FremdeWieder daheim und in der Schule: Was tun bei Mobbing?Zu guter Letzt: Über den Zusammenhang von Moral und Manieren

Vorwort

Du hast dieses Buch aufgeschlagen und liest, was ich geschrieben habe. Auf der letzten Seite kannst du etwas über mich erfahren. Ich aber weiß nichts von dir. Weiß nicht, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist. Ob du dir dieses Buch gewünscht hast oder ob einer deiner Erwachsenen gefunden hat, dass du einmal so etwas lesen solltest – und ob das sachlich gemeint war oder in dem Sinne von: «Das hast du nötig!» Und was hättest du nötig? Eine Ahnung von gutem Benehmen.

Vom korrekten Benehmen.

Gibt es das überhaupt? Kann man das so lernen wie geometrische Lehrsätze oder Grammatikregeln? Ist dieses Buch also eine Gebrauchsanleitung? Bist du ein Mensch von guten Manieren, wenn du alles auswendig weißt? Und dann – Schluss und aus, Thema abgehakt?

Nein, ich fürchte, so einfach ist die Sache nicht. Und zwar aus dem einen Grunde: Es gibt nicht das gute Benehmen. Unser Verhalten, unsere Umgangsformen wandeln sich ständig. Man muss also darüber nachdenken. Wir, du und ich, müssen immer wieder entscheiden, was wir für richtig halten. In vielem werden wir uns einig sein, weil wir – trotz des Altersunterschiedes – Kinder einer Zeit sind. In manchem werden wir auch mit dem größten Teil unserer Mitmenschen einig sein, Gott sei Dank, denn wir wollen ja nicht als Eremiten oder Außenseiter durchs Leben gehen. Aber in anderen Punkten kommen wir zu eigenen Entscheidungen, und wenn sie wohlbegründet sind, können wir darauf hoffen, dass uns die anderen respektieren und dulden.

In diesem Buch werden ein paar dieser Punkte behandelt, die mir bemerkenswert erscheinen, weil sie von vielen als Erstes erwähnt werden, wenn es um das große Thema des Benehmens geht; weil sie für unsere Gegenwart typisch sind; weil sie mir aufgefallen sind. Ich kann nicht Auto fahren und habe auch kein Fahrrad mehr. Ich gehe zu Fuß und benutze öffentliche Verkehrsmittel. Dabei erlebt man oft mehr als die Radler und die Autofahrer. Trotzdem ist das, was du lesen wirst, nicht vollständig und vor allem, wie gesagt, kein ehernes Gesetz.

Du wirst schon sehen, was das für uns Menschen und unsere Manieren bedeutet.

Kein alter Hut: Vom Sinn der Konvention

Was sind Umgangsformen und warum brauchen wir sie?

Benimm dich!

Das hast sicher auch du schon zu hören bekommen.

Und wie sollst du dich benehmen? Anständig natürlich. Ordentlich.

Und was bedeutet das?

So könnte man noch lange weiterfragen. Am Ende steht die Antwort: so, wie ich es für richtig halte. Wie ich es will.

Wie ich es dir sage.

Und warum will jemand, dass du dich so oder so benimmst? Woher weiß er vor allem, dass dieses betreffende Benehmen richtig ist? Und was gibt ihm das Recht, so über dich zu bestimmen?

Dazu muss man erst einmal sagen, dass sich jeder Mensch benimmt, also: so oder so mit den Mitmenschen umgeht. In grauen Vorzeiten hat vielleicht die Keule zum allgemeinen Umgang gehört, ganz bestimmt aber auch die Geste, die wir noch heute kennen: das abwartende Lächeln; die offen dem Fremden entgegengestreckten Hände; der leicht schräg gelegte Kopf, der die Haltung locker und entgegenkommend macht. Die Keule und das Lächeln bezeichnen von Anfang an das negative und das positive Ende der vielen Möglichkeiten, sich zu benehmen. Solche grundlegenden Gesten und Gegensätze bleiben bestehen, modische Variationen kommen und gehen, und sie gehören wiederum zum Grundbestand einer oder mehrerer Generationen. Deren Summe könnte man als die zeitgenössischen Umgangsformen bezeichnen. Und wer bezeichnet sie so? Wer entwirft sie? Wer verwirft sie?

Das sind wir alle, immer und in jedem Moment. Es gibt keine unumstößlichen Gesetze dieser Art. Wir kommen überein, was für uns gültig ist und was nicht. Mit jeder Handlung, jeder Geste tragen wir dazu bei. Mit jeder Rücksichtslosigkeit entscheiden wir uns für die Keule, mit jeder hilfsbereiten Geste für das Lächeln. Mit jeder Überlegung, wie wir mit Freunden und Feinden, mit Messer und Mofa umgehen sollen, bestätigen wir unsere Umgangsformen und ihre Veränderungen. Deshalb wirft eine Großmutter manchmal die Augen gen Himmel und sagt: «Also – ich hätte mir das nicht leisten dürfen.»

Recht hat sie. Und wenn du fünfzig oder sechzig Jahre älter bist und auch Enkel hast, wirst du vielleicht an deine Großmutter denken und lachen, wenn du merkst, dass du genau denselben Satz so sagst, als ob du ihn in diesem Augenblick erfunden hättest.

 

Wenn aber nun das Benehmen etwas so Veränderliches ist, auch von Ort zu Ort, von Land zu Land verschieden sein kann – warum muss man sich dann die Mühe machen, sich den Ist-Zustand einzuverleiben?

Wahrscheinlich gibt es ein gutes Dutzend Gründe, praktische, eigensüchtige und edle und so weiter, aber ein ganz einfacher lautet: weil wir ziemlich zahlreich sind. Weil die Bewegungen großer Massen irgendwie geordnet sein sollten, damit man sich durchfindet. Weil es sich einfach nicht lohnt, sich über jedes Umgangsproblem selber den Kopf zu zerbrechen. Das haben schon andere getan, seit Hunderten von Jahren, und die meisten Lösungen waren gar nicht so schlecht. Man hat sie weiter benutzt und kann sie weiter benutzen und hat den Kopf frei für wichtigere Dinge. Und vor allem: weil wir uns darauf verlassen können und wollen, dass die anderen die Spielregeln eben auch kennen und befolgen. Das sorgt für angenehmen Umgang eben auch mit Menschen, die ich nicht kenne, die ich nicht ausstehen kann, die mir vollkommen gleichgültig sind.

Und obgleich sich die Manieren mit uns Menschen verändern und wandeln, geschieht das meist so allmählich, dass wir den Wandel erst bemerken, wenn uns irgendein Ereignis oder irgendein Mensch darauf aufmerksam macht, und dann ist es eben an der Zeit, über diesen Wandel nachzudenken.

Es hat sich sogar die Reaktion auf diese Veränderungen gewandelt. Denk an unsere Großmütter. Deine lachen vielleicht über das viele Neue, das sie bei dir sehen und erleben, und wenn sie sich aufregen, so lachst vielleicht du liebevoll und erklärst dem Öhmchen, warum man sich heute ruhig einen Ring in die Nase klemmen kann, ohne gleich für das normale Leben verloren zu sein.

Meine hätte manches Neue noch vollkommen unmöglich gefunden und hätte (und hat) es überhaupt nicht akzeptiert: dass sich ihre Enkelin zum Beispiel die Nägel lackiert oder die Lippen geschminkt hätte. Dass sie einen Studienfreund in seiner Bude besucht hätte, und wenn es wirklich nur zum Lernen gewesen wäre.

Also habe ich mich, wenn ich sie besuchte, entlackt und gar nicht erst den Lippenstift benutzt. Anderes habe ich ihr nicht erzählt, weil ich wusste, dass sie es mit ihren Anstandsvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert gar nicht verstehen konnte. Sie fand es ohnehin überflüssig und schon ein wenig anstößig, dass ein Mädchen studierte und dass es sich das Geld dafür selber verdiente. Nach ihrer Vorstellung hatte ein Mädchen auf den guten reichen Mann zu warten, der es sein Leben lang auf Händen trug, und weil solche Traummänner natürlich nur untadelige Mädchen wählten, hatten diese nichts in Studentenbuden zu suchen, wo der allgemeinen Ansicht nach nicht die Stufen der mittelhochdeutschen Lautverschiebung gebüffelt, sondern der gute Ruf ruiniert wurde.

Das klingt krass, aber meistens wächst ein Kind nicht bei der vorvorigen Generation auf, und nicht alle Altvorderen hängen auch noch an den überholtesten Ideen. Mein Großvater dachte schon anders, mischte sich aber nicht ein. Er sah, dass ich mich nicht beirren ließ, und ich spürte seine Zustimmung. So endete in meiner wie in vielen anderen Familien die eine Vorstellung von Anstand und Sitte, und eine andere, die der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, begann.

Wenn du dich umschaust und über die Handlungen und Unterlassungen der Menschen um dich herum nachdenkst, so wirst du Ähnliches feststellen. Die Fragen, die sich daraus ergeben: Was will ich bewahren? Wovon sollte ich mich warum trennen? Was füge ich meinem Verhalten stattdessen hinzu?

 

Noch einmal zurück zu den Großmüttern. Meine wollte mich nicht sekkieren oder drillen oder quälen. Sie wollte mein Bestes. Sie wollte, dass ich keinen Anstoß errege, dass ich mir und freilich auch ihr keinen Kummer bereite, dass ich von der Gesellschaft akzeptiert und mit Wohlwollen behandelt werde und dass es mir deshalb gut ginge. Ihre Erfahrung hatte ihr in ihrem Leben immer wieder bestätigt: Wer sich anpasst, hat es leicht, hat seine Ruhe, hat Erfolg – je nachdem.

Jeder Mensch passt sich in einem gewissen Maße an, meist ohne nachzudenken, ganz automatisch. Du passt dich an, indem du versuchst, deine Eltern die Kleider kaufen zu lassen, die die anderen tragen. Nutzt es den Eltern, wenn sie mit Vernunftgründen dagegen fragen? Oder von Geld sprechen?

Du passt dich an, indem du die Musik hörst, die Videos anschaust, die gerade in deiner Gruppe von denen konsumiert werden, die den Ton angeben.

Wer anders aussieht und sich anders benimmt, wird entweder nie oder nie richtig akzeptiert. Oder verkloppt. Oder verhöhnt. Oder er muss sich eine Verhaltensnische suchen, muss den Klassenclown spielen oder ein Supersportler sein. Oder er muss einfach weggehen, in eine andere Schule, in eine andere Stadt, muss sich seine eigenen Lebenskreise suchen.

Das kann ein Durchschnittsmensch aber meistens noch nicht in jungen Jahren. Dazu muss er über sich selbst entscheiden können. Und deshalb finden es die Erwachsenen so wichtig, dass man schon als Kind lernt, sich zu benehmen, also: so zu benehmen, dass man anstandslos durchkommt.

Sie sagen: Du kannst nicht damit rechnen, dass alles nach deinen Wünschen läuft. Du wirst immer wieder in Situationen kommen, in denen du der oder die Neue, in denen du fremd bist. Du wirst also immer wieder in andere Benehmensbereiche stoßen, von anderen begutachtet und beurteilt werden, und ob du es weißt oder nicht: Du sendest Signale aus, du zeigst Eigenschaften und hast ein Äußeres, die den anderen Rückschlüsse erlauben.

Igitt, wie oberflächlich!, denkst du vielleicht. Ja, sicher. Aber wir werden nun einmal in Sekundenbruchteilen von anderen wahrgenommen, und in deren Hirncomputer rast das Programm durch, das dich checkt und einordnet. Erst wenn du den Zugangscode des Beobachters geknackt hast, beginnt das eigentliche Kapitel, kann es um deine inneren Werte gehen.

Die Werte. Das ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Kapitel für sich, und deshalb kannst du am Ende des Buches etwas darüber lesen. Eigentlich hat das, was man als Benimmregel bezeichnet, nichts mit den sittlichen oder ethischen Werten zu tun, aber wenn man das Benehmen nicht nur als ein Problem des rechten Umgangs mit Suppentassen oder Ballhandschuhen betrachtet, stellt man immer wieder fest, dass sich Moral und Manieren berühren. Also: siehe Seite 153.

Aber zuerst geht es um dich selbst. Wer bist du? Wie nehmen dich die anderen wahr? Was erwarten sie von dir?

Die erste Lektion: Ein Kinderspiel

Jeder Mensch – auch du – ist eine Einzelanfertigung, aber: Der Mensch ist kein Einzelwesen. Weil er in eine Gemeinschaft hineingeboren wird und auf deren Hilfe angewiesen ist, muss der Mensch diese Gemeinschaft kennen lernen – und umgekehrt will die Gemeinschaft den Neuzugang vorgestellt bekommen. Aber wie kommt man miteinander ins Gespräch?

Diese erste Lektion der Umgangsformen lernt jedes Kind, wenn eine – sagen wir – entfernt lebende Tante zu Besuch kommt. Die Mutter schiebt das Kind zum Gast und sagt in etwa: «Das ist Hans.»

Die Tante wird Hans die Hand geben oder über den Kopf streichen oder sie wird ihn in den Arm nehmen, und dann folgt in 99 Prozent aller Fälle der Satz: «Du bist also Hans. Mein Gott, was bist du groß geworden!»

Selbst die Erwachsenen, die diesen Satz albern finden, weil es bei einem Kind ja natürlich ist, dass es wächst, und ein Erstaunen nur dann angebracht wäre, wenn es kleiner würde, müssen sich auf die Lippen beißen, um ihn nicht auszusprechen. So sehr liegt er jedem auf der Zunge.

Warum? Weil der Mensch oberflächlich ist? Weil die meisten Menschen das aussprechen, was ihnen gerade durch den Kopf schießt? Weil sie also reden, ehe sie nachgedacht haben? Weil ihnen nichts anderes einfällt? Oder weil sie wirklich so erstaunt sind?

Auf jeden Fall ist dies ein typischer Gesprächsanfang zwischen Fremden. «Was bist du groß geworden!» ist ebenso banal wie «Was haben wir heute für ein herrliches Sommerwetter gehabt!» oder «Was machen Sie in Ihrem nächsten Urlaub?».

Daraus kann man folgern: Es ist schnuppe, was für ein Thema man anbietet. Hauptsache, man kommt ins Gespräch.

Richtig. Aber der Vorgang ist Regeln gefolgt, die der Hans (und alle anderen) ihr Leben lang beherzigen können.

Die Mutter (oder der Vater) hat das Kind, den Jüngeren, dem Fremden vorgestellt. Sie hat gesagt: «Das ist der Hans!», damit die Tante, die Ältere, der man Rücksicht und Ehre erweist, Bescheid weiß. So wird der Hans und so werden alle Jüngeren immer wieder den Älteren, später den Lehrern und den Vorgesetzten vorgestellt werden. Diese werden für würdig befunden, zuerst über den Hans Bescheid zu wissen. Dafür muss der Ältere das Gespräch beginnen, muss sich dem anderen zuwenden, ihn wahrnehmen, sich für ihn interessieren.

Wie soll er das machen?

Wenn ihm der Vorstellende, in diesem Fall die Mutter, später der Sportsfreund oder die Klassenkameraden oder der Gastgeber, keinen Hinweis gibt, ist er aufgeschmissen und muss sich zu solchen banalen Sätzen wie über das Wetter oder die Körperlänge retten.

Hätte die Mutter oder der Vater zum Beispiel gesagt: «Hans hat gerade einen Goldhamster geschenkt bekommen!», oder: «Hans ist ein begeisterter Inlineskater» – na, dann hätten es alle Tanten der Welt leichter, weil sie gleich wüssten, was den Hans interessiert und worüber sie sich mit ihm unterhalten können. (Ein aufmerksamer Gastgeber würde später ebenso verfahren und seine Gäste nicht nur mit Namen vorstellen, sondern auch ein paar Worte über deren berufliche Tätigkeit, private Interessen oder Erfolge in jüngster Zeit verlieren, um den anderen Anwesenden Anknüpfungspunkte für eine Unterhaltung zu geben.) So oder so kann man zu einem vernünftigen Gespräch, kann man zueinander kommen, aber der erklärungslose Umweg über das Wetter ist größer.

Eine andere Verlegenheitsfrage, die man dir sicher auch schon gestellt hat, lautet: «Und was macht die Schule?»

Das ist die nächste Lektion. In solchen Situationen erwartet der andere nicht, dass ihm die Wahrheit und nichts als die Wahrheit erwidert wird. Schule – du liebe Zeit! Ein Thema für ein ganzes Wochenende! Oder nur für ein einziges Wort. Also was soll man nun machen? Abblocken? Lieber genauso reagieren wie auf die Frage: Wie geht’s? In diesem Fall erwartet kein Mensch eine genaue Erklärung der Lage mit Krankenblatt oder letztem Zeugnis.

Was macht die Schule? Wie geht’s? Ganz gut, danke. Das ist nicht mehr als ein verlängerter Gruß. Es ist ein Zeichen: Ich habe dich wahrgenommen. Ich möchte mich gerne mit dir unterhalten – worüber, das wird sich zeigen. Das hat Zeit. Wir haben erst mal ein Wort miteinander gewechselt, sind nicht wie die Ölgötzen stumm und blöde dagestanden, sodass ich gar nicht weiß: Will der was von mir? Oder nicht? Und mir vorkomme wie bestellt und nicht abgeholt.

Auch in diesem Fall wäre eine Mutter oder ein Freund oder Kollege oder Gastgeber hilfreich. Bleiben wir bei der Mutter. Sie wird sich bei der Schul-Frage nicht vordrängen. Wenn du anfängst, der Tante etwas von der Schule zu erzählen, ist es gut, und sie wird nicht weiter gebraucht. Schweigst du aber, so wird sie eine kleine Information geben. Vielleicht hast du gerade einen Freund gefunden oder bist in den Schulchor eingetreten. Aber sie würde keinesfalls sagen, dass du lauter Fünfer geschrieben hast und ein Faulpelz bist, selbst wenn es stimmte. Dies ist der entscheidende Punkt: Lügt die Mutter nicht, wenn sie das momentan für sie und für die Schule und für dich Wichtigste, die Fünfer, unterschlägt? Ist es nicht verwerflich, dass unsere gesellschaftlichen Umgangsformen auf solchen Unterlassungen und auf ähnlichem Verschweigen begründet sind? Bitte überleg nun einmal: Was würdest du nach dieser Fünfer-Auskunft überhaupt noch sagen können? Ein solcher Satz hält kein Gespräch in Fluss, sondern macht es unmöglich.

Weiter: Wie fühlst du dich, wenn dich alle anstarrten, dich, den Fünfer-Schreiber, dich, den Versager? Tratsch tratsch, würde es in der ganzen Verwandtschaft weitergewispert werden. Der oder die schreibt nur Fünfer! Die arme Familie! Na ja, bei der Erziehung! Der Vater war ja auch kein Kirchenlicht – und so weiter und so weiter, und wenn du siebzig würdest, wärest du für die Neunzigjährigen in der Familie immer noch der Fünfer-Schreiber.

Über Takt und Taktlosigkeit

Denken wir wieder an die allererste gesellschaftliche Bemerkung:

«Was bist du groß geworden!»

Darauf antwortet keiner den Tanten und Onkeln: «Was bist du runzlig geworden, was bist du dick und kahl!»

Und auf die höfliche Gruß-Frage: «Wie geht’s?», antwortete ich: «Danke schön, prächtig!», aber nicht: «Mir geht’s gut, aber Sie sehen ja grässlich aus! Hab ich nicht gehört, Sie hätten Leukämie im letzten Stadium?»

Die Wahrheit kann furchtbar sein. Sie kann – wie die Fünfer in der Schule – niederschmettern und verletzen. Sie – das Versagen, das Unglück, die Krankheit – kann demütigen, beleidigen, traurig und verzweifelt machen.

Über solche Wahrheiten spricht man nicht so obenhin. Nicht bei einer flüchtigen Begegnung. Wenn jemand überhaupt sein Herz so weit öffnet, dass ich die Wunden sehen darf, dann im vertrautesten kleinsten Kreise.

Und zu den Runzeln: Was nützte es, wenn man jemandem sagt, er sei aber alt geworden? Die Alten wissen selber, dass sie nicht mehr so hüpfen und rennen können wie einst, wie du … Dass sie dick und schief und krumm werden und nichts mehr dagegen tun können – so wenig wie du vermutlich sechzig Jahre später auch.

Unsere Unfähigkeiten und Unvollkommenheiten lassen sich nicht dadurch ändern, dass man sie lauthals verkündet und uns verhöhnt. Du brauchst sicher nur an dich selber zu denken. Wie es dich schon einmal getroffen hat, dass dich dein bester Freund gekränkt hat. Ich kann mich bis heute daran erinnern, wie ich einmal gestürzt war und mir die Nase aufgeschlagen und gebrochen hatte. Mein ganzes Gesicht war geschwollen, auf der Wunde saß ein Pflaster, und als ich am nächsten Morgen in die Schule kam, kreischte meine – wie ich dachte – Herzensfreundin: «Oh Gott, du siehst ja grässlich aus! Neben dir will ich aber heute bestimmt nicht sitzen!» Das war’s, und es ist bis heute nicht vergessen.

Jeder Mensch braucht ein bisschen Erbarmen und Hilfe für seine Schwächen. Höflichkeit ist ja gerade dazu entwickelt worden, um so eine unbedachte Herzlosigkeit, um die Lust am Verspotten zu bremsen, auch diesen manchmal bösen Drang in Grenzen zu halten, den anderen durch Worte, durch diese eitle selbstgerechte angebliche Liebe zur Wahrheit zu verletzen.

Denn der Gegensatz zur Wahrheit ist nicht immer nur die Lüge. Alec Guinness, der berühmte britische Schauspieler, hat gesagt: «Wahrheit ist selten ein guter Ersatz für Takt.»

Takt kennt die Wahrheit genau, aber er spricht sie nicht aus. Das ist ein großer Unterschied, und wir haben wieder einen Punkt erreicht, wo sich Moral und Manieren berühren, wo es um die Werte geht. Also: siehe Seite 153.

Was aber ist Takt? Du wirst immer wieder hören, dass er zum guten Benehmen gehört und dass er Herzenssache ist. Das klingt so, als ob man ihn hätte oder nicht, als ob man ihn keinesfalls lernen könne.

Gewiss gibt es Menschen, die zu Taktlosigkeiten neigen, und andere, denen es Spaß macht, sich richtig gemeine Sätze auszudenken. Also können wir die negative, die schmerzhafte Seite, die Taktlosigkeit, genau beschreiben. Wie sieht die positive Seite aus? Was ist Takt?

Das Wort kommt wie viele unserer Wörter aus dem Lateinischen und bezeichnet in der Musik und in der Tanzkunst die gehörige und genau bestimmte Dauer eines Tones oder einer Bewegung. Dieser präzise Begriff ist nun in die Alltagssprache übernommen worden und bezeichnet eigentlich genau dasselbe: die gehörige und genaue Dauer eines Tones (also eines Wortes) oder einer Bewegung (also einer Geste). Du kannst auch sagen: das rechte Wort am rechten Platz.

Aber wie kann man wissen, welches von allen Wörtern das rechte ist? Das ergibt sich aus der Taktlosigkeit. Versetz dich in den anderen. Stell dir vor, was du fühltest, wenn du mit einem verquollenen Gesicht, grün und blau von Blutergüssen, in die Klasse kämst und das Gejohle hörtest: «Geschieht ihr recht, dass sie auf die Schnauze gefallen ist!»

Stell dir vor, dass dir etwas Peinliches oder Demütigendes passierte. Was erwartest du dann von denen, die du für deine Freunde hältst? Dass sie noch lauthals darauf hinweisen? Oder dass sie dir taktvoll helfen?

Warum man seinen inneren Schweinehund überwinden sollte

Stell dir vor, du kämst neu in eine Klasse oder in einen Sportverein. Du kennst keinen. Was wäre dein Wunsch? Dass du unbeachtet in der Ecke bleibst? Dass dich alle anstarren und einer sagt: «Seht mal – der schielt ja!», oder dass sich einer überwindet und zu dir geht und etwas Nettes sagt? Wäre es nicht gut, wenn du in so einem Fall als Mitglied der Gruppe derjenige wärest, der sich höflich und taktvoll benimmt?

Vielleicht meinst du jetzt: «Ja, wie komm ich denn dazu, so was zu tun?»

Du solltest es tun, weil du zur Gruppe gehörst; weil du also in diesem Augenblick der Stärkere und Sicherere bist und das gute Benehmen darauf beruht, dass der Stärkere dem Schwächeren hilft. Mit dem rechten Wort am rechten Platz.

«Ja, aber warum ich?»

Weil es einer machen muss. Richtig und taktvoll machen muss. Weil er ein Beispiel für das rechte Verhalten geben soll. Nur durch die Tat entscheidest du, wer du bist.

Es gibt Erwachsene, die davon sprechen, dass das Experiment Zivilisation gescheitert sei. Damit wollen sie sagen: Die Hoffnung, dass sich die Menschheit nicht mehr wie in der Steinzeit mit Knüppeln schlägt, sondern auf die Vernunft hört und sich gesittet und zivilisiert beträgt – diese Hoffnung ist im Eimer.

Wenn man die Zeitung aufschlägt und liest, wie Vier- oder Zwölfjährige ihre Großmütter erschlagen, weil diese ihnen das Taschengeld aus irgendwelchen Gründen gestrichen haben, oder an all die Schüler denkt, die in den letzten Jahren ihre Lehrer und Mitschüler erschossen haben, wenn man überlegt, dass zu jedem Zeitpunkt irgendwo auf der Welt ein grausamer Krieg tobt, möchte man meinen, die Hoffnungslosen hätten Recht.

Wenn ich mich aber mit Kindern und jungen Leuten unterhalte, so glaube ich: Es stimmt vielleicht in vielen Fällen, vielleicht in mehr als früher, aber längst nicht in allen. Und solange ein paar Menschen den sprichwörtlichen inneren Schweinehund überwinden, solange sie nicht nur an sich denken, hat es Sinn, über Manieren und den Preis der Zivilisation nachzudenken.